Michael Wildenhain

RUSSISCH
BROT

Roman

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Stuttgart 2005 / 2016

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Printausgabe: ISBN 978-3-608-93591-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10078-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

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für meinen Bruder

INHALT

LIEBE

STILLE WASSER

FLUCHT

DIE SOMMER DER KINDHEIT

CLOWN UND ROSE

GRÜN ODER WEIss

DESINFEKTION

IM WALD

ZEICHEN UND WUNDER

SPLITTER

ICH SEHE WAS, DAS DU NICHT SIEHST

PATERNOSTER

FAMILIENBANDE

SCHNELLER PROPELLER

JE T’AIME

SPERRHOLZ UND HOLUNDER

VIELE HUNDE

BRENNESSEL

WAS FÜR EIN SCHÖNER TAG

GRENZÜBERGANG

ABSCHIED

LIEBE

Liebe geschah im Schlafzimmer, auf dessen tapezierten Wänden blauweiße Blumen blühten, die vielleicht nirgendwo wuchsen als in Höhlen unter dem Meer. Auch wenn ich allein zu Hause war, betrat ich das Zimmer selten.

Morgens, wenn mein Vater ging, und abends, wenn er wiederkam, geschah die Liebe mit gespitzten Lippen. Verließ mein Vater die Wohnung, nahm er die Aktentasche nach dem Kuß vom Schuhschrank, kehrte er in die Wohnung zurück, stellte er sie vor dem Kuß im Flur neben der Küchentür auf den Linoleumboden.

Lange besaß die Messingfassung der Deckenlampe im Korridor weder Schirm noch Birne, so daß mein Vater meine Mutter im Dunkeln sowohl begrüßte als auch von ihr Abschied nahm. Nachdem er die Diele renoviert, die Lampe repariert und ich ihm dabei zugeschaut hatte, stieg ich, kaum daß meine Eltern am nächsten Abend schlafen gegangen waren, von einem Stuhl auf die Garderobe, drehte die Birne aus der Fassung und verbarg sie unter meinem Kopfkissen. Als ich am nächsten Morgen aufstand, um zu sehen, wie mein Vater sich von meiner Mutter verabschieden würde, brannte dennoch im Korridor Licht.

Tagsüber war mein Vater nicht zu Hause.

Solange ich noch nicht eingeschult war, nahm mich meine Mutter mit, wenn sie vormittags einkaufte. Am Dienstag und am Freitag gingen wir auf den Wochenmarkt. Es gab einen Stand für Süßigkeiten, an dem ich mir etwas aussuchen konnte. Ich wählte saure Drops, weil mein Vater sie mochte.

Als wichtiger empfand ich die Ritter und die Indianer, von denen ich mir alle vierzehn Tage zwei Figuren von meinem Taschengeld kaufen durfte. Da sie aus Plastik waren, zerbrachen sie nicht, wenn sie gegeneinander kämpften.

Meist wählte ich einen Ritter und einen Indianer aus dem Sortiment des Spielwarenladens, der sich in der Nähe des Marktes auf unserem Heimweg befand. Die Indianer schauten streng, nur ihre Waffen und Federhauben waren bunt bemalt. Die Rüstungen der Ritter glänzten, sofern ich nicht zu häufig mit ihnen gespielt hatte.

Zeigte ich meinem Vater die neuen Figuren vor dem Zubettgehen, sagte er hin und wieder: »Der letzte Mohikaner und der getreue Hildebrandt.«

Ehe er sich erneut der Zeitung zuwandte oder das Radio lauter stellte, weil die Nachrichten beendet waren und der Wetterbericht begann, lächelte mein Vater. Hinter der blaßblauen Iris glomm in seinen Augen ein heller, leuchtender Punkt.

Nach dem Wetterbericht gab mir mein Vater einen Gutenachtkuß und brachte mich in mein Bett.

Nachts, wenn ich aus einem Traum auffuhr und nicht mehr einschlafen konnte, manchmal auch morgens, wenn ich früh aufwachte, die Tauben gurrten am Fenster, überkam mich das Gefühl, nicht mehr vorhanden zu sein. Wenn es im Zimmer dunkel und kein Geräusch zu hören war, hatte ich Angst, die Augen erneut zu öffnen. Ich fürchtete, nichts neben mir vorzufinden, und war überzeugt, ebensowenig da zu sein wie mein Bett, die Dinge und der Raum.

Hatte ich die Empfindung für einen Moment überwunden, verließ ich, ein Auge weiterhin zugekniffen, das andere einen Schlitz geöffnet, eilig das Kinderzimmer. Ich suchte in der Küche nach Keksen, nach Russisch Brot oder einer anderen Sorte, deren Duft allein mir half, den Gegenständen um mich her zu trauen, und versuchte mir einzubilden, ich sei ein Ritter, Dietrich von Bern, den der getreue Hildebrandt nie im Stich lassen würde.

Ich huschte, der letzte Mohikaner, durch den dunklen Korridor, trieb vorbei an der Garderobe, an Schuhschrank und Spiegel, neben dem ein Abreißkalender des Bäckers oder des Apothekers hing – Liebe dein Leben / tu deine Pflicht / zeige dem Tag kein / böses Gesicht –, und schlich, die Keksdose umklammert, zur Schlafzimmertür meiner Eltern, hinter der ich häufig das Atmen meines Vaters hören konnte.

Ich legte, da das Schlüsselloch seit jeher mit Farbe verklebt war, ein Ohr an die Füllung. Auf der Tapete blühten die Blumen und wuchsen still in den Raum.

Früher war es mir möglich, an mich selbst als an einen Fremden zu denken. Ich dachte an mich in der dritten Person. Weil es mir leicht fiel, Bilder vor meinen Augen zu sehen, ohne die Lider schließen zu müssen, konnte ich einem Jungen zuschauen, der vom Spiel der anderen ausgeschlossen blieb.

Ich sah den Jungen im Sommer im Park am Rand eines Fußballfeldes unter Kastanien. Die Früchte waren noch nicht reif. Blütenblätter mischten sich mit dem Staub des Platzes. Es gab ein großes und ein kleines Tor zwischen je zwei Stämmen. Die Mannschaft, die beim Tiptop der Mannschaftskapitäne die Seitenwahl gewann, entschied das Spiel fast immer für sich.

Zunächst wurden die Stürmer gewählt. Es folgten die Läufer und Mittelfeldspieler. Widerwillig suchten die Mannschaftskapitäne sich schließlich ihre Verteidiger aus. Die beiden Jungen, die bei der Wahl am Ende übrig blieben, wurden ins Tor gestellt.

Hin und wieder verließ der Torwart, der das größere Tor nahe dem Obelisken zu hüten hatte – Es grüne die Tanne / es wachse das Erz / Gott schenke uns allen / ein fröhliches Herz –, wortlos das Spielfeld. Weder mit Kirmeserdbeeren noch mit guten Worten oder Drohungen, er dürfe nie mehr mitspielen, war er zur Umkehr zu bewegen.

Ging der Torwart, hoffte ich, von einem der Mannschaftskapitäne aufgefordert zu werden, mich anstelle des Spielverderbers in das leere Tor zu stellen. Keiner der Kapitäne nahm mich wahr.

Ehe ich mich überwunden hatte, zu fragen und mich anzubieten, war der Moment vergangen und ein Verteidiger nahm den Platz des Torwarts ein.

Ich lief nach Hause. Ich weinte manchmal. Meine Mutter tröstete mich.

Am Wochenende ging mein Vater mit mir auf den alten Sportplatz, um zu trainieren. Er konnte schlecht laufen, aber gut schießen. Er schoß so hart, daß die Haut brannte, wenn ich den Ball mit der flachen Hand oder dem Oberschenkel abwehrte.

Ich biß die Zähne zusammen und warf mich in jeden Schuß meines Vaters, der nickte, wenn ich den Ball hielt, und guckte wie die Indianer aus dem Spielwarenladen, wenn es mir mißlang.

Trotz unseres Trainings schaffte ich es auch beim nächsten Mal nicht, mich im Park als Torwart anzubieten, ebensowenig wie es mir in der Schule gelang, mich bei einer Frage des Lehrers rasch genug zu melden.

Oft kannte ich im Unterricht die Lösung, ich hätte gewußt, was auf eine Frage zu antworten gewesen wäre, fürchtete aber, sollte der Lehrer auf meinen zögerlich gereckten Arm aufmerksam werden, mich zu verhaspeln, die Reihenfolge der Wörter im Satz zu vertauschen oder die Antwort vor Aufregung zu vergessen.

Mir wurde heiß, ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Ich hob den Arm halbhoch, so daß nicht deutlich zu erkennen war, ob ich mich melden wollte. Ich ließ ihn sinken, hob ihn wieder, der Lehrer wechselte das Thema und ging zur nächsten Frage über, und ich hatte den Augenblick, ähnlich wie am Rand des Fußballfeldes, verpaßt.

Wenn ich meinem Vater abends nach dem Wetterbericht von meinen Mißerfolgen auf dem Spielfeld erzählte, es fiel mir schwer, nicht trocken zu schlucken und die Tränen zurückzuhalten, sagte er: »Man muß es wollen, und durchhalten, und irgendwann schafft man es.«

Ich schaute ihn an und glaubte ihm nicht.

Grün glomm das runde Auge des Radios in der Dunkelheit. Im Licht der durch das Zimmer gleitenden Autoscheinwerfer sah ich in den Blicken meines Vaters eine stille Traurigkeit, die den Punkt hinter der Iris wachsen ließ. Trotz meiner Zweifel versuchte ich, dem Rat meines Vaters zu folgen.

Ich lief fortan nicht mehr nach Hause, sondern blieb in der Nähe des Spielfeldes unter den Kastanienbäumen. Wenn die anderen ohne mich mit dem Spiel begannen, trainierte ich ein Stück abseits, indem ich den Ball mit dem Fuß in der Luft hielt. Berührte er den Boden, hatte ich verloren.

Während der Ball vor mir hochstieg, im Scheitelpunkt einen Augenblick verharrte, fiel, vom Fuß angenommen wurde, abprallte und wieder hochstieg, war es, als wäre ich im Kino: Die Jungen, die mir früher im Sandkasten eine meiner Spielfiguren weggenommen hatten, indem sie sie vergruben, sich wie beiläufig auf die entsprechende Stelle setzten und warteten, daß meine Mutter mit mir nach Hause gehen würde, wurden von mir gejagt und verprügelt, bis sie mich um Verzeihung baten. Der Ball stieg, verharrte, fiel, wurde vom Fuß angenommen, während ich, die Backenzähne knirschten, eine seltene Genugtuung verspürte.

Mit den Jahren steigerte ich meine Geschicklichkeit und durfte ab und zu im Tor stehen oder als Verteidiger versuchen, die Angriffe der gegnerischen Stürmer, der Besten ihrer Mannschaft, abzuwehren. Die Mittellinie zu übertreten, gar aufs andere Tor zu schießen, blieb mir lange verwehrt.

Die Ereignisse, die ich in Bildern an mir vorüberziehen ließ, änderten sich im Lauf der Jahre.

Ich sah, wie ich den anderen Jungen auf einer Klassenfahrt abends folgte, während sie zum Mädchenzimmer hinüberschlichen, aber so spät ins Zimmer der Mädchen kam, daß sich der Kreis längst geschlossen hatte.

Meine Mitschüler hockten am Boden und spielten ein Spiel, das ich nur aus Erzählungen kannte. Ein Junge drehte inmitten der Versammelten eine leere Flasche. Zeigte sie auf einen Jungen, hatte der sich abzuwenden und zu warten, zeigte sie auf ein Mädchen, hatte es die Augen zu schließen und ebenfalls zu warten. Gedreht wurde so, daß ein Junge ein Mädchen küßte, selten ein Mädchen ein Mädchen. Nie küßte ein Junge einen anderen Jungen, obwohl die Flasche manchmal derart zu liegen kam.

Als ich, der Nachzügler, das Mädchenzimmer betrat, geschah ein solches Mißgeschick. Der Tür gegenüber wartete bereits ein Junge mit noch geöffneten Augen. Die Flasche, ein Kreisel, trudelte mit großem Schwung auf dem ochsenblutbraunen Linoleum, rollte über einen Nagel, ruckte, kam zur Ruhe – und wählte einen weiteren Jungen aus der Gruppe der vorgebeugt am Boden still Verharrenden aus.

Einen Augenblick schwiegen die Spieler, und ich war froh, außerhalb des geschlossenen Kreises an der Tür zu stehen. Dann kicherten einige in der Runde, doch ein Mitspieler, dessen Ellenbogen durch einen Gipsverband geschient war, verlängerte den Flaschenhals, ohne die Miene zu verziehen, mit seinem abgewinkelten Arm, so daß die Hand des selbst ernannten Schiedsrichters auf ein Mädchen deutete, das die Augen schloß.

Der Junge, der ausgewählt worden war, atmete hörbar, kniete vor seiner Partnerin nieder und küßte sie, indem auch er die Lider aufeinander preßte, aber, während sein Mund den des Mädchens berührte, die Lippen zu spitzen vergaß.

Als die Lehrer uns aus dem Mädchenzimmer gescheucht hatten und das Licht in unserem Schlafraum wenig später gelöscht wurde, es war mir gelungen, eines der oberen Betten zu belegen, horchte ich, bis alle schliefen, und übte mit einem Kissen lautlos den Kuß des Jungen, der, weil die grüne Flasche in seine Richtung wies, beinahe einen Freund hatte küssen müssen.

Während ich übte, hörte ich mich meine Mutter fragen, was die wirkliche Liebe sei, ich hörte ihre Antwort, die ich damals nicht richtig verstand: Liebe sei keinesfalls Verliebtheit, und sah mich in den Kreis meiner Mitschüler treten. Ich sah die Flasche auf mich deuten, anschließend auf ein Mädchen, das ich mehr als die anderen Mädchen meiner Klasse mochte, und ich sah uns, die Augen geschlossen, einander lange küssen.

Dann fiel, als jemand nach mir rief, der Ball zu Boden, und ich lief im Schatten der Kastanien hinüber zu dem größeren Tor nah dem Obelisken – Es grüne die Tanne / es wachse das Erz –, weil die dortige Mannschaft drei zu null zurücklag und der Torwart ging.

STILLE WASSER

»Ich glaube, daß ich ihn gemocht hab, weil er eine Heulsuse war.

Hat geheult«, sagte meine Mutter und senkte die Stimme, so daß mir ein Schauer den Rücken entlanglief, »bis er den Vogel gefunden hatte.

Hat geheult, wenn ihn die anderen Jungen mit ihren Holunderrohren beschossen haben, wo sie das Mark innen rausgedrückt hatten. Die haben geschossen und er hat sich nicht beherrschen können. ›Heul doch‹, haben sie gerufen. Die wußten, wie der Hase läuft. Die kannten ihren Pappenheimer. ›Heul doch, Günni, heul doch schon!‹ Bis zur Vergasung haben sie das Spiel getrieben. Und er konnte nicht an sich halten und prompt mußte er anfangen zu weinen.«

Wenn mir meine Mutter, als ich klein war, vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählte – oft ein Märchen, nicht selten das vom eigensinnigen Kind –, brannte neben meinem Bett eine kleine Lampe, die ich, falls ich nicht einschlafen konnte oder in der Nacht aufwachen würde, brennen lassen durfte. Obwohl ich jedes Mal bat: »Erzähl vom Vogel. Erzähl noch einmal vom Vogel«, ging meine Mutter nur manchmal auf mein Bitten ein.

Sobald ich aber hinzufügte: »Und erzähl vom Jungen, der immer weinen mußte«, betrachtete sie mich, als wolle sie wissen, wie ernst es mir mit meinem Wunsch sei, und fing nach einer Weile an, mit einer Stimme zu reden, die klang, als gehöre sie nicht zu ihr, sondern sei, als die einer anderen, in ihr bloß aufbewahrt worden.

Heute glaube ich, mir kam die Erzählung allein wegen der Stimme unheimlich vor, die eben nicht die meiner Mutter war und dennoch aus ihr sprach. Trotzdem wollte ich die Begebenheit vom Jungen und vom Vogel immer wieder hören.

Meist löschte meine Mutter dann das Licht und begann: »Gute Miene, böses Spiel, das hat er eben nicht können.

War nich so, daß ich nur dabei stand. Günni wollt ich gerne helfen. Aber helfen wär für Günni gar nich gut gewesen.

Wenn die anderen Jungen mit ihren Pusterohren um ihn herumgestanden sind, ihm zusahen, wie seine Oberlippe zu zittern begann, die Nasenflügel unter den Brillengläsern bebten, blutete er häufig aus der Nase.

Hat nichts dafür können. Das wußten die andern. Gehänselt haben sie ihn trotzdem. Ab und zu ist er wütend geworden. Zuschlagen konnte er nicht.

Nicht einmal aufstampfen ist ihm gelungen. Die Fäuste waren geballt, sein Körper hat angefangen zu vibrieren. Singende Saite hab ich ihn genannt. Aber nur heimlich, in meinen Gedanken. Schreien hat er auch nicht wollen. Nicht einmal brüllen. Wahrscheinlich hatte ihm sein Onkel auferlegt sich zu beherrschen: ›Da brichst du dir kein Zacken aus der Krone!‹

Dabei hätte es geholfen, die, die ihn triezten und kujonierten, gepiesackt und geschurigelt haben, einmal richtig anzubrüllen. Manchmal war er den anderen Jungen, wenn er still dastand und am ganzen Körper bebte, nämlich derart unheimlich, daß die weggelaufen sind. War erst mal einer losgerannt, gab es kein Halten mehr für die Horde, weil er was verkörperte, das ihnen allen fremd war.

Was hab ich gelacht, wenn die ausgerückt waren. Ich hab gelacht, meine Güte.«

Oft unterbrach sich meine Mutter an der Stelle, als lausche sie ihrem Lachen nach oder müsse über den Fortgang des Geschehens nachdenken und sich überwinden, weiterzuerzählen.

Während ich mit dem Jungen, der von allen gehänselt wurde, bangte – und vorsichtig nach den Taschentüchern tastete, die unter meinem Kopfkissen lagen, falls meine Nase nachts noch einmal bluten sollte –, fürchtete ich, da die Pause von Mal zu Mal länger wurde, bald bloß noch Märchen erzählt zu bekommen oder Geschichten, die sich meine Mutter nur ausgedacht haben würde.

Dann aber sagte sie wieder: »Nicht lange vorm Krieg, da hab ich ihn das erste Mal getroffen.

Nah der Kolonie hab ich ihn getroffen. In der Nähe des Eisenbahnwerks. Von weitem hab ich das Rufen gehört: ›Günni! Günni, zeig doch mal, wie weit du mit dei’m popeligen Kirschkern spucken kannst!‹

Danach folgte das kleine Klatschen der Pusterohrgeschosse. Klingt noch, klatsch, in meinen Ohren, Kugeln aus Papier und Spucke, bloß so ’ne weichen Kugeln, solange die Holunderbeeren noch nicht groß genug waren. Jemanden wie ihn schienen die Jungen förmlich zu wittern, als würden sie seine Angst riechen und nur darauf gewartet haben, daß endlich jemand wie er bei ihnen auftauchen würde.

Anfangs trug Günni immer eine Brille. Eine stärkere Brille als nötig. Nicht daß er besonders schlecht sehen konnte, aber die Brille erlaubte es ihm, nichts, weder Jungen noch Pusterohre, an sich herankommen zu lassen. Oder er rief: ›Brillenträger schlägt man nicht!‹ und verbarg sein Gesicht in den Händen. Obwohl er jeden bei Klimmzügen oder beim Liegestützen mühelos ausstechen konnte.

Ich hätte ihm gerne geholfen. Aber wenn ich ihm als Mädchen, na ja … Die meiste Zeit wollte ich sowieso lieber ein Junge sein.«

An dieser Stelle der Schilderung überlegte ich hin und wieder, auch weil meine Mutter häufig erneut eine Pause machte und dem Erzählten nachzuhorchen schien, warum sie lieber ein Junge gewesen wäre. Ich wurde nicht selten von Bekannten oder entfernteren Verwandten mit einem Mädchen verglichen, »sieht ja wirklich lieb aus, wie ein Mädchen«, und nichts war mir unangenehmer. Aber schon damals ahnte ich, daß es sich mit dem Wunsch meiner Mutter anders verhielt, anders auch als mit der Scham, die ich oft empfand.

»Dann«, sagte meine Mutter, und ich vergaß, den Gedanken fortzuspinnen, »dann kam der Tag kurz vor Beginn des Krieges.

›Günni!‹ hatten die anderen Jungen gerufen und auf ihn gezeigt, während er, ohne die Fäuste zu ballen und ohne daß seine Oberlippe angefangen hätte zu zittern, vor denen verharrte, die ihn im Halbkreis umringten. Seine Wangenknochen waren weiß vor Wut.

Zu seinen Füßen lag ein Vogel, ein junger, der aus dem Nest gefallen war. Oben in der Akazie war das Nest.

›Tritt drauf‹, sagte einer der anderen. Er schien es schon mehrmals gesagt zu haben. ›Stirbt sowieso, so’n Vogel.‹

Schaute dabei auf seine Zwiebel, eine silberne Taschenuhr – die dümmsten Bauern, die dicksten Kartoffeln –, als könne er darauf ablesen, wie lang der Vogel noch leben würde. Es war eine Uhr, die ein Lied spielen konnte. War mit einer dünnen Kette an einem Knopf seiner Joppe befestigt.

›Stirbt sowieso‹, wiederholte der Anführer der Jungen und griente wie ein Dreckeimer. ›Stirbt sowieso!‹ Und noch einmal. Selber wär der nie auf den Vogel getreten.

›Gar nich‹, entgegnete Günter.

Ich«, sagte meine Mutter, »hatte mich in den Kreis gedrängt und sah, daß Günters Wangenknochen unterm Brillenrand bleicher warn, beinahe durchscheinend warn die geworden, die Haut darüber spannte wie das Fell einer Trommel. Weil er die Zähne so fest aufeinanderbiß.

Und seltsam war auch, daß alle Geräusche außerhalb der Gruppe blieben: das Tschilpen der Spatzen, das Gurren der Tauben, die Rufe vom Rangierbahnhof, das Knattern der seltenen Holzgasautos – links ’ne Pappel, rechts ’ne Pappel, Pferdeappel, Pferdeappel –, das Ruckeln der Räder auf unserer kastanien- und pappelbestandenen Allee.

Günter und die Jungen verharrten in der Stille, die sich so plötzlich eingestellt hatte. In der Mitte saß der Vogel, der ja noch kaum Federn hatte und der seinen Schnabel aufriß, ein Vogel, der noch lange nicht würde fliegen können.

›Is besser‹, beharrte der Anführer und fummelte an seiner Uhrkette, ›is besser, du trittst drauf.‹

Günter hat mich, das einzige Mädchen, angesehen. Und ich hab ihn auch angesehen. Dann bückte er sich langsam und hob den Vogel auf.

Dabei rutschte ihm die Brille aus dem Gesicht. Lag zwischen dem Heidekraut, wo eben noch der Vogel gelegen oder gekauert hatte. ›Jetz‹, murmelte der Anführer, ›jetz isser sowieso tot. Weil du ihn angefaßt hast, Günni! So’n Vogel nehm seine Eltern nä’mich gar nich mehr!‹

Günter hielt den Vogel an seinen Bauch gepreßt. Wir schauten uns noch einmal an. Dann schlug Günter dem Anführer, indem er plötzlich einen Schritt auf den Verdatterten zutrat, mit der anderen Hand ins Gesicht.

Hätten alle erwartet, daß der große Junge zurückschlagen und dadurch die anderen gleichfalls dazu bringen würde, sich auf Günter und dessen Vogel zu stürzen. Aber nichts ist passiert. Bloß die Brillengläser haben zertreten zwischen dem blühenden Heidekraut gelegen, und die Scherben glitzerten in der Nachmittagssonne.

Und die Geräusche kamen zurück: das Tschilpen der Spatzen, das Gurren der Tauben, das oft unheimliche Rufen vom Rangierbahnhof. Und der Vogel aus dem Nest öffnete und schloß den schmalen Schnabel.

›Nehm’ ich mit nach Hause.‹

Günter schluckte und flüsterte, weil er nicht glauben konnte, daß ihm nichts geschah.

Der Anführer bewegte sich, hielt inne, strich sich mit den Fingern über die Wange, wo Günter ihn geschlagen hatte. Als dächte er nach, über Vögel und die Stille. Die anderen Jungen traten, während sie warteten, von einem Fuß auf den anderen. Und ehe der Anführer ein Wort hätte sagen können, ein Wort nur, so was wie: Du!, mit einem drohenden Unterton, hab ich ihm das Pusterohr einfach aus dem Hosenbund gezogen und es überm Knie zerbrochen. Woraufhin sich die anderen Jungen aus der Kolonie unschlüssig abgewandt haben und übers Feld davongegangen sind, einfach so, nach Hause.

Ein Wort, und sie hätten Günter eine Tracht Prügel versetzt, solch eine Tracht Prügel.

Hab noch heute das Geräusch der rauhen, papiernen Rinde im Ohr, des trockenen Holunders am aufgeribbelten Gummizug der Turnhose des Anführers. War nur ein kleines Geräusch gewesen, aber ein ungemein deutliches. Der Vogel ist dann durch Günters Pflege größer und kräftiger geworden«, sagte meine Mutter.

Und ich meinte, den Vogel vor mir zu sehen, ihn beinahe berühren zu können, wenn sie abends bei mir am Bett saß und ich die Geschichte erneut und immer wieder hören wollte.

Bis meine Mutter einmal, wie abwesend, hinzufügte: »Nur daß der Vogel später, im Splittergraben war das, bei Günters Mutter und bei sei’m Onkel, bei seiner Familie erstickt ist.«

FLUCHT

Es gab, als ich ein Kind war und ehe die Mauer gebaut wurde, ein wiederkehrendes Ritual, eine Nachmittagszeremonie, die sich mir bis heute, da meine Mutter längst gestorben und die Mauer gefallen ist, mit dem Duft nach Kaffee und dem Geschmack von Russisch Brot verbindet, jenem Gebäck, das ich lieber als jedes andere mochte.

Meine Mutter und ihre jüngere Schwester, Tante Annie, saßen in unserem Wohnzimmer, und während sie sich unterhielten und ich aus dem Kinderzimmer zu ihnen herüberkam, um mir eine weitere Portion Russisch Brot sowie kalten Hagebuttentee oder heißen Muckefuck zu holen, lachten sie, und meine Mutter redete auf eine Art mit ihrer Schwester, wie ich sie sonst selten mit jemandem hatte reden hören. Doch kurz bevor meine Tante sich verabschiedete – sie wohnte im sowjetischen Sektor der Stadt, den meine Eltern, ebenso wie die DDR, meist als Zone oder Ostzone bezeichneten –, wurde das Gespräch oft eigentümlich ernst.

In der Erinnerung scheint es mir, als seien meine Mutter und ihre Schwester aus Gründen, die ich als Kind nicht begriff, gezwungen gewesen, den Besuch nicht enden zu lassen, wie er begonnen hatte. Vor allem meine Mutter drängte darauf, der eben noch unbeschwerten Unterhaltung eine Wendung zu geben, die mich auf dem Weg zum Wohnzimmer neugierig und befangen an der Garderobe innehalten ließ. Ein letztes Stück Russisch Brot in der rechten, die leere Tasse in der linken Hand wartete ich im auch tagsüber nie wirklich hellen Korridor und horchte, wie der Klang der Stimmen dunkler wurde und die Tonlage der Schwestern eigenartig beklommen.

Oft war von einer Flucht die Rede, unter der ich mir wenig vorstellen konnte. Pferde wurden erwähnt, und Fliegen, und ein süßlicher Geruch, der einem nachgegangen sei. Die Habe – ein Wort, das mir seltsam erschien – habe auf Leiterwagen gelegen und im Geschirr seien Kinder gelaufen, um die Fuhrwerke über die tiefe, kaum gefrorene Landstraße zu ziehen.

Einmal, als ich die Diele auf dem Weg zum Bad mit einem bekleckerten Hemd und der vom verschütteten Tee feuchten Hose möglichst rasch durchqueren wollte, ließ mich ein Satz, eine Formulierung, vielleicht der Tonfall meiner Mutter zögern. Sie beschrieb, wie sie mit ihrer Schwester im Morgenlicht, an den Zweigen habe Rauhreif gehangen, über einen ungepflügten Acker gerannt war, über Getreidestoppeln, während hinter ihnen in einem Gehöft Soldaten aus einem Gebäude traten und schossen.

Die Weise, wie meine Mutter das Rennen und Stolpern und Fallen, das Kriechen durch Matsch und halbgefrorene Erde weniger schilderte als beschwor, das Weinen, Aufrappeln, Hochhasten, das Fassen bei den Händen, das Laufen und Laufen und Laufen, das erneute Stolpern und Stürzen, die verschmierten Handflächen und Knie, Kuhlen, Furchen, Hindernisse, das Geräusch der Flüche und Schüsse, den entfernten Föhren- und Birkenwald, kein Laub, keine Vögel, schon gar keine Menschen, die den Kindern hätten helfen können, die Darstellung des Geschehens und auch der sonderbare Vorwurf in der Stimme meiner Mutter, den ich, obwohl ich für sie unsichtbar im Flur stand, gegen mich gerichtet glaubte, ließen mir, gerade sechs Jahre alt, die Erzählung derart fern und märchenhaft erscheinen, daß sie für mich ohne Zusammenhang mit meiner wirklichen Mutter blieb, die mit meiner viel jüngeren Tante dort im Wohnzimmer saß.

Dennoch empfand ich die Flucht als gegenwärtig. Die Landstraße lief quer durch unseren kaum beleuchteten Korridor, Karren und Gefährte steckten an den Fahrbahnrändern fest, und indem ich mich im Geschirr des schweren Leiterwagens ächzen sah, schauderte mich im Schatten der Garderobe.

Verborgen von Mänteln, die jetzt im Frühjahr schwach nach Mottenkugeln rochen, wagte ich zwei kleine Schritte auf das Wohnzimmer zu. Im Spiegel über dem von meinem Vater selbst gebauten und lackierten Schuhschrank, auf dem Jahre später das Telefon stand, konnte ich meine Mutter und ihre Schwester im Zimmer erkennen. Sie saßen wie vorher am niedrigen Tisch beim Sofa, meine Tante ein bißchen unruhig, weil sie längst hatte aufbrechen wollen, meine Mutter tief in Gedanken.

Während unten auf dem Pflaster aus Katzenköpfen ein Auto oder eine Straßenbahn vorüberfuhr und bei uns im dritten Stock die Vasen in der Vitrine so sacht wie eh und je klirrten und genauso leise, wie die Glasschiebetüren trotz des mehrfach gefalteten Pergamentpapierstreifens gegeneinanderschlugen, aßen meine Mutter und ihre Schwester schweigend die letzten Stücken Russisch Brot und tranken Bohnenkaffee. Dann erwähnte meine Tante beiläufig einen Jungen – »er hat häufig geheult, das stimmt, aber Vati hat ihn dennoch gemocht wie seinen Sohn, nicht wahr?« – und lächelte, als habe sie bei einem Spiel gewonnen.

Meine Mutter musterte ihren Kuchenteller, und indem sie sich bemühte, die Krümel mit dem Finger aufzupicken und keinen Schokoladenstreusel auf dem Goldrand zu übersehen, vermied sie es, auf ihre Schwester einzugehen, als sei der Junge nicht genannt worden, als habe sie dessen Erwähnung überhört.

Erst als meine Tante das Thema wechselte und sich brüsk erhob, um sich zu verabschieden, nickte meine Mutter, als wäre sie zufrieden, und stellte ihren Kuchenteller zurück auf den niedrigen Tisch. Ich glitt zwischen die Mäntel, atmete den vertrauten Geruch des Mottenpulvers und wartete auf einen günstigen Moment, um in mein Zimmer zu schleichen.

Der Junge aber, von dem ich annahm, es könne sich nur um den Jungen mit dem Vogel handeln – und der, ebenso wie der Krieg, bald aus jeder Schilderung meiner Mutter verbannt blieb –, begann mich zu beschäftigen. Noch während ich im Flur verharrte, war ich überzeugt, auch er sei über den ungepflügten Acker gerannt, gestolpert und in Furchen gefallen, um gleich darauf weiterzulaufen. Ich malte mir aus, wie er, vielleicht nur wenig älter als ich, den Schüssen der Verfolger hatte entkommen können.

Bislang war ich weggelaufen, wenn Ältere im Park mich ärgern oder mir etwas wegnehmen wollten. Sobald ich rannte, vergaß ich die Angst. Ich ergab mich der Bewegung und hatte das Gefühl, richtig gehandelt zu haben. Es war, als flüchtete ich im Traum vor einem Ungeheuer und könnte gleichzeitig beobachten, wie der Abstand zwischen mir und dem Verfolger wuchs.

Ich überlegte, ob es dem Jungen genauso gegangen war und ob auch er weder auf Dornen noch Brennesseln, noch auf den Schmerz geachtet hatte, den sie verursachten. Ich entschied, wenn ich floh, ohne nachzudenken. Blieb kein Ausweg, überwand ich von der Parkseite her den Stacheldrahtzaun zum Schulhof, der unserer Wohnung gegenüberlag, wich dem dicken Hauswart, meinem ärgsten Feind, aus, roch den Flieder im Schatten des Schultors intensiver als gewöhnlich, überquerte die Fahrbahn, sprang, vorbei am starr blickenden Löwenhaupt aus Holz, die Treppe bis zur Wohnungstür hinauf und war so den Größeren und Stärkeren und denen, die zuschlagen konnten, ohne zu zögern, ein weiteres Mal entwischt.

Gelang es mir, gemeinsam mit einem Freund zu entkommen, eben noch hatten wir unseren Widersachern harte Holunderbeeren, Knete oder rohe Erbsen ins Gesicht geschossen, blieben wir anschließend beieinander. Obwohl wir uns im ersten Augenblick wie Feiglinge gefühlt hatten, schöpften wir erleichtert Atem. Ohne zu reden gingen wir nebeneinanderher nach Hause. Wir ließen die Arme pendeln oder steckten die Hände in die Hosentaschen, stießen die Schultern aneinander und waren glücklich.

Niemand würde jemals schneller laufen als wir.

DIE SOMMER DER KINDHEIT

Auch diesmal, da der Streit besonders heftig war – später erzählte mein Vater mir, in der Nacht sei ich aufgewacht und nicht zu beruhigen gewesen: »Mama ist im Traum und kommt nicht mehr raus« –, hockten Doris und ich auf dem heißen und immer stickigen Dachboden der Laube und beugten uns über ein Astloch. Es war der Sommer, nachdem wir eingeschult worden waren, ich in West- und meine Cousine in Ostberlin. Wir saßen eng beieinander, wünschten, wir wären nicht da, und versuchten wenig zu atmen.

Bemüht, meine Mutter zu beruhigen, hatte sich mein Großvater unter uns in der Stube einen Moment erhoben: Er löste die Hände von einem fast farblosen Bezug, der lose auf der Couch lag, und legte sie meiner Mutter auf die Schultern.

Obwohl er ihr über die Wange oder die Stirn hatte streichen wollen, verkam seine Geste zu einer Bewegung, als wischte er Haare von ihrer Kleidung, die ebensowenig dort lagen wie Flusen oder Fusseln. Indem er einen Schritt auf seine Tochter zutrat, sogleich aber, als erschrecke er vor einem unbilligen Wagnis, wieder zurückwich, schien er sich in der Wohnstube zu ducken. Er wirkte, als müsse er sich schämen: Obgleich seit Monaten verabredet war, daß er zu uns nach Westberlin ziehen sollte, hatte er sich im letzten Moment gegen den Umzug entschieden.

Umgeben vom Duft der Teerpappe, der jeden Winkel des Dachbodens während des Sommers füllte, saßen Doris und ich – wir hatten beide vor kurzem, im Frühsommer Geburtstag gehabt – auf den Dielen, deren Anstrich blätterte, warteten auf das Ende des Streits und linsten durch das schmale Loch im Boden.

Meine Mutter redete so heftig auf meinen Großvater ein, daß ihre Schwester, die bisher geschwiegen und nur einige Male unentschlossen eine Hand gehoben hatte, hinauslief und mein Vater, der still in einer Ecke der Wohnstube gewartet hatte, ihr folgte.

Würde Tante Annie nach Westberlin ziehen, müßte Doris bei ihrem Vater bleiben. Meine Tante war geschieden. Das Wort sprach meine Mutter aus, als äße sie ein Stück Seife.

Während meine Mutter unten in der Stube umherlief, bewegte sich mein Großvater überhaupt nicht. Die großen, kräftigen Hände flach auf dem fast farblosen Bezug saß er reglos und mit geradem Rücken auf der Couch. Ich schämte mich für meine Mutter. Mein Großvater tat mir leid.

Wenn meine Mutter nicht in der Nähe war, hatte er mir manchmal von Saalschlachten erzählt. Er ging neben mir durch die Laubenkolonie, trieb trotz seines Alters einen Fußball vor sich her und verlor sich an die Erinnerung. Er vergaß, daß ich ein Kind war, und beschrieb Männer, mit denen er sich geprügelt hatte, während andere vorn auf dem Podium standen und sprachen, solange es der Lärm der Saalschlacht zuließ.

Ich bewunderte meinen Großvater, der während seiner Erzählung unvermittelt eine Faust ballen, lachen und sagen konnte: »Riech mal! Riecht nach Friedhof!«, und ich beneidete ihn um die Fähigkeit, sich schlagen zu können. Stand ich vor einem größeren Jungen, der mich provozieren wollte, bekam ich Angst. Stand ich vor einem kleineren, kam ich mir feige vor.

Unten wurde ein Tisch gerückt, und ich schrak zusammen. Die Worte meiner Mutter klangen wie ein Gebet:

»Alles habe ich rübergeschafft. Deine Kleidung. Das Geschirr. Die Papiere. Deine Schuhe. Bücher sogar. Fotoalben. Bilder. Schmuck. Das kleine Stövchen. Langsam, aber sicher rüber. Jedes Mal die Grenzkontrolle. – ›Nur Geschenke.‹ – ›Sie verschenken … Fotoalben?‹ – ›Für Verwandte.‹ – ›Dafür schaffen Sie die Alben … kurzerhand nach Westberlin?‹ – Jetzt ist alles aufgestapelt. Selbst den Keller hab ich dafür freigeräumt. Für die Angel. Zeitungsseiten. Alle Ausgaben des Vorwärts. Dein Archiv. Den Campingklappstuhl. Unterlagen. Selbst den Ausweis der Partei … und den der Arbeiterwohlfahrt! Den ganzen Kladderadatsch.«

Heute scheint es mir, als sei es nicht um meinen Großvater gegangen, als hätte jemand hinter ihm gestanden und wäre, obwohl unsichtbar, von meiner Mutter angesprochen worden.

Mein Großvater hob die Schultern und erwiderte nichts.

»Weswegen?« fragte meine Mutter, das Gesicht entstellt von einem Schatten. »Wegen der Laube? Der winzigen, miefigen Laube? Oder wegen deiner … Bekannten?«

»Nein«, sagte sie, »es ist wegen der Laube. Deshalb willst du bleiben. Wegen der mickerigen, murkeligen Laube.«

Ich hatte mich häufig gefragt, warum mein Großvater in einer Laube und nicht, wie wir, in einem Mietshaus mit gewöhnlichen Wohnungen wohnte.

Anfangs glaubte ich, es läge daran, daß er im anderen Teil der Stadt lebte, der mir, da wir lange nur meinen Großvater besuchten, vorkam, als bestünde er ausschließlich aus Lauben, Kleingärten, der S-Bahn, einem Rangier- und Güterbahnhof, Wald und einem Fluß. Obwohl ich die S-Bahn nicht sonderlich mochte und mir der Güterbahnhof wegen der Lautsprecherdurchsagen unheimlich war, schien es mir vernünftig, daß in unserem Teil der Stadt die Wohnhäuser standen und es Straßen mit Läden gab, während der andere Teil für mich wie ein weitläufiger, unaufgeräumter Spielplatz ohne Klettergerüste oder Schaukeln oder sonstiges Spielgerät war.

Beinahe jedes Mal traf ich Doris in der Kolonie. Der schwarze Staub der Schlackewege färbte unsere Knöchel. Das Vanilleeis schmeckte sonderbar süß und die Limonade im Freibad nach Gummi und Farbe, sobald ich danach aufstieß. Doris zeigte mir im Wald einen Bunker, der zur Hälfte gesprengt worden war und dessen Zugänge wir niemandem verrieten. Und obwohl ich irgendwann die Neubauwohnung von ihr und Tante Annie kennenlernte, eine Wohnung, die mir häßlich und enger erschien als unsere im Altbau, verlor sich der Eindruck der ersten Jahre nie ganz, im anderen Teil der Stadt sei es, als wären wir in den Ferien.

Unten in der Wohnstube verschob mein Großvater die Handballen auf dem Bezug des Sofas.

»Das kannst du nicht verstehen«, sagte er.

»Nein«, sagte meine Mutter, »das verstehe ich nicht.«

Doris und ich rückten enger zusammen und faßten uns bei den Händen. Mein Großvater wechselte seinen Platz, so daß wir unsere Köpfe zur Seite neigen mußten, um ihn auf der Couch im Auge behalten zu können.

»Nein«, wiederholte meine Mutter, und ihr Kopf bewegte sich beständig hin und her.

Als sie erneut mit der Aufzählung der Sachen beginnen wollte, die sie für ihren Vater heimlich von Ost- nach Westberlin gebracht hatte, sagte mein Großvater leise: »Ich hab mich nicht getraut, es dir zu sagen.«

Er sah zu Boden. »Weil ich ja wußte, daß du« – er machte eine Pause – »ärgerlich werden würdest. Und ich hatte ja recht.«

Schon schien es, als wolle er schweigen, als er, während meine Mutter die Arme vor der Brust verschränkte, hinzufügte: »Und deine Schwester braucht mich auch nötiger als du.«

»Das ist ein Vorwand«, sagte meine Mutter.

Mein Großvater zuckte die Achseln, sein Blick wirkte verschlossen.

»Aber du hast Gabriel. Ihr habt euren Jungen. Wozu brauchst du mich?«

Er erhob sich, die Schultern hingen herunter, und verließ die Stube, während meine Mutter sich auf das Sofa an die Stelle setzte, wo eben noch er gesessen hatte, und ihr Gesicht in den Händen verbarg.

Es verging einige Zeit.

Der Dachboden roch noch immer nach Teer und Staub und Sommer, und Doris und ich ließen einander, unsere Finger fühlten sich feucht an, behutsam los und rückten ein Stück auseinander.

Der Dachboden war unsere Höhle gewesen, unser Schiff und unsere Burg. Hier verkleideten wir uns und bauten in den Hohlräumen zwischen Dach und Wand Verstecke. Zu Hause spielte ich ausschließlich mit Jungen, hier konnte ich ein Ritter und Doris die Prinzessin sein. Oder wir tauschten die Rollen und spielten, bis der Staub uns überall am Körper juckte. Die Haut gereizt von Glaswollresten wuschen wir uns im Garten, ehe wir erneut in die Kostüme schlüpften und die Tür des Dachbodens mit einem Riegel versperrten.

Bevor Doris und ich uns aufgerafft hatten, den Bodenraum zu verlassen und in die Küche hinunterzugehen, an meiner Mutter vorbeizuschleichen und einen Becher Limonade meiner Tante zu trinken, betrat ein Mann die Wohnstube, den ich nicht kannte. Er hatte dunkle Haare, trug hellbraune Schuhe und ein blaues Jackett.

Der Mann wirkte schmal und sportlich, obwohl die Schultern des Jacketts an der falschen Stelle saßen. Auf seinem Kragen lagen Schuppen. Die Mitte des Kopfes war kahl.

»Was willst du?« fragte meine Mutter, die aufsah, als der Mann an die offene Zimmertür klopfte.

Sie war, als er im Türrahmen auftauchte, kaum überrascht gewesen, eher ungeduldig, als hielte der Mann sie von einer dringenden Erledigung ab.

»Was willst du hier?« fragte sie noch einmal.

»Ich weiß nicht.« Er zuckte die Achseln. »Helfen«, sagte er dann.

»Wie?« fragte meine Mutter. »Und wem?«

»Dir«, entgegnete der Mann. »Und natürlich Vati.«

Mit den Armen beschrieb er eine Bewegung, als könne er das Zimmer umfassen, und schob die Hände anschließend unschlüssig in die Hosentaschen, um sie sofort wieder herauszuziehen. Als kurz darauf ein Ruck durch seinen Körper ging, war es, als wäre ihm etwas eingefallen, an das er sich lange versucht hatte zu erinnern. Ein Lächeln lief über sein Gesicht und ließ die Augen leuchten.

Meine Mutter stand vom Sofa auf und musterte den Mann, als müsse sie entscheiden, ob ihm zu trauen wäre. Beide mußten den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen, und während sie voreinander standen, bewegten sie stumm die Lippen, als suchten sie nach einem Wort.

Bis der Mann kaum hörbar, wie bei einer Losung sagte: »Ich wall hinab zum Strande«, und meine Mutter, ebenso leise, ergänzte: »Durch Reif und Dornen hin.«

Neben mir kicherte Doris, während ich schwieg und gezwungen war, obwohl ich den Blick gern abgewandt hätte, weiterhin durch das Astloch in die Stube hinunterzuschauen. Der Mann und meine Mutter schwiegen ebenfalls.

Sie sah zu ihm auf, obwohl sie sich, ihre Wimpern zitterten, deswegen ein bißchen tiefer bücken mußte. Dann küßte meine Mutter den Mann, wobei sie den Mund öffnete, und er erwiderte den Kuß, ohne die Lippen zu spitzen.

Doris schob ihre Hand über das Astloch am Boden, ich folgte ihrer zögernden Bewegung mit den Augen.

Lautlos erhoben wir uns und verließen still den Dachboden der Laube.

CLOWN UND ROSE

Bei unserem letzten Besuch in Ostberlin, wenige Tage, bevor die Grenze geschlossen wurde, stürzte mein Großvater, kaum daß ich die Gartenpforte öffnete. Ich konnte nicht erkennen, worüber er gestolpert war, doch ehe die eiserne Pforte zurück in den Rahmen schlug, lag mein Großvater zwischen dem Weg und einem Spalier aus Wildrosen im Erdbeerbeet und stöhnte.

Weil meine Tante nicht wie verabredet erschienen war, mußten meine Mutter und ich ihn zu einem nahen Arzt bringen. Bevor meinem Großvater auf eine Liege geholfen und er ins Behandlungszimmer geschoben wurde, trug er meiner Mutter auf, jemanden anzurufen, dessen Namen ich nicht verstand. Der Mann, der unerwartet schnell in der Praxis eintraf, trug dasselbe leuchtend blaue Jackett wie vier oder fünf Tage vorher.

Während mein Großvater untersucht wurde, gingen meine Mutter und der Mann – er hatte, auch am Hinterkopf, kaum Haare, dennoch sah man auf seinen Schultern Schuppen – nach draußen und bogen um die Ecke des Gebäudes, in dem sich neben dem Orthopäden noch andere Arztpraxen befanden. Sie setzten sich auf eine Bank, ohne darauf zu achten, daß ich ihnen folgte.

Je länger ich lauschte, desto verwirrter war ich. Ich begriff nicht, was meine Mutter dem Mann vorhielt. Obwohl sie betonte: »Ja, es war schön«, machte sie ihm Vorwürfe, die er zurückwies, indem er von einem Kinobesuch sprach, aber nie den Film erwähnte, den er mit ihr zusammen angesehen hatte.

Ich stellte mir einen Western vor. Obwohl ich bisher nur Märchenfilme im Jugendheim hatte anschauen dürfen, kannte ich die Plakate von Cowboyfilmen aus den Reklamekästen vor den großen Kinos.

Je lauter die Stimmen des Mannes und meiner Mutter wurden, desto beruhigter war ich. Erleichtert huschte ich zurück ins Wartezimmer und fand, eingelassen in die Wand, eine Fontäne, die mit einem Druckknopf betätigt werden konnte. Ich trank, weil mein Mund unangenehm trocken war, bis mein Großvater – er humpelte und ging an Krücken – aus dem Behandlungszimmer wieder in den Warteraum trat.