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Andi LaPatt

 

Lebensgeflüster

 

Roman

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

 

Cover und Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Bildlizenzen: Panthermedia

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Inhalt des Textes

ist die Autorin Andi LaPatt

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag GmbH

Druck und Bindung: SDL, Berlin

 

ISBN 978-3-96050-082-7

 

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

 

Copyright © 2017 Franzius Verlag, Bremen

www.franzius-verlag.de

 

 

 

 

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort

1. Der Grabstein

2. Der Mitarbeiter im Mittelpunkt

3. Vertrau mir nicht

4. Wurzeln schlagen

5. Was geht das mich an

6. Ich weiß, dass ich nichts weiß

7. Von Fröschen und Hammeln

8. Die richtigen Fragen stellen

9. Das Produkt ist „eigentlich“ unwichtig

10. Irrtümer / Projektionen

11. Artgerechte Haltung des Menschen

12. Die Kunst der Einfachheit

13. Problematisch wird’s, wenn du nichts hast

14. Alles eine Frage der Energie

15. Wertschätzung kommt von Werten

16. Die wertvollsten zwei Währungen

17. Falsche Bescheidenheit

18. Verkaufst du schon, oder bettelst du noch?

19. Erste Wahl – deine Wahl

20. Seelenlosigkeit

21. Ein Engel im Himmel fällt niemandem auf

22. Das Neue braucht Freunde

23. Systemik – deine Energie verändert alles

24: Der Blickwinkel verändert alles

25. Der Ruf

26. Menschen, die die gleiche Vision haben

Weitere Veröffentlichungen der Autorin Andi LaPatt

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

 

Widmung

 

Gewidmet meinem Mentor und guten Freund

Gerardo,

der mich Menschlichkeit und Güte gelehrt hat.

 

 

Vorwort

 

In einer nicht enden wollenden Flut an Informationen, Reizen von außen, Stürmen im Innern und dem Verlust an Menschlichkeit in der Arbeitswelt, die mehr als die Hälfte unserer Zeit, ja, unseres gesamten Seins ausmacht, fehlt es uns immer mehr an echtem Leben und wahrhaftigen Inhalten. Die Tage sind vollgestopft mit Terminen. Berufe und Weiterbildungen werden nach monetären Faktoren ausgewählt. Denn die heutige Zeit besteht aus der Wechselwirkung der materiellen Güter. Dies lässt uns glauben, dass viel auch viel bewirkt. Unsere Sehnsüchte und Talente bleiben dabei oft auf der Strecke. Wir glauben, Privatleben und Arbeit trennen zu müssen, und bemerken nicht, welche Lüge wir kultiviert haben. Facebook-Chroniken und andere soziale Netzwerke sind von guten Zitaten überfüllt, die im Leben aber oft ungehört und ungelebt bleiben. Jeden Tag tauchen weitere gute Methoden sowie neue Philosophien auf, die altes Gut frisch verpackt für viel Geld verkaufen. Und doch nützen sie wenig, denn die Welt leidet an der geistigen Verstopfung der Menschen, die trotz der vielen guten Hilfsmittel nicht in der Lage sind, ihre Probleme zu lösen.

Wir glauben der Lüge, immer weniger Zeit zu haben, obwohl jeder von uns mit jedem neuen Tag 24 Stunden geschenkt bekommt. Randvolle Terminkalender und der Glaube, jede Rolle bekleiden zu müssen, machen uns nur zu Sklaven von unfähigen Führungskräften, die alle denselben Zeitfressern und leeren Theorien der Neuzeit aufsitzen. Unsere Leben sind hohl geworden, auch wenn wir randvoll mit Theorien, neuen Hobbys, hippen Kleidern, Luxusgütern, den angesagtesten Sportarten sowie Aus- und Weiterbildungen sind. Daraus resultieren Titel, Zertifikate oder die Position auf einer Rangliste, die uns glauben lassen, endlich zu wissen, wer wir sind. Immer mehr Krankheiten ziehen Menschen aus diesem unnatürlichen und rein wirtschaftlich orientierten Chaos. Immer mehr Coaches und Berater schießen wie Pilze aus dem Boden. Ein Überangebot an Informationen und Ratgebern hilft dennoch nicht, den eigenen Wert zu erkennen und das Geschenk Leben auch als solches zu zelebrieren.

Das ist der Grund für mich, dieses Buch sehr polarisierend zu schreiben, denn in den über 20 Jahren meiner Angestelltenlaufbahn wurde mir nur schleichend bewusst, welchen Schaden meine Seele und mein Herz durch den Druck und das Ausgeliefertsein in dieser Rolle wirklich davongetragen haben.

Ich lade Sie auf eine Reise in die Menschlichkeit ein. Dieses Buch soll den Hunger und die Liebe auf das Leben und Ihre Gabe wieder wecken. Die Geschichte soll Sie verwirren und zum Nachdenken anregen, es soll etwas ver-rücken in Ihnen, denn ich bin überzeugt, dass nur noch ver-rückte Ansichten helfen können, uns selber in uns wiederzufinden. Dabei geht es mir keineswegs darum, dass Sie mir in Allem beipflichten. Es geht mir vielmehr darum, etwas in Ihnen, das sich nach Ihrer Aufmerksamkeit sehnt, aufzudecken und (wieder) zum Leben zu erwecken.

Die Dialoge der Menschen in diesem Buch sind frei erfunden, ebenso wie die Menschen und das Unternehmen selber. Aber viele Menschen, die mich begleitet haben und zum Teil noch immer begleiten, haben mich inspiriert und zu vielen dieser Gespräche angeregt. Einige davon waren mir gute Lehrer, denen ich nicht mehr unbedingt begegnen möchte, und andere waren meine Meister und sind es noch. Doch alle Erfahrungen, seien sie auch noch so schmerzhaft gewesen, waren Teil meines Weges, um aus mir den Menschen zu machen, der ich heute bin.

1. Der Grabstein

 

„Mit Ihrem Lebenslauf werden Sie es schwer haben“, erklärte mir ein Personalvermittler unlängst. Die Arroganz des Typen und seine unnatürlich übercoole Art - gepaart mit Designerjeans und Boss-Hemd - ging mir mächtig auf die Nerven. Aber was hatte ich schon für eine Wahl? Schließlich war ich in den letzten Jahren zweimal gekündigt worden, einmal aufgrund einer Firmenfusion und einmal, weil es nach einem Zusammenschluss keinen Platz mehr für mich gegeben hatte. Beste Arbeitszeugnisse wiesen aus, dass ich Opfer der Wirtschaftskrise geworden war - wie so viele andere auch. So war das eben: Mein Lebenslauf sah scheiße aus. Ich wusste das. Die „netten“ Worte dieses Menschenhändlers machten das nicht besser. Unterstützung bei der Stellensuche hatte ich jedoch anders im Gedächtnis. Unzählige Bewerbungen und Absagen später war ich völlig desillusioniert und gab die Hoffnung, einen neuen Job zu finden, der hätte passen können, schon beinahe auf. Doch meine Großmutter hatte mir beigebracht, den Glauben an das Gute zu bewahren. Nachdem mir eine gute Freundin geraten hatte, etwas entspannter an die Sache heranzugehen, nahm ich mir vor, nicht mehr so verbissen bis zu fünf Mal pro Tag das Internet abzusuchen. In der Folge wurde ich tatsächlich ruhiger und erlebte wieder etwas mehr Freude im Alltag.

Und eines Tages, als ich überhaupt nicht mehr damit rechnete, stolperte ich über ein unspektakuläres Stelleninserat, das mir auf Anhieb gut gefiel. Ich hatte zwar keine Ahnung von Personalwesen, aber die ganze Ausschreibung lachte mich geradezu an. Das Inserat war kurz und knackig. Da wurde jemand für die Personaladministration gesucht. Als ich mich schließlich bewarb, war ich verblüfft, als ich zwei Stunden später auch schon eine Eingangsbestätigung erhielt. Normalerweise konnte das bis zu zwei Wochen oder länger dauern. Schließlich hatten die Personalabteilungen auch noch anderes zu tun, wie man mir unlängst bei einer anderen Bewerbung unfreundlich mitgeteilt hatte. Und das hier war kein 08/15-Schreiben, sondern ein herzliches Dankeschön für mein Interesse und meine Bewerbung.

Ich lehnte mich im Stuhl zurück und sah mir die E-Mail mehrmals an. Ich hatte ein gutes Gefühl. Schon zwei Tage später kam der Anruf. Ich wurde zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine sympathisch klingende Frau Bresciani rief mich an und ich konnte durch das Telefon ihr Lächeln spüren. Wir vereinbarten einen Termin, den sie mir umgehend mit allen Details und einem Anfahrtsplan schriftlich bestätigte. Ich war platt. Gab es so etwas wirklich noch? Persönlicher Anruf, eine Firma freute sich auf mich und Reaktionen in so kurzer Zeit auf meine Bewerbung? Ich überlegte, ob vielleicht irgendwo ein Haken sein könnte, denn so gut konnte es doch gar nicht sein.

Bereits drei Tage später war ich unterwegs zur LEBEN AG. Mir kam der Name etwas speziell vor, doch sprach er mich auch auf irritierende Weise an. Der Termin war morgens um halb neun an einem Montag. Nun war es gerade mal acht Uhr, als ich schon auf der Straße einem großen Gutshof entgegenfuhr, der inmitten von Weinbergen und in einer Landwirtschaftszone lag. Ich hielt meinen Wagen an und blinzelte. Zwar wusste ich, dass LEBEN AG Wein verkaufte. Aber auf der Website hatte ich nichts darüber finden können, dass sie auch selber Wein anbauten. Umso erstaunter war ich, als ich in den großen Innenhof fuhr und den Wagen parkte, wobei mich bereits eine Art Feriengefühl beschlich. Es war ruhig hier, nur ein paar Vögel zwitscherten und irgendwo hörte ich ein Pferd wiehern. Ich bestaunte Garagen, Stallungen, ein großes Landhaus und zwei kleine Nebenhäuser. Der große Innenhof lag vor der Außenwelt geschützt und erinnerte mich irgendwie an Italien. Nicht sicher, ob ich in einem Rosamunde-Pilcher-Film gelandet war, sah ich mich um. Das alte Landhaus war riesig und sehr gepflegt. Überall hingen rote und weiße Geranien vor den Fenstern.

Eine ältere Frau in einer Arbeitsschürze, wie ich sie von meiner Oma her kannte, zupfte im Parterre an den Blumen und summte ein fröhliches Lied.

„Grüezi“, sagte sie mit einem Lachen im Gesicht, als sie mich erblickte.

Ich nickte ihr höflich zu und brachte vor Aufregung die Zähne nicht auseinander, um sie ebenfalls zu grüßen. Etwas unsicher suchte ich mit meinen Augen nach einer Tür, die mit LEBEN AG beschriftet war, oder irgendeinen Hinweis auf den Firmeneingang, während die alte Frau mich im Blickwinkel beobachtete.

„Suchen Sie jemanden?“, fragte sie mich schließlich und entblößte mit ihrem Lächeln ihre weißen Zähne.

„Na ja, ich muß zur LEBEN AG“, erklärte ich ihr unsicher.

„Müssen“?, fragte sie lächelnd.

Ich schaute sie verwundert an. Dann zeigte sie mit ihrer Hand auf eine Treppe mit einer Eingangstüre und ging wieder summend zu ihren Geranien.

Im Eingangsbereich des Hauses war es kühl und über einen Steinboden ging es zum Empfang, wo mich eine junge Frau begrüßte. Sie stellte sich mir als „Angelina“ vor, sprach mich mit „Du“ an, was mich nicht im Mindesten störte, und zeigte auf eine große, antike Polsterecke, auf der ich Platz nehmen sollte. Einen Kaffee lehnte ich dankend ab. Mir war klar, dass ich viel zu früh war, und ich rechnete damit, dass ich bis exakt halb neun oder länger warten müsste, so wie bei anderen Unternehmen auch. Diese Machtdemonstration der Führungskräfte war mir schon vertraut.

Ich war irgendwie durch mit dieser Art von Wirtschaftspolitik. Seit Jahren war ich für Arbeitgeber als Angestellte tätig gewesen und hatte stets mein Herzblut in die Positionen investiert. Meist überging man mich jedoch bei der Lohnrunde und nur selten bekam ich etwas ab. Allein durch die teilweise unfreiwilligen Wechsel gelang es mir, mich lohnmäßig zu steigern. Und tatsächlich hatte ich heute kein schlechtes Gehalt, doch seltsamerweise hatte ich immer genau gleich wenig Geld auf dem Konto, egal, wie viel mehr ich verdiente. Mit meinen 38 Jahren zählte ich schon beinahe zum alten Eisen und ohne die Weiterbildung XY war ich zu teuer für einen Arbeitgeber, weil der eidgenössische Lappen fehlte. Berufs- und Lebenserfahrung zählten offenbar nur halb so viel.

Die vielen Regeln innerhalb dieser Unternehmen nervten mich seit vielen Jahren und ich fühlte mich eingeengt. Für zwei Prozent der Verstöße einzelner Mitarbeiter wurden 100 Prozent der Angestellten mit Checklisten und Vorschriften zubetoniert. Ein Atmen am Arbeitsplatz war kaum mehr möglich, von Entfaltung keine Rede. Die ständige Überwachung, die es laut Datenschutz nicht geben durfte, war omnipräsent. Jeder misstraute mittlerweile jedem und jeder schwärzte den anderen an. Wenn ich mir die Webseiten der Unternehmen ansah, bei denen ich mich bewarb, waren das Leitbild, die Vision und die Werte auf heile Welt getrimmt. Hinter den Türen sah es jedoch anders aus. Doch ich musste mir des Öfteren anhören, dass ich zu sehr schwarz-weiß dachte und ohne Wirtschaftsstudium keine Ahnung von diesen Prozessen hätte. Doch ich glaubte nach wie vor daran, dass ein gutes Bauchgefühl etwas zählte. Schließlich musste man kein Wirtschaftsstudium absolvieren, um zu wissen, wie man sich als Arbeitnehmer in diesen Firmen fühlte.

„Colette?“ Ein nicht unattraktiver Mann in Jeans und einem Poloshirt mit irgendwelcher Werbung darauf stand vor mir. Er hatte einen sonnengebräunten Teint. Ich hätte schwören können, dass er entweder segelte oder Golf spielte. Ich erhob mich.

„Ja?“, antwortete ich und gab ihm die Hand.

„Ich freue mich. Ich bin Tony Leben. Ist es okay, wenn wir uns duzen?“

Verdutzt blickte ich ihn an. Kein Anzug, keine Krawatte und auf Augenhöhe mit dem Chef.

„Ja natürlich.“ Mehr brachte ich nicht raus.

„Lass uns auf die Terrasse gehen. Da ist es windstill und die Sonne scheint.“

Etwas unsicher folgte ich ihm aus dem imposanten Gebäude hinaus auf die besagte Terrasse. Es war herrlich mild. Mit Blick auf den Bodensee schien mir die Sonne direkt ins Gesicht, eine mediterran wirkende Ecke mit Rattan-Möbeln lud zum Verweilen ein, und Tony Leben servierte mir höchst persönlich Kaffee, Croissants und Orangensaft.

„Ich bin leider viel zu früh“, entschuldigte ich mich, aber Tony winkte lachend ab.

„Du bist genau richtig! Manchmal ist das ganz gut, früher unterwegs zu sein. Ich habe heute noch viel zu tun, von daher ist dein Timing perfekt. Valentina kommt auch gleich. Und so kannst du den Tag nachher auch wieder optimal nutzen.“

Er zeigte auf das Haus und lachte mir herzlich ins Gesicht. Als er einen jungen Mann in schludrigen Hosen und T-Shirt erblickte, der sich an einer Hecke zu schaffen machte, um sie zurückzuschneiden, rief er ihm zu: „Hallo, Ahmad, bist du gut aufgestanden?“

Der junge Mann mit dunkler Haut und schwarzen Haaren winkte ihm ebenso freudig zurück. „Mir gehe gut, dankeschön, Chef“, rief er mit einem breiten Lachen im Gesicht.

„Ahmad kommt aus Afghanistan. Er hat seine Eltern verloren, als er in die Schweiz geflohen ist. Die Gartenarbeit macht ihm sehr viel Spaß und wir sind glücklich, dass er bei uns ist.“ Tony drehte sich zu mir um. Die Offenheit schockierte mich beinahe etwas.

Stöckelschuhschritte verrieten, dass eine Frau im Anmarsch war, als auch schon Valentina Bresciani vor mir stand. Sie war eine italienische Schönheit, Ende Vierzig, mit vollem, schwarzem, langem Haar, braun gebrannt, sehr adrett gekleidet und mit einem ebenso herzlichen Lachen im Gesicht.

„Buongiorno, meine Lieben, ist es nicht wieder herrlich heute Morgen?“ Sie grüßte mich, schnappte sich ein Glas Orangensaft und ließ sich in einen Sessel plumpsen.

„Dann wollen wir mal“, sagte Tony schließlich und rückte näher an den Tisch heran. „Du hast dich für die Stelle im Personal bei uns beworben, richtig?“, vergewisserte er sich und lächelte mich an.

Ich nickte, und Valentina stellte ihr Glas auf den Tisch. Nun wartete ich gespannt darauf, dass sie mir erklären würden, wie das Bewerbungsgespräch ablaufen sollte, dass wir uns gegenseitig vorstellen würden, dass sie mir die Firma vorstellen würden und so weiter. Ganz die übliche Vorgehensweise. Ich kannte das Prozedere. So war es in jedem Unternehmen. Mir fiel nur auf, dass keiner von den Beiden irgendwelche Unterlagen, Schreibzeug oder einen Notizblock bei sich hatte.

„Also, zuerst einmal, Colette: Heute geht es darum, dass wir uns kennenlernen. Ich glaube, wir müssen dir die Firma nicht speziell vorstellen. Ich gehe davon aus, dass du auf der Website gesehen hast, wer wir sind und was wir tun. Wenn du dennoch gerne mehr hören würdest, können wir dir natürlich von LEBEN AG mehr erzählen. Aber so etwas kann jeder auf eine Internetseite schreiben. Einen Betrieb lernst du erst kennen, wenn du in ihm arbeitest. Wenn du Fragen hast, stelle sie bitte einfach. Es ist wie in einer Beziehung. Am Anfang liebäugelt man miteinander und wenn es dann ans Eingemachte geht, lernt man sich besser kennen. Und für uns ist es wichtig, dass wir heute ein wenig mehr von dir erfahren und du mehr von uns. Und wenn man dann ‚ja‘ zueinander sagt, dann beginnt die eigentliche Arbeit, miteinander und aneinander. Ist das okay für dich?“, fragte mich Valentina.

Ich nickte. Tony Leben und seine Personalleiterin tauschten einen vielsagenden Blick aus, als sie bemerkten, dass ich etwas irritiert dreinschaute.

„Es ist uns klar, dass wir sehr viel über LEBEN AG und die Produkte erzählen könnten, über die Geschichte und unsere Kunden. Aber in diesem Gespräch geht es wirklich darum, sich gegenseitig zu beschnuppern.“

Ich lehnte mich in meinem Sessel zurück und stimmte zu. Das machte Sinn.

„Colette, ich bin Tony Leben, 53 Jahre alt, lebe mit meiner Frau und meinen beiden Kindern hier auf diesem Gutshof. Seit gut zehn Jahren leite ich meine eigene Firma, die LEBEN AG. Als Kind hat man mich weggegeben. Ich war der Sohn einer Frau, die mich nicht haben wollte oder konnte. Ich habe das nie herausgefunden, aber es war auch nicht wichtig, in der Vergangenheit herumzuwühlen. Ich habe meinen Frieden mit ihr gemacht. Zuerst wurde ich von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, bis ich schließlich adoptiert wurde. Heute bin ich dankbar, dass ich eine so liebevolle Ehefrau gefunden habe, und meine beiden Kinder liebe ich über alles. Ich versuche derzeit gerade Reiten zu lernen. Das war schon immer ein Wunsch von mir.“ Tony lachte verlegen und winkte ab. „Ich bin noch nicht besonders gut darin. Kannst du reiten?“

Ich blinzelte und nickte.

„Hervorragend, das passt doch.“ Valentina klopfte Tony leicht auf die Schulter. „Perfekt, ich sagte doch, das könnte gut passen.“

Ich schaute zuerst zu Tony, dann zu Valentina.

„Wir beschäftigen hier insgesamt 121 Personen, die für LEBEN AG arbeiten. Und wir suchen jemanden im Personal, der die Nachfolge von Valentina antreten kann.“

Ich blickte zu ihr hinüber. „Möchte sie weggehen?“, fragte ich verwundert, doch Tony schüttelte den Kopf.

„Nein, ganz im Gegenteil, aber wir möchten uns noch mehr auf den Menschen konzentrieren und da bleibt die Administration oft zu lange liegen. Außerdem ist eine gute Stellvertretung sehr wichtig und ich möchte nicht, dass Valentina stressbedingt an ihre Grenzen kommt.“

Eine Pause entstand, bis ich sagte: „Ich habe aber noch nie im Personalwesen gearbeitet.“

Valentina lächelte. „Das ist genau das, was wir suchen.“

Und nun war ich total irritiert. „Ich meine, es gibt so viele, die da bereits alles mitbringen, ich verstehe nicht ...“, sagte ich.

Tony blieb mir die Antwort nicht lange schuldig. „Das wissen wir. Wir wurden auch überschüttet von tollen Dossiers. Aber …“ Er machte eine Pause. „Es gibt eine alte Geschichte aus Asien, weißt du. Magst du sie hören?“, fragte mich Tony und ich nickte abermals. Er nahm sich eine Tasse Kaffee und lehnte sich im Sessel zurück. „Da kam ein Unternehmer zu einem Mönch und bat ihn, ihn zu unterrichten. Aber der Mönch schickte ihn mit den Worten wieder weg: ‚Ich kann dich nichts lehren, denn dein Kopf ist bereits voll. Wenn dein Gefäß leer ist, dann komme wieder.‘ Verstehst du? Nur, weil jemand schon alles gelernt hat, was die Bücher ihn gelehrt haben, muss er nicht zwingend etwas von der Materie - wie beispielsweise dem Personalwesen - verstehen. Neudeutsch heißt das ja ‚Human Resources‘, also die Ressource Mensch zu nutzen, und das ist bei uns ein ganz wichtiger Punkt. Deswegen ist es gut, wenn du die ollen Kamellen der Schule gar nicht so gut kennst. Natürlich gibt es Dinge wie Vorschriften, Gesetze und so weiter, aber das kann man alles lernen. Schließlich profitiert die ganze Firma davon, wenn jemand neu ins Unternehmen kommt und möglicherweise eine ganz andere Sicht der Dinge mitbringt.“

Dann übernahm Valentina das Wort. „Ich möchte dir eine Frage stellen.“ Sie blickte mich milde lächelnd an.

Ich war gespannt. Schließlich hatte ich mich vorbildlich auf dieses Gespräch vorbereitet, ich wusste alles über diese Firma, was es auf der Website zu lesen gab.

„Was soll einmal auf deinem Grabstein stehen?“ Diese Frage jedoch gehörte nicht zu denen, auf die ich mich vorbereitet hatte.

Dieses Gespräch wurde immer seltsamer, aber irritierenderweise fühlte ich mich wohl. „Ich habe leider keine Ahnung, was du meinst.“ Und das war eine ehrliche Antwort.

„Hast du dir noch nie Gedanken darüber gemacht? Oder darüber, was die Leute an deinem Grab einmal über dich sagen werden?“

Langsam schüttelte ich den Kopf, so etwas war mir bisher noch nie in den Sinn gekommen. Ich war zwar nicht mehr die Jüngste, aber ich fand, dass das ein Thema weit weg von mir war.

„Siehst du, Colette, wenn du einmal bei einer Beerdigung gewesen bist, dann wirst du bemerkt haben, was die Leute über diesen Menschen zu berichten haben. Vieles wird nach dem Tod zwar gerne etwas schöngeredet, aber es gibt doch einen Hinweis, wer dieser Mensch zu Lebzeiten gewesen ist. Du siehst, wie viele Menschen zur Beerdigung kommen. Und meist sind es nur diejenigen, die dich wirklich gerne hatten, und dann erzählen sie vom Leben des Verstorbenen und was dieser Mensch in ihrem Leben bewirkt hat. Außerdem weißt du an seinem Grab, was der Verstorbene in seinem Leben alles erlebt und was er möglicherweise verpasst hat. Also eine hervorragende Gelegenheit, sich das jetzt schon einmal vorzustellen, was man erlebt haben möchte. Du konzentrierst dich danach ganz anders auf dein Leben, weil du dann ab sofort verursachen kannst, was du erlebt haben möchtest. Außerdem verstehst du die Wichtigkeit des Lebens erst, wenn du begriffen hast, dass es jederzeit enden könnte.“

Mir wurde schwindlig, ich verstand und verstand doch nicht. Was hatte das alles mit einem Bewerbungsgespräch zu tun?

Tony schlürfte aus seiner Kaffeetasse und hatte mich im Blick. Die Sonne hatte die Luft aufgewärmt; in meiner Nähe schwirrte eine Biene vorbei. Ich suchte nach einer möglichen Antwort, die im Bewerbungsgespräch gerne gehört werden könnte, aber mir fiel zu so einem Thema nichts ein.

Also antwortete ich so ehrlich, wie ich konnte: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was das mit dem Inserat zu tun hat.“

Valentina blickte hinüber zu Tony. Aber anstatt auf meinen Input einzugehen, fragte sie mich: „Gehst du gerne arbeiten?“ Als ich nicht antwortete, lächelte sie. „Ich meine, so richtig gerne, jeden Tag. So, dass du dich am Sonntag schon darauf freust, am Montag wieder hinzugehen?“

In einigen Büchern hatte ich davon gelesen, dass es Menschen gab, die solche Jobs hatten. Ich wurde noch unsicherer: „Na ja, wenn ich Schriftstellerin wäre, dann vielleicht, oder wenn ich ein tolles eigenes Hotel hätte, dann vielleicht, aber als Angestellte …? Ich meine, man muss doch arbeiten gehen?“ Kaum hatte ich den Satz beendet, war ich der Meinung, alles verkehrt gemacht zu haben.

„Du bist ehrlich, das gefällt mir“, entgegnete Tony. „Und ich kann verstehen, warum du so denkst. So denken viele.“ Er machte eine Pause. „Leider.“

Valentina nickte zustimmend: „Aber ist das auch wirklich wahr?“ Sie schaute mich erwartungsvoll an.

„Natürlich ist es wahr, sonst wäre ich längst Millionärin!“ Etwas unnatürlich schnaubte ich auf.

„Wärst du denn gerne Millionärin?“ Tony nahm meine Frage tatsächlich ernst. Er sah mich lange an. Etwas demaskiert, wie ich mich fühlte, stimmte ich leise zu.

„Millionär sein zu wollen, ist nichts Verkehrtes. Aber warum möchtest du Millionärin werden?“ Tony hatte seinen Blick immer noch auf mich gerichtet.

„Na, damit ich nicht mehr arbeiten muss?“

Valentina schmunzelte: „Und was würdest du den ganzen Tag über tun?“

Ich überlegte nicht lange: „Mit meinen Freunden am Pool herumhängen und Cocktails trinken, die Welt bereisen, so etwas halt.“ Vielleicht war es dumm, solche Antworten zu geben. Und ich hatte Angst, die Stelle nicht zu bekommen, weil ich Unsinn redete. So dringend wollte ich aus meinem jetzigen Arbeitsverhältnis raus.

„Hast du denn viele Freunde, mit denen du das machen könntest?“, fragte mich Tony.

Ich kniff die Lippen zusammen. „Nein, das noch nicht, aber …“ Ich stockte.

„Woher kommen denn dann deine Freunde, wenn du Millionärin bist?“ Valentina brachte mich ins Schwitzen.

„Ich weiß nicht“, sagte ich langsam.

„Schachmatt“, lächelte Tony.

„Wir wollten dich nicht in die Ecke drängen, verzeih.“ Valentina schaute hinauf in den blauen Himmel.

Nur ein paar beinahe durchsichtige, weiße Wolken zierten das Himmelszelt und ein Flugzeug hatte einen weißen Kondensstreifen hinterlassen.

Die Frage klang in mir nach. Woher sollten diese Freunde kommen? Das war wirklich eine berechtigte Frage. Vor allem, was für eine Art Freunde sollte das dann sein?

Valentina fuhr fort: „Weißt du, Arbeit kann sehr befreiend und erfüllend sein. Deine Antworten sind typisch für eine junge Frau, die man zu sehr in Schubladen drängen wollte, um sie für unser System kompatibel zu machen. Auf deinem Grabstein werden eines Tages dein Geburtsdatum und dein Todesdatum stehen und dazwischen ist ein Bindestrich. Aber dieses kleine Zeichen, dieser kleine Bindestrich ist dein ganzes Leben und das, was du daraus machst. Alles, was du bist und was du erlebst, das ist dieser Bindestrich. Und jeder Tag kann zu einer Freude werden, wenn du das tust, was du gerne tust, zusammen mit den richtigen Menschen. Und ich glaube, dass wir uns das schuldig sind.“

Einen Moment überlegte ich, dann fing der Gedanke an, mir zu gefallen. Aber irgendwie war es auch ganz schön abstrus, was die beiden mir hier erzählten. Sie konnten ja gut reden. So, wie sie aussahen, waren sie vom Leben verwöhnt und hatten genügend Geld. Dann konnte man schon so reden.

Valentina schien meine Gedanken zu erraten. „Tony hat schon kurz über sich gesprochen, ich möchte dir etwas zu mir erzählen. Also, ich lebe alleine, mein Kind ist vor 20 Jahren gestorben. Mein Mann hat mich damals verlassen. Ich bin nach einer Krebserkrankung neu erblüht und arbeite hier seit sechs Jahren. Als junge Frau war ich alkoholabhängig und depressiv. Heute bin ich dankbar für diese Erfahrungen, weil sie mich weicher und stärker gemacht haben, beides zusammen. Die Grabrede hat mir geholfen, einen neuen Blickwinkel auf die Dinge zu bekommen. Und sie hat mir geholfen, diese Arbeit hier anzunehmen und daraus meine Berufung zu machen.“

Ich schluckte. Das Surren der Heckenschere untermalte die Szene. Ahmad war schweißgebadet dabei, Hecken zu schneiden, und das mitten im Juni. Dann und wann spürte ich den Blick des jungen Mannes aus Afghanistan auf mir ruhen. Wenn ich ihn dann kurz anschaute, lächelte er und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. Ich lächelte zurück. Er sah zufrieden aus. Aus Afghanistan also kam er, ein Flüchtling also. Ich hatte nichts gegen Ausländer, aber irgendwie machten mir Männer aus dieser Ecke der Welt immer Angst. Ahmad sah so friedlich aus, beinahe verletzlich, wie er leidenschaftlich an den Hecken herumschnibbelte.

„Möchtest du uns von dir erzählen?“, fragte mich Tony.

Ich setzte mich aufrecht hin, als würde ich in der Schule aufgerufen, meinen Vortrag aufzusagen. „Mein Name ist Colette Freiburghaus, ich bin 38 Jahre alt, lebe seit sechs Monaten mit meinem Freund Jürg zusammen, habe eine Lehre als kaufmännische Angestellte gemacht und arbeite seither als Sachbearbeiterin oder kaufmännische Allrounderin.“

Tony blickte mich beinahe liebevoll an. „Und wer bist du in deinem Privatleben? Du reitest, wie du vorhin gesagt hast.“

Ja, das stimmte, ich war früher geritten, aber das war lange her. Wer war ich privat? Neben Jürg hatte ich nicht viele Hobbys, schließlich arbeitete ich im Vollpensum von 100 Prozent und hatte eine Vierzimmerwohnung zu unterhalten. Da war ich froh, wenn ich abends in den Sessel plumpsen und mir im Fernsehen meine Serien ansehen konnte. Mir war jedoch bewusst, dass sie das nicht hören wollten.

„Versuche nicht, uns zuliebe etwas zu kreieren, sei einfach du selbst“, holte mich Tony aus meinen Gedanken.

Also überlegte ich neu.

„Um ehrlich zu sein, bleibt da nicht viel Zeit für Privatleben. Oft komme ich von der Arbeit nach Hause und bin dann komplett hinüber. Ich hocke mich vor die Glotze und das war’s dann.“ Am liebsten hätte ich mir auf die Lippen gebissen. Schon wieder war ich so ehrlich gewesen. Dabei hätte ich doch erzählen müssen, dass ich sportlich war, Früchte selbst einkochte, mehrmals die Woche in irgendeinem Verein war und sonst noch haufenweise hippe Hobbys hatte. Ich kam mir gerade sehr langweilig vor.

„Mir gefällt, dass du so geradeheraus bist“, meinte Tony mit einem Lächeln.

Und das wiederum gefiel mir, denn bisher war das meist mein größtes Problem gewesen, und so hatte ich seit Jahren versucht - je nach Chef, je nach Firma, je nach Situation - die Colette zu zeigen, die sie gerne sehen wollten. Und in dieser Hauptsportart versagte ich regelmäßig, weil ich leider nicht hellsehen konnte.

„Wir können später einmal ausführlich über unsere Hobbys sinnieren, bei einem Glas Wein“, erklärte Tony. Bei einem Glas Wein? Ich schüttelte unmerklich den Kopf, ich war mir nicht sicher, was das wirklich für ein Gespräch war.

Valentina wechselte das Thema: „Bei der Stelle geht es um klassische Administrationsarbeit im Bereich Personal, wie Zeugnisse schreiben und Löhne berechnen. Und zu einem späteren Zeitpunkt möchte ich dich in die Personalbetreuung einführen. Möchtest du im Pensum von 100 Prozent arbeiten?“

Wie gerne hätte ich weniger gearbeitet, aber das ließ mein Portemonnaie leider nicht zu. „Ja.“ Meine Antwort fiel knapp aus, ich war mir nicht sicher, ob ich nicht wieder irgendwelchen Unsinn von mir geben würde, wenn ich mehr dazu sagte.

„Würde es dir denn gefallen, im Bereich Personalwesen zu arbeiten?“

Noch bevor Valentina diese Frage vollständig ausgesprochen hatte, nickte ich heftig. Das war immer ein Traum von mir gewesen, aber überall wurde die Ausbildung zum Personalsachbearbeiter oder zur Personalfachfrau verlangt. Ohne Zertifikat hatte man keine Chance. Und ich hatte nicht das Geld dazu, von der Berufserfahrung ganz zu schweigen, die es brauchte, um die Weiterbildung absolvieren zu können. Außerdem war ich schon zu alt für all das und wie hätte ich das bloß zeitlich unter einen Hut bekommen?

„Wann könntest du denn anfangen?“

Tony hatte seine Frage an mich gerichtet und ich antwortete schnell: „Wenn ich noch diese Woche kündige, dann in zwei Monaten.“ Hoffentlich war das nicht unverschämt gewesen.

Valentina überlegte einen Moment: „Das wäre dann am ersten September. Das ist zwar kurz vor den Messen, aber irgendwie kriegen wir das schon hin. Hast du schon einmal auf Messen gearbeitet?“

Ich sah sie unsicher an. „Ich dachte, ich würde im Personalbüro arbeiten?“

Tony lachte laut: „Klar, aber Personal braucht es auch auf den Messen, und das ist die Zeit, in der am meisten läuft. Da packen alle mit an.“

„Oder hast du was dagegen, an Messen mitzuarbeiten?“, fragte mich Valentina freundlich.

„Ich, oh, ähm, nein. Das ist schon alles okay.“ Stotternd gab ich Antwort. Die beiden waren mir sehr sympathisch. Je länger das Gespräch dauerte, umso mehr bemerkte ich, dass ich diesen Job irgendwie unbedingt wollte.

Nach ein wenig Smalltalk hörten wir noch immer die Heckenschere brummen.

„Ahmad, kannst du bitte mal herkommen?“, rief Tony den jungen Mann. Dieser schaltete das Gartengerät aus, legte es zu Boden und kam näher. „Ahmad, das ist Colette. Colette, das ist Ahmad.“ Ahmad putzte sich die Hände an seiner Jeans und begrüßte mich. „Colette ist hier, um zu schauen, ob sie bei uns arbeiten möchte.“

Die Wortwahl fand ich beinahe schon seltsam. Sie waren in der Machtposition, mir zu sagen, ob sie mich wollten und nicht umgekehrt.

Ahmad strahlte Tony an und überlegte nicht lange. „Das gute Idee. Nette Frau, nette Augen, gutes Herz.“ Er lachte mich an und nickte. „Ist gutes Wahl.“

Valentina klopfte ihm auf die Schulter. „Du wirst immer besser mit deinem Deutsch und das nach so kurzer Zeit. Ich bin beeindruckt.“

Das Kompliment schien Ahmad zu gefallen, also lachte er weiter über das ganze Gesicht.

„Du würdest sie also einstellen, Ahmad?“ Tony sah ihn ernst an. Als Ahmad lächelte, sagte Tony: „Okay, gut, dann bitte überlege dir, Colette, ob du zu uns kommen möchtest oder nicht. Ahmad hat die Wahl getroffen. Ich vertraue ihm.“

Ohne lange zu überlegen und auf mein Bauchgefühl hörend, sagte ich spontan zu.

Eingehüllt in eine Mischung von Glückseligkeit und völliger Verwirrtheit fuhr ich nach Hause. Irgendwie hatte mich das Gespräch komplett durcheinandergebracht. Erst zu Hause war mir aufgefallen, dass ich „ja“ zu einem neuen Job gesagt hatte, von dem ich weder wusste, wie viel ich verdienen würde, noch irgendwas sonst von den Anstellungsbedingungen kannte. Außerdem war es sehr seltsam gewesen, dass ich aufgrund der Empfehlung eines Flüchtlings meine Zusage erhalten hatte, und dabei hatten sie mich um eine Entscheidung gebeten und nicht umgekehrt. Ich war noch gar nicht in der Lage, jemandem von dem Gespräch zu erzählen, hatte ich doch insgeheim Angst, das alles wäre nur ein Traum und ich würde bald aufwachen. Vielleicht war die Sache mit Ahmad auch nur ein Trick. Doch bevor ich weiter zweifeln konnte, teilte mir mein Mobiltelefon mit, dass ich eine E-Mail erhalten hatte. Ich saß an meinem Tisch in der Küche, als ich las, dass Valentina mir die Jobzusage schriftlich bestätigte und ich am ersten September um neun Uhr dort sein sollte. Alles Weitere würden wir dann besprechen, auch Einzelheiten wie Vertrag und Lohn. Und so kam es, dass ich nur aufgrund eines Gesprächs, der Empfehlung eines Flüchtlings und einer E-Mail meinen alten Job kündigte und einen Neustart wagte - bei LEBEN AG.

2. Der Mitarbeiter im Mittelpunkt

 

Der erste September rückte also näher. Als ich meine bisherige Stelle kündigte, ging der Terror erst richtig los. Zuerst wusste ich nicht genau, an wen ich mein Kündigungsschreiben überhaupt richten sollte, schließlich steckte die Firma Schneit Kirl AG mitten im Zusammenschluss mit Götte Transport AG. Von Zusammenschluss konnte eigentlich keine Rede sein, wenn man ehrlich war. Götte Transport AG hatte Schneit Kirl AG einfach geschluckt, basta. Es war lächerlich, mit wie viel Energie das schöngeredet wurde. Aber um es richtig schön kompliziert zu machen, war Götte Transport AG der Schweizer Standort eines großen internationalen Logistik-Rings, und so gab es einen internationalen Management-Bereich, der nach Kontinenten, Ländern und Regionen aufgeteilt war. Ebenso die zentralen Dienste wie beispielsweise die IT, die Personalabteilung oder die Finanzen. Diese wiederum arbeiteten allerdings regionen- und länderübergreifend komplett anders. In den Abteilungen waren einzelne Mitarbeiter den Kontinenten zugeteilt und andere gemäß ihren Fachgebieten wie Transport, Luft, Schiff und Zoll / Einfuhr. Meist wusste die linke Hand nicht, was die rechte tat.

Ich konnte mich gut daran erinnern, wie ein Mittvierziger in Armani-Anzug und mit Designer-Bart den Lkw-Fahrern die neue Firmenstruktur anhand eines ellenlangen Organigramms erklärt hatte. Den Mitarbeitern in verschwitzten Unterhemden, die nach einem rund zehnstündigen Arbeitstag, der um vier Uhr morgens begonnen hatte, müde dasaßen, waren die Fragezeichen im Gesicht abzulesen gewesen.

Jedoch nicht so für den Armani-Verschnitt. Allein die Sprache, die der Typ benutzte, verwirrte selbst mich. Ich verstand nur Bahnhof und als er nach offenen Fragen fragte, hätte ich mich nie getraut, eine zu stellen. Er hätte uns möglicherweise weiter in Fachenglisch Dinge erklärt, die noch mehr Fragen aufgeworfen hätten. Bei der Hälfte der Präsentation erfuhren wir dann schließlich auch in unserem Deutsch, dass der Typ anscheinend zur neuen Geschäftsleitung gehörte. Ich hatte ihn nach diesem Vortrag nur noch zweimal am Standort Altenrhein gesehen.

Mittlerweile hatte ich selbst keinen Durchblick mehr, wer zu welchem Kreis oder Department gehörte oder wie sich das neu nannte. Zudem hatte ich jetzt zwei Chefs. Allerdings zwei, die ich nie zu Gesicht bekam, die mich aber ständig mit E-Mails bombardierten, die dem Ton nach zu urteilen grundsätzlich negativ klangen. Außerdem warfen alle mit möglichst vielen englischen Wörtern um sich, die zwar keiner wirklich verstand, aber wenigstens „hip“ klangen.

Ich gehörte als Sachbearbeiterin zur Hälfte zum Bereich Transport des Departments Schweiz und zur anderen Hälfte zum Department Schifffahrt Europa. Der eine Vorgesetzte war zwar weisungsberechtigt für den Bereich, in dem ich arbeitete, aber nicht mein direkter Chef. Er war zudem auch nicht unterschriftsberechtigt für Belange aus Altenrhein. Der andere war mir gegenüber weisungsberechtigt, hatte aber keine Befugnis für den Bereich, in dem ich arbeitete. Die Logik dieser Organisation entzog sich mir vom ersten Moment an. Wer für uns in der Personalabteilung zuständig war, war ohnehin nicht mehr klar, hatte doch auch Cindy vom Personalbüro plötzlich selber zwei neue Vorgesetzte: Einen im Bereich Europa, der in Zürich saß, und einen im Department internationales HR, der in England saß. Sie wiederum befand sich plötzlich ohne ihre bisherigen Kompetenzen und neuen seltsamen Anweisungen ebenso in der Falle wie ich und wie wir alle. Obwohl sie die ganze Personalabteilung jahrelang alleine gemanagt hatte - von der Vertragserstellung bis zur Freisetzung einschließlich der Betreuung von Mitarbeitern und deren Coaching und Lohnverarbeitung - hatte man sie ohne vorherige Absprache von der Personalgeneralistin zur Personalassistentin degradiert. Währenddessen huschte ein zehn Jahre jüngeres Modellmäuschen alle paar Wochen einmal durch die Gänge und erzählte ihren Chefs davon, wie gut sie ihren neuen Job als Personalbetreuerin machte, und kassierte einen dicken Gehaltscheck, dessen Höhe weit über dem lag, was ihrer Leistung angemessen gewesen wäre. Sie meinte sogar, die Leute hätten langsam Vertrauen zu ihr. Was für ein guter Witz! Sie war ja nie physisch da. Im persönlichen Gespräch mit einem Angestellten hatte ich sie nie gesehen. Wenn sie denn mal wirklich und leibhaftig vor Ort war, saß sie meist in ihrem Büro, verbarrikadierte sich für Telefonkonferenzen, die sie „Call“ nannte und ging früher nach Hause, weil sie meist genau an diesen Tagen einen Friseurtermin oder sonst etwas hatte. Außerdem machte sie einen verstörten und dauergestressten Eindruck. Welcher Angestellte wäre da freiwillig zu dieser Person gegangen?

Cindy versuchte, die Fassade freundlicherweise aufrecht zu erhalten, damit wir Angestellten nichts mitbekamen. Aber wir alle sahen, wie beschissen es ihr ging.

Der Standort in Altenrhein war nicht wichtig genug, als dass die neuen Chefs, die zwar laufend neue Vorgaben übermittelten, aber selber vor Ort nicht für deren Umsetzung sorgten, sich auch selber in Altenrhein zeigten. Neue Reglements, teilweise in Englisch, forderten uns alle heraus. Wir begriffen kaum mehr, was von uns verlangt wurde. Beinahe täglich änderten sich die Strukturen, ohne dass wirklich klar kommuniziert wurde, worum es ging. Vielleicht hätte ein Hellseherkurs geholfen, die Dinge zu erahnen, für deren Nichtfunktionieren wir schließlich in der Folge sanktioniert wurden. Die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Ich kam mir vor wie auf einem Schlachtfeld. Jeder gegen jeden. Als dann auch noch die Führungsschwäche der letzten Jahre von der neuen Führungsequipe thematisiert wurde, anstatt diese mit den Beteiligten zu reflektieren und als Chance aufzuarbeiten, fing jeder an, sein Schwert zu zücken und auf jedem Anderen herumzuhacken, nach oben zu schleimen und nach unten zu treten.

Glücklich war, wer seit Jahren ein Team von alteingesessenen Kollegen hatte. Selbst wenn dieses nur aus Hassliebe zusammenhielt. Hauptsache war, man hatte Verbündete. Ich hatte keine Chance, da ich mit einem Dienstjahr quasi noch immer neu war. Ich kam vollends unter die Räder. Plötzlich war ich für Fehler verantwortlich, die mein Chef selbst verbockt hatte. Aber mit seiner komplizierten Art wusste hinterher schließlich niemand, wer der Urheber gewesen war. Hauptsache viele E-Mails. Hauptsache viel Blabla. Oft bekam ich Vorlagen aus der neuen Firma (unsere eigenen waren plötzlich nichts mehr wert), die ich mühsam auf unsere Bedürfnisse umschreiben musste. Nur damit mein neuer Vorgesetzter sie wieder überarbeiten und völlig unnötiges Zeugs reinschreiben konnte, um mir dann Blätter voller Fehler zurückzugeben. Wenn ich diese nicht alle erkannte, beklagte er sich nicht etwa bei mir, sondern bei meinem bisherigen Chef mit dem Hinweis, ich würde zu viele Fehler machen. Diese stammten jedoch letzten Endes aus seiner eigenen Feder. Dass ich noch keine einzige fehlerfreie Nachricht von ihm bekommen hatte, wagte ich kaum laut zu sagen. Der Ton, den er jeweils im Gespräch anschlug, hieß mich zu schweigen, und ich fühlte mich wie ein Schulmädchen behandelt. Ich erfuhr auf Umwegen, dass er ein Betriebswirtschaftsstudium gemacht hatte, aber nie die Arbeit von der Pike auf gelernt hatte. Was vielleicht erklärte, warum wir plötzlich für einfache Änderungen, die bisher in zwei Sätzen erledigt worden waren, vierseitige Dokumente schreiben mussten, die jeder Logik spotteten. Außerdem hatte er versprochen, mich ins Team zu integrieren, aber nicht selten wusste das Team über Dinge Bescheid, die ich wiederum nie erfuhr. Bisher war meine Arbeit wenigstens geschätzt worden, nun kam ich mir vor wie ein Knappe, der die Launen seines Chefs abbekam. In mir entwickelte sich Angst vor ihm. Irgendwie schaffte es dieser Typ ständig, mir seine Fehler in die Schuhe zu schieben, sodass ich langsam selbst glaubte, dass ich nichts mehr auf die Reihe bekam. Außerdem gab er mir deutlich zu verstehen, dass ich für sein Team nicht gut genug war, auch wenn er sich nur wenige Male mit mir unterhalten hatte.

Viele Mitarbeiter flohen geradezu durch Eigenkündigung aus dem Unternehmen. Einige wurden unter fadenscheinigen Gründen gekündigt und am gleichen Tag freigestellt. Ersetzt wurde kaum einer. Als Angestellter nach dem 20. des Monats einen Termin mit der Führung zu haben, bereitete schlaflose Nächte. Nicht selten bedeutete das die Kündigung. Echte Kommunikation über die gekündigten Mitarbeiter fand in der Folge nicht statt. Lediglich eine nichtssagende Information hing am Schwarzen Brett, dass Herr Soundso per sofort das Unternehmen verlassen hätte. Verunsicherung und Angst wurden zur Grundlage der Zusammenarbeit. Fragen wurden nicht beantwortet. Der Datenschutz wurde als Grund genannt.

Leider nicht zum ersten Mal in meiner Karriere war ich in eine solche Situation geraten, in der Unternehmen so vorgingen. Gut, so schlimm war es vorher allerdings noch nie gewesen. Aber wenn ich ehrlich war, hatte ich ähnliche Betriebe kennengelernt. Es irritierte mich, dass so viele Unternehmen in die gleichen Trickkisten griffen und dass dies offenbar Usus in der Geschäftswelt geworden zu sein schien. Fiel nur mir auf, wie krank das war? Wenn ich mit jemandem in der Freizeit darüber diskutierte, schleuderte man mir ein Fachlatein aus der Betriebswirtschaft um die Ohren. Hatten wir nur noch theoretische Fachidioten? Mein Herz schrie. Wenn das wirklich Betriebswirtschaft war, wenn das wirklich Führung war, wenn das wirklich Unternehmensphilosophie war, wollte ich dann wirklich so weiterarbeiten? Egal, wie sehr man mir alles erklärte, ich verstand den Sinn dahinter nicht. Ich fühlte mich dumm.

Eigentlich hatte ich gehofft, dass es leichter werden würde, sobald ich gekündigt hatte. Doch das Gegenteil war der Fall. Mittlerweile hatte ich zehn Kilo zugenommen, ohne mehr zu essen, was mich noch mehr frustrierte. Innerlich war ein Druck da, der bis ins Herz ausstrahlte. Ich schlief sehr schlecht und irgendwann bemerkte ich unter der Dusche, dass mir die Haare ausfielen. Noch nie hatte ich solche Angst, jeweils am Montag zur Arbeit zu gehen, nur weil ich wieder irgendwo zu hören bekam, dass ich etwas falsch gemacht haben sollte. Oder weil es darum ging, hinter meinem Rücken über mich zu tratschen. Dabei waren nicht einmal die Kollegen das Schlimmste, sondern die Vorgesetzten selber. Und wenn es das nicht war, dann war es irgendein neuer Manager, der mit abstrusen Ideen und unklarer Kommunikation von mir und Anderen hellseherische Kräfte abverlangte, um Dinge zu erledigen, die weder erklärt worden waren, noch Sinn machten. Ich ging frühmorgens ins Büro, damit ich noch ein wenig alleine war, bevor der Rummel jeweils losging. Ab zehn Uhr schaute ich alle fünf Minuten in der Hoffnung auf die Uhr, dass es bald Mittag wurde. Dasselbe Prozedere am Nachmittag. Trotz Make-ups hatte ich schon so viel Gesichtsfarbe verloren, dass ich wie eine Dauergrippekranke aussah. Normalerweise hatte ich einen lustigen Spruch auf den Lippen, war fröhlich, doch jetzt … Seit Wochen sprach ich kaum noch, ein Lachen hatte seit längerer Zeit niemand mehr von mir gesehen. Das schien keinem weiter aufzufallen, insbesondere nicht dem neuen Businessmodellverschnitt aus dem Personalbüro. War es nicht Aufgabe von denen, sich insbesondere bei Fusionen vertieft um die Belange der Mitarbeiter zu kümmern? Sie kümmerte sich sehr erfolgreich um ihre eigenen Bedürfnisse, aber nicht um unsere.

Und Cindy? Man hatte sie wohl gemaßregelt. Sie ging wie ein Schatten die Wänden entlang. Sie wusste, dass in wenigen Monaten ihre Stelle abgebaut werden würde, weil der Zusammenschluss keine HR-Stelle mehr in Altenrhein zuließ. Aber keiner hatte ihr wirklich reinen Wein eingeschenkt. Sie wurde im Unklaren gelassen, degradiert zum Administrator profilierungsgeiler Nachwuchskräfte. Fachkräftemangel bekam unter diesen Gesichtspunkten eine völlig neue Bedeutung. Alles wurde schöngeredet, keiner hatte wirklich die Eier, ernsthaft zu sagen, was los war. Und eigentlich wussten alle, worauf es hinauslief. Unsere Umsatzzahlen standen nicht zum Besten. Wenn wir also genau hingehört hätten, hätten wir vom ersten Tag an bemerkt, dass der Standort Altenrhein zum Scheitern verurteilt war. Ich war mir sicher, dass es so oder so besser war, sich eine neue Stelle zu suchen. Ich gab der Firma keine drei Jahre mehr.

Schließlich kam der für mich erlösende letzte Arbeitstag. Zuvor hatte ich meine sieben privaten Sachen schon mit nach Hause geschleppt, sodass ich die Hände frei hatte, am letzten Arbeitstag regelrecht aus der Firma zu flüchten. Vielleicht hatte ich insgeheim dann doch auf ein kleines Präsent gehofft oder einen kleinen Apéro, der im mindesten gewürdigt hätte, dass ich eine wertvolle Mitarbeiterin gewesen sein könnte, so wie es auf der Website propagiert worden war: „Der Mensch steht bei uns im Mittelpunkt.“ Ich hatte davon nur in negativen Fällen etwas bemerkt. Was Webseiten so alles abspeicherten, ging mir seither am Allerwertesten vorbei.