2Es ist eine geläufige Idee, dass freie Selbstbestimmung bedeutet, sich gerade nicht von seiner lebendigen Natur bestimmen zu lassen. Wie Thomas Khurana in seiner grundlegenden Studie im Anschluss an Kant und Hegel zeigt, können wir es bei einer solchen Entgegensetzung von Freiheit und Leben jedoch nicht belassen. Nur im Rückgang auf den Begriff des Lebens erschließt sich die Form und Wirklichkeit der menschlichen Freiheit. Dies zu behaupten, bedeutet jedoch gerade nicht, praktische Freiheit auf natürliche zu reduzieren. Indem wir diesem Gedanken folgen, gewinnen wir vielmehr ein tieferes Verständnis der inneren Spannungen und Herausforderungen der Freiheit, eine kritische Theorie unserer zweiten Natur.

Thomas Khurana ist Lecturer of Philosophy an der University of Essex.

3Thomas Khurana

Das Leben der Freiheit

Form und Wirklichkeit der Autonomie

Suhrkamp

5Inhalt

Einleitung

Erster Teil
Kant und die Analogie von Autonomie und Leben

Kapitel I Die Form der Freiheit

1. Zwei Quellen der Idee der Autonomie (§§ 1-4)

2. Die Idee der Autonomie (§§ 5-11)

3. Das Paradox der Autonomie (§§ 12-15)

4. Eigengesetzlichkeit und lebendige Selbstorganisation (§§ 16-25)

5. Die Unfreiheit des Lebendigen (§§ 26-29)

Kapitel II Die Wirklichkeit der Freiheit

1. Das Problem der Wirklichkeit der Freiheit (§ 30)

2. Das Reich der Natur und das Reich der Freiheit (§§ 31-35)

3. Können und Sollen (§§ 36-39)

4. Natur als Medium der Verwirklichung der Freiheit (§§ 40-42)

5. Verwirklichung der Freiheit (§§ 43-47)

6. Die Unwirklichkeit der Freiheit (§ 48)

Schwelle (§§ 49-50)

Zweiter Teil
Hegel und das Leben der Freiheit

Kapitel III Geist und Natur

1. Drei Schritte über Kant hinaus (§§ 51-55)

2. Geist und Natur als Verhältnisbestimmungen (§§ 56-62)

Kapitel IV Die Freiheit des Lebens

1. Von Selbstgesetzgebung zu Selbstkonstitution (§§ 63-64)

2. Lebendige Selbstkonstitution (§§ 65-68)

3. Der Kontrast von lebendiger und geistiger Selbsthervorbringung (§§ 69-73)

4. Der Schritt vom Leben zum Geist: Additive und transformative Modelle (§ 74)

Kapitel V Das Leben der Freiheit

1. Die Zweideutigkeit der zweiten Natur (§§ 75-81)

2. Das Werden der Freiheit: Anthropologie (§§ 82-89)

3. Das Erscheinen der Freiheit: Phänomenologie (§§ 90-95)

4. Die Wirklichkeit der Freiheit: Objektiver Geist (§§ 96-103)

Schluss

Danksagung

Nachweise

Literaturverzeichnis

Fußnoten

7Einleitung

Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann […].

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS 4:446)

1. Idee: Das Leben der Freiheit

Von einem Leben der Freiheit zu sprechen hat eine doppelte Bedeutung. Auf der einen Seite legt diese Wendung nahe, dass schon dem Leben das Merkmal der Freiheit zukommt. Zum anderen deutet der Ausdruck darauf hin, dass die Freiheit ein ihr eigenes Leben besitzen mag. In diesem doppelten Genitiv wird so ein Übergang angedeutet von der Freiheit, die dem Leben als solchem zukommt, zu dem eigenen Leben, das die Freiheit führt. Inwiefern aber ist schon das Leben frei und inwiefern besitzt auch die Freiheit immer noch ein Leben? Warum mag es unserem Verständnis der Freiheit und des Lebens dienen, ihren inneren Zusammenhang zu begreifen? Und in welchem Sinne genau sind Leben und Freiheit aufeinander zu beziehen?

Die folgenden Überlegungen werden drei aufeinander bezogene Weisen erläutern, in denen Freiheit und Leben in einem wesentlichen Zusammenhang stehen: (1) Freiheit ist ein Vermögen, das sich nur in lebenden Wesen herausbilden kann. (2) Um die Form der Freiheit zu verstehen, müssen wir die Form des Lebens verstehen. (3) Um die Wirklichkeit der Freiheit zu begreifen, müssen wir verstehen, inwiefern die Freiheit ein Leben eigener Art gewinnt. In diesem Sinne sind wir auf den Lebensbegriff verwiesen, um die Genese, die Form und die Wirklichkeit der Freiheit zu verstehen. Um diese drei Gedanken zu entwickeln, wendet sich dieses Buch zwei Autoren zu, die zwar als Philosophen der Freiheit geläufig sind, wohl aber kaum als »Lebensphilosophen« gelten können: Kant und Hegel. Diese scheinbar abseitige Wahl geschieht nicht zufällig. Es 8gilt, im Werk dieser Autoren einen philosophischen Lebensbegriff besonderer Art herauszuarbeiten, der historisch den Lebensbegriffen der sogenannten Lebensphilosophie vorausgeht und nicht in derselben Weise dem Begriff des Geistes entgegengesetzt werden kann. Leben fungiert in der kantischen und postkantischen Philosophie vielmehr als ein Übergangsbegriff zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Freiheit. Betrachten wir Leben unter diesem Gesichtspunkt, wird deutlich, dass es sich nicht einfach um einen theoretischen Begriff handelt, der Wesen bestimmter Art klassifizieren soll, sondern vielmehr um einen Reflexionsbegriff, den wir benötigen, wenn wir uns als praktische Wesen verstehen wollen: als geistige und freie Wesen, die sich zugleich in der Natur praktisch realisieren. Leben bezeichnet den Punkt, an dem die Natur selbst – mit Hegel zu reden – »praktisch« wird (D 2:109).[1] Diesen praktischen Lebensbegriff gilt es zu entwickeln, um ein tieferes Verständnis der Freiheit zu gewinnen.

Kant und Hegel werden dabei in der folgenden Darstellung unterschiedliche Rollen zukommen. Kant formuliert den entscheidenden Freiheitsbegriff der Autonomie und wirft dabei zugleich Probleme auf, die uns auf den Begriff des Lebens verweisen. Insofern Kant selbst diesen Verweisen aber aus systematischen Gründen nicht konsequent folgt, bleibt der Gedanke, auf den er uns verweist, unabgeschlossen. Erst Hegel wird den Weg, den Kant durch den Zusammenhang von Leben und Freiheit erschließt, bis zu seinem Ende verfolgen. Kant bereitet in diesem Sinne die drei Gedanken nur vor, dass Freiheit im natürlichen Leben beginnt, dass Freiheit als Autonomie der Form lebendiger Selbstorganisation analog ist und dass Freiheit in Gestalt einer zweiten Natur ein eigenes Leben gewinnen muss. Er legt eine Analogie zwischen Autonomie und Leben nahe, von der er aus wesentlichen Gründen aber nicht so Gebrauch macht, dass er die Gestalt der Autonomie durch ihre lebendige Genese, Form und Wirklichkeit aufschließt. Hegel deutet das, was bei Kant bloße Analogie zu bleiben scheint, hingegen im Sinne eines systematischen Zusammenhangs von Geist und Leben, durch den sich Freiheit schließlich als irreduzibel lebendig darstellt.

Die Absicht der Rekonstruktion von Kant und Hegel, die in den beiden Teilen dieses Buches entfaltet wird, ist vor diesem Hinter9grund ebenso systematisch wie historisch: Systematisch geht es um die Entwicklung eines Freiheitsverständnisses, das zwei Probleme, die bei Kant letztlich ungelöst bleiben, durch die Reflexion auf den Zusammenhang von Leben und Freiheit zu entfalten sucht: das Problem der Paradoxie der Autonomie und das Problem der Wirklichkeit der Freiheit. Historisch zielen die nachstehenden Überlegungen darauf, einen Weg von Kant zu Hegel nachzuzeichnen, der in den dominanten Narrativen vernachlässigt wird, und einen Lebensbegriff im deutschen Idealismus aufzuweisen, der unterbelichtet geblieben ist. Indem wir diesen Pfad von Kant zu Hegel verdeutlichen, kann hervortreten, inwiefern Hegel nicht einfach als eine idealistische Überbietung Kants, sondern vielmehr als seine materialistische Vertiefung zu begreifen ist. Hegel geht nicht dadurch über Kants Dualismus hinaus, dass er sich ganz auf die Seite des Intelligiblen schlagen würde, sondern im Gegenteil dadurch, dass er auf der Frage insistiert, wie der Geist sich am Leben gewinnt und in der Natur verwirklicht. Diese materialistische Vertiefung ist dabei nicht einfach, wie meist angenommen, eine Rückkehr zu Aristoteles: Der Lebensbegriff Hegels ist nur vor dem Hintergrund der kantischen Fragestellung zu verstehen und beschreibt kein bloßes aristotelisches Residuum.[2] Indem Hegel die Bedeutung des Lebens für die Genesis, Form und Wirklichkeit der Freiheit des Geistes aufweist, kommt es nicht einfach zu einer Ineinssetzung von Geist und Leben. Hegel zeigt vielmehr, dass der Geist seinen Ursprung, seine Materie und seine Form an einer lebendigen Natur gewinnen muss, die ihm zugleich unangemessen bleibt. Der Geist kann darum nicht aufhören, das Leben zu überschreiten, das er führt. Die Reflexion auf die Beziehung von Freiheit und Leben geschieht also nicht einfach in der Absicht einer Naturalisierung der Autonomie, sondern dient der Exposition des spannungsvollen Verhältnisses von Geist und Natur.

102. Ausgangspunkte: Freiheit als Autonomie und Normativität als zweite Natur

Die folgende systematische Rekonstruktion hat zwei Ausgangspunkte in der zeitgenössischen Diskussion: die Idee, dass Freiheit sich wesentlich als Autonomie verwirklicht, und den Gedanken, dass das Reich des Normativen sich als zweite Natur realisiert. Freiheit als Autonomie zu verstehen, bedeutet, sich der bloßen Entgegensetzung von Freiheit und Gesetz zu entziehen, dergemäß Freiheit die Abwesenheit von Beschränkungen und Gesetz eine Einschränkung von Freiheit wäre. Eine solche Freiheit wäre von Willkür oder Zufall ebenso wenig zu unterscheiden wie ein solches Gesetz von Zwang. Der Gedanke, der zum Begriff der Autonomie führt, verlangt, dass wir über diese Entgegensetzung hinausgelangen und beginnen zu begreifen, inwiefern Freiheit sich in Gesetzen einer bestimmten Art – selbstgegebenen Gesetzen – ausdrückt und inwieweit normative Verbindlichkeit in Freiheit gründet. Diese Vorstellung bezeichnet jene moderne Idee der Freiheit, die bei Rousseau und Kant Gestalt annimmt und deren Verständnis und Verwirklichung uns bis heute beschäftigt.[3]

Die Idee einer Freiheit der Selbstgesetzgebung beschreibt dabei zunächst vor allem ein Desiderat – die Notwendigkeit, Freiheit und Gesetz aus ihrem inneren Zusammenhang heraus zu verstehen, ohne dass schon unmittelbar klar wäre, wie diese Idee so entfaltet werden kann, dass sie sich nicht selbst widerstreitet. Eine entscheidende Problematik, die in der jüngeren Diskussion verstärkt hervorgetreten ist, liegt in dem Verdacht, dass die Idee der Selbstgesetzgebung in ein Paradox führt.[4] Wenn ein Gesetz nur frei ist, sofern wir es uns, ohne durch Äußeres bedingt zu sein, selbst gegeben haben, so scheint das zu verlangen, dass wir uns das Gesetz grundlos geben. Wenn das der Fall wäre, würde aber rätselhaft, inwiefern wir an das grundlos gegebene Gesetz überhaupt gebunden sind. Wenn wir umgekehrt annehmen, dass wir uns das Gesetz der Freiheit also mit Grund gegeben haben müssen, so scheint die Autonomie abhängig von Gründen, die schon vor der autonomen 11Einsetzung Gültigkeit besaßen. Autonomie schlägt so entweder in grundlose Setzung oder Abhängigkeit von vorausgesetzten Gründen, in Willkür oder Heteronomie um. Ich werde dieses Paradox im ersten Kapitel ausführlich entwickeln, um im Anschluss daran zu zeigen, inwiefern uns die Idee lebendiger Selbstkonstitution die Idee der Autonomie auf neue Weise erschließen kann. Im Ausgang von der Idee der Selbstkonstitution lässt sich jene Paradoxie, die der Idee der Autonomie jeden Sinn raubt, vermeiden, ohne zugleich die dialektische Spannung von Freiheit und Gesetz zu verdecken. Die Form des Lebens erschließt uns in diesem Sinne die Form der Freiheit.

Begreifen wir Freiheit als Autonomie, so artikuliert sich in einer Theorie der Freiheit zugleich eine Grundkonzeption von Normativität. Wenn Freiheit bedeutet, uns durch Gesetze zu bestimmen, die wir uns selbst gegeben haben – und nicht etwa schlicht darin besteht, uns ungehindert bewegen zu können –, so bezeichnet sie eine Form normativer Selbstbestimmung.[5] Freie Wesen können wir in diesem Sinne nur als solche sein, die sich überhaupt in einem »Raum der Gründe« bewegen: als Wesen, deren Operationen normativ konstituiert sind und darin ihre Signifikanz haben, normativ zu wirken. Die Idee der Autonomie formuliert dabei nicht nur den Gedanken, dass Freiheit darin liegt, Normen einer besonderen Art – Normen, als deren Autor wir uns betrachten können – zu unterstehen, sondern zielt zugleich darauf, dass Freiheit die eigentliche Quelle der Normativität selbst ist. Wir müssen uns also nicht allein in einem Raum der Gründe bewegen, um Wesen sein zu können, für die sich das Problem der Freiheit überhaupt stellen kann; dem Raum der Gründe wohnt die Idee der Freiheit zugleich als sein wesentlicher Grund inne.[6] Der Raum der Gründe erscheint mithin als ein Reich der Freiheit, das sich von dem gegebenen Reich der Natur abhebt.

Mit dem Problem der Freiheit stellt sich somit zugleich die Frage, wie wir das Verhältnis zwischen dem Reich des Normativen und 12dem Reich der Natur genauer verstehen können. Dies führt uns zu einem zweiten Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Diskussion: zur Bestimmung des Reichs der Normativität als einer zweiten Natur. Um nicht einer unüberwindlichen Kluft zwischen dem natürlichen Reich der Ursachen und dem freiheitlichen Raum der Gründe ausgesetzt zu sein, die diesen übernatürlich und unwirklich erscheinen lassen würde, hat John McDowell an den Begriff der zweiten Natur erinnert. Dieser Begriff soll es uns erlauben, die natürliche Wirklichkeit des Normativen einzusehen, ohne es auf etwas bloß Natürliches zu reduzieren. Wir begreifen diese Wirklichkeit vielmehr, indem wir erkennen, dass dem Normativen eine Natur eigener Art entspricht. Der Raum der Gründe wird durch begriffliche Fähigkeiten konstituiert, die uns im Rahmen unserer normalen und natürlichen Entwicklung zur zweiten Natur werden.

Die folgenden Überlegungen zielen darauf, im Rückgang auf den Begriff des Lebens genauer zu bestimmen, wie wir den Begriff und Status einer solchen zweiten Natur verstehen müssen. Im Gegensatz zu der wiederholt von McDowell vertretenen These, dass der Begriff der zweiten Natur eine bloße Erinnerung an die uns eigentlich bereits geläufige Natürlichkeit des Normativen darstelle, wird im Folgenden allerdings angenommen, dass der Begriff der zweiten Natur eine konstruktive Aufgabe zu übernehmen hat. Er dient der Explikation des Werdens und der Wirklichkeit der Freiheit: Wenn das Reich der Freiheit nur als eine zweite Natur existieren kann, dann bedeutet dies, dass das Werden und Sein der Freiheit im Ausgang von der Natur zu verstehen ist. Freiwerden heißt, aus der ersten Natur herauszutreten. Freisein heißt, eine freie Natur anderer Art zu verwirklichen. Der Begriff der zweiten Natur zielt so auf eine gewordene Natur, ein gesetztes Sein. Wie im Folgenden deutlich werden soll, ist der Begriff der zweiten Natur dabei nur im Ausgang von einer ersten Natur, die lebendig ist, richtig zu verstehen. Zweite Natur ist keine zweite anorganische Natur, sondern eine zweite Form lebendiger Natur. Zweitens gilt es zu zeigen, dass eine zweite Natur nur dann eine Form der Wirklichkeit der Freiheit sein kann, wenn es sich dabei um eine Form der Natur handelt, die ein anderes Verhältnis zu ihrem Gewordensein hat. Zweite Natur bezeichnet so nicht die Form eines schlicht wieder Natur gewordenen Geistes, sondern eine Weise, die Differenz von Natur und Geist innerlich auszutragen.

133. Kontexte: Ethischer Naturalismus, Biopolitik, Lebensform

Indem die folgenden Überlegungen den Begriff des Lebens aufnehmen, um ein vertieftes Verständnis der Form der Freiheit und ihrer Genese und Wirklichkeit zu gewinnen, nehmen sie einen Begriff in Anspruch, der gegenwärtig eine breite Aufmerksamkeit insbesondere in der praktischen Philosophie erhält. Obwohl diese gegenwärtigen Diskussionen rund um den Lebensbegriff in der folgenden Darstellung nicht in den Vordergrund treten werden, will ich an dieser Stelle drei Kontexte kurz erwähnen, vor deren Hintergrund sich die systematische Stoßrichtung der folgenden Arbeit etwas weiter konturieren lässt: die Diskussionen um den ethischen Naturalismus, die Debatte um die biopolitische Struktur der Moderne und das normativitätstheoretische Interesse am Begriff der Lebensform. Diese drei Stränge der gegenwärtigen Diskussion legen alle auf ihre je eigene Weise nahe, dass die Struktur ethischer oder politischer Normativität nur im Ausgang vom Lebensbegriff richtig erschlossen werden kann.

Im Rahmen des ethischen Naturalismus begegnen wir der Idee, dass das ethisch Gute eine Form des natürlich Guten – das natürlich Gute des Menschen – sei.[7] Um die Form unserer normativen Urteile zu begreifen, wird uns so der Blick auf unsere Urteile über lebendige Wesen empfohlen, die wir auf Grundlage von naturhistorischen Urteilen über ihre jeweilige Spezies als gesund oder defekt beurteilen können.[8] Ethische Urteile hätten, so die These, dieselbe grundlegende Struktur, in dem Sinne, dass sie die Operationen oder Merkmale eines Handelnden vor dem Hintergrund von naturhistorischen Urteilen über die menschliche Lebensform als gut oder schlecht, als »gesund« oder »defekt« im übertragenen Sinne verstehen. Die Quelle des Normativen liegt vor diesem Hintergrund nicht etwa in Pro-Einstellungen von Handelnden, sondern in Formmerkmalen der Spezies des Menschen. Die Differenz, die sich zwischen bloß lebendigen und vernünftigen Lebewesen auf14tut, läge dann nur noch im speziestypischen Inhalt des jeweiligen Guten, nicht aber in der grundlegenden Form der betreffenden Normativität.

Obwohl es so scheinen könnte, als hätten die Ausführungen im Folgenden eine ähnliche Stoßrichtung, da auch sie auf eine formale Analogie zwischen lebendiger Natur und normativem Geist verweisen, sind sie dem ethischen Naturalismus in einer wesentlichen Hinsicht entgegengesetzt. Zum einen legen sie einen anderen Begriff des Lebendigen zugrunde, demgemäß schon dessen Normativität nicht durch die äußerliche Beziehung von Formaussagen und Einzelaussagen abgebildet werden kann.[9] Zum anderen gehen sie davon aus, dass bloß lebendige Wesen und geistige Wesen sich nicht allein durch den Inhalt ihres jeweiligen Guts unterscheiden, sondern formal unterschieden sind. Bei den normativen Urteilen über menschliche Merkmale und Operationen handelt es sich um Urteile in der ersten Person plural – und zwar nicht allein in der Weise, dass das beurteilte Objekt zufälligerweise wir selbst sind, sondern in dem Sinne, dass die Normativität dieses Urteils wesentlich an diesem Selbstbezug hängt.[10] Wenn der Begriff des Lebens uns etwas an der Struktur der Normativität erschließen kann, dann gerade die Selbstkonstitutivität des Normativen. Der Punkt, an dem Leben und Geist sich berühren, ist daher nicht in erster Linie Gesundheit und Krankheit, sondern: Freiheit und Unfreiheit.

Die zweite zeitgenössische Diskussion, auf die das Folgende zu beziehen ist, betrifft den Begriff der Biopolitik. Wenn die moderne Politik als Biopolitik charakterisiert wird, so soll dies besagen, dass diejenige Materie, die in der Moderne zum eigentlichen Gegenstand und Modell politischer Gestaltung wird, das natürliche Leben des Menschen selbst ist.[11] Moderne Politik bezieht sich 15nach dieser Diagnose auf ihre Subjekte nicht als politisch-geistige Wesen, deren Handlungen politisch organisiert, regiert oder beherrscht werden müssen, sondern zunächst als lebendige Wesen, deren lebendige Kräfte geformt, bewirtschaftet und gelenkt werden müssen. Wenn es zutrifft, dass das Werden, die Form und die Wirklichkeit der Freiheit wesentlich lebendig sind, dann könnte das zunächst dafürsprechen, dass die Politik notwendig Biopolitik ist. Was das allerdings genauer heißen könnte, hängt davon ab, was unter Leben hier näher gefasst werden soll und welche Rolle diesem für die Freiheit genauer zukommt. Jener Lebensbegriff, durch den hier der Begriff der Freiheit erhellt werden soll, ist keine biologische Kategorie, sondern einen Begriff, der seinen wesentlichen Ort in unserem praktischen Selbstverständnis gewinnt. Und die Weise, in der die Freiheit dabei ein Leben besitzt, ist nicht von der Art, dass Freiheit und Leben zusammenfallen, sondern dass sie durch ihre Differenz zusammengehalten werden. Die hier ausgeführte Position kann mithin gerade nicht so gedeutet werden, dass das Leben der Freiheit auf ein natürliches Leben zu reduzieren wäre und seine Gestaltung in der Maximierung seiner lebendigen Kräfte liegen könnte. Das menschliche Leben ist vielmehr wesentlich politisch, weil ihm die Differenz von Freiheit und Natur, Mensch und Tier innerlich ist.[12]

Das Leben, um das es im Folgenden gehen soll, ist weder ein schlicht biologisches Phänomen noch ein politisches Artefakt (das nackte Leben als ein seiner Form beraubtes Leben). Das Leben, um das es im Folgenden gehen wird, ist vielmehr das Leben der Freiheit: eine Reflexionskategorie unseres Selbstverständnisses als praktische Wesen. Unter den gegenwärtig kursierenden Lebensbegriffen hat diese Kategorie die größte Nähe zum Begriff der Lebensform, den Wittgenstein in der Reflexion auf die Form unserer Normativität geprägt hat. Diese Reflexionskategorie kann unser Verständnis von Normativität und Freiheit dabei in zwei Richtungen vertiefen: Sie erlaubt uns Freiheit und Normativität genealogisch auf 16das natürliche Leben zurück zu beziehen und so einen problematischen Dualismus von Natur und Freiheit, Leben und Geist in Frage zu stellen, der unser Verständnis der genuinen Wirklichkeit der Freiheit gefährdet. Sie ermöglicht es uns auf der anderen Seite, die Frage nach der besonderen freien oder geistigen Lebensform zu stellen, durch die sich das Reich des Normativen verwirklicht. In der gegenwärtigen Diskussion scheint der Gedanke, dass uns die für unsere kulturelle Existenz konstitutiven Regeln im Sinne einer »Lebensform« gegeben sind, vor allem darauf zu zielen, die Unhintergehbarkeit dieser Regeln hervorzuheben.[13] Wie sich im Folgenden zeigen wird, liegt die Pointe des hier entwickelten Gedankens aber woanders: Wenn die Freiheit im natürlichen Leben ihre genealogische Vorgeschichte hat, dann nur deshalb, weil bereits dieses Leben eine innere Prozessualität aufweist, durch die es über jeweils gewonnene Formen wieder hinausgeht. Die Verwirklichung des Geistes in Gestalt einer Lebensform ist zudem nicht so zu verstehen, dass der Geist darin einfach zur Form eines natürlichen Lebens zurückkehren würde. Zweite Natur ist eine ebenso notwendige wie beschränkte Form, in der sich der Geist realisiert. Seine Freiheit besteht darin, in einem offenen Verhältnis zu jener zweiten Natur zu verbleiben, was sich nicht zuletzt in ihrer immer neuen Infragestellung und Überschreitung zeigt. Das Leben des Geistes gibt es somit nur durch einen Abstand des Geistes von seinen Vergegenständlichungen und durch eine innere Pluralität von Lebensformen.