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Manfred H. Krämer
MordsMarathon
Der siebte Solo & Tarzan Krimi

Für Monika,

meine über alles geliebte Ehefrau, die dem Tod erklärt hat, er habe sich geirrt.

Sie hat recht gehabt.

Wie immer.

Titelidee: Manfred H. Krämer
Coverfoto: Markus Proßwitz
Satz & Gestaltung: Verena Kessel

ISBN Taschenbuch 978-3-86476-072-3

ISBN E-Book EPUB 978-3-86476-510-0

ISBN E-Book PDF 978-3-86476-511-7

image Verlag Waldkirch KG
Schützenstraße 18
68259 Mannheim
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Fax 0621-129 15 99
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© Verlag Waldkirch Mannheim, 2016
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags.

Manfred H. Krämer
MordsMarathon

Ein Mannheimer
Rhein-Neckar-Krimi

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Verlag Waldkirch

Inhalt

Vorbemerkung des Autors

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Epilog

Anhang

Solos Firebird, eine kurze Vorstellung

Danke

Vorbemerkung des Autors

Dies ist ein Roman. Keine Dokumentation und er beruht schon gar nicht auf einer wahren Begebenheit. Es gibt auch keine Figuren darin, die es auch in Wirklichkeit gibt und denen ich vielleicht eins auswischen will. Soweit ich real existierende Personen darin erwähne (zum Beispiel den Mannheimer Oberbürgermeister Dr. Peter Kurz), ist dies für die Handlung relevant. Ich wollte meine Mannheimer Leserschaft nicht mit einem erfundenen OB vor den Kopf stoßen. So viel vorab: Peter Kurz ist einer von den Guten. Auch in diesem Roman. Ich habe mir die wieder entdeckte Freude am Schreiben auch nicht durch zeitraubende Recherchen vermiest. Ich bin Krimiautor. Kein Redakteur und kein Chronist. Polizeiarbeit, Krisenmanagement, konzertierte Aktionen verschiedener Einrichtungen und Behörden habe ich versucht, möglichst realistisch darzustellen. Geholfen dabei haben mir die Recherchen zu früheren Romanen, meine Beobachtungsgabe und mein gesunder Menschenverstand. Um die Strecke kennenzulernen und die einzigartige Atmosphäre des Mannheimer Dämmermarathons selbst zu erleben, bin ich 2016 den Halbmarathon mitgelaufen und habe eine Kolumne darüber geschrieben. Runner’s world, das größte Laufmagazin der Welt, hat diesen Artikel gedruckt. Sie finden ihn im hinteren Teil des Buches. MordsMarathon erzählt die Geschichte eines heimtückischen Anschlags. So, wie sich Manfred H. Krämer das eben vorstellt. Einigen von Ihnen wird MordsMarathon vielleicht nicht gefallen, weil die Geschichte kein glückliches Ende nimmt. Das passiert, wenn ein Autor versucht, realistisch zu bleiben. Andere werden mir vorwerfen, potentielle Attentäter zu ähnlichen Taten zu ermuntern. Leute, glaubt mir: Attentäter brauchen keine literarischen Vorbilder. Die meisten Leserinnen und Leser, so hoffe ich doch, werden sich aber einfach nur freuen, mal wieder von Solo und Tarzan zu hören. Auch wenn es bei denen gerade ganz heftig kracht im Gebälk.

Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung und ein langes gesundes Leben

Ihr Manfred H. Krämer

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Prolog

Es hat einen Toten gegeben. Beim Berlin Marathon. Kurz vor dem Ziel ist er zusammengebrochen. Vierundvierzig Jahre, Familienvater. Freizeitläufer. Stammtisch-Athlet. Einer, der wahrscheinlich zu ehrgeizig war. Nicht ausreichend trainiert hatte. Womöglich hatte er einen Herzfehler, den er schon jahrelang unerkannt mit sich herumtrug. Einmal dazugehören. Ein Marathonläufer sein. Ein Sieger. Wenigstens über sich selbst. Ich lache leise. Leider verloren. Idiot. Angewidert wechsle ich das Programm. Bombenanschlag in Kabul. Dort laufen sie nicht Marathon. Dort laufen sie um ihr Leben. Alte, Kinder, Frauen. Schuldig oder nicht. Danach fragen die Taliban nicht. Die US-Drohnen auch nicht. Ich zappe weiter. Die ARD bringt einen Hintergrundbericht über Todesfälle bei großen Sportveranstaltungen. Ein Psychologe schwafelt Unsinn, im Hintergrund eine Archivaufnahme: Boston 2013. Rauch auf der Straße. Schreiende Menschen in bunten Trikots. Sirenen. Das Bild wechselt. Eine gewaltige Menschenmasse setzt sich gerade in Bewegung. Eine Flutwelle aus Leibern schiebt sich durch die Straßenschluchten. Ich stelle mir vor, wie sie alle sterben. Mitten im Lauf zusammenbrechen, übereinander stürzen, zuckend verenden wie Heringe im Laderaum eines Fischerbootes. Ein kilometerlanger Teppich aus toten Läufern. Sie würden die Nationalgarde einsetzen müssen. Radlader. Kalk. Der Gestank des Todes würde durch die ganze Stadt ziehen. Mein linkes Augenlid flattert. Ein Tick. Euphorie breitet sich in meinem Kopf aus. Die Erregung treibt Schweiß auf meine Stirn. Es hat einen Toten gegeben. In Berlin. Es wird zehntausend Tote geben. In Mannheim …

1. Kapitel

Eine Hochzeit und ein Bräutigam verunglücken in einer einzigen Nacht. Ein Führerschein wird eingezogen und ein Ex-Alkoholiker macht eine Bergungsaktion im Regen.

L3110, Fahrtrichtung Lampertheim
Samstag, 16.04.2016, 02.52 Uhr

„Die Nacht frisst mich auf.“ Er erschrak, als er seine heisere Stimme hörte. Er stemmte beide Hände gegen das dürre weiße Lenkrad, bog den Rücken durch und drückte sich in die Polster. Atmete einige Male bewusst ein und aus, um sein Gehirn mit mehr Sauerstoff zu versorgen. Die Nacht frisst mich auf … Dieser Satz kam aus den Tiefen seines Gedächtnisses, aus der Ecke, in der die Langzeiterinnerungen gespeichert wurden. Ein Satz, den er unzählige Male vor sich hin gemurmelt hatte. Vor über dreißig Jahren. Irgendwann waren die Worte da gewesen. Materialisiert jenseits des scharf abgegrenzten Bereichs, den die Scheinwerfer seines Lasters aus der Dunkelheit rissen. Die Nacht. Ein schwarzes Maul, in das er mit Vollgas hineinfuhr, um darin zu zerschellen. Zu sterben, eingebettet in 18 Tonnen Metall, zermalmt von der Ladung, verbrannt vom lodernden Dieselfeuer. Schreck! Schweißausbruch! Adrenalin tobte durch seine Blutgefäße. Sekundenschlaf! Der Mercedes war keinen Millimeter aus der Spur geraten. Glück gehabt! Guter alter SE. Pfeifend entließ der Fahrer die Luft aus seinen Lungen. Er sollte nicht mehr fahren. Schon lange nicht mehr. Er hätte überhaupt nicht einsteigen dürfen. Er schaute auf die Uhr am Armaturenbrett: gleich drei Uhr nachts. Seit fünf Stunden fuhr er nun schon ziellos durch die Gegend. Hatte auf dem Parkplatz eines Discounters versucht, Schlaf zu finden, bis der Lärm einer Gruppe angetrunkener Jugendlicher ihn vertrieben hatte. Schlaf hatte er eh keinen gefunden. Sein Tinnitus dröhnte, pfiff und rauschte wie ein Prüfstand für Strahltriebwerke. Das Singen des alten Sechszylinders und das Abrollgeräusch der großen Räder kompensierten es dann wieder einigermaßen. Radio blieb aus. Kassetten für das antike Becker-Radio hatte er keine und die krampfig-coolen Sprüche der Moderatoren verursachten bei ihm Übelkeit. Er hatte das dreieckige Ausstellfenster einen Spalt weit geöffnet. Nasse Straßenluft wehte herein. An den für heutige Verhältnisse winzigen Außenspiegeln waren weiße Bänder befestigt, die durchnässt und schmutzig im Fahrtwind flatterten. Die gepflegte Limousine mit dem H-Kennzeichen war ein Hochzeitsauto. War. Vergangenheit. Das Bukett auf der Motorhaube war schon vor zwei Stunden in der etwas zu schnell gefahrenen Auffahrt zur A6 weggeflogen. A6, Fahrtrichtung Süden. Warum? Wohin? Wo, zum Teufel noch mal, wollte er denn hin? Wohin will einer, der von seiner eigenen Hochzeitsfeier geflohen war? Geflohen. Buchstäblich. Karl und Rainer waren ihm noch nachgelaufen. Die standen mit der fetten Agnes draußen und rauchten, als er durch die Tür gestürzt war. Agnes war nicht gelaufen. Sie folgte ihrem urweiblichen Instinkt, trat ihre Kippe aus und ging schnurstracks nach drinnen, um bloß nichts zu verpassen. Ein Eklat! Und was für einer! Die Mutter aller Eklats. Jedenfalls was Hochzeitsfeiern betraf, da war er sich ziemlich sicher. Seit 27 Jahren waren sie ein Paar. Seit mindestens 20 Jahren verfolgte er das Ziel, sie zu heiraten.

„Irgendwann“, hatte sie immer lachend geantwortet, „irgendwann, wenn sie uns ohne Ringe nicht ins Seniorenheim lassen, heiraten wir.“

Das mit dem Seniorenheim hatte sich zum Standardspruch entwickelt. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei zahlreichen Freunden und Bekannten. Mike, der eine Schlosserwerkstatt betrieb, hatte unter dem Johlen und Applaudieren der Gäste einen breiten Zwillingsrollator in den Saal des Kleintierzuchtvereins geschoben, den sie für die Feier angemietet hatten. Sehr witzig. Seeeeehr witzig! Die Feier war gut. Laut, fröhlich, ausgelassen und mit den unvermeidlichen Einlagen besonders kreativer Gäste gewürzt. Das Essen von einem örtlichen Caterer mundete vorzüglich, das zweite Fass Bier war angestochen, man amüsierte sich prächtig.

Als dann gegen 21.30 Uhr eine attraktive Frau mit einem mürrisch blickenden Teenager-Mädchen den Raum betrat, dachte jeder an verspätete Gäste. Neugierige Blicke, gepaart mit freundlichem Nicken, begrüßten die beiden. Braut und Bräutigam waren in ein angeregtes Gespräch mit einem älteren Paar an einem der Stehtische vertieft, als die Frau und ihre Kaugummi kauende Tochter sich zu ihnen gesellten.

„Gratuliere deinem Vater zu seiner Hochzeit, mein Schatz“, sagte die Mutter. Nicht besonders laut, aber dennoch deutlich hörbar für alle Umstehenden. Der Stehtisch wurde zum Epizentrum für eine sich in konzentrischen Kreisen ausbreitende lähmende Stille, verbreitet durch gezischelte Wiederholungen der gesagten Ungeheuerlichkeit, bis im gesamten Saal nur noch gelegentliches Füßescharren und der ein oder andere theatralische Seufzer zu hören war. Durch eines der gekippten Fenster drang das weit entfernte Klagen eines Martinshorns wie eine zusätzliche Unterstreichung.

Vierzehn Jahre! Vierzehn Jahre, in denen sich ihre Wege niemals wieder gekreuzt hatten. Vierzehn Jahre, in denen das, was damals war, von beiden als einmaliger Ausrutscher abgetan wurde. Angeblich lebte sie seitdem in London. War gerade auf dem Sprung dorthin, als ihre Wege sich kreuzten. Er hatte sie am Morgen danach noch zum Flughafen gebracht. „Bild’ dir bloß nichts ein“, hatte sie zu ihm gesagt, als er ihr die Frage nach dem Weiter stellte. Ihr schelmisches Lachen entschärfte den Spruch. „Die Zeit kommt, wenn sie kommt, mein Lieber“, hatte sie noch hinzugefügt und er spürte den Schmerz über die Trennung, aber gleichzeitig auch die Erleichterung, dass er nicht wählen musste. Dass alles so bleiben konnte, wie es war. Ein schöner Abend, eine atemberaubende Nacht. Was hatte er immer gespottet über derlei Seitensprünge. Wie hatte er die verachtet, die solche Spiele spielten. Aber dann war er machtlos. Willenlos. Sie hatte ihn angesprochen. Offen mit ihm geflirtet. Und dann war er plötzlich wieder sechzehn. Spürte, wie das Fieber von ihm Besitz ergriff, von dem er glaubte, es ein für alle Mal hinter sich zu haben. Er war auch so einer. Einer, der keine Chance hatte, gegen die Macht der Natur. Natur? Welch billige Ausrede! Er war einfach nur schwach. Ein Blatt im Wind. Brennend, zu Asche zerfallend, entfacht von verführerischen, vollen Lippen, die aus ihm eine Marionette machten, die hilflos an ihren Drähten zuckte, sabbernd und hechelnd wie ein Straßenköter. Ein Mann eben.

Die Straße schwingt in sanften weiten Kurven durch die nasse Nacht. Kein anderes Fahrzeug weit und breit. Ab und zu ein vom Regen verwaschenes Licht in einem Aussiedlerhof. Schilder werben für landwirtschaftliche Erzeugnisse: Spargel, Erdbeeren, Rollrasen, Blumen zum Selberpflücken. Der Fahrer kannte die Gegend. In der wenige Kilometer entfernten Kleinstadt hatte er seine Kindheit und Jugend verbracht. Wehmut ergriff ihn. Sehnsucht nach der Geborgenheit und dem Schutz des Elternhauses. Seine Eltern: längst tot. Genau wie sein Hund, seine acht Stunden alte Ehe, sein bester Freund. Tot. Das Kreuz am Straßenrand war längst verwittert. Die mächtige Eiche im Scheitelpunkt der Kurve stand immer noch.

Die Straße tauchte in den Staatsforst. Der Fahrer umklammerte das Lenkrad, als gälte es, eine üble Holperpiste zu bewältigen. Doch der Straßenbelag war glatt und schwarz. Eingerahmt und geteilt von gleißend weißen Linien. Der Motor summte, die Reifen zischten durch die Nässe. Warnschilder: Wildwechsel - Unfallstrecke - 70. Der Fahrer verstärkte den Druck aufs Gaspedal. Willig beschleunigte der schwere Wagen. Fernlicht. Weit voraus rotweiße Warntafeln. Sie sicherten die langgezogene Rechtskurve. Die Kurve, in der Willi damals mit seiner 750er rausflog. Willi. Der seitdem tot ist. Den sie nicht mehr wegen Fahrens ohne Führerschein drankriegen können. Oder wegen Verstoß gegen das Waffengesetz. Willi, der immer am lautesten lachte, wenn er am tiefsten in der Scheiße saß. Willi hatte es hinter sich. Dieses Scheißleben. Keine Sorgen mehr. Keine Probleme, keine Schulden. Kein Krebs. Das hatte keiner gewusst. Das mit dem Krebs. Seine Schwester hat es in der Clique ausgeplaudert. Bei der Obduktion hatten sie über zwei Promille Alkohol im Blut festgestellt. Und den Krebs. Fortgeschritten. Gestreut. Willi hatte den Schalter umgelegt. Engine stop. Aus. Hatte den Bullen, den Banken und dem Krebs den Stinkefinger unter die Nase gehalten. Mit mir nicht, ihr Ärsche. Cheerio! Das war sein Schlachtruf gewesen: Cheerio! Das hatten sie auch auf seinen Grabstein gemeißelt. Cheerio, Wild Willi.

Die rotweißen Schilder flogen heran, wurden größer, greller. Der Fahrer des 280er Mercedes war völlig entspannt. „Cheerio!“ rief er laut. „Cheeeeeeeeriooooo!“ Mit einem Knall wie ein Gewehrschuss katapultierte der Kühler das erste Schild aus der Verankerung. Der Motor überdrehte, die Reifen fetzten durch den Kies des Banketts, drehten einige Augenblicke leer in der Luft und wühlten sich dann durch den weichen Waldboden. Der linke Außenspiegel wurde von der alten Eiche abrasiert. Das rechte Vorderrad prallte auf einen Baumstumpf, der Wagen drehte sich und krachte mit grässlicher Wucht breitseits in eine mächtige Buche. Äste und Blätter prasselten auf das Wagendach und den Fahrer hüllte eine merkwürdig unechte wattige Stille ein. Irgendwo in weiter Ferne zischte etwas, es roch nach Treibstoff und Öl. Der Fahrer registrierte, dass er wohl noch am Leben war und bewegte vorsichtig und ängstlich seine Gliedmaßen. Scham überflutete ihn. Scham und Fassungslosigkeit. Was sollte das? Wollte er wirklich seinen Schalter auf „Off“ stellen? Er? Was hatte ihn da bloß geritten? Ausgetickt! Absolut ausgetickt und hirnverbrannt in den Wald gerast!

Er versuchte, die Fahrertür zu öffnen. Da, wo der Beifahrersitz war, stand jetzt ein Baum. Mitten im Auto. Wie geht denn sowas? Die Tür ging nicht auf und er bekam seinen rechten Fuß nicht zwischen Lenksäule und Gaspedal raus. Panik griff nach ihm. Wenn die Karre zu brennen anfing! Hinter ihm auf der Straße zischte eine Druckluftbremse und das vertraute Rasseln eines schweren Dieselmotors drang zu ihm durch. Wieder versuchte er, seinen Fuß freizubekommen. Eine Autotür schlug zu. Hastige Schritte näherten sich. Dann wurde es dunkel.

***

„Hallo? Können Sie mich hören? Hallo? Ich bin Doktor Nowak, hören Sie mich?“ Blaue Blitze. Überall. Blau, grell, schmerzhaft. Zwei Augen. Zwei Augen in einem müden, unrasierten Gesicht, die ihn anstarren. Eine Hand, die seine Wange tätschelt. „Hallo … Haaaallooooo?“ Blöd. Ewig dieses Hallo. Was will der? Hinter dem Gesicht taucht noch eins auf. Bulle. Er sagt etwas. Doch aus seinem Mund kommen nur dumpfe, weit entfernt klingende Laute. Was wollen die alle? Warum ließen die ihn nicht einfach in Ruhe? Hauten ab und ließen ihn endlich allein. In der Nähe dröhnte ein großer Dieselmotor. Bläuliche Schwaden waberten durch grellweißes Flutlicht. Es stank nach Abgasen, um ihn herum klapperte Ausrüstung, krächzten Funkgeräte, Stiefel trampelten und Stimmen riefen einander etwas zu. Jemand hatte ihm das Jackett ausgezogen und einen Ärmel des Hemdes nach oben geschoben. Er spürte einen brennenden Schmerz in der Armbeuge und etwas Warmes, das in ihn hineinlief. Müde. Er war doch so müde. Er musste schlafen. Unbedingt schlafen!

***

Kreiskrankenhaus Bergstraße, Heppenheim
Sonntag 17.04.2016, 10.15 Uhr

„Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie zur Sache nichts aussagen wollen?“ Die junge Polizistin war eine von den eifrigen. Er hatte sich das Formblatt, auf dem ihm seine Rechte als Beschuldigter dargelegt wurden, genau durchgelesen. Was nicht so einfach war, wenn man ein im Akkord arbeitendes Stahlwerk im Kopf hatte. Er hatte sein Häkchen bei „Keine Aussage“ gemacht und die Frage der Beamtin ob er nicht doch, die Sache wäre ja klar, die Blutprobe habe einen Promillewert von 1,4 aufgezeigt und überhaupt … mit einem ungeduldig heiseren „Nää!“ beantwortet. Ja, sie hatte ihn richtig verstanden. Verdammt, das Mädel könnte seine Tochter sein. Ja, ja, schon klar, 1,4 Promille hieß absolute Fahruntüchtigkeit. Suff total. Da ist nix mit Bußgeld und Vierteljahr Fahrpause. 1,4 hieß Straftat. Offizialdelikt. Das bedeutete, der Staatsanwalt ermittelt, ob man nun mit achtzig Sachen in den Wald gerauscht ist oder nicht.

„Dann unterschreiben Sie bitte unten rechts.“ Die Frau Polizeimeisterin resignierte. Er räusperte sich und beugte sich über das Formular. Er versuchte sich zu konzentrieren. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen, als er in krakeliger Schrift seinen Namen schrieb: Lothar Zahn.

Die Staatsgewalt verabschiedete sich höflich, aber kühl, und ließ ihn endlich allein.

Allein. Da konnte er sich gleich mal dran gewöhnen. Er saß in einer Art Wintergarten am Ende des Klinikflurs, in dem er heute früh in einem Dreibettzimmer aufgewacht war. Seinen rechten Knöchel zierte ein Salbenverband, die Anzughose hatten sie unter dem Knie einfach abgeschnitten. Die Schuhe waren verschwunden, er trug Einwegpantoffeln aus Klinikbeständen. Hemd und Jackett rochen immer noch leicht nach Benzin. Bis auf den geprellten Knöchel war er unverletzt. Katzen und Besoffene haben immer Glück. „Ha!“, krächzte er, und der Kopfschmerz legte noch einen drauf. Er steckte seine Geldbörse ein, die ihm die Beamtin mitgebracht hatte. Der Führerschein fehlte. Auch dafür hatte er einen Beleg unterschrieben. Musste ja alles seine Ordnung haben, in diesem unserem Lande. Er rappelte sich auf. Auf der Schwesternstation sollten sie jetzt die Entlassungspapiere fertig haben. Er würde sich ein Taxi rufen lassen, das ihn nach Hause … Scheiße. Nach Hause … Es gab für ihn kein Zuhause mehr. Nicht nach dieser Nacht.

Trotzdem. Irgendwo musste er ja wohl hin.

Eine laute Stimme dröhnte in breitestem Mannheimer Dialekt durch den Flur: „Dreiachtzääh? Do war isch schunn, do is känner drin!“

Lothar Zahn, seit seiner Schulzeit von Freund, Feind und allen möglichen anderen Mitmenschen nur Tarzan genannt, erkannte das kehlige Organ und die gedrungene Silhouette mit dem Schlapphut sofort. So schnell es sein schmerzender Knöchel erlaubte, schlurfte er zur Schwesternstation.

„Blummepeter!“ rief er, bevor der ungepflegt wirkende Mann in der speckigen, schon vor zwanzig Jahren aus der Mode gekommenen, langen Lederjacke sich noch weiter über den Tresen beugen konnte. Aus der rechten Außentasche der Jacke lugte eine Bierflasche. Der halslose Kopf des Mannes drehte sich in Tarzans Richtung, die Lippen entblößten ein marodes gelbes Gebiss und zwei erstaunlich hellblaue Augen versanken fast völlig in einem Meer aus Falten, als Hans-Peter Bluhm sie kurzsichtig zusammenkniff.

„Mensch, Tarzan!“, dröhnte er mit der Tonlage und Intensität eines Schiffshorns, „Alder Dabbscheedel. Schää, disch zu sehe!“ Tarzan ließ die milchsäureschwere, nach Knoblauch, Bier und Kippen müffelnde Umarmung über sich ergehen und brachte sich mit einiger Mühe wieder auf Abstand. Die Schwester öffnete demonstrativ ein Fenster im Raum hinter dem Empfang und wandte sich anschließend an Tarzan. „Unterschreiben Sie bitte unten rechts, Herr Zahn.“ Erleichtert setzte er seinen unleserlichen Krakel unter das Entlassungsformular, während Bluhm einen langen Schluck aus der Flasche nahm, was ihm einen missbilligenden Blick der Schwester einbrachte.

Kriminalhauptkommissar Hans-Peter Bluhm sah aus, als sei er gerade aus einem miefigen Schlafsack unter der Mannheimer Kurpfalzbrücke gekrochen. Seine Polizeimarke und der Dienstausweis sorgten in schöner Regelmäßigkeit für Heiterkeit, bis ein dezentes Zurückschieben der Jacke den Blick auf die verschrammte Dienstwaffe zuließ. KHK Bluhm galt als einer der fähigsten Ermittler im gesamten Regierungsbezirk. Beliebt bei den Kolleginnen und Kollegen wegen seiner geradlinigen und ehrlichen Art, verrufen bei Vorgesetzten aus denselben Gründen.

„Ich denke du bist in den USA?“ Tarzan schaute seinen alten Freund misstrauisch an. Vor fast einem Vierteljahr hatte er Bluhm zum letzten Mal gesehen.

Der leerte die Bierflasche mit einem letzten Zug und hielt sie ihm dann unter die Nase.

„Hier schau: Alkoholfrei! Ich trink nix anderes mehr. USA? Ha! Ich war auf Entzug in so einer Art Klapse. Hab beim Alten extra unterschrieben, dass ich nix verrate. Die haben mich gezwungen. Hätten mich sonst rausgeschmissen. Hab sogar meinen Lappen wieder. Los, komm mit. Raus aus diesem gastlichen Haus!“

Tarzan steckte seine Papiere ein und folgte seinem alten Kumpel in Richtung Aufzug. Noch in der Halle steckte sich Bluhm eine Eckstein an. Das empörte Rufen des Pförtners blieb unbeachtet.

Bluhms Wagen stand im absoluten Halteverbot, direkt vor dem Eingang. Ein Zettel flatterte unter dem Scheibenwischer im Wind. Tarzan musste trotz seiner misslichen Lage grinsen. Niemand außer Bluhm fuhr noch solch eine Karre: Ein goldmetallicfarbener Ford Granada Turnier. Zahlreiche Spachtelflecken verdeckten notdürftig den ärgsten Rostfraß. Die Radioantenne bestand aus einem Drahtkleiderbügel und auf dem Dach war ein durchgebogener Gepäckträger montiert. Sämtliche Scheiben waren beschlagen. Tarzan öffnete die Beifahrertür, die ein lautes Knarzen hören ließ und ein paar Zentimeter nach unten sackte.

„Beim Zumachen musst du sie etwas anheben“, empfahl Bluhm und ließ sich in den durchgesessenen Fahrersitz fallen. Der Wagen ging deutlich in die Knie. Tarzan rümpfte die Nase. Ein saurer Geruch nach schimmeliger Wäsche und nassem Nagetier beherrschte den Innenraum.

„Stell dich bloß nicht an wie eine Pussie! Das ist dein Zeug, was hier so müffelt!“, grantelte Bluhm und deutete nach hinten. Tarzan wandte den Kopf und starrte entgeistert auf einen durchweichten Haufen Klamotten, Schuhe und aufgequollener Kartons.

„Mein Zeug …“ Tarzan erkannte sein Lieblings-Hawaiihemd und ein paar seiner Laufschuhe. Immerhin die Trailausführung. „Woher …?“

Bluhm schaute ihn ungewohnt ernst an. „Woher? Ich erzähl’s dir, wenn wir fahren. Scheinst ja deiner Solo so richtig die Laune verhagelt zu haben. Elke hat mir am Telefon gesteckt, dass ihr wohl die kürzeste Ehe der Welt geführt habt.“

Bluhm startete den V6 und der Keilriemen quietschte protestierend. Er schaltete das Gebläse auf höchste Stufe und half mit einem schmutzstarrenden Handtuch nach, das er unter dem Sitz hervorzog. Die verschlissenen Wischer rubbelten über die Windschutzscheibe und der Strafzettel flog davon.

Der Kommissar schnitt einen wütend hupenden Taxifahrer und bog verbotswidrig links ab. Wieder jammerte der Keilriemen. Im Kreisverkehr schwankte der alte Granada wie ein Schiff im Sturm und die Karosserie ächzte, als wollte sie sich auflösen. Auf der Rückbank rasselten die Flaschen in einem Bierkasten. Eichbaum Aktiv Alkoholfrei. Tatsächlich. Tarzan konnte es kaum glauben.

Bluhm kurbelte das Fenster herunter und spie seine Kippe in den Regen.

„Was hat sie alles gesagt?“ Tarzan wurde übel, was aber nicht alleine an dem Geruch im Auto lag.

„Na, dass da so ‘ne Schicki-Micki-Tussi aufgeschlagen ist, auf eurer Feier. Mit ‘nem Balg, das angeblich von dir sein soll. Du bist dann Hals über Kopf abgehauen und hast dem alten Solomon seinen Benz in den Wald geballert. Das haben mir die Kollegen aus Lampertheim verraten. Ja, jetzt darfst du erstmal ‘ne Zeitlang zu Fuß gehen und dir ‘ne Jahreskarte von der RNV holen, Alter. Wenn du willst, gebe ich dir ein paar Tipps. Naja, ich bin dann erstmal zum Hausboot gefahren, wollte mit Solo quatschen. Deine zornige Amazone ein bissel runterholen, gut Wetter machen und so. War leider nicht zuhause, die Gute. Der Firebird war nicht da und auf dem Parkplatz lag dein Zeug im Regen. Hab ich alles hinten reingeschmissen. Da, wo ich dich jetzt hinbring‘, hast du genug Platz zum Trocknen.“

„Wo bringst du mich denn hin, ins Männerwohnheim?“ Tarzan lachte humorlos.

„Nääää! Da lassen sie solche Schmutzfinken wie dich nicht rein. Wir fahren jetzt zur Casa Flora. Du wirst staunen!“

2. Kapitel

Eine pensionierte Ermittlerin versucht zu vermitteln und scheitert kläglich.

Während der alte Ford über die B38 in Richtung Mannheim fuhr, servierte eine korpulente ältere Dame ihrer Besucherin einen etwas klotzig geratenen Rührkuchen und eine Tasse Kakao.

„Hat schon bei mir geholfen, als ich noch ein kleines Madel war, wenn ich Kummer hatte. Kakao und Kuchen. Greif zu Kleine, du siehst scheiße aus.“

Der Geruch des Kakaos, die heimelige Atmosphäre in dem etwas modrig riechenden Wintergarten der Gründerzeitvilla und der gegen die Glasscheiben prasselnde Regen weckten auch in Bertha Solomon, die von Freunden nur Solo genannt wurde, Kindheitserinnerungen. Dankbar nahm sie die Tasse in beide Hände und blies in die dampfende Flüssigkeit. Frust und Zorn zogen sich ein stückweit zurück. Sie musterte ihre Freundin. Elke Lukassow war alt geworden. Aber auf eine anmutige und durchaus attraktive Art. Das Bulldoggengesicht mit dem Merkelmund hatte sanftere Züge angenommen. Die streng zu einem Knoten gebundenen Haare waren nun komplett grau und die wachen hellblauen Augen blickten fast schon gütig. Die ehemals sowohl bei den Guten als auch bei den Bösen gefürchtete Erste Kriminalhauptkommissarin sah auf den ersten Blick aus wie die Schablonen-Omi aus dem Vorabendprogramm. Wie gesagt, auf den ersten Blick. Sie genoss die Vorteile ihrer ansehnlichen Pension genauso wie gelegentliche Anfragen aus Polizeikreisen, wenn es mal wieder um einen ihrer alten „Kunden“ ging, oder ihre Tätigkeit als freie Dozentin an der Polizeischule. Dort führte sie ein eisernes Regiment und niemand wunderte sich über ihren Spitznamen „Der Rottweiler“. Wo die stets in grünem Loden gekleidete Fränkin auftauchte, zollte man ihr Respekt und Anerkennung. Seit vielen Jahren war sie mit Solo und Tarzan befreundet. Eine Freundschaft, die aus tiefster Abneigung gegen die beiden „Amateurschnüffler“ entstanden war und sich über viele Jahre hinweg entwickelt hatte.

Sechsundzwanzig genau genommen. Es war 1990, als Solo und Tarzan ihr das erste Mal in die Quere kamen. Mit einer Leiche im Schlepptau (Tod im Saukopftunnel, Heyne Verlag, 2008). Mittlerweile betrieben die beiden eine kleine Firma, die sich auf verdeckte Ermittlungen in sensiblen Bereichen von Unternehmen und Sicherheitsberatung spezialisiert hatte. Sie lebten auf einem zum Hausboot umgebauten ehemaligen Fahrgastschiff, das im Lampertheimer Altrhein fest vertäut war. Nach den dramatischen Ereignissen im Umfeld des Mannheimer Maimarkts vor drei Jahren (Maimarktmord, Verlag Waldkirch, 2013) hatte Tarzan um die Hand seiner Dauerfreundin angehalten und sie hatte ja gesagt. Typisch für Solo war, dass es dann doch noch drei Jahre gedauert hatte, bis endlich die Hochzeitsglocken, Pardon der Aufzugsgong im Standesamt, geläutet hatte(n). Gut Ding will schließlich Weile haben.

***

„Ihr werdet‘s euch scho wieder zammraufen“, orakelte die Lukassow. Solo stellte die Tasse ab und schüttelte energisch den Kopf mit den feuerroten kurzen Haaren.

„Ich hab ihn rausgeschmissen. Ich will ihn nicht mehr sehen. Ist mir so was von egal, ob wir verheiratet sind oder nicht. Das Auto von meinem Papa hat er auch noch zu Schrott gefahren. Papa dreht sich im Grab um. Der Wagen war sein ein und alles.“ Eine Träne rollte über ihre Wange. Sie wischte sie mit einer energischen Handbewegung weg.

Elke Lukassow schaute ihr ernst in die Augen. „Bist net erleichtert, dass dem Tarzan nix passiert ist, bei dem Crash?“

„Nein! Doch! Ja natürlich bin ich froh, dass er nicht schwer verletzt ist oder Schlimmeres. Aber das macht es auch nicht besser, oder?“

Elke wiegte den massigen Kopf. „Ich hab’ ein bissel rumgehorcht. Wegen dem Unfall, weißt. Es gibt da einige Sachen, die net so ganz zammpassen.“ Solo hob den Blick. Der Kuchen lag unberührt auf dem Teller.

„Wie meinst du das denn? Der war besoffen und ist aus der Kurve geflogen … Der Arsch!“, fügte sie trotzig hinzu.

„Eben nicht. Geflogen mein ich. Der ist nicht aus der Kurve getragen worden. Der ist schlicht und ergreifend geradeaus gefahren. Ohne Bremsspur. Schnurgerade. Mitten in den Woid. Nicht einmal vom Gas ist der gangen. Die Feuerwehr hat die Lenksäule demontieren müssen, weil der rechte Fuß immer noch das Bodenblech hat durchtreten wollen und eingeklemmt war. Wenn du mich fragst, …“ Sie brach ab.

Solos grüne Augen wurden groß. Sie presste die Lippen zusammen und brauchte einige Minuten, bis sie sie wieder öffnete. „Du meinst, der wollte Schluss machen? Tarzan? Sich selbst …“ Sie schüttelte den Kopf. „Der nicht. So was kann der überhaupt nicht. Der nicht. Tarzan nicht. Den Mumm hat der nicht. Im Leben nicht!“ Solo war immer lauter geworden. Sie sprang auf und ging zur Terrassentür. Sie schob den altmodischen Riegel zur Seite und öffnete die protestierend quietschende Glastür mit dem rostigen Eisenrahmen. Ihre Brust hob und senkte sich, als sie die nach altem Laub, nassem Gras und Erde riechende Luft tief einatmete. Tarzan … sich umbringen. Eine absolut irrwitzige Vorstellung. Leise begann die Uhr des Zweifels in ihr zu ticken: und wenn doch? Ausnahmesituation. Alkohol. Verzweiflung. Flucht. Flucht? Ja, das war typisch für ihn. Abhauen, wenn es brenzlig wird. Konflikten aus dem Weg gehen. Bloß keinen Ärger! Weglaufen, verschwinden, verstecken, verkriechen … für immer? Elke Lukassow beobachtete Solos Kampf mit sich selbst. Trotz ihres resoluten Habitus war die Polizistin a. D. eine äußerst sensible Frau und eine exzellente Menschenkennerin. Solos Mauer hatte Risse bekommen. Ganz feine. Die Bunkerwände bröckelten. Elke beschloss, es gut sein zu lassen. Zuviel Input könnte das Erreichte gefährden. Solo kehrte zu dem riesigen geblümten Ohrensessel zurück. Die Tür ließ sie offen.

„Iss!“, befahl Elke und schob den Teller mit dem Kuchen näher zu Solo. Wie ein gehorsames Kind brach ihr Gast ein Stück davon ab und kaute mit nachdenklichem Blick drauf herum, als sei es aus Gummi.

„Weißt‘ überhaupt, wo der Tarzan is?“ Lauernd fixierte die Lukassow Solo.

Kopfschütteln. Schlucken. Mundwischen. „Will ich gar nicht wissen. Ist mir egal.“

„Soll ich mich mal umhör’n?“

„Lass es einfach. Danke für Kaffee und Kuchen.“ Solo erhob sich abrupt. Elke stand auch auf, allerdings bedeutend gemächlicher. Die beiden Frauen umarmten sich und Elke kniff ihrer Freundin in die Wange, was diese früher immer zur Weißglut gebracht hatte. Heute ließ sie es sich kommentarlos gefallen.

„I bin auf deiner Seite, hörst? Morgen Abend komm i zu dir. Im SWR bringen’s an alten Tatort. Mit der Odenthal und dem Kopper. Die magst du doch. I bring was zu knabbern mit und du stellst Weißbier kalt. Host mi?“

„Morgen habe ich aber …“, versuchte Solo eine dünne Ausflucht.

„Na! Nix host. Brez’n und Weißbier. Des host. Pfüati!“

Traurig schaute sie den Lichtern des alten Pontiac Firebird nach, als dieser mit grummelndem Achtzylinder vorsichtig über die Bodenschwellen der Anliegerstraße wippte.

Die Kollegen hatten ihr regelwidrig Einsicht in die Unfallakten gewährt. Das Thema Suizid war erörtert worden. Lothar Zahn hatte so etwas vehement bestritten. Laut war er geworden. Aufgeregt und völlig außer sich. Elke kannte diese Reaktion. Typisch.

„Getroffene Hunde bellen“, murmelte sie und schloss die Eingangstür. Sie machte sich große Sorgen um Solo und Tarzan. Mehr um Tarzan, als um Solo. Der vierschrötige Mann mit dem dunklen Bartschatten, der wegen galoppierenden Haarausfalls immer öfter eine Sportmütze trug, war ein Weichei. Probleme, die er nicht umgehen konnte, fraß er in sich hinein. Auf solche Menschen musste man achtgeben. Bisher hatte Solo das gemacht.

Die Lukassow ging zurück in den Wintergarten, aß die Reste von Solos Kuchen und schloss die Tür zum Garten. Dann ging sie in die Küche und nahm das Telefon zur Hand.

3. Kapitel

Der Held des Dschungels erhält Asyl in floraler Umgebung und versucht sich in führerscheinfreier Fortbewegungstechnik, während zwei Kriminalisten sich Sorgen um ihn machen.

Bluhm verließ die B38 in Richtung Käfertal und bog nach der Feuerwache Nord links ab.

„Wo fahren wir überhaupt hin? Zum Benz?“, fragte Tarzan. Bluhm nahm wieder einen Schluck aus der Bierflasche, rülpste ungeniert und versenkte sie wieder in der Türablage.

„Direktemang zu deinem neuen Zuhause. Wenigstens bis ihr euch wieder vertragen habt. Wirst schon sehen. Wird dir gefallen.“ Was Tarzan stark bezweifelte.

Bluhms Handy meldete sich mit einem nervtötenden Martinshorn-Klingelton. Er fischte es aus seiner Manteltasche, was den Ford ins Schlingern brachte und den Fahrer eines entgegenkommenden Transporters auf den Bürgersteig zwang. Hupen, Stinkefinger. Bluhm ignorierte die Show und drückte den Anruf weg. Jetzt nicht, Elke. Wenig später überquerten sie die Diffené-Brücke, passierten die Ampel an der Einmündung Friesenheimer Straße und bogen anschließend links in die Einsteinstraße ab. Das alte Pumpwerk, Gewerbebetriebe und jede Menge abgestellte Lkw-Anhänger säumten die triste Straße. Bluhm fuhr bis zum Ende durch und Tarzan, der sich in dieser Gegend auch ganz gut auskannte, schwante etwas. Er sollte Recht behalten. „Kleingärtnerverein Friesenheimer Insel“, stand auf einem Schild, dass der alte Granada passierte. Wippend stoppte der Ford vor einer hohen Hecke. Eine Tafel mit der Nummer 81 zierte ein schief in den Angeln hängendes Holztor, dessen Farbe großflächig abblätterte.