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Rainar Nitzsche

Ruf der Mondin

Lieder der Nacht


Andrea, Julia, Meike und allen anderen Frauen dieser Erde, die mit der Mondin leben, sowie den Wesen der Nacht.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kinder

Ja unsere Kinder

sie fallen wie Sterne

aus den Himmeln

 

Sie steigen auf

Flammen

aus tiefsten Höllen

 

»Ich will!«

schreien sie und weinen

Sie lächeln uns an

 

»Morgen«

singen ihre strahlenden Augen

Prolog

Und diese langsame Spinne

die im Mondschein kriecht

und dieser Mondschein selber

und ich und du im Torwege

zusammen flüsternd

von ewigen Dingen flüsternd

müssen wir nicht alle schon da gewesen sein?

Friedrich Nietzsche

 

Das Herz in deinem Innern

ist voll eines Friedens

dem klaren Mondschein gleich

der die Welt durchflutet

Bassui

Stadt 1

Ich träumte, ich träume.

Was träume ich? Was träumte ich?

Nur einen Teil.

Und du und er und sie und es träumen von anderen Dingen, erträumen andere Teile.

Wir alle sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen sie.

Wir alle sind Teile des Ganzen. Auch du und ich. Wir alle nehmen teil.

Schau und höre! Beginne zu lesen! Träume weiter deine Träume!

 

In dieser Nacht schläfst du nicht ein, denn es ist Sommer und warm und voll scheint die Mondin dort oben. Noch ist Tag, schwindender Tag. In der Dämmerung dieses Abends - werdende Nacht - lässt du dich nieder auf einer Bank, einer unter vielen rings um ein bepflanztes Zentrum. Den äußeren Kreis bilden Platanen, die die Bänke bewachen. Der Name des Ortes ist Platz. Doch es ist ein kleiner Park. Wie wundervoll passend zu deinem kleinen Zimmer unter dem Dach dieser kleinen Stadt mit Namen Kaiserslautern.

Du bist allein. So lauschst du dem Brummen der Motoren und dem Murmeln der Stimmen, die immer leiser so fern verklingen. Du lauschst dem Säuseln des Laubes über dir. Dann hebst du dein Haupt, in den Nacken sinkt dir dein Kopf, deine Augen schauen empor in die Äste, Zweige und Blätter dieses einen Baumes. Du siehst den Nachtwind sanft die Blätter berühren, unter seinem Atem tanzen sie.

Während du aber schaust - starr deine Augen - fließen Bilder heran, Träume vielleicht, Gedanken? Von irgendwoher kommen sie singend geflogen, schweben auf weiten Flügeln, die mantagleich schlagen ohne Laut. Du hörst ein schwarzes Wesen ein Lied singen, dort unten in der Tiefe. Du siehst Schwärme von schwarzen Faltern, Schwärme von Schwärmern sich erheben aus dem Schädel eines Toten. Du betrachtest still tauglitzernde Spinnennetze. Am Eingang ihrer Höhle lauert die Tarantelfrau. Ach, dieser lautlose Flug der Eule. Der Uhu ruft. Fledermäuse durchjagen die warme Nacht dieses einen Sommers, der nie mehr wiederkehren wird. Und du weichst flatternd ihnen aus. Du siehst, du hörst, du fühlst, du ... blickst auf, der Vollen Mondin ins Gesicht.

Hexen ziehen auf Besen und Böcken reitend vor ihr/an dir vorüber.

Von fern ein Brüllen wie von tausend Wölfen. Der Werwolf stand auf, und nun beginnt er seine Jagd.

Du spürst tief in dir, wie die Schlangendrachen erwachen. Jetzt werden Mondkälber geboren, denkst du, - und die Kinder der Mondin. Die einen mit zwei Köpfen, die anderen groß und schlank, mit grauen Augen in blassem Gesicht, werden viel Glück im Leben haben.

Wirf die Knotenschnur über deine linke Schulter und deine Warzen heilen.

Die Mondin ruft dein Gestern dir zurück, die Volle Mondin ruft ihre Kinder.

Menschen wandeln mit ausgestreckten Armen über den Dächern dahin.

Ja, sie lockt die Diebe aus ihren Löchern, zu rauben, zu plündern und zu morden.

Was aber tun all die anderen Menschen?

Nein! Nicht du! Nicht ich!

Die anderen! Ja, die! Was tun sie?

Sie sitzen zuhause vor ihren Flimmerkisten und in den Kneipen der Städte. Sie sitzen inmitten winziger tagähnlicher Inseln, die sie sich schufen als Schutz vor der Nacht und vor der Ohnmacht des Auges vor der Schwärze. Doch sie ist in ihnen. Ja, sie könnte schlafen, noch immer schlafen. Aber wehe, wenn sie erst erwacht! Eines Tages vielleicht?

Eines Nachts mit Sicherheit wird sie aufstehen, wird sich die Dunkelheit erheben und das Licht für Äonen verlöschen.

All das ist es, was du siehst und riechst und hörst und fühlst, hier draußen inmitten der Stadt.

Tore öffnen sich dir in andere Räume und Zeiten.

Und alles beginnt wie ein Traum im Traum eines Traumes ...

Ohne Anfang, ohne Ende, ein Traum, der ewig währt.