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Über die Autorin

„Gestorben wird immer“ in den Büchern von Elke Schwab, denn „Mord ist ihr Hobby“. Das beweist die Tatsache, dass die Krimiautorin in den letzten 16 Jahren 16 Kriminalromane veröffentlicht hat.

Frei nach dem Motto „früh übt sich“ hat sich Elke Schwab nun an ein neues Genre gewagt, nämlich den Kinderkrimi. Für junge Leserinnen und Leser kann es – ihrer Meinung nach – nie früh genug sein, sich mit spannender Lektüre zu unterhalten. Mal sehen, ob nach diesem Werk ein weiterer Kinderkrimi aus ihrer Feder fließen wird …

www.elkeschwab.de

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ISBN 978-3-96079-009-9

1. Auflage 2016 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2016

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Wolfgang Neumann

Coverfoto: Hartwig Neumann

Foto des Autors: Alida Scharf

www.solibro.de                verlegt. gefunden. gelesen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

1

Vollmondnächte haben ihre eigene Magie. Bäume schwarz, von diffusem Licht in den Wipfeln beschienen, wirken wie schlecht ausgeleuchtete Silhouetten eines Scherenschnitttheaters und verformen sich im Wind zu gespenstischen Gestalten. Ein Mädchen machte das nervös. Sie konnte durch das Fenster weit in das silbrig graue Tal blicken, über das die Schatten der Wolken hinweghuschten. Ihr Atem beschlug die Scheibe und Tanya begann unbewusst mit ihrem Finger ein Herz auf das kalte Glas zu zeichnen, gar als könnte dies alles Böse von ihr fernhalten.

Sie drehte sich um und schaute auf das Etagenbett. Unten lag ihr Zwillingsbruder Torben und schlief – in das dünne Laken eingerollt wie ein Hering mit zerwühlten, blonden Haaren. Das sah irgendwie lustig aus. Dennoch kroch Unbehagen in ihr hoch, denn ein Abenteuer stand ihr heute Nacht bevor. Gegenüber ihrem Bruder ließ sie es sich nie anmerken, wie ängstlich sie war. Er war der Mutigere von beiden. Was zwei Minuten Altersunterschied doch ausmachen konnten. Trotzdem war sie stets seinen Vorschlägen gefolgt.

Sommer, Ferienzeit und zugleich ihr letztes Jahr in der Grundschule Felsberg. Elf Jahre alt waren sie im Juni geworden – Zwillinge im Sternzeichen Zwilling.

Danach sollte für sie ein neuer Lebensabschnitt beginnen – neue Herausforderungen, so wie heute. Um Mitternacht wollten sie sich mit Iffi an dem Pfad treffen, der zur Teufelsburg führte.

… die rote Iffi, die mit Pauken und Trompeten in ihrer beider Leben geplatzt war und darin für immer einen Platz gefunden hatte …

Auf Tanyas blassem Gesicht zeichnete sich ein nachdenkliches Lächeln ab.

Eines Morgens hatte es direkt vor ihrer Wohnung laut gekracht. Tanya und Torben hatten, aus dem Fenster im Flur, ein Kind auf der Straße liegen sehen. Daneben parkte ein Auto ganz schief mit Warnblinklicht. Panisch waren sie hinausgerannt, um dem Kind zu helfen.

Doch das, was sie sahen, als sie dort ankamen, war längst nicht mehr so erschreckend als wie es von oben aussah. Vor ihnen auf dem Asphalt lag ein Mädchen mit langen, knallroten Haaren, die zuvor aus dem ersten Stock betrachtet wie eine Blutlache gewirkt hatten, daneben ein Fahrrad. Es war an der Bordsteinkante gestürzt und hatte sich die Haut am Arm aufgeschürft. Der Autofahrer war nur in unmittelbarer Nähe gewesen und hatte vor Schreck eine Vollbremsung mit quietschenden Reifen hingelegt. Der Autofahrer hatte darauf bestanden, mit Iffi nach Saarlouis ins Krankenhaus zu fahren. Da an diesem Tag weder Iffis Vater noch Mutter zuhause war, hatten Tanya und Torben zusammen mit ihrer Oma Evelyne das rothaarige Mädchen begleitet. Das lange Warten in der Notaufnahme des Elisabeth-Krankenhauses hatte die Kinder zusammengeschweißt. Sie hatten die Zeit genutzt, sich kennenzulernen und dabei festgestellt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie zusammen in eine Klasse in der Grundschule in Felsberg gehen würden.

Seitdem verging fast kein Tag, ohne dass sie sich trafen.

Heute Nachmittag hatte Torben etwas entdeckt, worum er seitdem ein ganz großes Geheimnis machte. Es war ihm so wichtig, dass er sich unbedingt mitten in der Nacht damit befassen wollte, weil dann außer ihnen niemand dort sein würde. Tagsüber wimmelte es auf und an der Teufelsburg nur so von Menschen. Da war ein Geheimnis nicht zu bewahren – darin gab Tanya ihrem Bruder recht. Aber musste es wirklich um Mitternacht sein?

Ihre Mutter würde arbeiten, das wussten sie. Sie hatte neben ihrem Job als Kassiererin noch eine Beschäftigung als Bedienung in der Dorfkneipe. Das müsse sie machen, um genug Geld zu verdienen, erzählte sie immer, wenn Tanya oder Torben sie fragten, warum sie sich so abschuftete. Auch legte sie Wert darauf, dass die Zwillinge mal was Rechtes lernen sollten, damit es ihnen nicht so ergehen würde, wie ihr. Das war auch der Grund, warum sie ihre beiden Kinder am Gymnasium in Saarlouis angemeldet hatte. Schon nach den großen Ferien ging es los: Der nächste Schritt zum Erwachsenwerden, wie ihre Mutter immer betonte.

Und Tanya wollte sie auf keinen Fall enttäuschen.

Doch das, was sie heute Nacht vorhatten, würde ihr niemals gefallen. Da war sie sich sicher. Es war viel zu gefährlich für Iffi, Torben und Tanya, um Mitternacht durch den Wald zur Teufelsburg zu laufen. Wer wusste schon, welche Gefahren dort lauerten? Gab es da nicht diese Erzählung von einem Fluch?

Tanya schüttelte sich. Dabei fielen ihre langen, blonden Haare ins Gesicht. Sie schnappte sich ein Haargummi und band die Mähne zu einem Pferdeschwanz. Wieder schlug ihr Herz höher. Sogar ihre Oma Evelyne hatten sie dieses Mal nicht in ihren Plan eingeweiht. Dabei war auf Evelyne immer Verlass! Sie stand immer auf Torbens und Tanyas Seite, egal, was sie wieder angestellt hatten.

Tanya erinnerte sich an ihre Oma nur, wie sie im Rollstuhl saß. Doch Evelyne hatte ihnen schon oft Fotos gezeigt, auf denen sie auf ihren beiden Beinen stand und super sportlich aussah.

Tanya überlegte, ob sie heimlich ins Erdgeschoss zu ihrer Oma gehen sollte, um ihr alles zu erzählen. Bestimmt würde sie sich dann besser fühlen. Sie warf einen Blick auf Torben, um sich zu vergewissern, dass er immer noch schlief. Doch was sie sah, ließ sie erschrocken zusammenzucken. Torben hatte seine blauen Augen geöffnet und schaute seine Schwester an, als könnte er ihre Gedanken lesen. Sofort verspürte Tanya ein schlechtes Gewissen. Schuldbewusst kletterte sie auf ihr Bett und legte sich auf die Kissen.

„Du sollst schlafen“, meinte Torben nur. „Es ist wichtig, dass wir nachher alle hellwach sind.“

„Warum sagst du mir nicht, was du entdeckt hast?“

„Das siehst du, wenn wir dort sind.“

„Manchmal kannst du echt blöd sein! Und so was ist mein Bruder …“

„Wie viel Uhr ist es denn?“

„Halb elf!“

„Also noch anderthalb Stunden“, rechnete Torben aus.

Tanya erwiderte nichts mehr. Sie tat so, als würde sie bereits schlafen.

Sie hörte ein Geräusch. Verwirrt schaute sie sich um und spürte, dass sie tatsächlich für kurze Zeit eingenickt sein musste. Ihr Bruder saß auf dem Boden und überprüfte so leise wie möglich den Inhalt seines Rucksacks. Als hätte er eine Vorahnung, hielt er inne und schaute zu ihr hoch.

„Du bist wach. Das ist gut. Es ist nämlich Zeit, dass wir aufbrechen. Wir wollen Iffi nicht allein in der Dunkelheit warten lassen.“

Da Tanya komplett angezogen auf ihrem Bett gelegen hatte, brauchte sie nur hinunterzuklettern und ihrem Bruder zu folgen. Ihr Weg führte aus dem Fenster, obwohl sie im ersten Stock wohnten. Die Regenabflussrinne verlief direkt daran vorbei, deren Halterung aus einer Konstruktion mit Querstreben bestand, die an die Sprossen einer Leiter erinnerten. So konnten sie ihr Zimmer immer verlassen, ohne von jemandem erwischt zu werden.

Kaum spürten sie den Boden unter ihren Füßen, hörten sie die Kirchturmuhr Zwölf schlagen. Gleichzeitig ertönte der Ruf einer Eule. Es klang unheimlich. Trotz der nächtlichen Wärme spürte Tanya Gänsehaut auf ihren nackten Armen. Torben tat so, als bemerkte er es nicht. Er nahm ihre Hand und zog sie hinter sich her mit den Worten: „Komm schnell! Ich habe gerade Iffi gesehen, wie sie in den Weg zur Teufelsburg eingebogen ist.“

Da keine Autos um diese Zeit auf der Dürener Straße fuhren, rannten sie ohne nachzusehen auf die andere Seite, bogen in den schmalen Weg ein, der nur noch wenige Meter von Häusern und Gärten gesäumt wurde, bis sie von Natur umgeben waren.

„Da seid ihr ja endlich“, ertönte es aus einer dunklen Ecke. Heraus trat Iffi. Ihre kurzen, roten Haare leuchteten im Mondlicht wie Kupfer. Ihr weißes Gesicht wirkte grau, ihre Sommersprossen wie schwarze Flecken. Ihre grünen Augen funkelten vor Abenteuerlust. Auf dem Rücken trug sie einen kleinen Rucksack.

„Was heißt hier endlich?“, fragte Torben, ohne auch nur eine Sekunde stehenzubleiben. Zielstrebig ging er den asphaltierten Weg entlang, der in einen Trampelpfad überging. Iffi und Tanya folgten ihm. „Außerdem war es nicht nötig, einen Rucksack mitzubringen“, fügte er an, obwohl er schon einige Meter vor ihnen war. „Ich habe doch gesagt, dass wir so wenig Gepäck wie möglich mit uns schleppen sollen.“

„Klar! Aber meine Ausrüstung muss ich dabeihaben. Dagegen kannst du nichts machen“, entgegnete Iffi schroff.

Torben sagte kein Wort.

„Hattet ihr Probleme, von zuhause wegzukommen?“ Diese Frage richtete Iffi an Tanya.

„Nein. Außer Oma Evelyne ist niemand da. Mama muss arbeiten und das dauert immer bis spät in die Nacht. Und wie war es bei dir?“

„Papa sitzt wie immer in seinem Arbeitszimmer und bemerkt gar nichts, Mama hat wieder irgendwo einen großen Bühnenauftritt und wo mein Bruder steckt, weiß ich nicht“, winkte Iffi ab. „Besser hätte es für mich nicht sein können.“

Tanya wackelte nachdenklich mit dem Kopf und meinte zögerlich: „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, niemandem etwas zu sagen. Unsere Oma ist echt okay! Die hätten wir wenigstens einweihen können.“

„Bei Evelyne können wir auch sicher sein, dass sie uns nicht folgt“, spottete Iffi. „Aber, warum sollte jemand etwas davon wissen?“

„Weil es gefährlich werden könnte“, antwortete Tanya.

„Eben! Genau deshalb ist es besser, wenn wir den Mund halten. Sonst bekommen wir nur Ärger, weil die Erwachsenen uns nicht gehen lassen wollen. Du kennst uns doch: Wir lassen uns von nichts abbringen.“

Tanya nickte nur und konzentrierte sich wieder auf Torben. Der Abstand zu den beiden Mädchen war noch größer geworden.

„Hat dein Bruder dir inzwischen gesagt, was er entdeckt hat?“

Tanya schüttelte den Kopf. „Nein! Kein Wort! Er tut nur wichtig.“

„Das muss ja auch sehr wichtig sein, sonst würden wir uns nicht um diese Zeit treffen und heimlich in den Wald schleichen.“

Im Dickicht wurde es so dunkel, dass Tanya ständig ins Stolpern geriet. Trotz Vollmond. Torben reichte jedem eine Taschenlampe aus seinem Rucksack. Zuerst einmal leuchteten sie sich damit gegenseitig in ihre Gesichter. Iffi wirkte gespenstig weiß unter den feuerroten Haaren. Ihre Sommersprossen wurden lila in diesem Licht. Doch als der Blick ihrer Freundin auf Tanya fiel, stieß sie ein lautes Lachen aus. „Du siehst ganz grün aus.“

„Grün vor Angst“, spottete Torben.

„Du siehst auch nicht besser aus“, kam es sofort von Iffi, sodass Tanya laut loslachte.

„Wenn wir weiter so viel Krach machen, haben wir gleich das ganze Dorf hierher gelockt“, schimpfte Torben. Tanya wusste, dass er ehrgeizig war. Ausgelacht zu werden gehörte zu den Erfahrungen, die ihr Bruder nicht ertragen konnte. Darauf reagierte er sonst immer sehr streitsüchtig. Doch heute war seine Entdeckung für ihn das Allerwichtigste.

Endlich erreichten sie den Berggipfel. Vor ihren Augen thronte die Teufelsburg. Düster hoben sich die Burgmauern vom grau schimmernden Nachthimmel ab. Doch Torben verstand es mal wieder, die beiden Mädchen zu überraschen. Zielstrebig ging er an der Burg vorbei und kletterte den Hang auf der rechten Seite wieder hinunter. Iffi folgte ihm mit einer Leichtigkeit, als würde sie regelmäßig in finsterer Nacht über Steilhänge durch den Wald kraxeln. Tanya hatte dagegen alle Mühe, nicht abzustürzen.

„Mach doch, du lahme Ente“, trieb Torben seine Schwester an.

Tanya erwiderte nichts, weil sie zu sehr aufpassen musste.

Endlich blieb Torben stehen. Staunend schauten sich die Mädchen um und konnten nur Wald erkennen.

„Und jetzt?“ Iffi hielt es vor lauter Neugier nicht mehr aus.

„Schaut hier!“, rief Torben. In seiner Stimme war Aufregung zu hören. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe zeigte auf ein schwarzes Etwas am Hang.

Tanya spürte Enttäuschung.

Iffi ging mit ihrer eigenen Lampe darauf zu, bis sie beeindruckt ausstieß: „Alter Falter! Das ist ja ein unterirdischer Gang!“

„Was?“, kreischte Tanya.

„Du hast es doch gehört“, belehrte Torben. „Ein unterirdischer Gang.“

„Das kann doch nur ein Witz sein“, stöhnte Tanya. „Der führt höchstens ein paar Meter unter die Erde und dann ist alles vorbei. Oder glaubt ihr wirklich, dass es hier Höhlen gibt, die noch keiner entdeckt hat?“

„Genau das glaube ich! Ich habe mir das heute Mittag genauer angesehen und festgestellt, dass dieser Gang keineswegs schon nach wenigen Metern endet. Aber da waren so viele Kinder aus der Nachbarschaft – und dann noch die Wanderer – da wollte ich nicht, dass jemand sieht, was ich gefunden habe.“ Nervös wippte Torben von einem Bein auf das andere, während er sprach.

Iffi zog bereits ihren Rucksack aus und meinte: „Also ich klettere da jetzt rein.“

„Aber hinter mir!“, bestimmte Torben. „Immerhin habe ich diesen Gang entdeckt.“

„Und ich?“

„Du kannst ja draußen warten, wenn du Angst hast“, antwortete Torben mit einem hämischen Grinsen.

Tanya schaute sich um und spürte sofort, dass ihr der Gedanke, allein hier draußen zu warten, noch weniger gefiel. Dann doch lieber in einer Höhle – aber dafür zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Freundin. Also folgte sie den beiden, die bereits in dem Loch verschwunden waren.

Der Gang war niedrig und eng. Sie mussten auf dem Bauch kriechen, um vorwärts zu kommen. Tanya konnte nur Iffis Schuhsohlen sehen, die ständig herumzappelten. Ihr Vorwärtskommen wurde zu einem ständigen Ausweichen, damit sie keinen Tritt an den Kopf bekam.

„Was ist das?“, kreischte Iffi. Sie leuchtete auf etwas an der Decke, die sehr dicht über ihnen hing.

„Was denn?“, fragte Tanya erschrocken.

„Das Blaue da!“

„Keine Ahnung“, hörten die Mädchen Torben antworten, der schon ein gutes Stück weiter war. „Es ist aber nichts Gefährliches. Los weiter!“

„Ich fühle mich nicht wohl“, gab Tanya zu. Doch Iffi schien sie nicht zu hören oder tat nur so. Sie folgte Torben, wodurch auch Tanya nichts Anderes übrigblieb, als weiter durch den schmalen Gang zu robben.

Eine Weile waren nur schlurfende Geräusche zu hören. Der unterirdische Gang schien kein Ende zu nehmen. Tanya wünschte sich in ihr Bett, in ihr sicheres Zuhause. Doch was tat sie stattdessen? Sie folgte einer verrückten Idee ihres Bruders, weil es ihm viel bedeutete, dass sie sich für dieselben Dinge interessierte wie er.

„Boah! Ich glaub’s ja nicht?“, stieß Torben nach einer Weile aus.

„Was denn?“ „Was hast du entdeckt?“, fragten die Mädchen gleichzeitig.

„Kommt her! Schaut es euch selbst an!“ Torbens Stimme klang außer Atem. Tanya bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Doch bewegen konnte sie sich kaum, weil der Gang zu eng war. Sie fühlte sich wie gefangen, sah nur die zappelnden Schuhsohlen ihrer Freundin Iffi.

Endlich war es soweit. Auch Iffi verschwand vor ihren Augen und stieß ein langgezogenes „Ooooooooooh“ aus. Die letzten Meter legte Tanya so schnell zurück, dass sie sich wie eine Rekordwühlmaus fühlte. Laut hechelnd krabbelte sie durch das Loch, hinter dem Torben und Iffi verschwunden waren und kam selbst aus dem Staunen nicht mehr heraus.

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Sie befanden sich in einer Höhle. Darin konnten sie aufrecht stehen. Doch mussten sie aufpassen, sich nicht an den überhängenden Erdmassen die Köpfe zu stoßen. Mehrere Seitengänge gingen von der Höhle aus, die jedoch schon nach wenigen Metern endeten. Etwas huschte zwischen Tanyas Füßen hindurch. Iffi war diejenige, die eine Ratte mit dem Schein ihrer Taschenlampe erfassen konnte.

Tanya schrie wie am Spieß.

Blitzschnell landete eine Hand auf ihrem Mund.

„Bist du verrückt geworden?“, zischte Torben. „Bei dem Lärm kann die Höhle einstürzen.“

Mit weit aufgerissenen Augen nickte Tanya, ein Zeichen dafür, dass sie nicht mehr schreien würde. Torben nahm die Hand von ihrem Mund weg.

„Während ihr euch herumzankt, habe ich etwas wirklich Wichtiges gefunden.“ Mit diesen Worten kam Iffi hinter einem Felsvorsprung hervor und zeigte auf den Gang, aus dem sie gerade kam.

Torben und Tanya folgten mit ihren Blicken dem Lichtkegel der Taschenlampe und entdeckten ein viereckiges Gebilde, das unter dicken Staubschichten und übersät mit unterschiedlich großen Steinen kaum auszumachen war.

Tanya ging darauf zu und wischte mit einer Hand etwas von dem Dreck herunter. Sie konnte eine Holzmaserung erkennen.

„Eine Truhe?“ Sie glaubte nicht, was sie da sah.

„Eine Schatztruhe?“, erweiterte Torben die Entdeckung. „Wir haben einen Schatz gefunden!“ Sofort half er seiner Schwester, die Entdeckung von Dreck und Staub zu befreien.

„Wenn, dann habe ich den Schatz gefunden?“, stellte Iffi klar, die sich nun ebenfalls erbarmte und die Zwillinge bei ihrer Säuberungsaktion unterstützte. Was sie damit bewirkten, war eine Staubwolke. Alle mussten erst einmal kräftig husten.

„Erst wenn klar ist, dass wir hier nicht ersticken, können wir uns darüber streiten, wem der Schatz gehört“, keuchte Tanya.

„Da gibt es gar nichts zu streiten! Ohne mich hättest du noch nicht einmal diese Höhle gefunden. Also ist es mein Schatz“, ließ Torben sich nicht verunsichern.

„Das würde dir so gefallen.“

„Hallo?!“, rief Tanya dazwischen. „Wir sollten zuerst einmal nachschauen, was wirklich drin ist.“

Murrend gaben Torben und Iffi nach. Auch die Staubwolke verzog sich langsam und machte die Sicht in der kleinen Höhle wieder besser.

Gemeinsam untersuchten sie die Truhe von allen Seiten. Ein Riegel war an der Stelle befestigt, die zur Felswand zeigte. Und gesichert war er mit einem Vorhängeschloss, das vor sich hin rostete. Torben rüttelte daran, aber es gab nicht nach. „Mist! Ich hatte gehofft, der Rost hätte das Eisen durchgefressen.“

„Was machen wir jetzt?“ Iffi war ebenfalls große Enttäuschung anzusehen.

„Glaubt ihr wirklich, dass da ein Schatz drin ist?“, fragte Tanya ungläubig.

„Was denn sonst?“

„Woher soll der Schatz kommen?“

„Keine Ahnung! Wer früher eine Burg besaß, war reich“, erklärte Iffi. „Damals hatte man kein Bankkonto, so wie heute. Da musste man das Geld irgendwo zuhause sichern.“

Tanya rollte ihre Augen und stöhnte: „Niemals! Wenn das Geld so lange hier gelegen hätte, wäre es bestimmt schon von jemandem vor uns gefunden worden.“

„Geld kann das nicht sein“, mischte sich Torben ein. „Höchstens Gold oder besonders wertvolle Sachen – was die damals so hatten.“

„Solange steht diese Kiste noch nicht hier“, beharrte Tanya, „sonst wäre sie bestimmt schon ganz vermodert.“

„Vielleicht ist sie das ja.“ Torben hob einen spitzen Stein vom Boden auf und hämmerte damit gegen die Holzwand. Doch sie gab keinen Millimeter nach. „Verdammt stabil das alte Ding. Wenn sie wirklich so alt wäre, könnten wir die Seitenwände aufbrechen. Also wird es immer geheimnisvoller, was wohl in dieser Truhe drin ist.“

„Interessant wäre auch zu erfahren, wie das Ding hier hereingekommen ist“, gab Iffi schlau von sich. „Durch den Gang, den wir gekommen sind, bestimmt nicht, denn dafür ist sie viel zu hoch.“

Wie auf Kommando schauten sich alle drei um.

„Das würde doch bedeuten, dass diese Höhle noch weitergeht“, kombinierte Torben leise. „Voll krass!“

Mit ihren Taschenlampen suchten sie alles ab, doch leider fanden sie keine Möglichkeit, weiter in den Berg vorzudringen. Alles stellte sich als Sackgasse heraus. Enttäuscht gaben sie ihre Suche auf.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Torben.

„Wir sollten umkehren“, meinte Tanya. „Sonst merkt unsere Mama noch, dass wir weg sind.“

„Wie soll sie was merken? Wir haben unsere Betten doch wie immer so ausgepolstert, dass es aussieht, als würden wir drin liegen und schlafen.“

„Wir sind inzwischen viel zu lange weg. Wer weiß, ob es draußen nicht schon hell wird.“

Iffi lenkte den Strahl der Taschenlampe auf ihre Armbanduhr: „Zwei Uhr! Du kannst dich wieder beruhigen. Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir rechtzeitig zurück und keiner merkt was.“

„Und was machen wir mit der Truhe?“, fragte Torben.

„Stehenlassen! Oder was denkst du? Wir kriegen sie ja doch nicht hier raus.“ Tanya wurde ungeduldig.

„Ich habe eine Idee“, rief Iffi. „Beim nächsten Mal nehmen wir Orakel mit. Der kann uns bestimmt weiterhelfen.“

„Was ist Orakel?“, fragten die Zwillinge wie aus einem Mund.

Iffi biss sich mit den Zähnen auf die Unterlippe und antwortete: „Normalerweise ist ein Orakel ein Ort, an dem man eine Prophezeiung oder so was bekommt. Ihr kennt doch den Spruch ‚Das Orakel befragen‘.“

„Eine Prophezeiung?“, wiederholte Torben. „Du meinst wohl in die Zukunft schauen – oder Hellsehen.“

„So ähnlich.“ Iffi nickte.

„Wow!“, funkte Tanya dazwischen. „Ich dachte, so was gibt es nicht.“

„Gibt es auch nicht“, rief Iffi hastig. „Ich meinte damit ja auch einfach nur meinen Bruder!“

„Wie kann jemand ‚Orakel‘ heißen?“, staunte Torben.

„So nennt er sich selbst. In Wirklichkeit heißt mein Bruder Orest.“

„Ist das ein Name?“ Tanya versuchte ein Stirnrunzeln.

„Ja! Unsere Mutter hatte den Tick, ihren Kindern die Namen zu geben, die sie mal bei ihren Auftritten auf der Bühne gehört hat.“ Iffi zerzauste ihre kurzen, roten Haare. „Die sind so bescheuert, dass wir uns lieber Spitznamen geben. Oder glaubt ihr, ich wollte bei meinem richtigen Namen Iphigenie gerufen werden?“

Die Zwillinge schüttelten ihre Köpfe.

„Eben!“ Iffi fühlte sich bestätigt. „Orakel geht es genauso.“

„Ich kann deinen Bruder gut verstehen.“ Tanya lachte.

„Okay! Dann werden wir das Orakel befragen“, meinte Torben grinsend und steuerte den schmalen Durchgang an, durch den sie gekommen waren. „Vielleicht findet er heraus, wie die Truhe in diese Höhle hineingekommen ist.“

2

Sonnenschein fiel auf Torbens Gesicht, als er aufwachte. Tanya saß auf dem Bett über ihm, ließ die Füße herunterbaumeln und schaute ihn an.

„Was ist?“, fragte der Zwillingsbruder, rieb sich über die Augen und verzog sein sonnengebräuntes Gesicht zu einer Grimasse.

„Wie kannst du so tief und fest schlafen, nachdem, was wir heute Nacht alles erlebt haben?“

„Ich war müde“, rechtfertigte sich Torben, sprang in seinem gestreiften Pyjama aus dem Bett und sah jetzt erst, dass seine Schwester bereits ihr geblümtes Sommerkleid angezogen hatte. Ihre Haare waren ordentlich zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden.

„Wie lange sitzt du schon so da?“

„Eine Weile.“

„Und warum bist du nicht zu Oma Evelyne gegangen? Sie ist bestimmt schon auf – sie ist eigentlich immer früh auf.“

„Ich will unsere Oma nicht anlügen.“

„Warum solltest du sie anlügen?“

„Weil sie mich bestimmt fragen würde, warum ich so früh in den Sommerferien auf den Beinen bin“, antwortete Tanya. „Du weißt, wie sie tickt. Sie würde mir sofort anmerken, dass etwas los ist.“

Schnell zog sich Torben seine blauen Shorts und ein weißes T-Shirt über. Dann verließen sie das Zimmer. Von unten hörten sie Geschirr klappern und das Klirren von Besteck – ein gutes Zeichen, dass ihr Frühstück fertig war.

Eine Etage tiefer erwartete sie Oma Evelyne. Es war für Tanya und Torben ebenso wie für ihre Mutter ein schwerer Schock gewesen zu erfahren, dass Evelyne ihr Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen war. Doch sie verstand es, ihnen den Umgang mit ihrer Situation leicht zu machen. Auf bewundernswerte Weise hatte sie sich damit abgefunden und machte das Beste daraus. Sie hatte ihre langen, blonden Haare kurz schneiden lassen, womit sie jünger und unbeschwerter aussah. Auch kleidete sie sich immer jugendlich mit Hemdblusen und Jeanshosen. Zudem kümmerte sie sich liebevoll um ihre Enkel, während die Mutter ihren verschiedenen Jobs nachging, damit das Geld für die Familie reichte.

Der Tee duftete nach Apfel – ein Geheimrezept, wie Evelyne immer behauptete, weil sie nicht verraten wollte, was sie hineintat. Tanya und Torben tranken ihn mit Genuss.

Heute war das Frühstück reichlicher als sonst. Müsli, Milch, Obst, Wurst, Käse, Nutella, Marmelade, Eier – und sogar Schokobonbons. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Sommerferien waren. Begeistert schwangen sich die Zwillinge auf die hölzerne Eckbank und schaufelten alles in sich hinein.

„Ihr beide seht aber müde aus“, bemerkte Evelyne, während sie den Zwillingen zusah, „so als hättet ihr heute Nacht kein Auge zugemacht.“

Vor Schreck verschluckte sich Tanya. Böse stieß Torben unter dem Tisch mit dem Fuß gegen ihr Schienbein.

„Au!“

„Stell dich nicht so mädchenhaft an.“

„Ich bin ein Mädchen!“