Hjalmar Bergman

Eros' Begräbnis

e-artnow, 2017
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-7327-3

INHALTSVERZEICHNIS

Vom Rabbiner und der Schneiderswitwe

Die Geschichte von den Früchten der Aufklärung

Die Geschichte von dem unglücklichen Jüngling

Die spannende Geschichte

Philemon und Baucis

Hans Hinz und die Frauen

Frau Olga Janselius saß an ihrem halboffenen Schlafzimmerfenster und betrachtete etwas, das Anlaß zu verschiedenen Gesprächen, noch mehr Geschichten und allerlei Verwicklungen geben sollte. Die Morgentoilette der jungen Frau war nicht abgeschlossen. Sie trug einen Frisiermantel, und das schwarze Haar hing in einem ziemlich dicken Zopf über den Rücken. Gerade als dieser Zopf gelöst werden sollte, hatte die Kammerjungfer an dem Halse ihrer Herrin, gleich unter dem rechten Ohr, einen kleinen Ausschlag, einen sogenannten »roten Wurm« entdeckt. Dieses Übel wird nach Ansicht der Kammerjungfer durch einen kleinen, aber energischen Wurm verursacht, der sich in die menschliche Haut einbohrt, wobei er eine ausgesprochene Vorliebe für junge und zarte Haut zeigt. Er ist mehr lästig als gefährlich, aber muß auf jeden Fall ausgerottet werden, und dafür haben die Weisen ein ausgezeichnetes Mittel im »Kuckucksspeichel« gefunden. Der Kuckuck lebt nämlich von Würmern, und sein Speichel, den man überall auf Gräsern und Kräutern findet, ist für den Wurm ein tödliches Gift. So weit die Kammerjungfer. Frau Janselius benützte die Gelegenheit, ein wenig Aufklärung zu verbreiten. Der sogenannte Kuckucksspeichel hat nichts mit dem Kuckuck zu tun, sondern ist eine schleimige Flüssigkeit, mit der die Larve der Schaumzikade – Aphrophora spumaria – sich umgibt. Worauf Bolla, die Kammerjungfer, erwiderte, daß, ob das Zeug nun von einem Kuckuck oder einer Larve ausgespien sei, sie jedenfalls den elenden Wurm damit vertreiben werde. Und sie begab sich in fliegender Eile von dannen, ein herzzerreißendes Liedchen von einer sehr unglücklichen Liebe trällernd. Soweit war alles gut und schön.

Aber als das Mädchen über den Hof gelaufen war und gerade um die Ecke des Flügels biegen wollte, begegnete sie einem jungen Burschen. Und diese Begegnung machte ihrer eiligen Geschäftigkeit ein Ende. Frau Janselius kannte den Burschen nicht, aber sie nahm an, daß er ein Saisonarbeiter sei, zum Torfausstechen aufgenommen. Ferner nahm sie an, daß Bolla stehengeblieben war, um irgendwelche Aufschlüsse bezüglich des Kuckucksspeichels einzuholen. Die erstere Annahme war richtig, die letztere dagegen nicht. Gewisse herausfordernde Bewegungen von seiten des jungen Mannes, gewisse weiche Schlängelungen des Mädchens überzeugten sie, daß das Gespräch eine galante Wendung genommen hatte. Frau Janselius seufzte. Sie steckte den Zeigefinger in den Mund und bestrich den roten Wurm mit ihrem eigenen Speichel – denn auch das soll gut sein –, worauf sie ihren Zopf auflöste, ihr Haar kämmte und es aufsteckte. Sie seufzte noch einmal und kehrte zum Fenster zurück. Das Paar war verschwunden, aber ein Zipfel von Bollas blaugestreiftem Rock lugte hinter der Hausecke hervor, und ab und zu kam ein kräftiger, gebräunter Ellbogen zum Vorschein. Die Unterredung dauerte also fort.

Wäre Frau Janselius eine tatkräftig eingestellte Natur gewesen, so hätte sie natürlich das Fenster weit aufgerissen und die Säumige mit wenigen kräftigen Worten zurechtgewiesen. Leider war sie eine Person von mehr wissenschaftlicher Veranlagung. Als einer leidenschaftlichen Statistikerin fiel ihr sofort ein, daß hier ein großes Feld für wissenschaftliche Untersuchungen brachlag. Wieviel Zeit opfert der Mensch seinem Liebesleben? Rasch teilte sie das Arbeitsgebiet in drei Felder: 1. Zeit für Liebeshandlungen (Tanz, Liebkosungen, Paarung); 2. Zeit für Liebesreflexionen und Vorbereitungen (Ausschmückung, »Träumereien«, erotische Bücher und Theaterstücke); 3. Liebesgespräche (»Flirt«, bis zur Grenze des Heiratsantrags, wo man bereits auf soziales Gebiet gerät). Frau Janselius beschloß, sofort eine erste Furche auf dem dritten Felde des großen Gebiets zu pflügen. Sie eilte zum Nachtkästchen und riß die kleine Damenuhr aus ihrem Lederetui. Die kleine Damenuhr stand. Sie blickte zu der großen Uhr auf dem Türsims auf. Stand. Sie wandte sich der Minervauhr zu, einer Konsoluhr von Per Henrik Beurling. Minerva stand. Frau Janselius hatte einen allgemeinen Eindruck von mangelhafter Genauigkeit, von Schlamperei, von Leichtsinn – dem heimtückischsten Feind der Wissenschaft. Dann erinnerte sie sich der Weckeruhr. Auch sie stand, aber sie konnte im Nu aufgezogen werden. Mit diesem bescheidenen, aber nützlichen Instrument in der Hand, nahm sie wieder am Fenster Platz.

Frau Olga Janselius, Tochter der bekannten Professorin Anna-Lisa Willman und ihres Gatten, des Professors, Schwester der Frau Doktor Karolina Willman und der Schriftstellerin Anna-Lisa Djurling, Kusine der Dozentinnen Betty Willman und Lotte Brenner, sowie der Bibliothekarin Lizzy Willman, war selbst, wie schon erwähnt, von wissenschaftlicher Veranlagung und war auch nicht ohne wissenschaftlichen Ehrgeiz gewesen. Aber eine in mehr als einer Hinsicht unglückliche Ehe hatte diesen Ehrgeiz in Launen und Einfälle aufgelöst, die manchmal ein gewisses Cachet von Verrücktheit annehmen konnten, das der Wissenschaft so fremd ist. Und dennoch hatte ihre Ehe, wenn nicht der Wissenschaft direkt, so doch wenigstens einigen ihrer Jünger Nutzen gebracht. Zu einem Zeitpunkt, wo die großen Repräsentationskosten der Frau Professor Willman die gar nicht so unbedeutenden Einkünfte des Herrn Professor-Chirurgen zu übersteigen drohten, war ein gewisser Jan-Petter Janselius unter das Messer des Professors geraten und nach einer gelungenen Gallenstein- oder Nierensteinoperation in den Verkehrskreis der Frau Professor einbezogen worden. Seine Geschichte kann nicht alltäglich genannt werden.

Er war der jüngste Sohn eines vermögenden Bergwerksbesitzers, des Oberschöffen Erik Jansson auf Lilla Klockeberga. Einige Mitglieder dieser Familie hatten sich Janselius geschrieben, und da Jan-Petter für das gelehrte Studium bestimmt war, nahm er den gelehrten Namen an. Nach einjährigem Aufenthalt an der Universität fuhr Jan-Petter nach Paris. Der Vater war gestorben und hatte ein bedeutendes Vermögen hinterlassen, das sich auf vier Kinder verteilte. Jan-Petter nahm seinen Anteil in Bargeld, und als acht Jahre ins Land gegangen waren, hatte dieses Bargeld sein Ende erreicht. Er kehrte in die Heimat zurück, verwandelt. Als ein rothaariger, sommersprossiger, stumpfnasiger Bauernbursch war er ausgezogen, als ein blasierter, magerer, ältlicher Herr, mit einem kohlschwarzen Haarkranz um den kahlen Schädel, kohlschwarzen Brauen, gebogener Nase, kohlschwarzem Schnurrbart und ebensolchem Spitzbart kehrte er zurück. Eine noch größere Verwandlung stand bevor. In der Nähe von Lilla Klockeberga liegt das Brennersche Gut Larsbo. Das gehörte der kinderlosen Witwe des Grafen Henrik Brenner, einer Dame in Schwarz. Die letzten Jahre ihres Lebens widmete sie mit heiligem Eifer der Religion und errichtete in einem der Flügel des Schlosses eine Missionsschule. Eine Scheune wurde für die Bekehrungsversammlungen eingeräumt. Der beschäftigungslose, gelangweilte Viveur, der bei seinem ältesten Bruder das Gnadenbrot aß, erschien bei diesen Zusammenkünften zuerst als Zuhörer, dann als Bekehrter und Glaubenszeuge, dann als Redner. Schließlich wurde er der Leiter der Missionsschule. Die Gräfinwitwe begegnete allen Einwänden gegen diese Ernennung mit den Worten: »Er ist ein Mann, der viel geliebt und viel gelitten hat.« Auf ihrem Totenbett ließ sie sich mit Jan-Petter Janselius trauen und überließ das Gut und die Schule seiner Obhut. Die Schule verschwand noch vor Ablauf des Trauerjahres. Jan-Petter hatte sich wiederum verwandelt. Seine Religiosität war nun hochkirchlich.

Außerdem war er Genealoge geworden und stellte mit Hilfe einiger Berufsgenealogen den Stammbaum der Familie Janselius fest, wobei er auf den eigentümlichen Umstand hinwies, daß das Familienoberhaupt in jeder zweiten Generation den Namen Erik geführt hatte, was auf eine Abstammung von dem Erikschen Königsgeschlechte hindeuten konnte. Eine Hypothese, die er jedoch nicht verfechten, sondern nur aufwerfen wollte. Im übrigen war sein Hauptinteresse in diesen Jahren die Kunst. Sein Geschmack war nicht schlecht, und er hatte sich in bezug auf Kuriositäten eine gewisse Sachkenntnis erworben. Er sammelte und sah bei seiner Wahl mehr auf den Inhalt als auf die Form. Das erotische Motiv war sein Leitstern, und der strahlte ebenso klar aus einer griechischen Vase wie aus einem Lautrecschen Blatt.

Mit einigen fünfzig Jahren verheiratete er sich mit der zwanzigjährigen Olga Willman. Er war verliebt. Das Mädchen war mager, aber ziemlich kräftig gebaut, sie hatte große Hände und Füße, das Gesichtsoval war vollendet, die Nase schön gebogen, die Augen dunkel und schillernd, ein klein bißchen blinzelnd, die Stirn ziemlich niedrig, aber mit einer sehr ungebärdigen, lustigen dunklen Locke geschmückt. Die großen Hände, die schlenkernden kantigen Bewegungen, die schillernden Augen und vor allem die ungebärdige Locke gaben ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Knaben, und Jan-Petter, der des reingezüchtet Weiblichen müde zu werden begann, fand sie anziehend. Aber er wollte sie unter keiner Bedingung heiraten. Ebensowenig wollte sie ihn heiraten. Die Professorin, die die Partie wünschte, brauchte jedoch weder einen Machtspruch noch Überredungskünste anzuwenden. Um ihre Taktik recht zu verstehen, muß man Mutter sein, und wir begnügen uns damit, die Tatsache zu konstatieren: die jüngste Willman verheiratete sich mit Jan-Petter Janselius auf Schloß Larsbo.

Vor Schließung der Ehe setzte Jan-Petter einen Schenkungsbrief auf, der das Eigentumsrecht an Schloß Larsbo auf den Neffen seiner ersten Frau, der verwitweten Gräfin Brenner, den damals kaum zehnjährigen Grafen Ludwig Battwyhl übertrug. Das Erträgnis und das Nutznießungsrecht behielt sich Jan-Petter für Lebenszeit vor, und es sollte nach seinem Tode auf seine Witwe übergehen, solange diese keine neue Ehe schloß. Dagegen erhob die Frau Professor Einwände, erhielt aber eine Erklärung von so zynischer Offenherzigkeit, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben einen ausgesprochen ungeordneten Rückzug antrat. Nichtsdestoweniger hatte die Willmansche Familie keinen Grund, diese Heirat zu bedauern. Larsbo war einträglich, der Verwalter, Casimir Brut, ein tüchtiger Mann, und Jan-Petter selbst allerdings geizig, aber nachgiebig. Diese Nachgiebigkeit war ganz und gar das Verdienst der Frau Professor. Schwiegermutter und Schwiegersohn brachten einander eine schwärmerische, etwas süßliche Zuneigung entgegen. Sie fanden sich in vollkommener Sympathie, sie hegten beide dieselbe Neigung für alles, was offiziellen Glanz besaß oder Aussicht hatte, einmal diesen Glanz zu erlangen. Sie hatten beide die großen Fragen des Lebens gelöst und konnten sich nun in Ruhe den kleineren widmen; sie waren beide zahnlos und geschlechtslos und brauchten nichts voreinander zu verbergen; sie bekannten sich zu denselben ethischen und ästhetischen Ansichten, außer in bezug auf Weine, worin Jan-Petter einen verfeinerteren Geschmack zeigte; sie liebten beide das Schöne und Gute, namentlich in seinen pikanten Formen; sie schwärmten beide für genialische und wohlgestaltete Jugend beiderlei Geschlechts. Studenten und Studentinnen, junge Künstler und Literaten, die dem Willmanschen Familien- oder Freundeskreise angehörten, brauchten nicht mehr auf öffentliche Mäzene Rücksicht zu nehmen. Die Professorin, die gerne ein bißchen frondierte, belohnte im Gegenteil die jugendliche Oppositionslust, namentlich wenn sie zu einem kleinen Skandal führte. Sie hatte ein entzückend heiteres Temperament. Durch ein Dezennium konnte Larsbo als eine Stiftung zu Nutz und Frommen der Wissenschaft gelten und außerdem als ein Erholungsheim für junge Wissenschaftler. Man hat also Anlaß, zu vermuten, daß die Janselius-Willmansche Ehe die freie Forschung in unserem Lande wesentlich gefördert hat.

Die junge oder noch junge Frau, die jetzt mit dem Wecker in der Hand die Normalzeit für ein Liebesgespräch zu bestimmen suchte, mochte hingegen weniger Grund gehabt haben, diese Verbindung zu preisen. Jan-Petter war, rein herausgesagt, ein schlechter Ehemann. Die Pflichten, die in das Gebiet des intimen Zusammenlebens fallen, sollen hier nicht berührt werden, namentlich da Jan-Petter schon vor der Hochzeit seine Ungeneigtheit in besagter Hinsicht ausdrücklich betonte. Aber ein Mangel in einer Richtung kann ja in gewissem Maße durch den Überschuß in einer anderen wettgemacht werden. Die Herrin auf Larsbo hatte sich Rechnung auf ein komfortables Leben, Vergnügungen, Schmuck, Reisen machen können. Ihre Ansprüche – wenn sie sie vorbrachte – wurden nicht erfüllt. Seiner Frau gegenüber kam Jan-Petters natürlicher Geiz zu seinem Recht. Sie wollte nicht um Geld und Kleider betteln und bekam auch keine. Die armen jungen Leuchten der Wissenschaft, die im Sommer ihre Gäste waren, prunkten in der schönsten Sommerherrlichkeit, bestritten von Larsboer Geld, aber die Herrin von Larsbo selbst trug ihre verblaßten, abgetragenen, unzählige Male gewaschenen Baumwollfähnchen. Im Winter, den das Ehepaar meist allein verbrachte, war sogar das Essen knapp. Jan-Petters zarte Gesundheit verlangte eine besondere Diät, und die eßlustige junge Frau mußte an den Hungerpfoten saugen. Auch blieb sie mager und eckig bis zu dem Tod des Mannes, um dann während des Trauerjahres in beinahe beunruhigender Weise zuzunehmen. Und daß sie noch zwei Jahre nach dem Tode des Mannes Schwarz trug, war weniger der Pietät als dem Umstand zuzuschreiben, daß die Trauergarderobe die erste war, die sie sich auf eigene Hand und aus eigener Börse angeschafft hatte. Sie war auch außerordentlich schön und reichhaltig ausgefallen und so gut wie unverwüstlich.

Ein eigentümlicher Zufall oder vielleicht ein höherer Ratschluß fügte es so, daß Jan-Petter und seine Schwiegermutter an einem und demselben Tage das Zeitliche segneten, es lagen nur ein paar Stunden dazwischen. Man kann vielleicht wagen, anzunehmen, daß das Band, das diese beiden Seelen vereint hatte, stark genug gewesen war, um dem trennenden Hieb des großen Zerstörers zu trotzen. Wie dem auch sei, Frau Olga war mit einem Schlage einer doppelten Vormundschaft los und ledig geworden. Die Trauer machte sie nicht blind gegen diesen Vorteil, und sie sagte sich selbst, daß sie nun ein neues Leben, erfüllt von großen und starken Interessen, beginnen werde. Aber sie fand sich in der neuen Freiheit schlecht zurecht. Ihre Liebe zu Büchern war Jan-Petter ein Dorn im Auge gewesen, und um ihre Selbständigkeit irgendwie zu bekunden, hatte sie studiert wie ein Prüfling: Nächte hindurch war sie bäuchlings dagelegen, den Kopf zwischen die Hände gepreßt, das Buch unter der Nase, und hatte gebüffelt. Jetzt erschien ihr das Lesen zwecklos. Das Schicksal hatte sie zur Herrin eines großen Gutes gemacht, und sie wollte sich ganz seiner Bewirtschaftung widmen. Eine vielseitige und verantwortungsvolle Arbeit. Aber halt! Da stand Casimir Brut, der Gutsverwalter, auf dem Posten.

Er war ein Mann, über den man sich möglicherweise hinwegsetzen, aber an dem man schwerlich vorbeikommen konnte. Seine Schulterbreite war verblüffend, beinahe mißgestaltet, die Größe weniger imponierend, die Schwere ansehnlich. Die Stirn war nicht besonders hoch, aber breit und glatt wie eine gehobelte Planke. Die Augen hatten einen starken und meist zornigen Blick, gemildert durch ein beständiges Zwinkern, das zu sagen schien: Na, ich bin ja nicht so schlimm – aber nehmt euch in acht! Der Bart war ein Prachtstück. Dunkelbraun, von Armeslänge, schwellend und wohlgepflegt. Manchmal tunkte er ihn in die Suppe und wand ihn dann langsam und sorgfältig aus, wobei er genau aufpaßte, daß die Tropfen wieder in den Teller zurückfielen. Sonst war er ein gesitteter Mann, und wenn Frau Olga ihm mit ihren verschiedenen Vorschlägen und Reformen kam, hörte er zu. Die junge Frau entwickelte ihre Vorschläge mit einer Klarheit, die in einer breiten, gesunden, klaren und geschulten Logik wurzelte. Aber daß sie unruhig und eifrig war, konnte man daran sehen, daß sie beide Zeigefinger in die Höhe gestreckt hielt, ganz wie eine Geisha in einer Operette. Wenn sie fertig war, blinzelten sie einander gut eine Minute zu – aber nicht verständnisinnig.

Casimir Brut sagte:

»Meinetwegen. Aber dann gehe ich.«

Und das konnte ja nicht in Frage kommen.

Frau Olga mußte etwas anderes ausfindig machen. Der Tag wurde leer. Jan-Petter hatte immer irgendein kleines Ärgernis in der rückwärtigen Rocktasche gehabt, gewöhnlich mit einem gewissen Quantum Spannung und einem gewissen Quantum Überraschung versetzt. Kaum einen Abend ihrer zehnjährigen Ehe war sie zu Bett gegangen, ohne zu ihrem Spiegelbild zu sagen: Nein, so was! Und dieses kleine Nein, so was! war doch eine Würze gewesen. Der Tag wurde fade. Die letzte Bosheit, die Jan-Petter ihr angetan, war diese gewesen:

Wie schon erwähnt, hatte Jan-Petter in der letzten Periode seines Lebens Kunstwerke gesammelt, die ihn durch ihre Motive an die erste Periode erinnern konnten. Die Sammlung bestand hauptsächlich aus Kupferstichen, Holzschnitten, Mezzotinten, Radierungen, Zeichnungen, alles in allem über dreihundert Nummern. Sie nahmen einen bedeutenden Teil der Wandflächen der Zimmer ein. Ungefähr die Hälfte war von der Art, daß sie sich trotz des mehr oder weniger lasziven Motivs immerhin sehen lassen konnte. Bei der anderen Hälfte überschritt – wenn der Ausdruck gestattet ist – das Unanständige die Grenzen der Anständigkeit. Jan-Petter verteidigte seinen Schatz mit dem Bibelwort, das das Laster gerne im Munde führt: Dem Reinen ist alles rein. Leider mußte Olga gestehen, daß ihre Reinheit die Probe keineswegs bestand. Sie verabscheute diese ganze Schaustellung, und da Jan-Petter vergessen hatte, in seinem Testament – das im übrigen mit ärgerniserregenden Punkten und Klauseln gespickt war – den teuren Schatz zu schirmen, beschloß sie, ihn aus dem Hause zu schaffen. Ihn verbrennen konnte sie nicht mit gutem Gewissen, dazu war sein materieller Wert zu groß. Aber sie konnte ihn dem Nationalmuseum stiften, in dessen geschlossenen Mappen er den armen Forschern zugute kommen konnte, die ihre kunsthistorische Pflicht zwang, im Schmutz zu waten. Folglich nahm sie mit fröhlichem und rachgierigem Sinn eine Sichtung vor, trennte die Schafe von den Böcken, die Unanständigen von den Unanständigsten, nahm die letzteren von den Wänden, löste die Blätter aus den Rahmen, schichtete sie auf und – machte eine Entdeckung. Auf die Rückseite dieser Laszivitäten hatte Jan-Petter mit zittriger, aber leserlicher Schrift geschrieben: »Meiner geliebten Frau, Olga Janselius, geb. Willman.« Hie und da mit einem Zusatz: »An ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag.« »An ihrem Namenstag usw.« Eine Radierung, deren Dunkel vergeblich ein noch dunkleres Laster zu verbergen suchte, trug die Aufschrift: »Zur Erinnerung an unsere Hochzeitsnacht!«

Wann hatte der schnurrige Herr ihr diesen Schabernack gespielt? Wer weiß! Vielleicht nach seinem Tode. Ein Versuch, die Widmungen auszuradieren, mißlang, und die Blätter wurden in einer Bodenkammer verstaut. Frau Janselius hatte nicht den Mut, durch ein Brandopfer der kunsthistorischen Forschung einen, sei es auch geringfügigen Verlust zuzufügen. Die Nachwelt würde eine sonderbare Vorstellung von dem Geschmack der jungen Frau erhalten, darein mußte sie sich eben finden. Leider sollte schon das Urteil der Mitwelt durch Jan-Petters satanischen Einfall irregeführt werden. Eines Tages entdeckte Ludwig Battwyhl den Schlupfwinkel und unterzog die Blätter einer genauen Prüfung. Er hatte sie noch nie gesehen oder wenigstens noch nie bemerkt. Denn wer bemerkt das, was an den Wänden hängt? Er zeigte sie seinem Freund Casimir Brut. Dann fiel ihm ein, daß Lotte Brenner sie sehen müsse. Trotz ihrer Dozentur und obwohl sie immer mit einem anatomischen Handatlas unter dem Kopfkissen schlief, hielt er sie für außergewöhnlich unwissend und dabei dumm. Er schleppte das dicke Mädchen in die Dachkammer hinauf, setzte sie auf den staubigen Boden und umgab sie mit einhundertfünfzig erotischen Akten. Es zeigte sich, daß sie tatsächlich unwissend war, aber wißbegierig. Ludwig dozierte. Nach einer knappen Stunde des Unterrichts wurden Lehrer und Schülerin von Frau Olga überrascht. Sie sah ihr Geheimnis verraten, ihr Herz stockte, ihre Pulse hörten auf zu schlagen, ihre Zeigefinger erhoben sich und wiesen himmelwärts. Sie wollte sich lautlos zurückziehen, aber ihre Gemütserregung entlud sich in einer ganzen Serie kräftiger Nieser. Da stürzte sie in die Kammer hinein, packte Ludwig beim Schopf, schleppte ihn auf den Dachboden hinaus und ohrfeigte ihn.

Später nahm sie ihn ins Verhör. Hatte er die Blätter noch jemandem, außer Lotte, gezeigt? Ja, dem Verwalter Casimir. Da fing sie zu weinen an, ging zu Bett und zeigte sich an diesem Tage nicht mehr. Aber am folgenden nahm sie ihn wieder ins Verhör. Ludwig bekannte noch ein Verbrechen: er hatte die Blätter Brita Djurling gezeigt. Brita Djurling – einem siebzehnjährigen Mädchen! Warum hatte er das getan? Darüber konnte er keine klare Auskunft geben, aber er meinte, er hätte es getan, um das Mädchen, das von Natur etwas schläfrig war, ein bißchen aufzupulvern. Bei diesem Geständnis drehte sich Frau Olga plötzlich um, nicht aus Scham, sondern weil sie ganz deutlich Jan-Petters kicherndes Lachen hinter ihrem Rücken gehört hatte. Eine Gehörstäuschung. Noch immer mit abgewandtem Gesicht fragte sie, ob er ihnen auch die Widmungen gezeigt hatte.

Was für Widmungen?

Die Widmungen auf der Rückseite.

Nein, die Rückseite hatte er gar nicht angesehen. Er machte einen Schritt auf die Türe zu, vermutlich um hinaufzugehen und das nachzuholen, aber Frau Olga hielt ihn zurück. Sie nahm ihn in die Arme und küßte ihn auf die Wange. Er war neunzehn Jahre und ein großer Nichtsnutz, der dreimal bei der Matura durchgefallen war. Aber er hatte einen Vorzug: er war unglaublich wahrheitsliebend. In der Schule hatte er durch seine Aufrichtigkeit eine herostratische Berühmtheit erlangt, und das Lehrerkollegium hatte bei ein paar causes célèbres ernstlich die Frage erwogen, ob der Knabe nicht in eine Anstalt für Schwachsinnige gebracht werden sollte. Diese unbestechliche Wahrheitsliebe war für den Augenblick und für Frau Olga von großem moralischem Wert. Der Junge hatte die Widmungen nicht gesehen, und folglich wagte sie zu hoffen, daß auch die anderen sie nicht gesehen hatten. Gewißheit war jedoch nicht zu erlangen, und von diesem Tage an wurde sie noch empfindlicher gegen alle Anspielungen und Zweideutigkeiten, die sich möglicherweise auf ihre Sittlichkeit beziehen konnten. Oder richtiger gesagt – noch geneigter, in den unschuldigsten Worten Anspielungen und Zweideutigkeiten zu finden.

Hinter dieser Empfindlichkeit und Argwöhnischkeit, die ein bißchen lächerlich erscheinen konnte, steckte ein zehnjähriges Leiden, ein gut verborgenes, aber lebhaftes Gefühl der Scham. Die Frau eines Libertins ist oft dem Mitleid ausgesetzt, immer dem Verdacht. Die Willmansche Familie, die zum nicht geringen Teil von Frau Olgas Ehe lebte, würde ihre eigene moralische Grundanschauung verleugnet haben, wenn sie diese Ehe gebilligt hätte. Ein laut ausgesprochenes Verdammungsurteil wäre eine Unverschämtheit gewesen, aber das moralische Gewissen ist beim Menschen (und bei wohlerzogenen Hunden) so stark, daß es sich aus Rücksicht auf materielle Vorteile nie gänzlich unterdrücken läßt. Wo die Opposition gegen das Unmoralische keine groben Ausdrucksformen annimmt, nimmt sie eben feine an. Um Frau Olgas Leben zwischen Jan-Petters Hochzeit und seinem Begräbnis recht zu schildern, um ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung und ihren Seelenzustand erschöpfend zu erklären, müßte man einige hundert pikante Situationen wiedergeben, einige tausend Wortspiele, witzige Einfälle, zum Lachen reizende Bemerkungen zitieren. Es lag sicherlich keinerlei Bitterkeit oder Bosheit in diesen Neckereien. Die Familie hatte nun einmal die moralische Mesalliance mit allen ihren Konsequenzen geschluckt und konstatierte nur mit lächelnder Wehmut, daß es einem ihrer Mitglieder an höherem, sittlichem Gehalt gebrach.

Dieser lächelnden Wehmut stellte Frau Olga eigensinnige und erbitterte Versuche entgegen, als eine fanatisch strenge und genaue Hausfrau der alten Schule aufzutreten. Diese Versuche mißlangen jämmerlich. Sie konnte nicht die allerbescheidenste kleinste Rüge erteilen, ohne zu stammeln, zu erröten, zurückzunehmen. Und ihre Genauigkeit nahm nicht selten ebenso lächerliche Ausdrucksformen an, wie jetzt, wo sie mit der Weckeruhr in der Hand auf ihre Kammerjungfer lauerte. Dieser Wecker hatte übrigens noch eine Aufgabe: er war ein Symbol der Wissenschaft. Die Geringschätzung der Familie für ihre kleine Person gründete sich nicht nur auf eine Unterschätzung ihrer Moral, sondern vielleicht in noch höherem Grade auf eine Verkennung ihrer wissenschaftlichen Veranlagung. Damit beging man sicherlich ein großes Unrecht. Sie hatte schon, und zwar mit einem gewissen Glanz, ihr cand. phil. abgelegt, als der befürchtete Ruin des Willmanschen Hauses und Jan-Petters Erscheinen auf der Bildfläche die Professorin bewog, in ihrer Eigenschaft als Oberhaupt der Familie ein aufsehenerregendes Dekret zu erlassen: die jüngste Tochter hatte keinen Kopf zum Lernen. Die Bestürzung war außerordentlich groß. Das Kalb mit den zwei Köpfen ist ein weniger seltsames Spiel der Natur als eine Willman ohne Kopf zum Lernen. Naive Mitglieder der Familie fühlten sich skandalisiert und protestierten. Die Professorin antwortete mit einem geheimnisvollen und zärtlichen Lächeln:

»Olga hat etwas, das besser ist als ein guter Kopf!«

Was in drei Teufels Namen! Besser als ein guter Kopf? Man grübelte.

Plötzlich ging ihnen ein Licht auf.

Ein gutes Herz! Ein gutes Herz ist besser als ein guter Kopf. Wenigstens für die Umgebung.

Das wurde die Losung und die wissenschaftliche Erklärung des etwas rätselhaften und genanten Falles Olga Janselius geb. Willman. Sie hatte ein gutes Herz. Wie immer, wenn eine große Entdeckung gemacht wird, stellten sich die Beweise von selbst und zu Dutzenden ein. 1. In zartem Alter hatte sie, obwohl ein Flaschenkind, nie geschrien, sondern wie ein Engel Gottes geschlafen (was allerdings daher kam, daß die stets in Anspruch genommene Professorin ein paar Tropfen Schnaps in die Milch gegossen hatte). 2. Als Minderjährige hatte sie a) eine kranke junge Krähe zärtlich gepflegt, b) aus freien Stücken Tante Sara vorgelesen, c) am Weihnachtsabend geweint und sich die längste Zeit geweigert, ihre Geschenke entgegenzunehmen, weil sie auf der Straße einem armen Kind begegnet war. 3. Als junges Mädchen hatte sie, trotz ihres schwachen Kopfes, sich dazu durchgerungen, ihre Prüfungen zu bestehen (als ob jemand gewagt hätte, Anna-Lisa Willmans Tochter durchfallen zu lassen!), nur um ihren Eltern eine Freude zu machen. 4. Als Jungfrau hatte sie ihre Liebe einem kranken, unglücklichen (?) Manne geschenkt. 5. Als Gutsherrin bewies sie ihrer Dienerschaft nur allzuviel Nachsicht (wahr! aber das hinderte nicht, daß sie ihnen täglich Zahnweh und anderes Ungemach wünschte). 6. Auch gegen arme Verwandte bewies sie einige Güte (in runder Zahl dreißigtausend schwedische Kronen jährlich!). 7. Sie schenkte dem unglücklichen, elternlosen Jüngling Ludwig von Battwyhl die zärtlichste Fürsorge.

Der letzte Punkt war wortwörtlich wahr, bis auf eines. Ludwig Battwyhl war keineswegs unglücklich; im Gegenteil, man konnte ihn als den Urtypus eines glücklichen Jungen betrachten. Kein Vater hatte ihn unterdrückt, keine Mutter hatte ihm den Magen oder die Seelenruhe verdorben. Er hatte den größten Teil seines Lebens in einer Schulgemeinde verbracht, die er durch seine Talente, seine Fauststärke und seinen Charme vollständig beherrschte. Er flößte seinen Kameraden eine schreckvermischte Bewunderung und seinen Lehrern ein Grauen ein, das sich bisweilen zur Panik steigerte. Er war aus zwei Lehranstalten relegiert worden und hatte in diversen Sportzweigen eine Unmenge Meisterschaften erzielt. Im Alter von siebzehn Jahren war er ein im ganzen Lande bekannter Fußballspieler, verließ aber in der Blüte seines Ruhms den Fußballplatz zufolge eines komplizierten Beinbruchs, der ihn ein klein bißchen lahm und höchst interessant machte. Er war vielleicht übersättigt an Ruhm, aber keineswegs an Speise und Trank, und Gaumen und Magen bereiteten ihm täglich neue Genüsse. Er hatte den feinsten Pointer des Landes mit meterlangem Stammbaum und überdies einen wohlversehenen Stall – der allerdings nicht ihm gehörte. Wie man überhaupt sagen konnte, daß ihm alles gehörte, was nicht sein war, und darin lag der Grund seiner unglaublichen Sorglosigkeit und seiner großartigen Freigebigkeit. Aus seinen Westen- und Hosentaschen rollten beständig Münzen, über deren Herkunft kein Teufel etwas wußte. Sein Charakter galt für gut, aber verkannt, und darum doppelt gut. Seine unbestechliche Wahrheitsliebe wurde schon berührt. Seine Zwanglosigkeit grenzte an Unartigkeit und seine Artigkeit an Dreistigkeit – wie es sich eben fügte. Endlich hatte er eine starke und selten abgewiesene Neigung, die Arme eng um den einen oder andern Damenhals geschlungen, herumzuspazieren. Die Willmansche Familie mit ihren tiefen, psychologischen Erkenntnissen deutete diese Neigung als ein Symptom kindlicher Sehnsucht nach Mutterliebe. Das mag wahr sein, aber in diesem Falle zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe für junge Mütter, auch solche, die jünger waren als er selbst. Seine Pflegemutter, die gute Frau Janselius, vergötterte er mit einer Leidenschaft, die an die Leidenschaft der Katze für die Maus erinnerte. Ihre wohlgeformte, kleine Person wurde in den langen Knabenarmen förmlich erdrückt, bis sie nach Atem schnappte. Jan-Petter hatte bei Lebzeiten diese Zärtlichkeitsanfälle mit kicherndem Wohlbehagen mitangesehen. Die Damen Willman wischten sich dabei gern eine Träne aus dem Augenwinkel. Frau Olga schüttelte sich und plusterte sich auf wie eine Henne beim Regen. Sie verwöhnte ihn wirklich, aber das kam weniger von ihrem guten Herzen als von der vollkommenen Unfähigkeit, sich ihn vom Leibe zu halten.

Jedenfalls stand es fest, daß sie ein gutes Herz hatte oder – deutlicher formuliert – daß ihr Herz besser war als ihr Kopf. Ferner: daß man von ihr, Jan-Petters Witwe, keine ernste Anschauung des Lebens, namentlich seiner erotischen Seite, erwarten konnte. Kurz gesagt: sie war liebenswürdig, aber ein bißchen minderwertig. Diese Auffassung irritierte sie unerhört, und sie beschloß, sie zu desavouieren. Sie wollte zeigen, daß die Erotik für sie eine Lebensäußerung von untergeordneter Bedeutung war, während sie für die meisten Menschen das Zentrale im Leben ist. Sie wollte nachweisen, welchen unverhältnismäßig großen Raum die sogenannte Liebe nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch in dem der Gesellschaft einnehme. Sie wollte diesen sozialen Parasiten unter das Mikroskop legen, seine Lebensbedingungen entdecken, die verheerten Gebiete kartographieren, die Grenze zwischen sozial berechtigter und unberechtigter Erotik ziehen – in kurzen Worten: sie wollte eine neue pragmatische Wissenschaft begründen. Das Willmansche Blut war erwacht und rief nach Ziffern, Beobachtungen, Hypothesen, Statistik, vor allem Statistik. Monate hindurch hatte sie versucht, diesen Ausbruch erblicher Belastung zu bekämpfen. Sie hatte Angst. Sie war sich völlig bewußt, daß ein Mensch, der eine neue Wissenschaft begründen will, ein lächerlicher Mensch ist. Sie erwartete sich weder Lorbeeren noch Rosen, sie erwartete Dornen und Disteln. Und da saß sie nun mit ihrer Weckeruhr.

Das Gespräch der Kammerjungfer mit dem Torfausstecher dauerte 38 Min., 14 Sek. Da für den Anfang nur von approximativen Berechnungen die Rede sein konnte, strich sie sofort die Sekunden und rundete nach kurzem Nachdenken die Minutenziffer auf vierzig auf, was ein überaus bequemer Multiplikationsfaktor ist. Sie stellte die Uhr auf das Fensterbrett und griff zu Papier und Feder. Das Haupthaus Larsbo hatte sechsundzwanzig weibliche Bedienstete, von denen sieben außerhalb der Altersgrenze fielen, die sie etwas willkürlich bei den klimakterischen Jahren zog. Von den übrigen waren neun verheiratet. Als eine erste Arbeitsprämisse nahm sie an, daß eine verheiratete Frau ein halb so großes Bedürfnis nach erotischen Gesprächen wie eine unverheiratete hat. Ihr Arbeitsmittel war also 14½ oder 29/2 Fraueneinheiten.

Langjährige Beobachtungen hatten sie gelehrt, daß eine mittelstark erotisch betonte arbeitende Frau sich in der Regel mit einem längeren erotischen Gespräch (vulgär: Stelldichein, Rendezvous, Tete-a-tete) am Tage begnügt. Eine einfache Multiplikation ergab also, daß die weiblichen Bediensteten Larsbos täglich 9 Std. 40 Min. Arbeitszeit zu erotischen Zwecken vergeudeten, was einem materiellen Wert von ca. 4 Kr. 85 entsprach. Ein solches Stelldichein erfordert jedoch auch einen männlichen Partner. Dieser kann allerdings ein nicht zum Hause gehöriger Arbeiter sein; aber da Import und Export zwischen den verschiedenen Gütern sich dabei ausgleichen dürfte, glaubte sie mit Männereinheiten rechnen zu können, wobei sie sich natürlich vorbehielt, später noch eine besondere Berechnung bezüglich der überzähligen Männer des Gutes aufzustellen. Die verplauderte männliche Arbeitszeit repräsentierte, nach dem Durchschnittsstundenlohn berechnet, 12 Kr. 55. Summa männliche und weibliche Arbeitskraft 17 Kr. 40 pro Tag oder ca. 5220 Kr. pro Jahr!

Natürlich mußte diese Ziffer noch überprüft und vielleicht im Hinblick auf verschiedene Fehlerquellen erheblich korrigiert werden: die Einwirkung der Jahreszeit auf das erotische Leben (die Stichprobe wurde am Saratag, also mitten im Hochsommer, gemacht); der größere oder geringere Zustrom von Saisonarbeitern; die moralische Atmosphäre des Hauses (ein nicht unwesentlicher Umstand, was Larsbo betrifft), und zuletzt, aber nicht zum geringsten, die etwas erregte Gemütsstimmung des Experimentators. Die letztgenannte Fehlerquelle hatte ihren Grund in einem Gespräch zwischen dem Experimentator und Casimir Brut. Der Verwalter hatte ihr am vorigen Abend in ziemlich ungehobelter Weise Vorwürfe gemacht, indem er sagte: »Es ist nicht möglich, in diesem Hause die Disziplin aufrechtzuerhalten. Die gnädige Frau hält ihre Mädchen zuviel im Hause. Meine Burschen wollen am Abend mit den Mädchen der gnädigen Frau sprechen, aber die gnädige Frau hält sie im Flügel und läßt sie lesen und singen wie im Himmel. Da gehen meine Burschen anderswohin, und am Morgen kann ich herumlaufen und sie aus Scheunen und Heuschobern herausziehen. Wie kann da Disziplin sein?«

Diese Darstellung war nicht nur zynisch, sondern auch sachlich unrichtig. Einen ersten Beweis dafür hatte sie schon in der Hand, und sie war fest entschlossen, ihre Forschungen fortzusetzen. Die Willmansche Zunge hatte Blut geleckt, sie empfand ein ererbtes, sozusagen wissenschaftliches Glück. 5220 Kr. im Jahre! Allein im Haupthaus Larsbo! Wieviel entsprechende Güter hatte Schweden? Wie viele weibliche Bedienstete überhaupt? Wie viele arbeitende Frauen? Wie viele Frauen? Die Statistik würde diese Fragen beantworten, die Statistik würde sie mit Ziffern ad libitum versehen. Sie würde aus der lauen, faden, süßlichen Atmosphäre, die Jan-Petter Janselius' Witwe umgab, heraustreten und sich in dem mathematisch kühlen Tempel der Wissenschaft niederlassen. Sie sah vor sich Reihen von Bücherregalen, Lesepulten, Bibliothekstischen, Folianten, Bibliothekaren, Professoren, Studenten. Sie erinnerte sich eines jungen Mannes, der ihr früher einmal eine gewisse Verehrung entgegengebracht hatte. Er war Amanuensis in der Reichsbibliothek und würde sehr erstaunt sein, sie zu sehen; noch mehr, wenn er von ihren Absichten und Plänen erfuhr. Sie sagte sich, daß sie immer ein ganz einfaches schwarzes Kleid tragen werde; das werde sowohl ihre Anspruchslosigkeit wie ihren Ernst betonen. Das war nur ein kleiner Nebengedanke, der rasch verblich. Vor ihr lag ein Arbeitsfeld, dessen Umfang und Bedeutung gar nicht hoch genug angeschlagen werden konnte. Sie beschloß, die Richtlinien ihrer Erstlingsarbeit zu ziehen, und begann mit dem Titel. Ein gut gewählter Titel wirkt zugleich inspirierend und konzentrierend. »Das erotische Leben in sozialer Beleuchtung«. Ein gediegener, prunkloser Titel, aber vielleicht allzu phantasiearm. Die Phantasie spielt im wissenschaftlichen Denken eine größere Rolle, als man im allgemeinen annimmt. »Die Ökonomie der Liebe«? Besser, viel besser! Ernst und dabei ein klein bißchen pikant – für jene, die durchaus etwas Pikantes an diesem Gegenstand finden wollen. Als Buchtitel ausgezeichnet, aber vielleicht geeigneter für eine Arbeit Nr. 2, ein Standardwerk in zwei bis drei Teilen. Die Broschüre ist ein geschmeidigeres Werkzeug für die junge Wissenschaft, die sich nicht vornehm abweisend gegen alle Popularitätsforderungen verhalten kann. Ein kräftiger, aktueller, ernster Titel, eher fragend als beantwortend, wie ein Sprengkeil gegen den Kern des Problems gerichtet.

Jetzt hatte sie es!

»Hat der moderne Mensch ein soziales Recht auf die Liebe?«

Nein, nein, das war nicht gut. Nicht Recht, nein! Das ist ein langweiliges, banalisiertes, deklassiertes Wort und im Grunde eigentlich tief unwissenschaftlich.

Aber so:

»Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben?« Ausgezeichnet!

Sie blickte von dem Papier mit den 29/2 Fraueneinheiten und den 5220 Kronen auf und sah sich dabei rein zufällig im Spiegel. Es kam ihr vor, als hätte dieses gedankenvolle, schwermütige, vom Leben gezeichnete, aber durchaus nicht unschöne Gesicht ein besonderes Recht, eine Frage wie diese hinauszuschleudern: Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? Sie lächelte, um zu sehen, ob der gedankenvolle, schwermütige Zug sich verflüchtigen würde; aber nein, er vertiefte sich eher noch, und über der vielleicht etwas jugendlichen Klarheit der Stirn ringelte sich die schwarze Locke wie ein Fragezeichen. Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? Sie mußte daran denken, daß, wenn ihre Arbeiten einmal in einer Gesamtausgabe herausgegeben wurden, das Porträt der Verfasserin gerade so sein mußte, wie das Spiegelbild jetzt: der Kopf leicht geneigt, die Lippen von einem fast unmerklichen, schwermütigen Lächeln gekräuselt, der Blick durch die Wimpern gesiebt, die Locke an ihrem Platz. Außerdem mußte sie ihren Mädchennamen Olga Willman wieder annehmen oder noch besser: Olga Willman-Janselius – in Wahrheit eine symbolische Konstellation über den Worten: Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben? War es vielleicht ein Zufall, daß gerade sie für die Menschheit einen der Pfade durch den erotischen Urwald bahnen sollte? Ein zehnjähriges Leiden ist kein Zufall, es ist ein Schicksal. Sie stand vor Eros, geschützt vom Panzer der Erfahrung, fühllos, gerecht, wissenschaftlich. Sie fühlte sich siegesgewiß, sie fühlte, daß sie dem fatalen Gott eine Niederlage zufügen, ihm eine Provinz rauben werde. Sie konnte sich noch keine klare Vorstellung davon machen, wie das zugehen werde, aber ihr Herz erzitterte vor freudigem Ernst, denn sie ahnte etwas Großes. Tanten, Schwestern, Kusinen und der Amanuensis in der Reichsbibliothek wurden einsehen lernen, daß sie nicht das kleine Heiratstierchen war, für das sie sie hielten; der Kuhhandel zwischen der Professorin und Jan-Petter würde gerächt werden. Während sie ihre Erfahrungen sichtete und systematisierte, würde sie gleichzeitig mit Ludwig ihre mathematischen Kenntnisse auffrischen, denn Ziffern und abermals Ziffern, das ist der Sprengstoff, der die abgelagerten Vorurteile von Jahrtausenden aus dem Weg räumt. Und Casimir Brut würde eine wohlverdiente Lektion bekommen! Kalt und nüchtern schritt sie ans Werk, bereit, alle Konsequenzen ihrer Forschungen auf sich zu nehmen, auch die umwälzendsten, auch die zerstörendsten – vielleicht vor allem diese. Sie schenkte ihrem Spiegelbild noch einen Blick und entdeckte einen neuen, bleichen, kühlen Glanz, an den des Marmors gemahnend und recht kleidsam. Aber sie hielt sich bei derlei nicht auf, sondern riß mit einem raschen Griff den ersten, schon bekritzelten Bogen aus dem Notizblock und schrieb auf das blanke Blatt in perlrunden Buchstaben die Worte:

Kann der moderne Mensch es sich leisten, zu lieben?

Im selben Augenblick läutete die Weckeruhr. Sie funktionierte ausgezeichnet wie diese Weckeruhren zu 5,50 gewöhnlich. Ihr Schlagwerk war auf sieben gestellt, ihr Zeiger wies auf sieben, und die Sonnenuhr im Hofe war ungefähr derselben Auffassung. Alles war in bester Ordnung. Frau Olga hatte im Schreibkabinett neben dem Schlafzimmer Platz genommen; etwa zehn Meter trennten sie von der Uhr. Sie war ebenso schlaftrunken und bestürzt, als wäre sie aus dem süßesten Schlummer gerissen worden. Blind griff sie um sich und bekam einen kerzentragenden, tanzenden, silbernen Faun in die Hand, dessen Kerze sie knickte. Sie sprang auf, drehte sich im Kreise und stieß an etwas; sie lief ins Schlafzimmer hinaus und vernahm hinter sich einen Krach und ein weiches wehmütiges Klirren. Aber vor ihr arbeitete der Wecker schrill und unverdrossen; mit ausgestreckten Händen stürzte sie zum Fenster hin und wollte das Ding eben packen, als ihre Zeigefinger plötzlich aufschnellten wie Taschenmesserklingen und der Uhr einen gemeinsamen Puff gaben. Sie schwankte, sie fiel, ihr Glas zerschmetterte auf dem Sande, das glänzende Nickelgehäuse barst, aber das Schlagwerk funktionierte tadellos. Frau Olga schrie auf und beugte sich zum Fenster hinaus. Der Wecker lag im Sande und läutete. Beflügeltes Getier umkreiste summend die Linde; Schwalben durchschnitten die Luft und peitschten sie mit ihren Flügeln; die Kühe brüllten nach den Melkmägden, die Katze saß auf der Platte der Sonnenuhr und putzte sich nach der nächtlichen Jagd; der Hund sah zu; die Gänseschar weidete auf dem Grase des Parks. Träge und schläfrig, schwer von süßen Düften zog der Wind von Westen nach Osten, eine gemächliche weißwollige Schar vor sich hintreibend. Es war Morgen, es war Hochsommer, es war Saratag.

Und eines nach dem anderen öffneten sich die Fenster der Fassade. Zuerst eines in der untersten Reihe, das zweite von links, und heraus streckte sich ein glattgekämmter Kopf, in der Mitte gescheitelt, mit geflochtenen Schnecken über den Ohren, einem ovalen Gesicht, ovalen Augen, einem krummen Näschen, bogenförmig geschwungenen Lippen und zwischen diesen Lippen ein großes Stück Bärenzucker. Das war Brita Djurling, Frau Olgas Nichte. Dann öffnete sich ein Fenster in der zweiten Etage ganz weit rechts, öffnete sich mit einem Krach, und heraus quollen zwei kräftige Schultern, nackt, dick, braungebrannt von der Sonne; und wie der Knopf auf einer Suppenterrine, so ruhte auf diesem breiten Körper ein viel zu kleiner Kopf, pausbackig und prall, rot und von roten Zotteln umgeben. Auf dem fleischigen Rücken der Nase balancierte etwas schief ein schwankender, klappriger Kneifer mit morgendlich betauten Gläsern, und aus dem linken Mundwinkel hing ein ganz kleines Pfeifchen mit säuerlichem Tabak, nach der braunen Soße auf dem Kinn zu schließen. Das war Lotte Brenner, die Großkusine der Hausfrau mütterlicherseits und Kusine des vorletzten Besitzers von Larsbo. Sie räusperte sich dumpf und spuckte in weitem Bogen auf den Hof hinaus. Hierauf öffnete sich ein Fenster in der dritten Reihe, der höchsten, und ein schönes, seelenvolles Antlitz kam zum Vorschein, recht ähnlich dem Frau Olgas, nur verfeinerter, auch gealterter und in blasseren Farben. Die Augenlider hoben sich nie ganz, und der Mund lächelte ein verschwiegenes, gedankenvolles, mitleidiges Lächeln, so als lausche sie stets schönen, aber traurigen Dingen; aber bei ihrem Tagewerk lauschte sie sicherlich anderem, Doktor Karolina Willman, die berühmte Magenspezialistin. Hier in Larsbo wohnte sie immer ganz hoch oben unter dem Dach in einer ziemlich dürftig möblierten Kammer, denn von ihrem Fenster hatte sie den freien Blick über den Mo-See und konnte mit Hilfe des Feldstechers die Schwäne im Schilf schwimmen sehen. Noch ein Fenster tat sich auf, lautlos, aber rasch, in der Mitte des zweiten Stockwerks, ganz dicht neben dem Olgas. Mit sokratischer Nase zwischen tiefblauen kurzsichtigen Augen und rosig zarten Wangen, zeigte Betty Willman ihre niedliche Person, zog den Mund seitlich wie eine Flunder, als sie die im Kies getreulich läutende Uhr sah, sandte einen Seitenblick zum Himmel und einen anderen zu Olga, nieste, als die Sonne sie gerade in die Stupsnase stach, und verbarg ihr Gesicht in schmalen, weißen, blaugeäderten Händen. Das sechste Fenster öffnete sich in der untersten Reihe, nicht weit von dem Britas. Hier wohnte die holde Lizzy, von der es hieß, daß sie in jeder Fakultät einen verlobten Bräutigam gehabt hatte und in der philosophischen zwei. Verleumdung selbstverständlich, aber würdig der schwärzesten, reichsten, geringeltsten Locken, die je große, tiefe Kenntnisse in altnordischen Sprachen bedeckt haben. Sie grüßte den Tag mit einem rauschenden Gähnen, gefolgt von einem dumpfgrollenden Laut, nicht unähnlich dem Donner; sie streckte die vollen Arme in einer Geste à la