BENNO HEUSSEN

MACHIAVELLI FÜR STREITHAMMEL

Lernen Sie die Regeln der Macht kennen

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Viveka Böök gewidmet

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1 Der Krieg ist der Vater aller Dinge

2 Machiavelli in seiner Zeit

3 Die Machttiere: Wie Biologie, Psychologie und Systeme den Streit bestimmen

4 Die erste Phase: Feuer auf dem Dach

5 Die zweite Phase: Panik und Gerede

6 Die dritte Phase: Die Brücken werden verbrannt

7 Die vierte Phase: Krieg

8 Die fünfte Phase: Verhandlung

9 Die sechste Phase: Sieg, Niederlage und Kompromisse

10 Der Schatten des Rechts

11 Streithammel und andere Typen

12 Machiavelli: Ein kritischer Rationalist

Literaturnachweise

Bildnachweise

Dank

Anmerkungen

Der Autor

Der Zeichner


Französische Gäste

„ … Und wenn wir mit diesem angenehmen Gegner wieder mal auf dem Feld der Ehre zusammentreffen sollten, dann hoffen wir, dass der Krieg zur beiderseitigen Zufriedenheit ausfällt.“

I.

DER KRIEG IST DER VATER ALLER DINGE

Mücken und Elefanten / ​Streit gibt es überall / ​Mit der Natur kann man nicht streiten / ​Aggression und Kooperation / ​Definitionen / ​Macht braucht Ohnmacht / ​Verletzte Gefühle sind der Zündstoff des Streites / ​Die Wirkungen der Macht / ​Streit ist immer persönlich / ​Der Preis der Macht / ​Macht ist arrogant / ​Die ungeheure Macht des Negativen / ​Die Grenzen der Macht / ​Achtung vor der Verachtung / ​Gruppendynamik / ​Das Ende des Streits / ​Vater und Mutter aller Dinge / ​Die sechs Regeln der Macht / ​Das Drehbuch der Konflikte

Mücken und Elefanten

Vor dem letzten Flug von München nach Berlin – Freitagabend, 21.30 Uhr. Jeder will nach Hause. Die Lufthansa-Lounge ist brechend voll. Nach stundenlangen Konferenzen bin ich froh, mit niemandem mehr sprechen zu müssen. Dafür muss ich jetzt zuhören. „Also: Verspätung haben wir noch keine, aber es regnet in Strömen … “ – „Auf keinen Fall mehr als 2,5 Millionen, das sag’ ich schon seit zwei Monaten … “ – „Das kann doch nicht wahr sein!“ Ich stehe auf, und versuche, irgendwo eine ruhige Ecke zu finden. Aber die gibt es nicht: Es ist die Hölle.

Eigentlich müsste man jetzt Streit anfangen! Aber kann man das bei so geringfügigem Anlass? Warum nehmen andere dieses Verhalten hin? Und warum fühlt man sich überhaupt nicht gestört, wenn sich zwei im Restaurant am Nebentisch miteinander unterhalten?

Ausgehend von diesen ganz trivialen Fragen will ich mit Niccolò Machiavelli herausfinden, wie Streit entsteht und welche Kräfte ihn bestimmen. Er hat vor etwa 500 Jahren seine Ideen auf dem Feld der Politik und des Krieges entwickelt. Wir werden sehen, dass sie auch heute nicht nur dort, sondern auch in alltäglichen Konflikten, Prozessen und anderen Streitigkeiten gültig sind.

Dabei wird sich zeigen, wie Streit sich zwischen Einzelnen und in Gruppen entwickelt, welche kulturellen Unterschiede zwischen westlichen und asiatischen Kulturen bestehen und wie Verstand und Gefühl auf den Ablauf von Konflikten einwirken.

Streit gibt es überall

Welche Bedeutung Konflikte in unseren modernen Gesellschaften haben, zeigt uns am besten die Statistik. Beginnen wir mit dem alltäglichen Streit. Rund 2 Millionen Prozesse werden in Deutschland jährlich geführt, darunter circa 300.000 Mietstreitigkeiten, 150.000 Verkehrsunfallprozesse und etwa die gleiche Anzahl streitiger Käufe/​Verkäufe. Etwa eine halbe Million Scheidungen gibt es pro Jahr und 630.000 Arbeitsgerichtsverfahren.1

Weit geringer ist die Zahl der Prozesse zwischen Unternehmen. Sie werden in der Statistik nicht besonders ausgewiesen, aber man kann sie ungefähr auf 100.000 Verfahren pro Jahr schätzen. Das bedeutet aber nicht, dass Unternehmen weniger streiten als Privatleute. Als Anwalt kann man das gut abschätzen, wenn man sieht, dass über 80 Prozent der eigenen Arbeit aus der Beratung in Konfliktsituationen besteht, die aber nur sehr selten zu Prozessen führen.

Auch mit dem Staat wird gestritten über Baugenehmigungen, Asylanträge, Gaststättenerlaubnisse oder über die Verweigerung des Sozialamtes, mehr als 200 Euro zur Klassenfahrt der Tochter des Arbeitslosen beizutragen (man reiste nach Rom).

Natürlich sucht der Staat auch Streit mit uns: Etwa 4,8 Millionen Ermittlungsverfahren setzt die Staatsanwaltschaft durchschnittlich pro Jahr in Gang, aber zur Anklage reicht es nur in 736.000 Fällen. Sogar die staatlichen Institutionen streiten heftig miteinander, wie z. B. das Land Berlin, das den Bund im Jahr 2006 erfolglos auf Zuschüsse verklagte, oder Gemeinden gegen ihr Land, deren Gebiet durch eine Reform verfassungswidrig verändert wird.

Man kann über alles streiten. Als ein Restaurantgast sich vor einiger Zeit über eine Schnecke im Salat beschwerte und nicht zahlen wollte, wurde er verklagt2 und ein kluger Rechtsprofessor3 kritisierte dieses Urteil heftig, da es wichtige Grundregeln des Rechts missachtet habe. Er wurde nun von einem noch klügeren Richter4 wegen schwacher Rechtskenntnisse angegriffen und einige Zeit später schlug ein besonders kluger Anwalt5 allen Beteiligten vor, eine „Neue Zeitschrift für Essen und Recht“ zu gründen, da man nur so der differenzierten Problematik der Schnecke im Salat auf Dauer gerecht werden könne.

Der Fall ist deshalb so interessant, weil Essen ja irgendetwas mit Geschmack zu tun hat und über Geschmack kann man bekanntlich nicht streiten. Warum nicht? Der Geschmack ist eine individuelle Einschätzung, die die Machtzentren der anderen nicht berührt. Wenn Sie erst einmal, sagen wir, geröstete Heuschrecken mit Salz und Chili gegessen haben (ohne dass Sie dabei wussten, worum es sich bei dem Appetithäppchen handelte), werden Sie dieses Horsd’œuvre bestimmt interessant finden.

Erst wenn der eine dem anderen seinen schlechten Geschmack vorwirft, wird aus der inneren Tatsache eine äußere und dann geht es nicht um den Geschmack, sondern um die Art und den Inhalt der Äußerung – und damit beginnt der Streit!

Mit der Natur kann man nicht streiten

Konflikte gibt es nur zwischen Menschen. Mit der Natur kann man sich nicht streiten. Der Perser-König Xerxes hat einmal das Meer am Bosporus mit Ketten peitschen lassen, weil es seiner Meinung nach zu stürmisch war. Voltaire fand das Erdbeben von Lissabon unvernünftig. Das sind aufgeregte Reaktionen, die nicht anerkennen wollen, dass wir zwar Teil der Natur sind, aber mit ihr nicht auf einer Stufe stehen. Ganz klar sieht man das an den Krankheiten: Sie treffen uns dort, wo wir zur Natur gehören, und deshalb können wir mit dem Krebs ebenso wenig kämpfen wie Aids besiegen – all das sind nur Metaphern, die uns ein Leiden verständlich machen sollen, für das ein Gegner fehlt.

Aggression und Kooperation

Allerdings teilen wir mit den Tieren die genetisch festgelegte Fähigkeit zur Aggression. Wir brauchen sie, um uns im Kampf ums Überleben durchzusetzen. Sie dient zunächst dem Selbstschutz. Neuere Forschungen6 zeigen allerdings, dass die Fähigkeit zur Kooperation „früher“ da ist als jene zur Aggression. Das entspricht der allgemeinen biologischen und ökonomischen Erkenntnis, dass wir die Risiken des Kampfes erst eingehen, wenn uns Bündnisse nicht weiter bringen. („Und willst Du nicht mein Bruder sein – dann schlag ich Dir den Schädel ein!“)

In einem wichtigen Punkt allerdings unterscheiden wir uns von den Tieren: Menschen können Selbstmord begehen und Selbstgespräche führen! Ihre Aggression kann so grenzenlos werden, dass sie sich gegen die eigene Existenz richtet, und bei all dem kann ein Mensch seinen eigenen Handlungen zusehen und darüber reflektieren.

Diese Fähigkeiten, die sich unter bestimmten Bedingungen entwickeln können, überschreiten die Grenzen des natürlich biologischen Verhaltens, sie verlassen das Reich der Zweckrationalität. Sie sind es, die die Grundfragen nach Herkunft und Wirkung von Macht und Streit auslösen.

Definitionen

Macht ist „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichgültig, worauf diese Chance beruht.“7 Niklas Luhmann hält nicht viel von dieser berühmten Definition Max Webers, denn das sei nichts anderes als „sozusagen Kausalität unter ungünstigen Umständen“8. Er verankert den Machtbegriff in seinem gesellschaftstheoretischen Zusammenhang und bezeichnet Macht als „symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation“.9 Dieser weitere Schritt leuchtet ein, denn Macht setzt sich nicht nur über offene Gewalt durch. Ihre Wirkung besteht viel häufiger im indirekten Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Menschen, das von ihrem Kommunikationsverhalten bestimmt wird.

Verletzte Gefühle sind der Zündstoff des Streites

Auch wenn die Verweigerung der Anpassung die Grundlage für den Streit darstellt, kommt es doch nicht immer zum offenen Konflikt. Häufig versucht man, mit Kompromissen und verbalen Zugeständnissen die fehlende Anpassung zu verdecken. Das gelingt aber nur so lange, als alle Beteiligten darauf achten, die Gefühle der anderen nicht zu verletzen.

Als Anwalt bemerkt man schnell, dass Leute sogar dann noch Streit suchen, wenn sie das Geld bekommen, was sie fordern. Hinter vielen Forderungen versteckt sich noch der Wunsch nach Demütigung, Entschuldigung oder anderen Formen von Wiedergutmachung, ohne die der Streit offenbar nicht beendet werden kann. Leo Kirch beispielsweise hat gegen die Deutsche Bank wegen der Äußerung ihres damaligen Vorstandsprechers Rolf Breuer, er sei nicht kreditwürdig, jeden Prozess gewonnen. Das hat ihn aber nicht gehindert, Kirchs Nachfolger Ackermann im Oktober 2006 vor den Staatsanwalt zu zerren, weil der ein anderes Vorstandsmitglied begünstigt haben soll.

Kirch ist trotz der Insolvenz seiner Firmen ein sehr reicher Privatmann und 80 Jahre alt. Selbst wenn er die Milliarde bekommen und seine Strafanzeige Erfolg haben sollte, wird er daran nicht mehr viel Freude haben. Es ist ihm trotzdem wichtiger, sich an den flackernden Lagerfeuern seiner verschiedenen Prozesse zu wärmen.

Es genügt also nicht, wenn der Unterlegene sich dem Mächtigen anpasst; er kann den Streit nur vermeiden, wenn er auch dessen Gefühle besänftigt. Umgekehrt: Wenn der Unterlegene sich mit seiner Stellung nicht abfindet, gibt es Revolution. Streit entsteht also erst, wenn Machtlagen und Gefühle differieren.

Daraus ergibt sich die zweite Regel der Macht:

Streit wird durch verletzte Gefühle ausgelöst und aufrechterhalten.

Erst wenn diese Verletzung – auf welche Weise auch immer – beseitigt ist, kann er enden.

Die Wirkungen der Macht

Machiavelli hätte trotz seiner umfassenden Bildung kein wissenschaftliches Interesse für die Funktionen der Macht aufgebracht. Ihn interessierten die Auswirkungen in der Praxis, die in einer Vielzahl von Empfehlungen münden.

Jede Titelüberschrift in „Der Fürst“ oder in den „Discorsi“ deutet eine dieser Empfehlungen an, von denen sich nicht wenige widersprechen: Da soll das Volk „weiser und beständiger als ein Alleinherrscher“12 sein, andererseits sei „eine führerlose Menge (…) zu nichts nütze“.13 Diese Widersprüche erklären sich aus den unterschiedlichen Perspektiven, die Machiavelli in seinen Darlegungen jeweils einnimmt.

Sie finden sich ebenfalls in den von Robert Greene in jüngerer Zeit zusammengestellten Regeln der Macht.14 Sein Gesetz Nummer 17 lautet etwa: „Versetze andere in ständige Angst“, das Gesetz Nummer 24 aber: „Spiele den perfekten Höfling“. Wie man Leute durch Höflichkeit in dauernde Angst versetzen kann, würde ich gern wissen. Auf der Ebene praktischer Ratschläge gibt es keine innere Logik für die Regeln der Macht. Widerspruchsfreie Empfehlungen kann man nur erarbeiten, wenn man sich mit den Wirkungen der Macht unabhängig von der konkreten Situation befasst, in der sie sich auswirkt.

Machtansprüche werden in unzähligen Bereichen geltend gemacht. Die wichtigsten sind:

Raum: „Mach mir Platz!“

Zeit: „Meine Zeit ist kostbarer als deine.“ Handlung: „Du tust, was ich dir sage!“

Information: „Was du wissen sollst, entscheide ich.“

Kommunikation: „Lerne meine Sprache!“

Eigentum: „Was dein ist, bestimme ich!“

Besonders bei der Kommunikation wird deutlich, wie das Prinzip der Anpassung wirkt. Für alle englisch sprechenden Nationen ist es nicht nur eine Bequemlichkeit, sondern auch ein Machtfaktor, dass alle anderen ihre Sprache lernen müssen. Vor allem die Namen sind auf geradezu mythische Art und Weise mit der Macht verbunden, und deshalb ist der Streit um sie stets besonders hart. Man versteht es jetzt besser, warum die Waliser und Iren ihre Sprache auf Ortsschildern wiederfinden wollen, warum Städte wie Bombay ihre Kolonialnamen in Mumbai wechseln oder Cassius Clay lieber „Muhammad Ali“ heißen wollte.

Jeder will, dass seine Position, seine Meinung, seine Sicht der Dinge von anderen anerkannt wird, und kämpft darum durch Angriff oder Verteidigung. So ergibt sich die dritte Regel der Macht:

Die Sucht nach Anerkennung ist die stärkste Triebfeder der Macht.

Sie ist der tiefste Grund für die Unersättlichkeit jedes Machtanspruchs, der immer dazu neigt, die Willkürgrenze zu überschreiten. Denn wer alles schon erreicht hat, neigt dazu, das Schicksal zu testen, übersieht das Glück, das er bisher gehabt hat, und wird in allen seinen Einschätzungen von seiner Umgebung dadurch fehlgeleitet, dass man ihm nach dem Mund redet. Nur wenige hochbegabte Leute sind fähig, sich selbst Grenzen zu setzen.

Streit ist immer persönlich

Jeder Streit verläuft völlig unterschiedlich, je nach dem, welche Personen an ihm beteiligt sind. So bildet jeder von uns ein Machtzentrum, und wenn mehrere sich aufeinander zu bewegen wie Taifune, dann können Blitz und Donner nicht ausbleiben. Das zeigt schon der tägliche Streit um unser „Revier“15 (das sind mindestens die 1,5 m2 Platz, die wir unmittelbar um uns herum brauchen) in den öffentlichen Verkehrsmitteln, in den Aufzügen und überall da, wo im Hochgebirge der Städte Leute mit ihren Rucksäcken unterwegs sind: Sobald uns diese ins Gesicht fegen, entstehen Revierkämpfe, die irgendwie ausgefochten werden müssen.

Jossif Wissarionowitsch Stalin, der viel von der Macht verstand, hat es auf die einfache Formel gebracht: „Ein Mensch – ein Problem; kein Mensch – kein Problem.“ Vor Systemen hatte er keine Angst, falls er überhaupt welche hatte.

Der Preis der Macht

Es gibt nur einen indirekten Zusammenhang zwischen persönlicher Leistung und dem Entstehen von Macht. Wer aus einer reichen oder mit vielen Beziehungen ausgestatteten Familie stammt, hat sogar dann Macht, wenn er Zeit seines Lebens nichts verdient oder diese Beziehungen mit Füßen tritt.

Auch bei Politikern und Managern kann es lange Phasen geben, in denen sie Macht genießen, ohne viel dafür zu tun – das ist vielleicht der Lohn für jahrelange Ohnmacht, für beharrliches Aushalten, für die Fähigkeit, zum richtigen Zeitpunkt nachzugeben, dem dann eine Machtphase folgt.

Aber meistens muss man dafür bezahlen, wenn man Macht besitzt: Berühmte Wissenschaftler oder Medienstars bezahlen mit dem Verlust ihres Privatlebens, andere, wie Gandhi, bezahlen sogar mit ihrem Leben. Und einen Preis bezahlen alle, die Macht erringen: Das ist die Einsamkeit! Nicht nur der Mann oder die Frau an der Spitze sind einsam. Jeder, der bestimmte Kompetenzen hat, die er gegen den Willen anderer durchsetzten muss, hat nur noch sehr begrenzte Möglichkeiten, sich mit anderen auszutauschen, weil in jeder seiner Fragen auch seine Schwäche aufblitzt, die zu der Frage Anlass gegeben hat.

Macht ist arrogant

Macht wird nach außen in den meisten Fällen durch Arroganz sichtbar, also durch die Gewissheit, sich anderen nicht anpassen zu müssen und das eigene Verhalten unter keinen Umständen in Frage zu stellen. Sie ist deshalb nichts weiter als der innere Ausdruck der tatsächlichen Einflusspotentiale. Sie verstärkt sich sogar, wenn Subalterne genau wissen, dass es ihnen außerhalb der konkreten Situation völlig an Einfluss fehlt (dieses Phänomen könnte man das „Hausmeister-Syndrom“ nennen).

Wer auf eine arrogante innere Einstellung verzichtet, gefährdet damit erfahrungsgemäß seine äußere Wirkung. Man mag hier einwenden, Leute, die ihre Macht indirekt ausübten, gefährdeten diesen Einfluss, wenn sie arrogant auftreten. Tatsächlich aber besteht die Arroganz der grauen Eminenzen gerade in dieser Zurückhaltung, die andeutet, wie wenig sie auf die üblichen Kommunikationswege angewiesen sind, um ihre Drähte zu ziehen.

Wer die Arroganz angreift, den verfolgt sie „aus Neid oder aus einem anderen Grunde mit ihrem Hass.“16 Dieser Hass ist mit keinem Mittel der Welt – weder mit Bescheidenheit noch Zugeständnissen – zu versöhnen, wie Machiavelli an dieser Stelle anmerkt.

Die ungeheure Macht des Negativen

Alice Schwarzer meint in einem Interview: „Macht an sich ist doch vollkommen uninteressant!“17 Es komme nur darauf an, wozu man die an sich ganz neutrale Macht nutze. Mit dieser Behauptung verknüpft sie drei Dinge, die Machiavelli sehr streng auseinander gehalten hat, nämlich die Macht, das Gesetz und die Moral.

Wie viele Leute mit guten Absichten stellt auch Alice Schwarzer die moralisch korrekten Inhalte in den Vordergrund, die ein guter Mensch anstreben soll, und sieht deshalb gar keinen Anlass, die Unterschiede in den Machtlagen näher zu diskutieren, die diesen guten Zielen im Wege stehen mögen. Nach Machiavellis Beobachtungen hingegen ordnen sich die Inhalte stets den Machtlagen unter: „Die Menschen sind immer schlecht, wenn die Notwendigkeit sie nicht gut macht.“18

Machiavelli erkennt, dass Macht nicht gut oder schlecht ist, sondern als Kraft wirkt, der sich nichts und niemand entziehen kann. Dadurch hat sie die Fähigkeit, gute Absichten in ihr völliges Gegenteil zu verkehren. So kann sich das Böse vor allem dann in der Wirklichkeit durchsetzen, wenn seine Existenz geleugnet wird, wie es alle Ideologien tun, die uns den Himmel auf Erden versprechen. Deshalb ist es besser, mit der „ungeheuren Macht des Negativen“19 in dem Bewusstsein zu leben, dass man mit ihm leben muss und günstige Bedingungen braucht, um es in seinen Schranken zu halten.

Da die Macht die Tendenz hat, sich gegen alles durchzusetzen, entwickelt sie immer eine Tendenz zur Willkür: „Je mehr Macht die Menschen haben, umso mehr missbrauchen sie diese und werden übermütig.“20 Lord Dalberg-Acton hat Machiavellis Satz einige hundert Jahre später nochmals zugespitzt: „Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut.“ Daraus ergibt sich die vierte Regel der Macht:

Die Macht dient nur sich selbst und keinem anderen Zweck.

Es ist weitgehend unerforscht, unter welchen Bedingungen sich der Charakter des Bösen entwickelt. Drei Bedingungen scheinen aber immer dazu zu gehören: Randständigkeit im Verhältnis zu anderen Menschen, eine unüberwindliche Abneigung gegen Anpassung und extreme Gefühlskälte.21

Ich habe mich oft gefragt, wie man solche Menschen erkennen kann. Meine Antwort lautet: Wer die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, zum Humor, ja auch zur Ironie zeigt, ist kein wirklich schlechter Mensch. Machiavelli hatte diese Eigenschaften.

Die Grenzen der Macht

Die ungeheure Eigendynamik der Macht wird innerhalb der sich selbst regulierenden Systeme, in denen wir leben, überwiegend dadurch begrenzt, dass jeder seine Machtan- 25 sprüche geltend macht und dadurch die der anderen relativiert. Solange Machtmonopole verhindert werden, funktioniert dieser Mechanismus, den Adam Smith für den Bereich der Volkswirtschaft beschrieben hat. Komplexe Systeme dieser Art können sich aber nur selbst regulieren, wenn sie Verankerungen in wirksamen Rechtssystemen haben.

Eine zweite Grenze zieht jeder Einzelne, der sich – aus welchen Gründen auch immer – einem Machtanspruch endgültig verweigert. Hier finden wir Attentäter wie Timothy Mc Veigh, den Attentäter von Oklahoma, ganze Bevölkerungsgruppen wie die Amish oder auch stille Flüchter wie Henry David Thoreaux, der es versuchte, am Rande der Stadtlandschaft als Einsiedler zu leben. Daraus ergibt sich die fünfte Regel der Macht:

Die Macht findet ihre Grenze nur in Rechtssystemen und individuellen Entscheidungen.

Das Aufrechterhalten errungener Macht gegen solche Grenzen erfordert eine umfassende, dauerhafte Anstrengung, die mit den Widerständen zunimmt. Wenn Macht versucht, sich unter allen Umständen gegen alle offenen und versteckten Widerstände durchzusetzen, wird sie scheitern: „Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art sie sei, macht am Ende bankerott.“22

Achtung vor der Verachtung

Die Macht des Negativen sorgt dafür, dass auch Menschen mit guten Absichten verachtet und gehasst werden: „Verächtlich wird der, welcher für wankelmütig, leichtsinnig, weibisch, feig und unentschlossen gilt.“23 Diese Definition betrifft keineswegs nur Schwache, sondern auch solche, die es allen recht machen wollen. Sie haben nicht erkannt, dass es „weit sicherer [ist], gefürchtet als geliebt zu werden, “ denn Zuneigung kann von heute auf morgen in Verachtung oder Hass umschlagen. Deshalb muss „der Fürst sich derart gefürchtet machen, dass er, wenn er auch keine Liebe erwirbt, doch auch nicht verhasst wird; denn gefürchtet und nicht gehasst zu werden, ist wohl vereinbar.“24

Das tragische Leben Ludwigs XVI., dessen Bild häufig verzeichnet wird, zeigt, was geschieht, wenn diese wichtige Regel ignoriert wird: Intelligent, belesen und gutherzig25 ist er gleichzeitig entscheidungsschwach, kann seine Leute nicht mitreißen und will dem wankelmütigen Volk gefallen, statt Würde zu zeigen und es zu führen. Deshalb hat ihn das Volk verachtet und das hat ihn den Kopf gekostet. Auch Willy Brandt hätte besser daran getan, gegen Wehners verächtliche Bemerkung („Der Herr badet gern lau!“) aktiv vorzugehen, als sie einfach zu ignorieren.

Sogar im Privatleben muss man Führung und Verantwortung in die Hand nehmen und vor allem das Private vom Geschäftlichen trennen: Wer hat nicht schon einem guten Freund Geld geliehen und damit die Freundschaft verloren?

Man muss frühzeitig erkennen, wen man vor sich hat, und wissen, dass „Böswilligkeit weder durch die Zeit ausgeglichen, noch durch Geschenke versöhnt wird.“26 Es kann sogar noch viel schlimmer kommen: „Einem Menschen mehr Schaden zugefügt zu haben, als man wieder gutmachen kann (…) veranlasst den Täter, den Geschädigten zu hassen.“27

Gruppendynamik

Elias Canetti hat in seiner Untersuchung „Masse und Macht“ als einer der Ersten die Frage thematisiert, wie Konflikte sich verändern, wenn nicht ein Einzelner, sondern eine ganze Gruppe in ihn verwickelt ist. Wenn wir genauer hinsehen, stellen wir fest, dass dies eher der Normalfall ist. Jeder von uns ist Teil eines vielschichtigen Netzwerkes, in dem er selbst von anderen Entscheidungen abhängig ist oder andere wiederum von ihm abhängig sind. In Asien werden diese Netzwerke in fünf Gruppen eingeteilt und zwar:

– Die Familie (im Sinne der Großfamilie).

– Die Nachbarn (in Japan bilden sie eine Fünf-Häuser-Gruppe).

– Die Arbeitsbeziehungen (das umfasst auch die freiwillige Tätigkeit in Vereinen oder illegale Tätigkeiten der Mafia oder von Terrorgruppen).

– Die Gemeinde, in der man lebt.

– Die Nation, zu der man gehört.

Diese Einteilung ist auch im Westen sinnvoll, denn sie zeigt uns, dass wir fast nichts allein entscheiden können, ohne dabei die Interessen anderer berücksichtigen zu müssen, die auf unserer Seite stehen.

Darüber hinaus entwickeln sich Konflikte ganz anders, wenn Gruppen angreifen oder angegriffen werden. Gruppen können viel aggressiver werden, als ein Einzelner das sein könnte, denn sie neigen zu kollektiver Blindheit und steigern dadurch ihre Gefährlichkeit. Aber auch eine hilflose Touristentruppe kann durch ihr Ungeschick, sich zu organisieren, anderen so viel Platz wegnehmen, dass es Ärger gibt. Mit Intelligenz hat das nichts zu tun: Gerade auf Wissenschaftskongressen sieht man, dass hunderte von Professoren sofort ihren Verstand an der Garderobe abgeben, sobald sie ihre Namensschilder erhalten haben, die sie als Mitglieder der Gruppe ausweisen. Um mit einer Gruppe einen Bus pünktlich zu besteigen, sollte man kein Nobelpreisträger sein, weil man sonst vielleicht Probleme sieht, die es nicht gibt.

Gruppen brauchen Uniformen, um sich gegenseitig erkennen und von den anderen abgrenzen zu können. Ein Soldat kann nicht aussehen wie ein Künstler, ein Rapper braucht Jeans und Shirt in XXL, ein Kardinal ein rotes Käppchen etc. Niemand, dem man Geld anvertraut, kann uns mit Hilfe kunstvoller Piercings davon überzeugen, dass es bei ihm gut aufgehoben ist; und den Punk, der sich bei der Kleiderspende einen Nadelstreifenanzug abholt, möchte ich noch kennen lernen. Diese kollektive Beschränkung dient dazu, die Grenze zur individuellen Verantwortlichkeit zu verwischen. So kann in engen Familienstrukturen sogar Blutrache zur sozialen Pflicht werden: „Niemand hat dich als Kriminellen angesehen, wenn Du einen britischen Soldaten erschossen hast“, sagt der ehemalige IRA-Aktivist Antony McIntyre. Erst Jahre später, als er aus dem Gefängnis entlassen ist und seine Auffassungen sich gewandelt haben, fragt er sich entsetzt: „Was haben wir bloß getan?“28

Das Ende des Streits

Da hinter jedem Streit ein verdeckter Machtkampf steht, kann er nur zum Ende kommen, wenn für den Machtkampf eine Lösung gefunden worden ist. Daraus ergibt sich die sechste Regel der Macht:

Nur die Lösung des Machtkampfes beendet den Streit.

Sie ist der Prüfstein, an dem man erkennen kann, ob Kompromisse auf Dauer tragfähig sein werden. Wenn sie nur die Funktion haben, die wirklichen Machtverhältnisse zu verdecken oder sie gar zu verfälschen, werden sie nicht lange halten. Da Machtdifferenzen nicht objektivierbar sind, sondern sehr stark von den Gefühlen abhängen, ist es umso wichtiger, in jedem Vergleich auch die Anerkennung der gegnerischen Position zum Ausdruck zu bringen. Das müssen nicht einmal inhaltliche Zugeständnisse sein – der Ausdruck für den Respekt vor den Konflikten, die die andere Seite durchleben musste, kann genügen.

Es gibt allerdings Konflikte, die man nicht lösen kann, weil man die Machtdifferenz akzeptieren muss. Das geschieht zum Beispiel bei den Sicherheitskontrollen am Flughafen: Man hebt die Hände wie in schlechten Krimis, muss den Gürtel abgeben wie im Knast, wird an privaten Stellen angefasst, die sonst für niemanden zugänglich sind – und all das in dem sicheren Bewusstsein, dass man selbst das Flugzeug ja nicht in die Luft sprengen will!

Die Wut, die hier hochschießt und die das Sicherheitspersonal aushalten muss, ist mit keinem Verstand zu bewältigen. Sie entsteht aus der demütigenden Zeremonie der Unterwerfung, die man übrigens in milderer Form auch bei ärztlichen Eingriffen erlebt oder durchleiden muss, wenn man sein Schicksal in die Hände der Anwälte legt. Diese Gefühle sind deshalb so intensiv, weil man genau weiß, dass man diese Machtdifferenz nie wird beseitigen können, gleichzeitig aber auch nicht fliehen kann – denn wer soll einen sonst retten?

Vater und Mutter aller Dinge

Da die Probleme von Macht, Streit und Konflikten das gesamte menschliche Leben im Kleinen wie im Großen durchziehen, sind sie so alt wie die Menschheit. Vom Gilgamesch-Epos über die Bibel bis zur Nibelungen-Sage, in alten wie neuen Geschichtsbüchern, in Kinofilmen und Fernsehsendungen wimmelt es nur so von Mord und Totschlag. „Alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit“, sagt uns ein dunkles Fragment Heraklits.29 Ja – das Leben wird nicht nur durch Streit beendet, es könnte ohne Streit gar nicht erst beginnen: „Man sagt, Sex sei eine Form des Streitens, weil Begehren seinem Wesen nach Streit ist. Diese Bemerkung findet sich im Kamasutra,30 einem in Indien im 3. Jahrhundert n. Chr. entstandenen Text, der zu den wichtigsten der Weltkulturgeschichte zählt.

Bis in die jüngste Vergangenheit ist der schon von Heraklit hergestellte Zusammenhang zwischen Streit und Leben immer wieder bestätigt worden, nicht zuletzt durch Charles Darwins These vom Kampf ums Überleben. Die neurobiologische Forschung meldet allerdings erhebliche Zweifel an deren absolutem Anspruch an.31 Sie zeigt, dass die genetische Ausstattung des Menschen ihm in erster Linie die Werkzeuge zur Kooperation an die Hand gibt und der Streit erst einsetzt, wenn diese Mittel versagen.

Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist – wie Heraklit32 an anderer Stelle sagt – ist die Kooperation die Mutter aller Dinge.

Die sechs Regeln der Macht