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Roland Klaus

 

 

 

Am Ende aller Zeiten

 

 

 

Die Apokalypse

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Roland Klaus

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Umschlaggrafik Copyright by Fotolia © lassedesignen

Erstauflage: 2014

ISBN: 9783957530851

 

So wie an jedem Morgen in den Tagen, seit denen er nun bei seiner Tante Zomini wohnte, ging er hinauf zu dem Hügel, der nur unweit von ihrem Haus entfernt war. Hier die Sonnenaufgänge zu erleben war für ihn, der die meiste Zeit seines Lebens in der Stadt lebte und nach alledem, was er zuvor in seinen Einsätzen erleben musste, ein Seelenfrieden für sein inneres Selbst.

Wie eine riesengroße Eiskugel stand sie, nach anfänglichen Schwierigkeiten, am Himmel und brannte vor sich hin, was niemand vor Jahrzehnten so erwartet hätte. So schön sie auch war, wurde sie dennoch zum Unheil der Menschen. Eine einst blühende Landschaft wurde über Jahrzehnte zu Staub und Asche und nur die Willensstärksten nahmen den Kampf gegen sie auf und trotzten der nun unwirklich scheinenden Welt.

Faszinierend für ihn war der Moment, als es den Anschein hatte, der Erdboden würde sie ausspucken und sie nach und nach ihr feuerrotes Aussehen bekam und sich langsam und voll beindruckend in die Lüfte erhob und dabei Meter für Meter gleichzeitig ihre Farbgebung änderte. Schließlich hatte sie es zu ihrer grell und stark blendenden zitronengelben Farbe gebracht. Dieser Moment erinnerte ihn immer wieder an die Geburt seiner einzigen Tochter.

Er stand einfach nur da und genoss es, all dies auf sich einwirken zu lassen. Leider hatte man nicht viel Zeit, um dieses Geschehen zu verfolgen, da es kaum eine Stunde dauerte, bis die Kugel ihre Endposition am Himmel erreichte. Was sich in den früheren Jahren über mehrere Stunden hinzog, ging nun, durch die Vernichtung der Erdatmosphäre, fast doppelt, wenn nicht sogar dreimal, so schnell. Dass die Strahlung der Sonne ohne die schützende Ozonschicht im Nu für eine Erderwärmung bis zu hundertsechsundsiebzig Grad Celsius sorgen konnte, daran hatten sich die Überlebenden in dieser rauen und ungeschützten Zone gewöhnt.

Tagsüber hatten nur jene die Gelegenheit, sich im Freien zu bewegen, die sich den einen oder anderen Schutzanzug aus den Bunkern des Militärs ergattern konnten. Viele Bewohner waren es sowieso nicht mehr und anfangs sprach man noch von einem Drittel der Menschheit, das glaubte, sich diesem Kampf gegen die Umwelt stellen zu können. Jedoch mit jedem Tag, der verging und an dem nicht mehr alle Nachrichten über den Äther gingen, war die Mund-zu-Mund-Propaganda unter den Überlebenden sehr gefragt, um sich vielleicht selbst ein Bild davon machen zu können, was in Wirklichkeit um einen herum geschah.

Hatte es mal wieder einer aus einer anderen Stadt geschafft, sich bis zur nächsten Stadt durchzukämpfen, musste dieser gleich zu etlichen Fragen Stellung nehmen. Zwar waren die angegebenen Zahlen und seine Erkenntnisse stets sehr unterschiedlich, doch wenn man von allen Angaben sich nur einen Teil schon betrachtete, konnte man schnell zu der Meinung gelangen, dass nur noch die Hälfte der Menschen von zweitausendeinhundertzweiundvierzig auf der Erde lebte.

Sulfas Blick richtete sich an diesem Morgen zum Horizont, sodass er es nie vergessen möge, was er inmitten seiner noch übrig gebliebenen Familie erleben durfte. Viele seiner Kameraden waren schon nicht mehr in der Lage, etwas wahrzunehmen in deren eigener Realität.

So erinnerte er sich an eine Begebenheit, die er einst in einem sehr alten Schulbuch gelesen hatte: Da sollten sich doch tatsächlich Männer im alten Europa mit ausgebreiteten Armen so lange um die eigene Achse gedreht haben, bis sie in eine Art Trance gerieten und dadurch einen Zustand des Nichts erreichten.

Sulfa wollte dies nun auch versuchen, anfangs noch etwas zögerlich, seine Geschwindigkeit zu erhöhen, die Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, war im Kopf doch noch größer als das Bedürfnis nach dem Nichts. Doch er merkte schnell, wenn er sich voll und ganz auf seine Drehungen konzentrierte, dass er durch die Rotation gar nicht das Gleichgewicht verlieren konnte. Schnell und immer schneller drehte er sich und genoss es sehr.

Zomini, die immer ein Auge auf Sulfa gerichtet hatte, wenn er sich so kurz vor Sonnenhöchststand immer noch draußen aufhielt, schaute sich dieses Szenario durch ihr Küchenfenster an. Da sie in ihrem hohen Alter es nicht mehr so schnell alleine geschafft hätte, die Sonnenblenden vor den Fenstern zu befestigen, rief sie nach Sulfa, um ihn zu bitten, ihr dabei behilflich zu sein. Durch die Drehungen war Sulfa aber gehörig außer Puste geraten und deshalb auch nicht böse, als er die Stimme seiner Tante hörte. Behutsam verlangsamte er seine Drehungen, bis er zum Stillstand kam.

Er hatte vermutet, dass er sich schwindelig fühlen würde, aber davon war er weit entfernt. Sein Kopf war klar und die Augen reagierten ganz normal, wie er feststellen konnte. Einzig dass er sehr schwitzte, machte ihm etwas zu schaffen, was aber wohl eher auf die nunmehr doch schon sehr angestiegene Hitze zurückzuführen war. Er griff sich seine Sachen und rannte, so schnell er konnte, zum Haus.

„Sulfa, du sollst doch nicht so lange da draußen bleiben, das ist sehr gefährlich. Komm und sei mir dabei behilflich, die Blenden anzubringen, es wird höchste Zeit dafür.“ Sulfa wollte seiner alten Tante da auch nicht widersprechen. Außerdem wusste er ja auch ganz genau, dass sie es sowieso nur gut mit ihm meinte, und somit packte er kräftig mit an, um die schützenden Teile rechtzeitig vor die Fenster zu bekommen.

Hier auf dem Land war es doch für ihn etwas anders als bei ihm in der Stadt. Hier hatte alles seinen regelmäßigen Ablauf, fast wie ein Ritual, und es kam nichts Unvorhersehbares auf einen zu. Dennoch liebte er die Zeit, die er mit seiner Tante hier verbringen konnte. Jedoch konnte auch er die Zeit nicht anhalten und musste leider erkennen, dass seine Tante immer älter wurde und ihre Kraft, auch wenn sie es nach außen hin gut zu verstecken wusste, immer mehr nachließ.

Er sorgte sich sehr um sie, aber wenn sie über solche Ängste sprachen, machte sie ihm immer sehr schnell klar, dass sie niemals von hier weggehen würde. Sie hätte eher den Tod in Kauf genommen als ihr Grundstück zu verlassen. Selbst als Sulfa ihr aus Angst um sie anbot, einen Freund von sich ihr zur Seite zu stellen, wenn er nicht da war, konnte sie das nicht überzeugen, ihre Meinung zu ändern. Er musste sich dem Willen der alten Frau beugen: Zomini lebte hier ihr Leben und so wollte sie auch enden, wenn die Zeichen der Zeit sie rufen würden.

Mehr als fünf ganze Wochen durfte Sulfa nicht bei ihr bleiben, denn seine Einheit konnte nicht länger auf ihn verzichten. Doch diese fünf Wochen nahm er sich einfach, ob es den Generälen gefiel oder nicht. Anfangs hatten sie immer versucht, ihre Stärke ihm gegenüber auszuspielen und ihm so manchen Stein in den Weg gelegt. Doch Sulfas Wille war zu stark, um sich davon beeindrucken zu lassen und sich gegen seine Tante zu entscheiden. Was schlussendlich dazu führte, dass die Herren klein beigeben mussten, um ihn nicht zu verlieren.

Sulfa hatte sich durch seine Begabung, Menschen zu führen, einen guten Namen in seiner Einheit gemacht. Der Respekt ihm gegenüber war entsprechend hoch und ausgeprägt unter seinen Leuten der Einheit. Manche huldigten ihm gar, doch dies mochte er überhaupt nicht. Er fühlte sich genauso wie seine Kameraden dazugehörig und wies Heldentum weit von sich.

Seine Tante Zomini ermahnte ihren Neffen immer, wenn er mal wieder der Meinung gewesen war, es übertreiben zu müssen, „Der Stern, der nachts leuchtet, den sieht man tagsüber nicht mehr“, das hatte er sich selbst als Verpflichtung auferlegt und handelte und lebte danach.

Dass der zweite Atomkrieg die Welt so spalten würde, war auch in Sulfas Augen ein Fehler, den man selbst in Hunderten von Jahren nicht mehr gutmachen konnte. Er gehörte nun einer Einheit des Grand World System an, die den Zusammenschluss der menschlichen Vereinigung wieder vorantreiben sollte, und zwar mit allen Mitteln, die der Institution zur Verfügung standen.

Die Hauptaufgabe lag darin, die unzähligen Feinde und Rebellen im Untergrund aufzuspüren und gegebenenfalls auch zu eliminieren. Etwas zynisch nannte man sie in der Einheit die „Nachtschattengewächse“. Diesen Begriff hatten die Kameraden einmal in einem Vortrag zweitausendacht über menschliche Ernährungsweisen gehört und fanden es dermaßen passend, da es diese Gewächse auf der Erde im derzeitigen Zeitalter nicht mehr gab.

Als die Arabische Union die Atombomben im Jahre zweitausendsechzehn auf die Vereinigten Staaten von Amerika richteten und durch ihre sich daraus resultierende Bedrohung diese aufforderte zu antworten, begann das, was sich von da an nicht mehr aufhalten ließ: Keine Seite wollte auch nur ein Stück in seiner Denkweise nachgeben und wehrte alle guten Vorschläge der anderen Nationen ab, ohne sie überhaupt einmal einer Prüfung unterzogen zu haben. Es schien so, als habe der eine nur darauf gewartet, dass der andere einen Fehler macht, und selbst die heftigsten Widersprecher und auch Verbündete wurden einfach dabei übergangen.

Und so gingen die Raketen in die Lüfte oder sie donnerten aus dem Weltall auf die Erde nieder. Es gab zwar immer noch die Kontinente, doch die Menschen, die jetzt im Jahre zweitausendeinhundertzweiundsiebzig auf der Erde lebten, hatten nur noch zwei Großstädte pro Erdteil, um sich ansiedeln zu können. Die Menschen konnten jetzt nur noch mit Hilfe des Grand World System geschützt und sicher ihre Städte verlassen, um sich in einer anderen wieder niederzulassen.

Natürlich gab es auch diejenigen, die versuchten, aus eigener Kraft von Stadt zu Stadt zu kommen. Jedoch wurden diese zum Großteil Opfer der erbarmungslosen Sonne oder sie wurden, wenn sie eines der sehr verstreut liegenden Dörfer erreichten, von deren Bewohnern, wenn sie nichts zum Tauschen hatten, einfach getötet. Für die Menschen war dieses Leben rau und teils von Unsicherheit geprägt und obwohl die derzeitige Regierung sich sehr darum bemühte, alles wieder ins Lot zu bringen, gab es dennoch immer wieder einige, die für Unruhe unter den angesiedelten Völkern sorgten.

Die Tage, die Sulfa mit seiner Tante verbrachte, gaben ihm seltsamerweise, trotz allen Friedens und Harmonie, die zwischen beiden herrschten, nie wirklich die Zufriedenheit, die etwas an dem Gesamtbild, das sich ihm tagtäglich bot, ändern würde.

Noch immer hatte er den Posten eines Majors des Grand World System inne, den er aber schleunigst für den nächsthöheren Rang verlassen wollte. Dass er sich zu diesem eignete, war nicht nur ihm und seinen Männern klar, jedoch ließ sein junges Alter von sechsundzwanzig Jahren ihn momentan, trotz bester Qualifikation, nicht weiter vorankommen. Deshalb beließ er es bei einem Ab-und-zu-mal-Nachfragen, wie es denn mit einer neuen Soldstufe aussehen würde? Er bekam jedoch immer die gleiche Antwort: Er solle sich noch etwas bremsen auf seinem vorausgeplanten Weg.

Doch Geduld war nicht gerade eine von Sulfas Stärken. Für ihn war es immer wichtig, eine Idee auch gleich in die Tat umzusetzen. Später dann konnte man ja schauen und darüber diskutieren, ob es gelungen sei oder nicht. Da Sulfa in seinen bisherigen Entscheidungen immer richtiggelegen hatte, wurmte dies natürlich seine Neider und so krochen sie immer wieder aus den Löchern hervor, um sich gegen ihn zu stellen. Doch auch sie mussten sich klar eingestehen, dass ihr Gegenspieler ein Gewinnertyp war, an den nicht so einfach heranzukommen war.

Sulfa, der solche Attacken meist mit einem Lächeln beantwortete, war sich aber ganz klar darüber, dass auch er nur ein Teil des Grand World System war. Solange alles bestens und zur Zufriedenheit aller lief, wusste Sulfa jedoch, dass man auch ihn, den sie so schnell hochgebracht hatten, jederzeit genauso schnell wieder fallen lassen konnte ‒ wie schon so manch einer vor ihm, der der Meinung war, unersetzbar zu sein.

Tante Zomini ermahnte ihren Neffen ständig, dass er niemals vergessen dürfe, wo seine Wurzeln liegen. Nur diese vermochten ihm die Stärke zu geben, die einst fast alle Menschen einmal in sich spürten. Tante Zomini war sowieso sehr von Tradition geprägt und liebte es, sie an Wissbegierige weiterzugeben. Diese alten Schriften und Bücher, die in ihren Regalen standen, waren schon immer auch Sulfas Lieblingslektüre.

Natürlich verstand er so manche Geschichte nicht und auch seine Tante, die all dies Aufgeschriebene und Gedruckte von ihrer Mutter übernommen hatte, wusste auch nicht auf alles eine Antwort. Sich einfach mal in einen Sessel zu setzen, um zu lesen, war das Größte für die beiden ‒ gerade in einer Zeit, wo einem die sprechenden Armbänder alles erzählten, was vorab in sie eingegeben worden war. „Darüber kannst du aber nicht die Lebensphilosophie der Menschen ableiten“, ermahnte ihn seine Tante, als Sulfa einmal glaubte, sich bei ihnen Rat holen zu müssen. „Nur beim Studieren der Bücher lernst du, auch dein Gehirn einzuschalten.“ Dieser Satz, so kurz und trocken er auch daherkam, prägte Sulfas Leben.

Als eine Art neuer Mensch, der einerseits von der Regierung auf Höchstleistung getrimmt wurde und andererseits in der Lehre der Menschlichkeit seine Erfahrungen sammelte, war es für ihn nicht einfach, beides unter einen Hut zu bringen. Als Jahrgangsbester von der Akademie abgegangen und somit gleich mit Vollstipendium zur Eliteeinheit abkommandiert, begeisterte er seine Ausbilder mit seinem messerscharfen Verstand und seiner blitzartigen Auffassungsgabe. Er hatte schon das gewisse Extra, was selbst in dieser fast künstlichen Welt eine Ausnahme war. Die Jagd nach regimekritischen Gegnern, die er mit der vollsten Härte wahrnahm, war sein tägliches Brot,

Über vierhundert Festnahmen konnte er schon für sich verzeichnen. Doch meist handelte es sich nur um kleine und nicht organisierte Gruppen, die, um nicht verhungern zu müssen, so manchen sinnlosen Auftrag ausführten und er und seine von ihm angeführte Eliteeinheit abfingen. An die großen Gruppierungen war selbst nach härtesten Verhören nicht heranzukommen, was wiederum die Abgeordneten im Oberhaus als eine nicht ausreichende Leistung im Kampf gegen ihre Gegner sahen. Die daraus folgenden logischen Entscheidungen lauteten, mit noch größerer Härte gegen die „Nachtschattengewächse“ vorzugehen, um endlich an die Wurzeln allen Übels zu gelangen.

Sulfa schaute sich immer, wenn er morgens sein Büro zur täglichen Besprechung betrat, die am Flur hängenden Plakate der Rädelsführer an, auf die die Regierung ein mittlerweile schon unverschämtes und in seinen Augen auch überhöhtes Kopfgeld ausgesetzt hatte. Doch selbst diese winkende Belohnung brachte bisher nicht den erhofften Erfolg. Diese Banden machten einfach keine Fehler und setzten ihre kleinen Gruppen immer so ein, dass die eine nichts von der anderen wusste.

Sulfa hoffte Tag für Tag, den entscheidenden Tipp zu dem Aufenthaltsort von dem Rebellen Gianthand zu bekommen, um ihn endlich dorthin zu befördern, wohin er nach seiner Auffassung gehörte: hinter die elektronischen Schutzsperren des Gefangenenlagers Sunworld.

Tante Zomini hatte wieder einmal ein tolles Essen zubereitet. Die meisten Zutaten waren Sulfa nicht bekannt, aber er mochte sie gerne, denn so schmeckte alles ganz anders als das, was er in der Stadt vorgesetzt bekam. Natürlich, um seine eigene Unsicherheit zu überspielen, machte er sich oft lustig darüber, wie seine Tante an diesem sehr alten Herd stand und mit Hilfe der hohen Töpfe das Essen zubereitete. Doch dies geschah einfach aus der Tatsache heraus, weil Sulfa es eben nicht gewohnt war bei all den künstlichen Zutaten, sofern man sie so nennen konnte, die im von ihm gewohnten Essen waren.

Nun hatte Zomini zwar diesen Vulkaes, den ihr Sulfa zu ihrem achtundsechzigsten Geburtstag geschenkt hatte, bei dem sie nur einen Knopf drücken brauchte und auf dem vier Gerichte zur Auswahl standen, sie wollte es sich aber nicht nehmen lassen, etwas mit der Kraft der eigenen Hände zu erschaffen, was zudem auch noch viel besser schmeckte. Zugeben musste sie allerdings, dass es mit diesem Gerät viel schneller ging. Das Zubereitete schmeckte vielleicht nach Künstlichem, war dennoch sehr sättigend und für einen Mann, der Höchstleistungen vollbringen musste, gerade richtig. Für sie war es eine aus der Not geborene Erfindung, die dem Zeitalter angepasst worden war, doch lieb gewonnen hatte sie dieses Teil nie.

Wie immer, pünktlich um fünfzehn Uhr, stand das Mittagessen bei Tante Zomini auf dem Tisch und Sulfa setzte sich an das entsprechende Ende des Tisches, so wie in früheren Zeiten sein Onkel gegenüber seiner Tante saß. Eine Unterhaltung mochte seine Tante nicht beim Essen, denn sie war der Meinung, dass die Worte den Geschmack und die Gaumenfreude mindern ‒ also schwieg man bei Tisch.

Inmitten des Hauptganges bemerkte Sulfa, dass der Wind ums Haus fegte. „Soll ich mal rausgehen, Tante, und nach dem Rechten sehen?“

„Ja, Sulfa, schau doch bitte mal nach, was da vor der Tür los ist.“

„Es scheint sich eine Sonneneruption anzukündigen und da wäre es besser, wenn das ganze Haus abgedichtet ist. Spürst du, wie der Tisch sich schon selbstständig macht?“

Sulfa ging, ohne weiter an sein Mittagessen zu denken, zum Garderobenständer und nahm die alte Arbeitskleidung seines verstorbenen Onkels vom Haken. Seine Tante bewahrte sie auf für unvermeidliche Gänge nach draußen am helllichten Tag. Dass sein Onkel früher in der staatlichen Gießerei gearbeitet hatte, war für ihn und seine Tante ein kleiner Vorteil. Seine Tante hatte alles bis hin zu den Stiefeln vorrätig, was sich nun in solchen Situationen mehr als bezahlt machte. Zwar dauerte das Ankleiden immer eine gewisse Zeit, doch mit der Zeit entwickelte Sulfa so seine eigene Technik beim Anziehen, die ihm die Sache erheblich vereinfachte.

Für Sulfa, der eher schmächtig wirkte, war die Schutzkleidung viel zu groß. Sein Onkel war ein Baum von Mann gewesen, was seine Tante schon im ersten Moment, als sich ihre Blicke trafen, an ihm so liebte. Diese Schutzkleidung erfüllte ihren Zweck mehr als genug, um sich am Tage für kurze Zeit im Freien aufhalten zu können.

Sulfa hatte natürlich bei sich zu Hause in der Stadt eine komplett neuwertige Ausführung dieses Modells. Sie war genau auf seinen Körper abgestimmt und nach dem neuesten Stand der Sonnenforschung getestet. Dazu besaß er einen für die Einsätze extra entwickelten Kampfanzug. Doch diesen durfte er nicht mit zu seiner Tante nehmen, denn diese war nicht gerade von der Armee begeistert und schon gar nicht gut auf diese Truppe zu sprechen. Aber sie respektierte, dass Sulfa hier seinen Weg gesucht hatte und den, bisher weitestgehend auch unfallfrei, bestritten hatte. Ihre größte Sorge war, dass ihrem Neffen etwas passieren könne beim Ausüben seiner Pflicht.

Als Sulfa die Eingangstür öffnete, drang sofort ein grelles Licht in den Raum und durchflutete alles auf den ersten drei Metern mit der sich sofort ausbreitenden Hitze. So schnell es ihm möglich war, versuchte er, sich durch den Türspalt zu drücken, um nicht noch mehr in den Raum eindringen zu lassen, was sich aber aufgrund der schweren Schutzkleidung und der sich dadurch ergebenden Schwerfälligkeit etwas hinauszögerte.

So stand Sulfa nach kurzer Zeit auf der Veranda und versuchte, hinter der Schutzverglasung seines Helmes, die Quelle des Geräusches zu bestimmen. Gerade als er noch einen weiteren Schritt nach vorn gehen wollte, zog ihm eine heftige Windböe die Beine weg, sodass er vornüber kippte und flach auf seinem Bauch landete. Beim Versuch, sich wieder aufzurichten, bemerkte er, dass er nicht mehr alleine auf der Veranda stand.

Der alte und fast morsche Holzboden fing unter ihm leicht an zu vibrieren und er vermeinte auch, durch den Helm dumpfe Schritte zu vernehmen. Aber die Richtung, woher sie kamen, war unter diesen Bedingungen nicht auszumachen, und so war er gezwungen, sich auf seinen Instinkt zu verlassen.

Er entschied sich für links und drehte, schon bevor er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, seinen Körper auf diese von ihm ausgewählte Seite. Zu seinem Entsetzen bemerkte er im gleichen Moment, die falsche Entscheidung getroffen zu haben. Noch auf halber Höhe seines Versuches, sich aufzurichten, drückte ihn ein grober Stiefel sofort wieder auf den Holzboden zurück. Zu diesem Stiefel, der mittlerweile auf seine Brust drückte, gehörte auch ein Sturmgewehr der Klasse neunhundertsiebenunddreißig.

Mit einem Ruck wurde Sulfa vollends umgedreht, sodass er nun auch in den Lauf der Waffe blicken konnte, die er nur zu gut kannte aus den Beständen seiner eigenen Waffensammlung. Die Zielvorrichtung dieses Gewehres leuchtete genau auf das Sichtfenster, das durch die getönte Scheibe den roten Lichtpunkt noch unfreundlicher wirken ließ, als er ohnehin schon war.

Den Fremden über ihm konnte er in keiner Weise erkennen, denn dazu war die Sichtblende zu dunkel abgestimmt. Nur der rote Punkt, der die Schusslinie widerspiegelte, war nicht zu übersehen und forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Sofort vermutete er, dass es sich um einen der Outlaws handeln musste, von denen sich in dieser Gegend immer mehr ansiedelten, um den noch verbliebenen kleinen Farmen das Leben schwer zu machen. So zogen es viele Bewohner immer öfter vor, ihr Heim aufzugeben, um ein neues Leben, ohne Angst, in der großen Stadt zu beginnen.

Ziemlich unsanft wurde Sulfa von dem Angreifer wieder auf die Beine gestellt. Nicht alleine, hielt ein anderer ihm die Arme, ausgebreitet und leicht nach oben gerichtet, wie einst der Sohn des Gottes, an den fast die Hälfte der damals auf der Erde lebenden Menschen glaubten. Leicht auf den Zehenspitzen stehend spürte er, wie sich seine Bauchmuskeln anspannten, um schon im nächsten Moment unerwartet das hintere Teil eines Sturmgewehres in der Magengrube zu spüren, was ihn zusammenbrechen ließ. Zwei- bis dreimal wiederholte sich dieses Szenario, was dann in einem erneuten Zusammenbruch Sulfas endete.

Zomini, die die nicht zu überhörenden Schläge mitbekommen hatte, fasste kurzerhand einen Entschluss, selbst wenn sie auch nur geahnt hätte, dass dieser wohl nichts Gutes bedeuten würde, immer wieder getan hätte, um Sulfa da draußen zu helfen. Sie spürte einfach, dass ihr Liebling sich in erheblicher Gefahr befand und ihre Hilfe dringend benötigte.

Von ihrem Mann hatte sie in vielen Stunden gelernt, wie man mit einem Gewehr umzugehen hatte, wenn man es einmal einsetzen musste. Jedoch mit auf die Jagd gehen wollte sie zu keiner Zeit in all den Jahren ihrer glücklichen Ehe und konnte dieser auch nichts abgewinnen.

Bei allem Widerwillen gegen dieses Morden von Tieren hatte sie aber auch nichts gegen ein schönes Stück Fleisch einzuwenden, dass die Männer am Abend meist mit nach Hause brachten.

Doch Sulfas Onkel bestand darauf, dass sie lernen sollte, wie ein Gewehr funktioniert. Er sagte immer zu ihr: „Auch wenn ich inständig hoffe, dass es für dich nie nötig sein wird, das Gewehr in die Hand zu nehmen, solltest du trotzdem damit umgehen können und wissen, was es einem antut, der glaubt, dir je was Böses zu wollen.“

Mit raschen Bewegungen, die man ihr in diesem Alter gar nicht mehr zugetraut hätte, holte sie das Gewehr von der Wand, wo es auf der extra dafür hergerichteten Wandhalterung lag und entnahm aus der rechten Schublade ihres Schrankes die passenden Schrotpatronen. Zomini hoffte, dass diese noch ihren Dienst tun würden, um die Angreifer abwehren zu können. Zwar waren sie stets trocken gelagert, aber was die Haltbarkeit einer Schusspatrone anging, war sie eindeutig überfragt.

Vorsichtig hob sie das, noch von ihrem Mann an der Hauswand angebrachte, Lukenfenster an und versuchte, sich erst einmal ein Bild von der Lage da draußen zu machen. Doch diese gleißende Helligkeit brachte so viel Erfolg wie ein Glas kaltes Wasser auf der heißen Veranda. Also überlegte sie nicht lange und steckte den Lauf ihres Gewehres durch die Luke und richtete ihn nach den Geräuschen, die sie hören konnte, aus.

Die Tatsache, dass sie nicht ausmachen konnte, wo sich gerade ihr Liebling befand, ließ sie dennoch keinen Moment zögern, die Waffe zu gebrauchen. „Lasst meinen Neffen in Ruhe oder ich brenne euch eins über!“, schrie sie laut durch den Spalt der geöffneten Luke, doch die heftigen Sonnenwinde ließen ihre Worte verhallen.

Laut krachte die erste Ladung Schrot durch die Luft und es dauerte nur eine weitere Sekunde, bis sie zum zweiten Mal den Abzug der Flinte bemüht hatte. Urplötzlich wurde es sehr leise ‒ Zomini vermutete, dass sie einen Treffer gelandet haben musste. Aber so ganz traute sie dem Braten nicht und knickte erneut den Lauf ihrer Flinte um, sodass sie das zweite Paar Patronen einsetzen konnte. So leise, wie es ihr möglich war ‒ darauf achtete sie sehr, da sie sich in einer Situation befand, in der sie nicht einschätzen konnte, wie es um Sulfa und sie stand ‒, schloss sie den Lauf wieder. Sofort und ohne zu zögern, schob sie den Lauf durch die Luke.

Wie aus dem Nichts und vollkommen unerwartet, riss eine unheimliche Kraft an ihrem Gewehr und drückte Zomini mit solch einer Wucht gegen die Wand, dass ihr Kopf und ihre Schultern ungebremst dagegenkrachten. Die durch diesen Aufprall entstandene Platzwunde an ihrem Kopf blutete heftig, was sie aber im ersten Moment gar nicht mitbekam, da es ihr Sekunden später sogleich schwarz vor den Augen wurde und sie bewusstlos zu Boden glitt.

Mit heftigen Fußtritten versuchten die Angreifer, sich gewaltsam Einlass in das Haus zu verschaffen. Immer wieder und mit voller Wucht polterten sie abwechselnd gegen die von innen verriegelte Tür.

Nach einigen Minuten und unzähligen Tritten gab die Tür nach und die bisher robust erscheinende Verriegelung brach aus ihrer Verankerung. Rasch drangen die Angreifer ins Haus und ein kleiner Teil, der aus vier Köpfen bestand, warf Sulfas Körper brutal auf den Tisch, an dem er und seine Tante noch kurz zuvor zu Mittag gegessen hatten.

Die übrigen Banditen waren damit beschäftigt, die Tür wieder so abzudichten, dass keinerlei Licht und vor allem die Hitze nicht ins Innere gelangen konnten. Der Anführer der vier Männer zog Sulfas Arme nach hinten, sodass seine Beine auf der gegenüberliegenden Seite über die Tischkante hingen. „Hier, Chef, ich habe sie gefunden“, sagte einer der Angreifer zu dem am Tischende stehenden Mann und zeigte stolz die zwei Nägel, die er ohne große Mühe auf dem Boden erspäht hatte. Jeweils in der Mitte der Handfläche von Sulfas Händen platzierte er einen der Nägel und schlug den ersten sogleich, mit einem großen Hammer des Onkels, durch die Hand in die Platte des Tisches.

Zomini wurde, ohne Rücksicht auf ihr hohes Alter, auf einen ihrer Küchenstühle gesetzt und mit Knebel und einer Fesselung versehen. Sie war noch immer benommen von dem Aufprall gegen die Wand und bekam alles nur schemenhaft mit, was sich gerade in ihrem eigenen Haus abspielte.

Der Mann am Ende des Tisches ließ nach dem Einhämmern des zweiten Nagels den Hammer zu Boden fallen, um sich wieder Sulfa zuzuwenden. Blitzschnell und ohne darauf zu achten, ob es zu Verletzungen kommen könne, riss er den Schutzhelm von Sulfas Kopf. „Ja, was haben wir denn da? Schaut mal, Leute, er hat noch nicht einmal seine Miene verzogen, als ich ihm die Nägel eingeschlagen habe. Das ist ein richtiger Mann, nehmt euch mal ein Beispiel daran!“, rief der Mann, als er sich mit seinem Gesicht bis auf wenige Zentimeter Sulfas Kopf näherte. „Na, kleiner Soldat, wie fühlen wir uns nun?“

„Was wollt ihr hier? Es gibt hier absolut nichts für euch zu holen. Und ich rate euch, lasst endlich meine Tante frei! Sie ist eine alte Frau und hat euch nichts getan.“

Sulfas Worte brachten den Mann zum Lachen. Nein, es war nicht das übliche Lachen, dass man von sich gab, wenn man sich freute. Es hörte sich vielmehr verspottend und respektlos an. „Alt sagst du? Frag doch mal Mario, der da draußen auf der Veranda mit einer Ladung Schrot im Bauch liegt und langsam verblutet, was für ihn alt bedeutet!“, entrüstete sich der Fremde. „Aber wegen dieses Weibes sind wir auch weiß Gott nicht gekommen. Nein, mein Lieber, das wäre zu einfach. So, wie du da auf dem Tisch liegst und mir deine Aufmerksamkeit schenkst, wirst du ganz schnell erahnen, wer hier die Hauptrolle spielt.“

Der Chef, so wie ihn die anderen Banditen nannten, ergriff Sulfas Kinn mit seiner rechten Hand und drückte dessen Kopf noch näher an seinen heran. „Gib uns den Zutrittscode zum Zentralhauptquartier und deine Tante hat eine Chance zu überleben. Doch nimm dir nicht zu lange Zeit für deine Auskunft, kleiner Major, ich bin kein sehr geduldiger Mensch und ich könnte mich dazu gezwungen sehen, Sachen zu machen, die ich womöglich gar nicht will.“

„Was, du willst ein Mensch sein? Du bist der reinste Abschaum!“ Sulfa spuckte dem Mann angewidert und mit voller Wucht ins Gesicht, sodass dieser seinen Griff löste, um sich die Spucke aus dem Gesicht zu wischen. Mit dieser Aktion hatte der Chef nicht gerechnet und war für einen kurzen Zeitraum leicht irritiert über die Kraft, die noch in Sulfas Körper steckte.

Doch dieses Überraschtsein verflog recht schnell und sein wahres Ich trat zum Vorschein. Roh und mit voller Wucht schlug er Sulfa die Faust mitten ins Gesicht. Der Schlag war so fest, dass Sulfas Nase sofort anfing, heftig zu bluten. „Pass auf, mein Freund, du bist hier nicht in der Lage, dich so gegen uns zu stellen. Und nun sollst du sehen, was deine Uneinsichtigkeit dir bringt.“

Er winkte einen Kerl zu sich. „Komm, Judd, zeige unserem Held doch einmal, wie wir mit einem umgehen, der sich weigert, uns behilflich zu sein“, sprach der Anführer in einem Tonfall, der schon jetzt nichts Gutes verheißen ließ.

Judd gehorchte aufs Wort, wie ein abgerichteter Hund, und machte sich auf den Weg zum Stuhl, auf dem die immer noch bewusstlose Zomini, gefesselt und in sich zusammengesunken, saß. Mit der flachen Hand schlug der Grobian der Frau abwechselnd links und rechts auf die Wange. „Komm, Alte, wach endlich auf! Du sollst mitbekommen, was jetzt mit deinem Jüngelchen passiert.“

Zomini schlug die Augen auf und konnte die Umrisse von Sulfa auf dem Tisch erkennen. „Junge, was haben die mit dir gemacht? ‒ Hört auf, ihn zu quälen, ihr Schweine!“

„Die Alte hat ja auch so ein freches Maul wie der Kleine auf dem Tisch“, hörte man Judd, laut lachend, sagen.

Sulfa bemerkte, wie ein Mann, der bisher noch nicht in Erscheinung getreten war, an den Tisch herankam und den Chef, den er eigentlich für den Anführer hielt, aufforderte, seinen Platz zu räumen. Langsam, aber dennoch so schnell, dass sich die Aufmerksamkeit von Sulfa sofort auf ihn richtete, zog sich der Mann den Helm und die Brandschutzhaube vom Kopf. Mit weit aufgerissenen Augen nahm Sulfa die Gesichtszüge über ihm wahr. „Gianthand, du bist es also, der hier in unser Haus eingedrungen ist und meine Tante foltert!“

Grinsend schaute Gianthand in Sulfas Augen und gab mit dem Zeigefinger der linken Hand Judd ein Zeichen, ohne dabei den Blick von Sulfa zu nehmen. Dieser zog ein dreißig Zentimeter langes Messer aus seinem Stiefel und legte es an die Kehle von Zomini.

„Nein, halt, tue das nicht, sie hat nichts damit zu tun! Lasst sie gehen und nehmt mich, wenn ihr unbedingt jemanden foltern oder töten wollt, um euch an der Regierung zu rächen!“

„Sag uns den Code, und zwar jetzt sofort, oder Judd zieht das durch!“

„Ja, ja, ich sage ihn euch, aber lasst erst meine Tante frei!“

„Nein, ich bestimme hier und ich will erst den Code, hast du das endlich verstanden, kleiner Soldat!“, brüllte Gianthand. „Jetzt sag ihn schon ‒ oder deine Tante wird sterben.“