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Bestimmt kann man sich noch etwas Gräßlicheres vorstellen, als den Silvesterabend in einem völlig überfüllten Zug zu verbringen, während einem langsam eine fremde Hand den Oberschenkel hinaufkriecht. Vielleicht in einem völlig überfüllten Zug, auf den gerade ein Nervengasanschlag verübt wird? Das könnte den wirklichen Tod bedeuten, nicht nur den emotionalen. Ich versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren. Immerhin war es mir beinahe gelungen, mich davon zu überzeugen, daß sich lediglich ein Koffergriff an mich drückte, seit wir Nagano verlassen hatten.

Er hatte sich von hinten an mich herangeschlichen, nachdem eine Gruppe Skifahrer eingestiegen war und das winzige Fleckchen, das ich mir erkämpft hatte, so eng wurde, daß ich nicht einmal mehr die Arme bewegen konnte. Sushi-zume – eingequetscht wie Reisbällchen in einer Lunchbox  machte ich mir langsam Gedanken, was mir wohl noch bevorstehen könnte. Ich hatte schon Geschichten von einem Chemiefreak gehört, der mit einer Flüssigkeit Löcher in Kleider ätzte, einem Kaugummikauer, der einem als Andenken eine dicke Kugel ins Haar klebte, und des öfteren schon soll ein Mann den Ausdruck seiner Freude in der Tiefe einer Manteltasche hinterlassen haben. Doch ich hatte angenommen, diese Trottel trieben nur in den Tokioter U-Bahnen ihr Unwesen und nicht in Fernzügen, die in die japanischen Alpen unterwegs waren.

Die Hand, die am Anfang kaum zu spüren gewesen war, wurde dreister. Ich suchte mit der Ferse, traf auf ein Schienbein, glitt daran entlang nach unten und trat fest auf den darunter befindlichen Fuß, Der Tritt wurde erwidert, und eine Frau schnauzte mich an, ich solle besser aufpassen – ob ich verdammt noch mal nicht wisse, daß dieser Zug überfüllt sei? Ich brummte widerwillig eine Entschuldigung. Die Hand blieb, wo sie war.

Die Dunkelheit draußen verwandelte die Glasscheibe der Zugtür in einen Spiegel. Ich betrachtete mich: klein, japanisch-amerikanisch, und mit einem Bürstenhaarschnitt, der für San Francisco passend, für den japanischen Geschmack aber etwas zu jungenhaft ist. Hätte ich doch nur Zeit gehabt, Jeans anzuziehen statt des Rocks, der irgend jemandem jetzt leichten Zugang gewährte. Ich konzentrierte mich auf die Spiegelungen der drei Männer, die mir am nächsten standen: ein junger Büroangestellter, der in eine Sportzeitung vertieft war, ein alter Opa und ein harter Arbeiterklassen-Typ mit dem unglaublichen Slogan »Milk Pie Club« auf dem Sweatshirt. Die zwei letzteren schienen zu schlafen, aber man konnte ja nie wissen. Ich setzte meine letzte Waffe ein.

»Hentai! Te o dokete yo!« Erst sagte ich es auf japanisch, dann auf englisch Hände weg, perverses Schwein.

Ich merkte, wie die Hand zögerte und dann verschwand.

»Der Kerl in Schwarz ist es! Nein, nein, du kommst mir nicht davon!«

Ich reckte den Hals und sah, wie eine große, füllige Amerikanerin mit ihrem Regenschirm auf den ungehobelten Kerl einhieb.

»Ich habe nichts getan! Hören Sie auf, bitte!« Die japanische Verteidigung des Mannes tat keinerlei Wirkung auf die ausländische Angreiferin. Die vorher so schläfrigen Passagiere kicherten.

»Das reicht! Wenn Sie weiter auf ihn einschlagen, wird man Sie festnehmen«, warnte ich die Frau, als sich der Mann von uns wegdrängte.

»Ich mußte gar nicht verstehen, was Sie gesagt haben. Mir war sofort klar, was da los ist«, schimpfte die Frau, als sie sich auf einem mittlerweile frei gewordenen Platz niederließ. »Männer sind Schweine. Alle. So etwas müßte bestraft werden.«

Während ich langsam in ihre Richtung vorrückte, nahm ich sie genauer in Augenschein. Das war keine der grauhaarigen Feministinnen in Patchworkjacke und Bauernhose, die Japan so häufig begeistert durch ihre Nickelbrillen betrachten. Meine Retterin trug einen Parka mit Leopardenmuster und purpurrote Reebok-Turnschuhe. Ihre Haare hatten einen Apricot-Ton, den ich noch nie gesehen hatte.

»Wo haben Sie denn so gut Englisch gelernt?« fragte sie.

»In Kalifornien.« Kaukasische Gesichter erröteten gewöhnlich bei dieser Antwort, nicht aber dieses.

»Das sieht man Ihnen gar nicht an.«

Ich überhörte das. Früher hätte ich etwas gesagt, aber nach drei Jahren in Asien war ich zu freundlich geworden. Zu japanisch.

»Fahren Sie nach Shiroyama?« fuhr sie fort. Die Aussprache des Ortsnamens bereitete ihr leichte Schwierigkeiten.

Ich nickte. Ich fuhr in die zweihundertjährige Stadt mit dem alten Kastell, um antike Volkskunst zu suchen und mir eine Pause von der erbarmungslosen Öde meines Lebens im Norden von Tokio zu gönnen. Ich hatte alles sorgfältig geplant und war der Empfehlung meines Chefs gefolgt, in einem minshuku zu wohnen, einer Familienpension. Ich hatte mir eine ausgesucht, die für ihre ländliche Küche und Einrichtung bekannt war. Einfach in die schneebedeckten Berge zu fahren, während ganz Japan den Beginn des neuen Jahres feierte – das wichtigste Fest des Jahres –, war ziemlich exzentrisch. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß noch jemand dieselbe Idee gehabt hatte.

Die Frau wußte so gut wie nichts über das ländliche Japan, und so erklärte ich ihr ein wenig, was sie in einer japanischen Herberge erwartete. Als wir auf die Mineralienbäder zu sprechen kamen, wurde mir klar, daß sie in derselben Pension gebucht hatte und daß wir gemeinsam ein Taxi nehmen konnten. Mein Solotrip hatte sich erledigt. Bedauernd dachte ich an den japanischen Glauben, nach dem es keine Zufälle gibt, weil alles Teil eines großen kosmischen Plans ist. In Anbetracht der folgenden Ereignisse bin ich geneigt, dem zuzustimmen.

Der erste Blick auf Shiroyama zeigte ein Durcheinander aus altmodischen Läden und Häusern, schneebedeckten Ziegeldächern und Fenstern, in denen einladend goldenes Licht schimmerte. Eine alte Frau im Kimono eilte vorbei; sie hielt ihren Schirm hoch, um sich vor den sanft fallenden Schneeflocken zu schützen. Ich hätte mir Zeit gelassen, hätte ich nicht den Pagen für meine neue Begleiterin gespielt und rasch einem Taxi gewinkt, bevor es am Taxistand angelangt war.

»Denken Sie sich nichts bei dem Vuitton. Es ist eine Fälschung aus Hongkong«, prahlte sie, als ich ihre beiden schweren Koffer in den Kofferraum wuchtete. »Ich habe Ihren Namen nicht verstanden, junge Dame.«

»Rei Shimura«, sagte ich langsam und deutlich, wie ich es aus meiner Kindheit und Jugend in den Vereinigten Staaten gewohnt war.

»Rae mit e oder Ray mit y?«

»Weder noch. Es ist ein japanischer Name, der wie die amerikanischen klingt.«

»Hey, Rei! Das reimt sich. Ich bin Mrs. Chapman. Marcelle«, fügte sie noch hinzu. Trotzdem war es gar keine Frage, daß ich sie Mrs. nennen sollte, ebenso wie es klar war, daß ich ihr die Koffer tragen sollte. Sie schwatzte die ganze Strecke bis zum Minshuku Yogetsu, das, wie sich herausstellte, weit weniger poetisch aussah, als sein Name »Nachtmond« versprach. Ruß und Abgase hatten die verputzte Fassade angegriffen, und durch die dunkelbraunen, geschlossenen Fensterläden wirkte das Haus, als hätte es die Augen vor der Welt geschlossen. Ein Teil des Gartens war in einen Parkplatz umgewandelt worden, auf dem zwei Toyotas standen: der eine war ein rostiger Town-Ace-Transporter, der andere ein eleganter schwarzer Windom. Bei dem hohen Preis, den ich für mein Zimmer gezahlt hatte, konnte ich mir ausrechnen, welcher von beiden den Pensionsbesitzern gehörte.

Mrs. Chapman marschierte an mir vorbei und stieß die Haustür auf. »Huu-huu! Ist da jemand?«

Eine schlanke Frau zwischen vierzig und fünfzig mit strengem Haarschnitt und ebensolchem Gesichtausdruck kam aus einem Nebenzimmer, kniete sich vor uns hin und verneigte sich tief.

»Willkommen. Es war sehr unhöflich von mir, daß ich nicht hier war, um Ihnen die Türe zu öffnen.« Ich erkannte die Stimme von Mrs. Yogetsu, der Wirtin, wieder, bei der ich das Zimmer reserviert hatte. Hinter den höflichen Worten spürte ich den Vorwurf, daß wir einfach hereingeplatzt waren. Als ich mich entschuldigte und ihr von der Verspätung des Zuges erzählte, wurde ihr Gesicht noch verkniffener; sie hatte meinen leichten amerikanischen Akzent herausgehört.

»Sie reisen zusammen? Dann möchten Sie sicherlich nebeneinanderliegende Zimmer?« Es klang nach einem höflichen Angebot, aber nach vielen einschlägigen Erfahrungen wußte ich, was dahintersteckte: Die Ausländer sollen unter sich bleiben, abseits von uns Japanern.

»Das ist nicht nötig, überhaupt nicht nötig.« Ich überschlug mich förmlich. »Ich habe diese Dame erst im Zug kennengelernt.«

Auf ihre Anweisung hin tauschten wir unsere Schuhe gegen Hauspantoffeln, und Mrs. Chapman füllte sorgfältig das Anmeldeformular aus, während ich mich umblickte. Alles war makellos und der Zen-Philosophie entsprechend einfach, an den Wänden hingen nur wenige, ausgesuchte Schriftrollen. Der Boden war mit tatami-Strohmatten ausgelegt, die bis zu einer offenen Feuerstelle reichten, in der ein Feuer mit niedriger blauer Flamme brannte. Darüber hing ein antiker gußeiserner Kessel. Ich schätzte ihn auf spätes neunzehntes Jahrhundert.

Ich war noch stärker beeindruckt, als Mrs. Yogetsu uns an einer schönen tansu-Kommode vorbeiführte, auf der ein leicht asymmetrisches Neujahrsgesteck aus Kiefernzweigen und Pflaumenblüten stand.

»Wie schön. Können Sie Blumen stecken?« Vielleicht konnte ich sie etwas freundlicher stimmen, wenn ich ihr schmeichelte.

»Ich unterrichte es sogar. Ich bin eine sensei.«

Ich war verblüfft. Sensei war ein Ehrentitel, den man für Lehrer oder Ärzte gebrauchte, der aber zu bombastisch war, wenn man sich selbst vorstellte. Wenn ich meine Arbeit beschrieb, dann verwendete ich immer das bescheidene kyoushi, das soviel wie Tutor bedeutete.

Das Zimmer, das Mrs. Yogetsu mir anbot, war einfach und extrem klein; es enthielt kaum mehr als einen Teetisch und zwei Sitzkissen. Im Wandschrank lagen das Bettzeug sowie eine frische, blau-weiße Baumwoll-yukata, der Gästebademantel, den ich in das Gemeinschaftsbad anziehen konnte. In der Rückwand des Wandschranks befand sich eine weitere Schiebetür zum nächsten Zimmer. Wie mein Zimmernachbar und ich unsere Sachen auseinanderhalten sollten, war mir nicht ganz klar.

Ich konnte es kaum erwarten, meinem müden, steifen Körper ein Bad zu gönnen. Mrs. Yogetsu zeigte mir über eine Hintertreppe den Weg nach unten. Während ich meine Toilettensachen zusammensuchte, hörte ich unten Neuankömmlinge: die gedämpfte Stimme einer Frau, die sich sehr gewählt ausdrückte, und das energische Brummen eines älteren Mannes. Ein zweiter Mann mischte sich ein. Er sprach irgendeinen britischen Dialekt; seine Vokale waren länger gezogen als bei den BBC-Sprechern, die ich immer über Kurzwelle hörte.

Ich hängte das NUR-DAMEN-Schild an die nackte Badezimmertür und betrat einen sauberen Umkleideraum mit einer Glastür, die zu dem langen, breiten, eingelassenen Bad führte. Ich hob die großen Abdeckplatten vom Becken und tauchte den Fuß ins Wasser. Wie alle japanischen Bäder war es sehr heiß.

Ein Duschbereich mit Seife, Wassereimern und Holzschemeln war die unausgesprochene Aufforderung, sich sorgfältig zu waschen, bevor man in das Becken ging, das von allen gemeinsam benutzt wurde. Ich wußte alles über die Benimmregeln in öffentlichen Bädern, weil mein Apartment keine Badewanne hatte, so daß ich gezwungen war, in eine öffentliche Einrichtung zu fahren, wenn ich meine tröpfelnde Dusche nicht mehr ertragen konnte. Das Badehaus in meiner Nachbarschaft war immer überfüllt und hatte nur eine Trennwand zwischen dem Damen- und dem Herrenbereich; die Gespräche alter Männer in einem halben Meter Abstand mit anzuhören trug wenig zu meiner Entspannung bei.

Dieses Bad aber gehörte mir ganz allein, und es war groß genug, um darin zu schwimmen. Ich legte den Kopf auf den glatten hölzernen Rand und dachte an meine Kindheit, an den Sommer im Pool, an Wettschwimmen vom Flachen ins Tiefe, bis ich völlig außer Atem war. An meinen Körper hatte ich damals noch keinen Gedanken verschwendet. Ich war kein Mädchen, ich war ein stromlinienförmiger Fisch. Ich blickte hinab auf meine kleinen Brüste, die aus dem Wasser herausragten, und überlegte, wie das Leben in Japan mich verändert hatte. Durch das ständige Laufen waren meine Beine muskulös geworden, und weil ich mir weder Käse noch Wein leisten konnte, war mein Bauch ganz flach. FdH, die Diät, die wirklich funktionierte.

Ein leichtes Schwindelgefühl sagte mir, daß ich schon zu lange in dem heißen Wasser lag. Ich kletterte hinaus und ruhte, bis der Schwindel nachgelassen hatte. Ich kühlte mich mit ein paar Eimern kaltem Wasser ab, bevor ich wieder in das Becken glitt. Es war immer noch kochend heiß, deshalb öffnete ich das Fenster über der Wanne einen Spalt, um einen Schwall der eisigen Luft hereinzulassen. Ich hörte, wie die Badtür geöffnet wurde, und wandte mich um. Sittsam schloß ich die Beine und machte mich bereit, die eintretende Frau mit einem Kopfnicken zu begrüßen. Ich hoffte, es würde die Japanerin mit der schönen Stimme sein.

Der Neuankömmling jedoch war ein großer Mann mit athletischem Körper und rötlichblonden Haaren. Er war ebenfalls nackt, bemühte sich nun aber verzweifelt, sich mit einem Handtuch zu bedecken. In dem kurzen Moment, in dem sich unsere Blicke trafen, sah ich seine erschreckten grünen Augen, bevor ich zum Schutz tiefer ins Wasser rutschte.

»Falsches Bad, bitte gehen Sie!« Erst danach wurde mir klar, daß ich ihn auf japanisch angebrüllt hatte.

»Sumimasen, entschuldigen Sie!« rief er zurück, in dem merkwürdigen, strukturierten Akzent, den ich eben erst von meinem Zimmer aus gehört hatte. »An der Tür, da, äh, da steht nichts …«

»Da steht nur für Damen!« rief ich auf englisch.

»Ich dachte, das wären Gemeinschaftsbäder …«

»Das bedeutet noch lange nicht, daß es ein gemischtes Bad ist! Glauben Sie, Sie sind hier in einem Massagesalon?«

Er wurde rot, und alles deutete darauf hin, daß er die schmierigen Sexbäder kannte, in denen Prostituierte ihren Körper wie Schwämme benutzten.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht …« Der Rest seiner Entschuldigung wurde abgeschnitten, als die Tür zuknallte.

Mein Herz raste immer noch wie ein Preßlufthammer, während ich hörte, wie sich im anderen Raum jemand umzog, stolperte und der Reißverschluß einer Hose zugezogen wurde. Sobald ich mir sicher war, daß er gegangen war, stieg ich aus dem Wasser und schlüpfte in meine yukata. Als ich hinausging, kam gerade Mrs. Chapman den Gang entlang, verschnürt wie ein riesiges Paket in einem gelben Chenillebademantel.

»Passen Sie auf, wenn Sie baden. Die Tür läßt sich nicht abschließen.« Meine Stimme zitterte.

»Mir hat man aber gesagt, es sei nur für Damen.« Mrs. Chapman runzelte die Stirn. »Dieses Schild an der Tür, was bedeutet das?«

»Sehen Sie sich dieses kanji an: Es sieht aus wie eine kniende Frau, nicht wahr? Das japanische Wort für Frau wird dargestellt durch jemanden, der dient.«

»Was ist ein kanji?«

»Ein Piktogramm.« Angesichts ihres verständnislosen Blickes erklärte ich es genauer. »Die Japaner haben ihr Schriftsystem von China übernommen. Bildsymbole stehen für Wörter. Das hier ist das Symbol für Mann.« Ich nahm das Holzschild, das der Eindringling hätte kennen müssen. »Was stellt das für Sie dar?«

»Einen Quadratschädel auf Beinen.«

Ich unterdrückte ein Lachen. »Das Viereck soll ein Reisfeld darstellen, und die Beine darunter stehen für Kraft. Eigentlich bedeutet es also Kraft auf dem Reisfeld, und genau das war wichtig für die Männer früher in der alten bäuerlichen Kultur.« Danach zeigte ich ihr noch das Familienschild und erklärte ihr, daß gemeinsames Baden innerhalb der Familie als gesund angesehen wurde.

»Die Leute hier sind schon pervers«, meinte Mrs. Chapman ein wenig erregt. »Ist Ihnen aufgefallen, daß man auf Bahnhöfen direkt in die Männertoilette sehen kann?«

»Man soll wegschauen und so tun, als wären die Pissoirs gar nicht da«, schimpfte ich, kam mir dabei aber ein wenig scheinheilig vor. Der Mann hatte während seines verzweifelten Versuchs, das Bad zu verlassen, einen recht guten Anblick geboten. Einen Anblick, bei dem ich die Augen hätte abwenden müssen, was ich aber nicht getan hatte.

Eine Stunde später saßen Mrs. Chapman und ich im Wohnzimmer und warteten auf das Abendessen. Sie zeigte mir ein Album mit Postkarten von Asien. Während sie von ihren Lieblingshauptstädten quasselte, wandte ich meine Aufmerksamkeit der Feuerstelle zu, wo sich ein japanisches Paar mittleren Alters die Hände wärmte.

Der Mann war ein typischer Tokioter in einem teuer geschnittenen blauen Anzug und mit einem offenbar permanenten spöttischen Lächeln. Ich identifizierte ihn sofort als typischen salaryman, einen der unentbehrlichen höheren Angestellten, die dem städtischen Japan ein Flair von Zigaretten, Scotch und Erschöpfung verliehen. Die Frau, die neben ihm kniete, war vielleicht zehn Jahre jünger. Ihren langen, schwarzen, glänzenden Haarvorhang hatte sie mit einem Seidenschal hinten zusammengebunden. Ihre Augen waren runder als meine; vielleicht hatte sie sich einer superteuren »Fresh-Eyes«-Operation unterzogen.

Mich erstaunte, daß ihr elfenbeinfarbenes Kleid von Chanel war – keine Fälschung. Ihr Schmuck stammte von Japans Topadresse; eine zweireihige Halskette aus schimmernden Perlen mit einem goldenen Schmetterling als Verschluß, dem Markenzeichen von Mikimoto. Das Outfit war zu teuer für die typische Frau eines salaryman, vielleicht hatte sie alles in Discountläden im Ausland gekauft. Vielleicht waren sie auch einfach reich, gehörten zu den Leuten, die die Klatschspalte des Tokyo Weekender füllten, die zweiwöchige Boulevardzeitung für Ausländer, die ich so aufmerksam las wie meine Antiquitätenfachzeitschriften. Sosehr ich die Tokioter Partygesellschaft verachtete, sosehr war ich doch fasziniert von ihr. Ich identifizierte die Frau zwar nicht, aber irgendwie kam sie mir bekannt vor. Ich erinnerte mich an die glockenklare Stimme, die ich vor meinem Bad gehört hatte.

Die elegante Frau begutachtete mich, betrachtete meinen uralten Kaschmirpullover mit dem V-Ausschnitt und die Samtleggings, die ich zum Essen angezogen hatte. Sie ließ den Blick auf meinen Füßen ruhen. Ja, sie sind größer als deine, das kommt von der guten Ernährung und meiner amerikanischen Hälfte, dachte ich verärgert, bevor mir das kleine Loch in der linken Socke einfiel.

Beim Essen placierte Mrs. Yogetsu, die Wirtin, das elitäre Pärchen an den Kopf des gemeinsamen Tisches. Mrs. Chapman und ich wurden in die Mitte gesetzt, umgeben von vielen leeren Stühlen.

Mein Essenstablett sah äußerst vielversprechend aus. Buchweizennudeln in einer Brühe, die köstlich nach Knoblauch und Ingwer roch. Kleine Porzellantellerchen mit einer schmucken Zusammenstellung von Sashimi, süßen schwarzen Bohnen, mit Sesam gewürztem Spinat, Lotuswurzeln und anderem künstlerisch arrangierten Gemüse. Das einzige, was mich nervös machte, waren winzige getrocknete Sardinen, die man ganz aß, und papierdünne Scheibchen rohen Fleisches, wahrscheinlich Pferdefleisch, eine regionale Spezialität.

Mrs. Chapmans Flüstern lenkte mich von meinen Bedenken ab. »Ich kann nicht mit Stäbchen essen. Glauben Sie, ich könnte eine Gabel bekommen?«

»Keine Sorge. Das funktioniert wie ein Gelenk.« Obwohl das Tischgebet noch nicht gesprochen war, zog ich meine Stäbchen aus der Papierhülle und zeigte ihr die feinen, zangenartigen Bewegungen. Während sie meine Anweisungen befolgte, setzten sich zwei neue Gäste auf die Polster mir gegenüber. Mit einem leichten Nicken begrüßte ich einen jungen salaryman. Er trug einen verknitterten blauen Anzug, der aussah wie ein billiger Verwandter des Anzugs des älteren Mannes. Nach einem panischen Blick verneigte auch er sich. Und dann wünschte ich mir, so klein zu sein, daß ich mich in meiner lackierten Suppenschale verstecken konnte, denn direkt neben ihn setzte sich der Riese, der mir nackt im Badezimmer begegnet war.

2

Auch angezogen sah er gut aus. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich weite Kordhosen und einen handgestrickten Arran-Pulli. Seine Haare waren naß, er mußte es also schließlich doch noch ins Bad geschafft haben.

»Bestimmt schlafen mir noch vor dem Dessert die Füße ein, glauben Sie nicht?« fragte die Ausländerin leutselig das elegante Paar.

»Dagegen hilft Alkohol«, antwortete der ältere salaryman. »Wenn Sie viel trinken, können Sie stundenlang auf dem Boden sitzen.«

»Der reizende Akzent, den ich da höre, ist das Irisch?« Mrs. Chapman strahlte den blonden Mann an.

»Schottisch. Für die Yanks hören wir uns alle gleich an«, stöhnte der Mann.

»Mr. Glendinning stammt aus Glasgow, der Heimat alles Guten in dem Land!« sagte der junge, zerknittert aussehende salaryman, neben dem er saß.

»Sagen Sie das noch mal, und ich nehme Sie mit nach Hause, Yamamoto-san. Golfspielen am Nachmittag …«

»Und abends einen draufmachen!« krähte Mr. Yamamoto, der sich darauf etwas zurückhaltender dem Big Boss zuwandte und ins Japanische wechselte. »Ich hoffe, Mr. Nakamuras Zimmer ist nicht allzu unbequem. Und Mrs. Nakamura ist nach der langen Zugfahrt sicher müde. Es standen zu viele Leute um Ihren Sitzplatz, neh?«

»Wir freuen uns, hier zu sein. Sie haben annehmbare Vorbereitungen getroffen«, antwortete Mrs. Nakamura in nahezu perfektem Englisch und wandte ihr schönes Gesicht dem Ausländer zu. »Hughsan, wir Japaner glauben, daß die einfachsten Dinge manchmal die angenehmsten sind. Ich wollte unbedingt, daß Sie diese nostalgische Lebensart auch einmal kennenlernen.«

Während ich die pikanten Nudeln und die Brühe schlürfte, dachte ich über Hugh Glendinning nach. Sein Name könnte aus Wiedersehen in Brideshead stammen, sein Akzent aber nicht. Ich dachte an den Glasgower Arbeiterklassenakzent, den ich in dem Film Trainspotting gehört hatte, aber auch der paßte nicht. Hugh Glendinnings rollendes R und seine runden Vokale bildeten eine eigene, nicht verzeichnete Kategorie.

»Gehören Sie zu diesen Leuten? Haben Sie sich über eine Reiseagentur kennengelernt?« Mrs. Chapmans schleppender Dialekt riß mich aus meinen linguistischen Träumereien.

»Wir arbeiten zusammen in Tokio. Ich bin während der Feiertage allein, deshalb waren Mr. Nakamura und seine Frau so freundlich, mich auf ihre Reise mitzunehmen. Ich bin separat hergefahren, weil ich dachte, ich würde dadurch Zeit sparen. Aber es hat sich herausgestellt, daß ich währenddessen die Genji Monogatari hätte lesen können, so lange hat es gedauert!«

Er bezog sich auf den längsten und berühmtesten Roman Japans, ein dicker Wälzer aus dem elften Jahrhundert, der im einundzwanzigsten wahrscheinlieh immer noch auf meinem Nachttisch liegen würde. Ich bezweifelte sehr, daß er es fertiggelesen hatte.

»Ist das Ihr Lexus auf dem Parkplatz?« Mrs. Chapmans durchdringender Blick ruhte auf Hugh Glendinning.

Er lachte. »Das Exportmodell heißt Lexus – hier ist das ein Windom. Lächerlich, nicht?«

»Das ist das sogenannte ›Jinglish‹«, erklärte ich, und alle sahen mich an. »Die neue Sprache, die von den Japanern erfunden wurde, um kulturelle Verbindungen zu schaffen. Viele Wörter wurden aus dem Englischen übernommen. Ein Kaufhaus, englisch department store, schreibt man hier depaato, und einen Büroangestellten wie Sie nennt man hier sarariman. Oder salaryman, wie im Englischen«

»Und was soll dann Windom heißen? Das ergibt doch keinen Sinn«, nörgelte Hugh.

»Mmm.« Seine Arroganz ärgerte mich. »Vielleicht ein Wortspiel aus window, Fenster, und kingdom, Königreich? Alles, was in Sicht ist, ist einem Untertan, weil man ein Luxusauto fährt?«

»Wenigstens hatte Hugh einen Sitzplatz«, unterbrach Mrs. Chapman. »Die japanischen Züge sind unmöglich. Niemand bietet alten Damen einen Platz an, und junge Mädchen wie Rei werden belästigt. Und mir hat man noch gesagt, in Asien seien alle so höflich!«

Jetzt, wo ihr alle zuhörten, war Mrs. Chapman nicht mehr zu halten und gab die ganze Geschichte noch einmal zum besten. Glücklicherweise lenkte der junge salaryman namens Yamamoto das Gespräch wieder auf ein weniger brisantes Thema und fragte Mrs. Chapman nach ihrem Leben in den Vereinigten Staaten. Ich aß den Fisch und das Gemüse und nahm mir noch einmal vom Reis, während sie das Leben einer Rentnerin in Destin, Florida beschrieb, der Heimat des schönsten weißen Sandstrands auf der ganzen Welt. Aber die Sonne schien dort ständig, so daß es ein wenig langweilig wurde und man mitunter Lust bekam, auf Reisen zu gehen.

»Gibt es einen Mr. Chapman?« fragte Hugh, der sich nun auch ins Gespräch einschaltete. Sie schüttelte den Kopf und antwortete, sie sei Witwe. Während er murmelnd sein Bedauern ausdrückte, merkte ich, daß Mrs. Nakamura ihr einen bösen Blick zuwarf. Zweifellos war das Mrs. Chapmans unbedachten Kommentaren zum Kennenlernen von Asiaten über Reiseagenturen zuzuschreiben.

Ich fürchtete einen sich anbahnenden Ost-West Krieg am Tisch und begann mit einem jungen Paar, das verspätet zu Tisch gekommen war, ein Gespräch über das Essen. Ich merkte, daß Hugh Glendinning zuhörte, obwohl ich Japanisch sprach. Als ich versuchte, mein Pferdefleisch diskret unter der Salatgarnitur zu verstecken, schob er sich seine Portion gerade genüßlich in den Mund. Ich überlegte, ob er wohl immer noch so zufrieden kauen würde, wenn er wüßte, daß das, was er gerade aß, einmal fröhlich über die Wiesen gesprungen war. Andererseits hatte ich gehört, daß das schottische Nationalgericht eine Art mit Gedärmen gefüllter Schafsmagen sei.

»Sie machen das beruflich, nicht wahr? Mit Leuten sprechen. Sie unterrichten wahrscheinlich«, dröhnte er, als ich schließlich schwieg.

»Stimmt. Als Ausländerin bekommt man hier keine bessere Arbeit.« Lieber hätte ich in einem kleinen Museum japanische Antiquitäten katalogisiert, aber nach einer sechswöchigen Suche war ich realistisch geworden. Ich hatte zwei Angebote gehabt: als Barhostess oder als Englischlehrerin. Ich nahm den gesünderen Job mit der Krankenversicherung.

»Ich hatte mir auch schon überlegt, Sprachunterricht zu nehmen. Arbeiten Sie bei Berlitz?«

»Nein. Ich bin freie Mitarbeiterin bei einem Hersteller von Küchengeräten.« Langsam wurde es mir peinlich, die Ärmste und Unwichtigste in der Gruppe zu sein.

»Küchengeräte. Welche denn, Tiger, Nichiyu, Zojirushi?« fragte er weiter.

»Nichiyu.« Ich war erstaunt, daß er die Firma kannte.

»Dann kommen Sie also auch aus Tokio. Ich bin Anwalt für internationales Recht. Mr. Nakamura war so freundlich, mich in seine Abteilung bei Sendai hineinschnuppern zu lassen. Bisher hat es noch keine größeren Katastrophen gegeben.«

Sendai war für mich nur der Name einer alten Stadt, in der Möbel hergestellt wurden, und so war ich überrascht zu erfahren, daß dies auch der Name einer aufstrebenden Elektrofirma war. Sendai hatte ihn wahrscheinlich zur Abwicklung seiner Geschäfte mit Übersee angestellt, eine zweifelhafte Aussicht angesichts der zusammenbrechenden Seifenblasenwirtschaft.

»Glendinning-san ist ein guter Freund.« Mr. Nakamuras Lächeln war aalglatt, als er dem Schotten zunickte.

»Und deshalb wollen wir Ihr erstes Sylvester in Japan mit Ihnen feiern«, fügte Mrs. Nakamura mit silberheller Stimme hinzu.

»Setsuko weiß, daß diese Nacht für mich sehr einsam ist.« Hugh belohnte die Frau seines Chefs mit einem schiefen Lächeln. »In Schottland ist die Silvesternacht die wildeste aller Nächte. Und der erste Januar ist der beste Tag des Jahres, an dem sich die Leute traditionell eher freinehmen als an Weihnachten.«

»Das klingt aber unchristlich.« Mrs. Chapman runzelte die Stirn, wie sie es auch angesichts der Schilder für das Badezimmer getan hatte.

»Wir haben schließlich auch heidnische Wurzeln!« meinte Hugh fröhlich. »In einer der kleinen Ortschaften rennen die Leute immer noch mit Fackeln durch die Straßen, und an Silvester trinken wir uns von Haus zu Haus. Niemand schließt die Tür ab, weil die Feiern bis in den Morgen dauern.«

»Der Silvesterabend gehört in Japan der Familie«, sagte Setsuko Nakamura, die alle außer mir mit einem wohlwollenden Blick bedachte. »Wir sind mit denen zusammen, denen wir nahestehen, und essen Neujahrsgerichte, die Glück verheißen. Diese langen Nudeln zum Beispiel feiern den Jahreswechsel. Gemüse und Obst stehen für die Ernte vom Feld und aus den Bergen.«

»Ungefähr so wie das amerikanische Thanksgiving?« Mrs. Chapman betrachtete ihren Teller mit neuem Interesse.

»Nicht ganz. Es geht um, wie sagen Sie noch, Fruchtbarkeit … kleine runde Dinge wie die schwarzen Bohnen und die Fischeier stehen für die Hoffnung auf die Geburt vieler Kinder«, antwortete Setsuko.

»Fischeier?« stammelte Mrs. Chapman.

Ich hatte schon vorher auf dem winzigen Rogen herumgekaut; für mich war das eine billigere Version des Beluga, den meine Eltern wahrscheinlich bei ihrer Feier in San Francisco servierten.

»Es werden nicht genügend Kinder geboren«, erzählte uns Mr. Nakamura. »Die Regierung weiß, daß das ein Problem ist – sie unterstützt Familien mit mehr als zwei Kindern sogar mit einem geringen Betrag. Aber es reicht kaum für eine Tüte Lebensmittel.«

»Das stimmt. Ich kann gar nicht ans Heiraten oder ans Kinderkriegen denken, bevor ich nicht vier Millionen Yen auf der Bank habe!« scherzte Mr. Yamamoto.

»Da müssen Sie aber noch viel härter bei Sendai arbeiten. Und was Ihr Geschick mit Frauen betrifft, gilt das gleiche«, gackerte Mr. Nakamura, und sein Untergebener errötete verlegen.

»In Amerika haben wir das gleiche Problem«, sagte Mrs. Chapman. »Es kostet viel Geld, Kinder großzuziehen. Aber meiner Meinung nach ist eine Familie ohne Nachwuchs einfach keine richtige Familie. Ich habe selbst zwei großgezogen, aber leider habe ich nur eine Enkeltochter! Sie ist mein ein und alles.«

»Es ist sehr traurig, wenn man keine Kinder hat. Ich selbst hatte nicht das Glück.« Setsuko Nakamura versuchte zu lächeln.

»Sie sind doch noch recht jung!« tröstete Hugh sie.

»Meine Frau redet zu viel, wie ein Narr«, schnauzte Mr. Nakamura. »Ich trage sie mit mir wie einen Fluch, sogar im Urlaub!«

Er sprach Englisch, damit ihn jeder verstand. Ich spürte, wie Mrs. Chapman neben mir starr wurde. Hughs Gesicht färbte sich dunkler, aber er sagte nichts.

Vielleicht war Mr. Nakamura nur schlecht gelaunt. Trotzdem hielt ich es für unverzeihlich, so über seine Frau zu sprechen. Ich warf Setsuko einen verstohlenen Blick zu, die das rohe Fleisch vorsichtig mit den Eßstäbchen zerteilte. Obwohl ihr Gesichtsausdruck keine Regung verriet, spürte ich doch, daß etwas von ihr ausstrahlte, ein tiefsitzender Schmerz. Der junge Mr. Yamamoto fing an, über touristische Unternehmungen zu plaudern, aber es war zu spät, um die betretene Atmosphäre, die sich über uns alle gelegt hatte, wieder aufzulösen.

Nach dem Essen trug Mrs. Yogetsu einen kleinen Fernseher in ihr makelloses Wohnzimmer, stellte ihn ein und ging. Ich setzte mich mit Mrs. Chapman auf die Kissen, die auf dem Boden lagen, aber sie klagte über die fehlende Rückenlehne. Ich versuchte ihr etwas zurechtzubauen, aber sie murrte, daß sie sich lieber in ihrem Zimmer ausruhen würde.

Das junge Pärchen, mit dem ich bei Tisch ein Gespräch begonnen hatte, ließ sich neben mir nieder.

»Ich reise jedes Jahr in Ihr Land, für Honda Motor Company«, sagte der Mann, der mit seiner schmalen, rechteckigen Brille aussah wie eine freundliche Eule. »Ich bin Taro Ikeda. Meine Frau Yuki ist zu schüchtern, um Englisch zu sprechen.«

»Ich würde gerne versuchen zu sprechen, wenn Sie mir helfen würden?« Ihr zaghaftes Englisch machte sie sofort sympathisch. Ich stellte mich in meiner Muttersprache vor, und beide nickten anerkennend, als sie meinen japanischen Namen hörten.

»Mit welchem kanji schreiben Sie Ihren Namen?« fragte Taro.

Mein Nachname war recht normal, aber mein Vorname hatte über ein Dutzend verschiedene Bedeutungen, je nachdem, wie er geschrieben wurde. Er konnte Schönheit heißen, Verbeugung, Kälte oder die Zahl Null; das kanji, das mein Vater gewählt hatte, war ein weniger bekanntes, das soviel bedeutete wie kristallene Klarheit. Ich mußte das kanji erst aufmalen, damit sie es verstanden.

»Mein Name bedeutet Schnee. Ich liebe es sehr, wenn es schneit«, zwitscherte Yuki in ihrem Schulmädchenenglisch.

»Sind Sie zum ersten Mal hier?« fragte ich.

»Nein, zum zweiten Mal. Wir skien sehr gerne«, sagte Yuki.

»Wir fahren gerne Ski, Yuki, es heißt Skifahren. Und ich muß auch mein Hobby erwähnen: historische Verbrechen«, warf Taro ein.

»Sie interessieren sich für Verbrechen?« fragte ich ungläubig. Das war ein merkwürdiges Hobby, insbesondere für einen so konventionell aussehenden jungen Mann; an der Art, wie Yuki die Augen verdrehte, sah man, daß auch sie dieser Meinung war. Doch die Japaner hatten die gruseligsten Geistergeschichten der Welt geschrieben, und so verstand ich, wo seine Leidenschaft womöglich herrührte.

»Das hier ist die Hauptstadt der Geister! Kennen Sie ihre großartige Geschichte?« fragte Taro.

Ich kannje die allgemeine Geschichte von Shiroyama. Die Stadt war früher der Sitz eines Feudalherrn gewesen, Geki Uchida. Der hatte ein Kastell gebaut, das in ganz Japan bewundert wurde. Taro erzählte mir, daß Uchida auch verantwortlich für Shiroyamas Aufstieg als Zentrum des Kunsthandwerks war.

»Uchida hat den Leuten viel Arbeit gegeben, sie haben Holz für Möbel geschnitzt und shunkei hergestellt. Es tut mir leid, daß ich Ihre Sprache nicht so gut spreche, aber ich kann das nicht genau übersetzen«, sagte Taro.

Setsuko Nakamura, die sich mit Hugh direkt an die Feuerstelle gesetzt hatte, seufzte ungeduldig. »Shunkei, das ist der berühmte Lack aus Shiroyama, der für Schalen und Geschirr verwendet wird. Der Lack ist extrem dünn, so daß die Maserung des Holzes darunter noch sichtbar ist. Deshalb wird er so bewundert.«

»Kann man hier in der Gegend antike shunkei finden?« Ich war sofort Feuer und Flamme.

»Ja, aber das wäre sicherlich zu teuer für Sie.« Setsukos kalte, perfekt geschminkte Augen ruhten kurz auf mir, dann wandte sie sich wieder Hugh zu.

»Nicht der Lack ist das Interessante, sondern die Geistergeschichte«, murrte Taro. »Uchidas ältester Sohn regierte nach dessen Tod, aber leider war er ein schlechter Herrscher. Deshalb beschloß ein Verwandter, die Macht an sich zu reißen. Der älteste Sohn wurde ermordet. Seine Familie floh, bis auf eine Tochter. Miyo blieb und versuchte mit dem Verwandten zu kämpfen.«

»War das ein physischer Kampf?« fragte ich, und eine dramatische Szene formte sich in meinem Kopf.

»Wie viele Samuraidamen trug sie ein kleines Messer in ihrem Kimono, für alle Fälle. Sie hat es gegen ihren Verwandten benutzt.« Taro hielt inne und ließ den Blick über die anderen schweifen, um sicherzugehen, daß wir auch alle zuhörten. »Es war keine tödliche Wunde. Sein Diener nahm ihr das Messer ab und wollte sie töten, doch der Verwandte hatte ein gütiges Herz und ließ sie leben. Prinzessin Miyo konnte es nicht ertragen, versagt zu haben. Sie wollte nicht wieder zu ihrer Familie zurückkehren. Sie würden womöglich denken, der neue Herr hätte sie verschont, weil …« Er spitzte die Lippen. Wahrscheinlich dachte er an Vergewaltigung.

»Die Soldaten ließen sie vor dem Kastell frei. Sie rannte in den Wald und ward nie wieder gesehen. Mit der Zeit aber erzählten sich die Leute, daß sie ein schönes Mädchen in einem vornehmen, alten Kimono im Wald gesehen hätten. Sie stünde plötzlich vor einem, und genauso plötzlich sei sie wieder verschwunden. Und wenn es sehr windig ist, behaupten die Leute gerne, daß Miyo weint.« Taro Ikeda verbeugte sich zum Applaus, seine Geschichte war zu Ende.

»Das meiste ist also Aberglaube«, sagte ich. Ich glaubte nicht einmal die Hälfte, aber es wäre unhöflich gewesen, das zuzugeben.

»Nicht für mich! Ich schreibe eine Arbeit darüber. Ich habe schon in den Museen hier nachgeforscht. Im Wald habe ich mit einem Metalldetektor nach Waffen und anderen Dingen gesucht.«

»Er findet nur Bierdosen«, meinte Yuki spöttisch.

»Ja, ich hatte keinen Erfolg.« Taro klang nicht verärgert. »Ihre Schätze wurden wahrscheinlich vor vielen Jahren genommen.«

»Meiner Meinung nach war der siegreiche Verwandte ziemlich großzügig zu seinen Feinden. Wie hat er sich denn als Herrscher gemacht? Hat er es geschafft, die Stadt wirtschaftlich aufzubauen?« Hugh sprach in seiner halbliegenden Stellung vor dem Feuer. Ich hatte es langsam satt, Setsuko dabei zuzusehen, wie sie in einem komplizierten Ritual ein Fläschchen Sake über der Flamme wärmte, bevor sie ihm ein wenig in eine kleine Lackuntertasse goß. Das Ritual einer Frau, die ihren Mann umsorgt. Wohin war eigentlich Mr. Nakamura verschwunden?

Taro zuckte die Achseln. »Man ist einhellig der Meinung, daß der neue Herrscher die Stadt gerettet hat. Er hat die Leute gezwungen, sich auf Holz zu spezialisieren, eine für die Zukunft weit wichtigere Arbeit als der shunkei-Lack.«

»Ist das wahr?« fragte ich Mrs. Yogetsu auf japanisch, als sie hereinkam, um den Sake für Setsuko und Hugh nachzufüllen.

Die Wirtin hob die Schultern. »Das Geschäft geht gut. Die entlaufene Prinzessin ist nur eine Geschichte für Touristen. Wenn es eine Tochter gegeben hat, dann hat sie das Kastell mit ihrer Familie verlassen. Wie es jede Tochter getan hätte«, fügte sie mit Bestimmtheit hinzu.

Ich dachte über die Geschichte nach, während ich einen Führer über die japanischen Alpen durchblätterte. Fast alle anderen hatten sich aus dem Wohnzimmer zurückgezogen. Mit dieser Sage verlieh die Stadt der brutalen Machtergreifung einen Hauch Romantik. Das geisterhafte Schicksal der Prinzessin war reine Propaganda, ein wenig süße Bohnenpaste zum Abschluß wie ein Dessert.

Ein gutaussehender Mann zwischen fünfzig und sechzig mit einem dicken, etwas verwegenen silbernschwarzen Haarschopf kam aus der Küche. Yuki versicherte ihm, daß das Essen köstlich gewesen sei, und ich pflichtete ihr bei. Der Mann sah erschöpft aus, doch ihm gelang noch ein höfliches Nicken zum Dank, bevor er ging.

»Dieser Mann ist ein unheimlich talentierter Koch. Wenn mein Mann doch nur kochen könnte!« beschwerte sich Yuki. Japanische Ehemänner waren berüchtigt dafür, daß sie nicht einmal Wasser kochen konnten.

»Er hat wirklich Talent. Ich habe so viel gegessen, daß ich Tage brauchen werde, um es mir wieder abzutrainieren«, übertrieb ich.

»Oh! Dann müssen Sie heute um Mitternacht unbedingt mit uns kommen.« Yuki und Taro wollten zum ältesten Tempel Shiroyamas gehen, wo das neue Jahr entsprechend dem buddhistischen Kalender mit 108 Glockenschlägen eingeläutet wurde. Ich hatte eigentlich vorgehabt, allein hinzugehen, aber der Gedanke, sich mit neuen Freunden in einer fremden, dunklen Stadt zurechtzufinden, war reizvoller. Auf Yukis Drängen hin ging ich die Treppe hinauf, um Mrs. Chapman zu fragen, ob sie mitkommen wolle.

Ich klopfte mehrmals an die Tür und rief ihren Namen. Außer dem Fernseher, in dem ein englischsprachiger Naturfilm lief, war nichts zu hören. Gerade, als ich die Treppe wieder hinuntergehen wollte, öffnete Hugh Glendinning die Tür.

»Einen Moment bitte. Ich wollte mich nur entschuldigen, aber unten war keine Gelegenheit dazu.«

»Ich bin froh, daß Sie es nicht gemacht haben.« Hier oben war es schon schlimm genug, denn die Türen, die uns von den anderen trennten, waren papierdünn.

»Jetzt, wo ich gehört habe, daß Sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sind, fühle ich mich richtig mies. Posttraumatisches Streßsyndrom und so.« Hugh betrachtete mich, als wäre ich ein Exemplar irgendeiner merkwürdigen Gattung: die geschändete Frau.

»Keine Sorge. Daß Sie da hineingeplatzt sind, war ziemlich übel, aber ich bezweifle doch, daß es bleibende Schäden in meiner Psyche hinterläßt.« Ich wandte mich zum Gehen.

»Ich war ein Idiot. Es ist meine Schuld, daß ich mit diesen verdammten kanji nichts anfangen kann. Und als ich Sie – Ihre Haare – gesehen habe, dachte ich zuerst, Sie wären ein Mann. Als Sie sich umgedreht haben, habe ich natürlich meinen Fehler erkannt.« Er gewährte mir das gleiche schiefe, sexy Lächeln wie Setsuko Nakamura.

»Wie lange sind Sie schon in diesem Land?« fragte ich.

»Seit neun Monaten ungefähr …«

»Ich würde Ihnen vorschlagen, zuerst einmal die Schilder an den Badezimmertüren lesen zu lernen, wenn Sie noch länger bleiben möchten. Sie hatten großes Glück, daß Sie nicht bei einer Japanerin hineingeplatzt sind. Sie hätten sie über alle Maßen beleidigt.«

»Sie sind aber doch Japanerin, mehr oder weniger. Obwohl ich nicht verstehe, was für ein Spielchen Sie mit Ihrer Nationalität spielen.«

Ich wappnete mich und antwortete: »Es ist doch egal, wo meine Eltern herkommen, oder? Ich bin nämlich nicht durch Traditionen gebunden und lasse Ihnen alles durchgehen, so daß Sie andere ausnutzen können.«

»Andere ausnutzen?« fragte er und unterdrückte nur mühsam ein Lachen.

»Ja, Sie nutzen doch die Menschen in diesem Land aus, die zu höflich sind, um Ihnen zu sagen, daß Sie einige Dinge selbst erledigen sollten!« schimpfte ich.

»Sie sind eine harte Frau, Rei Shimura. Da stehe ich nun und entschuldige mich, obwohl es für mich doch genauso schlimm war. Ich habe mich weiß Gott geschämt, splitternackt vor Ihnen zu stehen.«

»Okay«, sagte ich in einem übermenschlichen Versuch, Geduld zu zeigen. »Ich sehe ein, daß es ein Versehen war. Und ich weiß, daß Japanisch einem nicht zufliegt. Man muß es lernen.«

»Dann bitte ich Sie um Hilfe! Betrachten Sie mich als Ihren Ferienschüler.«

Wieder fiel mir sein Grinsen auf – hatte er sich wirklich geschämt? –, und ich sagte: »Sie haben ja bereits Kontakt zu Japanern.«

»Setsuko?«

Sie war zwar diejenige, an die ich gedacht hatte, aber er hätte so anständig sein können, seine männlichen Kollegen zu erwähnen. Mit perfektem Timing ging die Tür seines Nebenzimmers auf. Die Frau, von der wir gerade sprachen, kam heraus, nur mit einer yukata und ihren wunderschönen Perlen bekleidet.

»Was gibt es denn, Hugh?« Sie sprach so vertraut zu ihm wie eine Ehefrau.

»Ach, ich übe nur gerade meine englischen Konversationsfähigkeiten. Es ist Zeit für ein Bad, nicht?«

»Ja. Wie steht es mit Ihnen?« Ihre Stimme klang einladend.

»Ich habe schon. Das Wasser ist ziemlich heiß. Gebranntes Kind scheut das Feuer.« Hugh zwinkerte mir zu.

»Entschuldigen Sie, aber wollen Sie die Kette im Wasser tragen?« unterbrach ich, den Blick auf Setsukos kolossale Perlen gerichtet. So unsympathisch sie mir auch war, ich konnte es doch nicht ertragen, daß etwas so Wertvolles zerstört wurde.

»Natürlich. Dieses Mineralbad ist gut für Perlen. Es reinigt sie.« Setsuko strich über die Perlen. »Als Amerikanerin wissen Sie das wahrscheinlich nicht.«

»Amerikanerinnen bevorzugen Diamanten, stimmt’s?« scherzte Hugh.

Wenn das ein Versuch gewesen sein sollte, mich zu verteidigen, dann war es ein schlechter. Ich beschloß, daß beide eine kleine Lektion verdient hatten, wie ich sie sonst nur meinen ungezogensten Vertreterklassen zukommen ließ.

»Bei meiner Arbeit im Museum habe ich gelernt, daß ein gelegentliches Salzwasserbad relativ harmlos für Perlen ist.« Vergnügt bemerkte ich, wie Setsuko starr wurde. »Der genaue Salzgehalt des Wassers hier ist aber nicht bekannt. Ich würde Ihnen deshalb davon abraten, mit den Perlen ins Wasser zu gehen, weil das Wasser die Knoten aufweicht, was dazu führen könnte, daß die Kette reißt. Die Perlen werden bei ihrer jährlichen Reinigung ja immer neu aufgefädelt.« Ich machte eine kurze Pause. »Sie lassen Ihre Perlen doch professionell reinigen?«

»Bei Mikimoto.« Setsuko kniff ihre runden Augen zusammen, bevor sie davonrauschte.

Hugh salutierte spöttisch. »Gut gemacht, aber wissen Sie genausoviel über die Pflege von Textilien? Ich hätte da etwas Bügelwäsche …«

»Nein«, schnauzte ich. »Aber warum gehen Sie denn nicht gleich mit ihr baden? Lassen Sie nur nichts anbrennen!«

Hugh Glendinnings aufreizendes, ausländisches Lachen folgte mir nach unten, und ich verfluchte mich dafür, daß ich nie etwas auf sich beruhen lassen konnte. An diesem Problem mußte ich unbedingt arbeiten. Vielleicht im neuen Jahr.

3

Die Sonne schimmerte durch das shōji-Papier vor dem Fenster und erfüllte mein Schlafzimmer am Neujahrsmorgen mit blassem, diffusem Licht. Ich blickte auf die Uhr. Es war sieben Uhr dreißig. Es war sinnvoll, sich schnell aus den Decken zu schälen, wenn ich das Bad für mich allein haben wollte.

Da ich aus Sicherheitsgründen über Nacht die Gasheizung abgestellt hatte, war es nicht sonderlich einladend, aus dem Bett zu steigen. Ich drehte die Heizung bis zum Anschlag auf, suchte meine Kleider zusammen und eilte nach unten.

An der Badezimmertür hing bereits das Schild für Damen, aber die Tür klemmte, als ich versuchte, sie zu öffnen. Ich untersuchte den Türpfosten, und als die Tür endlich aufging, sah ich, daß im Umkleideraum ein Korb mit Kleidern stand. Der rosa Rollkragenpullover, die Skihose und die Spitzenunterwäsche konnten nur zwei Frauen gehören. Ich zog mich aus, schlang aber trotzdem ein Handtuch um mich, bevor ich einen Blick in den Baderaum warf.

»Die Dusche links funktioniert am besten. Kommen Sie schnell, Ihnen ist bestimmt eiskalt!« Yuki Ikeda lag mit gerötetem Gesicht bis zu den Schultern in dem heißen Wasser.

»Wo ist denn Ihr Mann?« Ich konnte gar nicht glauben, daß sie nicht zusammen im Bad saßen.

»Der schläft wie ein großer Haufen Müll!« Sie verdrehte die Augen, so daß ich lachen mußte.

Die warme Dusche war wunderbar, aber in das dampfende Wasser zu steigen war schlichtweg himmlisch. Ich nahm die Seite gegenüber meiner neuen Freundin, die höflich zur Decke blickte, als ich mein Handtuch weglegte.

»Weshalb sind Sie so früh schon wach?« fragte ich auf japanisch, da kein herrischer Ehemann in der Gegend war, der auf Englischübungen bestand.

»Es ist verrückt! Taro und ich wollten gestern abend ein romantisches Bad nehmen, aber die ganze Nacht hing das Damen-Schild an der Tür. Ich wollte im Umkleideraum nachsehen, aber die Tür war verschlossen.«

»Sie war mit einem Stückchen Papier verklemmt. Ich hatte auch Schwierigkeiten, aber jetzt geht es.«

Yuki schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich finde, hier wird es langsam etwas schmuddelig. Als ich heute morgen gekommen bin, war der Baderaum sehr unordentlich. Die Abdeckplatten«, sie deutete auf die drei Deckel aus Hartplastik, die ordentlich aufeinandergestapelt waren, »lagen quer über den ganzen Boden verteilt. Deshalb war das Wasser etwas kühler, als es sein sollte.«

Das Wasser hatte die richtige Temperatur für mich, aber ich machte ein angemessen bedauerndes Gesicht.

»Ich hoffe, daß keiner der Ausländer Seife im Wasser benutzt hat. Ich weiß, daß Engländer und Amerikaner in Bädern Seife benutzen. Vielleicht kennen Sie unseren Brauch nicht, sich zuerst unter der Dusche zu reinigen.«

Unangenehme Erinnerungen an die Zeit wurden wach, als ich immer gebeten wurde, für meine amerikanische Mutter zu übersetzen, was sie beschämte und mich ausgesprochen defensiv machte. Ich wechselte das Thema.

»Danke für gestern abend.«

»Nein, es war mir ein Vergnügen! Hat es Ihnen gefallen?«

»Sehr sogar.« Es hatte sich gelohnt, auch wenn wir den Spaziergang nicht nur zu dritt gemacht hatten, wie ich gehofft hatte. Mr. Nakamura und Mr. Yamamoto hatten sich uns auf halber Strecke zugesellt. Sie waren ziemlich außer Puste. Wahrscheinlich waren sie eine Weile nach uns losgegangen und dann gerannt, um uns einzuholen.

Beim Tempel wäre mir beinahe meine Kamera aus der Hand gefallen, als ich die jungen Männer sah, die in kurzer Baumwolljacke und im Lendenschurz die Glocke läuteten. Bei religiösen Festen im Sommer hatte ich schon spärlich bekleidete Männer gesehen, aber nie bei zehn Grad Kälte. Ich wandte den Kopf ab, und Yuki bekam einen Lachanfall.

»Das gehört zur Neujahrstradition, Rei-san! Die knappe Kleidung zeugt von ihrer Stärke.«

»Dafür ist es zu kalt.« Meine Füße waren in zwei Paar Socken und Wanderstiefeln schon taub vor Kälte.

»Der Alkohol hat diese Jungen sehr warm gemacht«, beruhigte mich Taro. »Machen Sie sich keine Sorgen.«