Tod im Moormerland

Ostfrieslandkrimi

Susanne Ptak


ISBN: 978-3-95573-392-6
1. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung des Bildes 188517767 (shutterstock).

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

Jheringsfehn, Ostfriesland, 28. Januar 1999

 

Ein kalter Windstoß schlug Okka Wilken entgegen, als sie die Türe öffnete. Überrascht schaute sie die beiden uniformierten Polizisten an, die im Licht der Außenbeleuchtung vor ihr standen.

„Frau Wilken?“, erkundigte sich die junge Polizeibeamtin.

Okka nicke. „Ja, was kann ich für Sie tun?“

„Polizei Leer. Mein Name ist Reiner Hartema und das ist meine Kollegin Lena Smidt“, stellte nun der männliche Kollege beide vor. „Ist Ihr Mann vielleicht zu Hause?“

„Nein. Warum?“ Schlagartig wurde Okka kalt; ein Schauer lief ihr über den Rücken. Thomas hätte längst hier sein sollen. Seit einer halben Stunde war sie schon unruhig und nun stand die Polizei vor ihrer Türe.

„Können wir vielleicht für einen Moment hereinkommen?“, bat Lena Smidt.

„Ja … natürlich … bitte.“ Okka führte die beiden Polizisten in die Küche. „Kann ich Ihnen einen Tee anbieten?“, fragte sie nervös.

„Nein danke. Setzen Sie sich doch bitte hin“, sagte Reiner Hartema.

Okka ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder; ihre Knie wurden weich und ihr Herz fing an zu rasen.

„Frau Wilken“, begann Lena Smidt in ruhigem, sachlichem Ton. „Bevor Sie sich jetzt aufregen – wir wissen noch nichts Genaues. Wir haben den Wagen Ihres Mannes verlassen in Siebenbergen gefunden. Ein Anwohner hatte uns informiert. Offensichtlich hat ein Unfall stattgefunden, darum dachten wir, er hätte sich vielleicht von der Unfallstelle abholen lassen.“

Es fühlte sich an, als würde eine eiskalte Hand Okkas Herz umschließen; ihr wurde übel. Angstvoll schaute sie die beiden Polizeibeamten an. „Und mein Sohn?! Wo ist mein Sohn?!“

„Regen Sie sich bitte nicht auf. Vielleicht ist Ihr Mann ja zu Fuß gelaufen, weil es im Auto zu kalt wurde“, versuchte Polizeihauptmeister Hartema die aufgebrachte Frau zu beruhigen. „Von wo war er denn unterwegs?“

„Er hat unseren Sohn von einem Kindergeburtstag bei Freunden in Meerhausen abgeholt.“

„Seien Sie doch so nett und rufen Sie die Freunde an. Vielleicht ist er ja dorthin zurückgegangen.“

Wie in Trance stand Okka auf, nahm das Telefon von der Kommode im Flur und drückte mit zitternden Fingern die Tasten.

„Okka hier“, sagte sie mit bebender Stimme, als sich am anderen Ende Freundin Heike meldete. „Sind Thomas und Jelte bei euch?“

Die Angerufene schien überrascht von der Frage, denn es dauerte eine Weile, bis sie besorgt antwortete: „Die sind doch schon vor über einer Stunde gefahren.“

Okka entfuhr ein Schluchzen.

„Okka, was ist los?! Ist etwas passiert?!“, rief Heike nun angstvoll.

„Die Polizei ist hier! Sie haben Thomas‘ Wagen gefunden! Aber Thomas und Jelte waren nicht drin!“

„Ich rufe eben meine Mutter an, damit sie auf Svenja aufpasst, dann kommen wir sofort zu dir“, versprach Heike und legte auf.

„Sie sind nicht dort“, informierte Okka die Polizisten, als sie zurück in die Küche kam. „Was ist denn nur passiert?“ Tränen liefen über ihre Wangen.

„Für uns stellt es sich so dar, als sei der Wagen Ihres Mannes von der Straße gedrängt worden. Wir gehen aber davon aus, dass weder Ihr Sohn noch Ihr Mann schwere Verletzungen davongetragen haben, denn das Fahrzeug wurde nur wenig beschädigt“, erklärte Reiner Hartema und wollte dann wissen: „Fährt Ihr Sohn immer im Kindersitz mit oder machen Sie auch schon mal Ausnahmen?“

Okka schüttelte den Kopf. „Niemals. Er sitzt immer im Kindersitz.“

„Das ist gut zu wissen, denn dann können wir davon ausgehen, dass es beiden gut geht. Der Kindersitz wurde nicht beschädigt und da Ihr Sohn nicht mehr im Auto war, wird Ihr Mann ihn daraus befreit haben.“ Lena Smidts Stimme klang zuversichtlich.

„Aber wo können sie denn nur sein?!“ Okka schaute die Polizistin hilflos an.

„Zwei Streifenwagen sind unterwegs und suchen die Strecke vom Unfallort bis zu Ihrem Haus ab. Sie werden die beiden sicher bald finden.“

Okka machte nun doch Tee. Sie musste sich irgendwie beschäftigen, um nicht laut loszuschreien. Lena Smidt hatte Okkas Zustand sofort richtig eingeschätzt, einen verstehenden Blick mit ihrem Kollegen ausgetauscht und diesmal lehnten sie den angebotenen Tee nicht ab.

Die Küchentür, die zum Wirtschaftsteil des ehemaligen Bauernhauses führte, öffnete sich und Heike und Jürgen Eikhoff traten ein. Sie waren durch den stets offenen Hintereingang ins Haus gekommen. Offensichtlich hatte Jürgen jede Geschwindigkeitsbegrenzung missachtet, denn sie hatten die Strecke von Meerhausen nach Jheringsfehn in Rekordzeit bewältigt.

Heike lief sofort zu ihrer Freundin und nahm sie in die Arme. „Weißt du schon was?“

Okka schüttelte nur den Kopf.

Die beiden Polizeibeamten leerten ihre Teetassen und erhoben sich. „Sie sind ja nun nicht mehr alleine. Dann machen wir uns lieber nützlich und helfen bei der Suche nach Ihrer Familie“, sagte Lena Smidt.

Okka wollte aufstehen, um sie zur Türe zu begleiten.

„Bleiben Sie sitzen, wir finden schon raus. Sobald wir etwas wissen, melden wir uns bei Ihnen.“

Jürgen setzte sich zu Okka, nachdem die Polizisten das Haus verlassen hatten, Heike setzte noch einmal Teewasser auf.

„Sie werden sie bestimmt bald finden“, versicherte Jürgen der Freundin.

 

In den frühen Morgenstunden fanden Suchhunde die Leiche von Thomas Wilken im Wald, flüchtig mit Blättern und Zweigen bedeckt, nur wenige Meter von seinem Wagen entfernt. Er war erschossen worden. Von Jelte Wilken fehlte jede Spur.

Kapitel 2

Hunter’s Drift, Grafschaft Oxfordshire, Großbritannien, 5. August 2014

 

Ratlos stand der junge Mann vor dem verfallenen Haus. Efeu und wilder Wein rankten sich über das alte Gemäuer. Die zerschlagenen Fenster und das eingesunkene Dach taten kund, dass hier schon lange niemand mehr lebte. Nur das verwitterte, von Moos bedeckte Schild am halb verfallenen, gemauerten Torbogen bewies, dass er am gesuchten Ort war. Wenn man genau hinsah, konnte man die Worte „Hunter’s Drift Orphanage“ darauf entziffern.

Colin Johnson sah sich um. Gerne wäre er in das Haus hineingegangen, doch davon abgesehen, dass die Türe mit Holzbrettern vernagelt worden war, riskierte man wahrscheinlich sein Leben, wenn man diese Bruchbude betrat.

Stattdessen versuchte er, um das Haus herum zu laufen. Doch schon bald gab er auch das auf. Zwei Meter hohe Brombeerbüsche machten ein Durchkommen ohne eine Heckenschere oder ähnliches Gartengerät einfach unmöglich. So ging er zurück zur Straße und betrachtete das ehemalige Waisenhaus von dort.

Warum kam es ihm nicht bekannt vor? Wenn er doch mehrere Jahre seiner Kindheit hier verbracht hatte, dann müsste er sich doch an irgendetwas erinnern können, selbst wenn er damals erst vier Jahre alt gewesen war.

Er schrak zusammen, als plötzlich eine freundliche Stimme hinter ihm fragte: „Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

Colin drehte sich um. Eine Frau mittleren Alters war von ihrem Rad gestiegen und lächelte ihn an. Er hatte sie nicht kommen hören, so tief war er in Gedanken versunken gewesen.

„Eigentlich habe ich gefunden, was ich suchte“, antwortete Colin. „Aber ich hatte gehofft, hier noch jemanden anzutreffen.“

„Hier?! Das Heim existiert doch schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Aber wenn Sie etwas darüber erfahren wollen – sehen Sie das kleine weiße Cottage am Ende der Straße?“

Der junge Mann nickte.

„Dort wohnt Theresa Bridges. Sie war die letzte Heimleiterin.“

Colin bedankte sich, die Frau stieg wieder auf ihr Rad und fuhr weiter.

Das war wirklich merkwürdig. Seit mehr als zwanzig Jahren sollte es das Heim nicht mehr geben? Das konnte unmöglich sein. Er war erst neunzehn und hatte vier Jahre in diesem Heim gelebt. Vielleicht konnte diese Theresa Bridges ihm weiterhelfen. Verwirrt lief er die Straße entlang bis zu dem weißen Haus.

„Moment! Eine alte Frau ist nicht mehr so schnell!“, ertönte es von drinnen, nachdem Colin ungeduldig ein zweites Mal geklopft hatte.

Dann wurde die Türe geöffnet und eine Frau, weit in den Achtzigern, stand vor ihm. Fragend blickte sie ihn aus wässrig blauen Augen an.

„Entschuldigen Sie, dass ich störe. Aber mir wurde gesagt, Sie seien die letzte Heimleiterin des Hunter’s-Drift-Waisenhauses gewesen.“

Die alte Frau nickte. „Und womit kann ich Ihnen helfen?“

„Ich habe gerade erfahren, dass ich einige Jahre in diesem Waisenhaus verbracht haben muss, und dachte …“

Theresa Bridges schaute Colin abschätzend an, dann winkte sie ihm auffordernd zu. „Kommen Sie rein, junger Mann. Das scheint mir eine längere Geschichte zu werden und lange Geschichten verlangen nach einem Tee.“

Colin folgte ihr durch den schmalen, niedrigen Flur in eine kleine Küche.

„Setzen Sie sich“, forderte die Frau ihn auf, stellte Tassen auf den Tisch und hängte Teebeutel hinein. „Ich bin nicht so traditionell. Diese Beutel sind wirklich praktisch“, erklärte sie und goss heißes Wasser aus einem Teekessel ein, der auf einem alten Stangenherd gestanden hatte. Offensichtlich heizte die Frau mit diesem Herd auch an warmen Sommertagen wie heute.

Theresa Bridges stellte den Kessel wieder auf den Ofen zurück und setzte sich. „Na, dann schießen Sie mal los“, forderte sie Colin auf.

Der junge Mann holte tief Luft und erzählte dann: „Vor zwei Wochen ist meine Mutter gestorben.“

„Oh, das tut mir sehr leid“, unterbrach ihn die alte Frau. „Und sie war Ihre Adoptivmutter?“

„Bis vor ein paar Tagen glaubte ich, sie sei meine richtige Mutter. Doch als ich jetzt ihre Papiere durchgesehen habe, fand ich das.“ Colin lehnte sich vor und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Gesäßtasche seiner Hose. Er faltete es auf und reichte es Theresa Bridges.

„Ach herrje! Das war bestimmt ein Schock für Sie“, sagte die alte Frau mitfühlend und nahm das Blatt entgegen. Sie setzte die Lesebrille auf, die vor ihr auf dem Tisch gelegen hatte, und studierte das Papier eingehend. Dann sah sie Colin ernst an. „Junger Mann, das hier ist eine Fälschung. Eine gute zugegebenermaßen, dennoch eine Fälschung. Hier steht, dass Sie am 29.1. 1999 von Helena Johnson adoptiert worden sind und dass ich die Adoption in die Wege geleitet habe. Hunter’s Drift Orphanage wurde aber bereits im Dezember 1992 geschlossen! Und der hier angegebene Sachbearbeiter des Jugendamtes, der die Adoption begleitet haben soll, starb im Jahr zuvor. Dazu kommt noch – wir hätten nie ein Kind an eine alleinstehende Frau vermittelt und ich sehe hier nirgendwo den Namen eines Ehegatten.“

Colin starrte Theresa Bridges fassungslos an. „Und was bedeutet das?“

Die ehemalige Heimleiterin zuckte mit den mageren Schultern. „Ich würde behaupten, Ihnen ist da ganz übel mitgespielt worden, und ich vermute, Ihren leiblichen Eltern auch. Gibt es noch jemanden in Ihrer Familie, den Sie danach fragen könnten?“

„Nur noch einen Onkel, den Bruder meiner Mutter. Aber er lebt in Deutschland; ich habe ihn nie kennengelernt.“

Theresa Bridges gab ihm die gefälschte Adoptionsurkunde zurück. „Sie sollten damit zur Polizei gehen. Vielleicht können die Ihnen weiterhelfen.“

Colin leerte seine Teetasse, stand auf und bedankte sich bei der alten Frau.

Sie begleitete ihn noch zur Türe. „Wenn Sie etwas erfahren, seien Sie doch so lieb und berichten mir davon. Sie haben mich wirklich neugierig gemacht.“

Colin versprach, das zu tun, und dann stand er wieder ratlos und alleine auf der menschenleeren Dorfstraße. Eine plötzliche Leere überfiel ihn, denn von einem Moment auf den anderen wusste er nicht mehr, wer er eigentlich war. Sein ganzes Leben schien eine Lüge gewesen zu sein. Aber warum? Helena Johnson – seine Mom – war gar nicht seine richtige Mutter gewesen. Doch nicht einen Tag in seinem bisherigen Leben hätte er das vermutet. Kaum einer seiner Freunde war mit einer solchen Fürsorge bedacht worden wie er selbst. Sie hatte wirklich alles für ihn getan, sogar noch einen Nebenjob angenommen, um ihn auf eine teure und sehr gute Privatschule schicken zu können. Und dennoch hatte sie es irgendwie immer geschafft, auch noch genug Zeit für ihren Sohn zu haben.

Ja, da waren Zweifel gewesen und eine dunkle Erinnerung an ein anderes Leben, begleitet von einem unterschwelligen Gefühl eines Verlustes; Erinnerungsfetzen an einen Unfall und Angst in einem engen dunklen Raum.

Er hatte seiner Mom davon erzählt und sie hatte ihm erklärt, dass es einen Unfall gegeben habe, als er mit Verwandten im Auto unterwegs gewesen sei. Die Verwandten, die sie allerdings nie genauer bezeichnet hatte, seien dabei ums Leben gekommen und er habe glücklicherweise überlebt, könne sich aber aufgrund seines Alters und des aus dem Unfall entstandenen Traumas nicht mehr daran erinnern. Es hatte für Colin keinen Grund gegeben, das anzuzweifeln. Er hatte geglaubt, dass Helenas beinahe schon übermäßige Fürsorge daher rührte, dass sie ihn beinahe verloren hätte.

Doch nun hatte er den Verdacht, dass ihr Bedürfnis, wirklich alles für ihn zu tun, daher kam, dass sie sich mehr als alles auf der Welt ein Kind gewünscht hatte. Warum hätte sie ihn sonst als alleinstehende Frau adoptieren sollen? Und wie hatte sie diese Adoption bewerkstelligt, wenn es nach Aussage von Theresa Bridges für unverheiratete Frauen schwierig war, ein Kind anzunehmen?

Und was war mit seiner richtigen Familie? Hatte sie ihn weggegeben? Oder hatte man ihn ihr weggenommen? Wo war sie?

Der einzige Anhaltspunkt, den er hatte, war Onkel Scott in Deutschland. Er wusste nicht viel mehr über diesen Mann, als dass es ihn gab. Helena hatte nur einmal über ihn gesprochen und erzählt, dass sie zerstritten waren, weil er nach Deutschland gegangen war.

Colin straffte die Schultern, verdrängte seine Gefühle und ging zurück zum Auto. Als Erstes musste er herausfinden, wo Scott Johnson sich aufhielt, und dann würde er ihn aufsuchen. Vielleicht konnte der Onkel, der, wie es schien, gar nicht sein Onkel war, die brennenden Fragen beantworten.