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Zitat

… für den Geigenspieler muss das Geigenspielen so natürlich sein, wie es für den Vogel das Fliegen ist. Haben Sie jemals einen Vogel gesehen, der sich beim Erwachen des Morgens sagte: Oh, heute bin ich müde, also werde ich nicht fliegen …

Yehudi Menuhin

Impressum

Die Autorin: Christina Geiselhart

Deutsche Erstausgabe 2013

Coverdesign und Buchsatz: © Thomas Auer, www.buchsatz.com

Coverabbildung: © Hetty Krist

Korrektorat: Dr. Matthias Auer, Bodman-Ludwigshafen

© 2013 by Edition KOCH

Edition KOCH, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.editionkoch.com

ISBN 978-3-7081-0522-2

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-7081-0521-5

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

 

Inhalt

Vorwort

Teil 1

Teil 2

Teil 3

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Vorwort

 

Niccolò Paganini, wilder Bursche. Wir wären Freunde gewesen und hätten gemeinsam ne grandiose Show hingelegt. Wahrscheinlich war er sogar mal auf dem Kiez und trank sein Bierchen in der Ritze. Christina Geiselhart hat jahrelang in halb Europa recherchiert und ein spannendes Buch über sein verrücktes Leben und seine wilden Konzerttouren geschrieben. Schaut alle rein! Es lohnt sich echt!

– Udo Lindenberg

 

 

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1

Genua 1786

„Antonio, fermati … aspetta … halt an, Antonio!“

Antonio war dabei, die schief gepflasterte Via Lorenzo hinauf nach Hause zu eilen. Unwillig drehte er sich um.

„Was ist los, Giorgio?“

„Hier ist ein Freund, der mit dir sprechen möchte!“

Antonio blieb stehen, blickte den Kommenden mit verzerrtem Gesicht entgegen, die Augenbrauen zusammengezogen. Er wirkte gereizt. Giorgio Servetto runzelte die Stirn.

„Was ist in dich gefahren, Antonio? Ich dachte, für Geschäfte bist du immer zu haben.“

„Nicht heute!“, brummte der Angeredete. Er drückte seine Mütze tiefer in die Stirn und sagte mit leise bebender Stimme. „Niccolò ist tot! Ich muss rasch nach Hause.“

„Niccolò? Wie seltsam!“ Giorgio kratzte sich verlegen im Nacken, lüftete die Mütze und fuhr mit drei Fingern durch den dunklen Lockenschopf. „Vor einigen Tagen war er noch putzmunter. Du hast mir erzählt, dass er für einen Vierjährigen erstaunlich geschickt an den Zupfinstrumenten rumfummle, die du vom Hafen bringst. Dabei sehe er so richtig glücklich aus, hast du gesagt!“

„Hm!“, machte Antonio düster und wandte sich mit einem knappen Gruß ab. Giorgio zuckte mit den Achseln. Warum stellt er sich so an, fragte er sich. Jeden Tag sterben Kinder. Im armen Genua krepieren sie wie Fische im Netz. Ich muss ihn ablenken, dachte er, nahm zwei Stufen auf einmal und holte den Freund ein. Überschwänglich rief er:

„Antonio, quanto sei stupido! Die Sache könnte dir Geld bringen. Und Geld magst du doch, Antonio.“

„Ich hab jetzt keine Zeit, Geld zu machen, ich muss an die Beerdigung denken.“

„Das ist ein wichtiger Punkt. Dein geliebter Niccolò soll doch um Santa Maria Willen nicht in den Gruben bestattet werden. Er soll ein echtes Grab haben, eines in geweihter Erde. Ohne einen Batzen Soldi geht das nicht!“

„Gemeiner Hund!“, zischte Antonio und eilte mit großen Sprüngen weiter, an der Kathedrale San Lorenzo vorbei. Geschwind bog er in eine dunkle Gasse und verschwand zwischen den Häusern des Viertels San Andrea. Giorgio Servetto wandte sich zu seinem Begleiter um.

„Tja, vielleicht sollten wir ein paar Tage warten. Sagen Sie es Ihrem Auftraggeber. Wie war doch eben sein Name?“

„Signor Buonarotti.“ Der Fremde zog seine zerzausten Brauen hoch und zischte: „Wir wollen nicht warten.“

„Hm!“, brummte nun Giorgio, legte die Stirn in Falten und riss ganz plötzlich weit die Augen auf, als sei ihm ein Licht aufgegangen. „Ja, Sie haben recht. Wieso eigentlich warten? Bringen Sie die Kisten einfach zu mir. Wir verladen sie dann in der Nacht wie üblich aufs Schiff.“

Der Mann sah Giorgio schräg von der Seite aus verengten Augen an.

„Wir vermeiden Zwischenstationen. Zu viele Eingeweihte, mi capisce? Ich werde einen anderen finden. Erklären Sie das Ihrem Freund.“ Er wandte sich zum Gehen. Giorgio behagte das nicht und er hielt ihn zurück. Er wollte sich um jeden Preis an der Sache beteiligen, wenn auch nicht viel Geld dabei heraussprang. Zwar hatte er noch nie etwas von diesem Buonarotti gehört, aber er wusste, um was es ging, denn er war ja nicht blöd und er war Student. Gescheiterter Musikstudent. Es ging um die Befreiung Italiens. Um die Bildung eines einheitlichen Staates, regiert von den eigenen Leuten. Fort mit den fremden Herrschern, die schon seit Jahrhunderten für ihre Interessen den italienischen Boden zu ihrem Schlachtfeld machten. Spanier, Engländer, Österreicher, alle wollen sich das Land unter den Nagel reißen. Sie alle sollten verschwinden! Dazu rief dieser Buonarotti auf und Giorgio gab ihm recht. Nur Antonio dachte anders. Er fürchtete das Chaos, er traute der einheimischen Aristokratie und dem gehobenen Bürgertum weniger als den Fremden. Antonio nannte die österreichische Regierung weise und erleuchtet. So ein Unsinn, rebellierte es in Giorgio! Antonio ist eben kein Student und versteht die Zusammenhänge nicht. Er denkt wie der einfache Mann und gibt sich zufrieden, weil wir hier in Genua besser dran sind als unsere Brüder in Rom unter dem machtgierigen Papsttum. Dort vegetiert das Volk noch unter mittelalterlichen Zuständen dahin und wird von einer verrotteten Priesterschaft verhetzt, sich ja nicht aufzulehnen, sonst sei das Paradies verloren. Vor einigen Jahrhunderten – das war Giorgio bekannt, denn er besaß in der Tat ein wenig Bildung – hatte die römische Bevölkerung noch manchen Papst auf die Engelsburg oder die abgelegenen Bergschlösser gejagt. Heute traute sich keiner mehr die weihnachtlich geschmückten Gottesvertreter zu verscheuchen. Wollten Italien und die italienische Seele nicht untergehen, musste das Volk aufgerüttelt werden. Buonarotti suchte Anhänger, die der Auferstehung Italiens zum Sieg verhelfen sollten. Italien musste erst geboren werden. Dafür wollte sich auch Giorgio rüsten. Kein Kampf ohne Waffen. Vermutlich verbargen die Kisten, die nach Neapel und Palermo verschifft werden sollten, genau das. Sie waren über den Landweg ohne peinlichen Aufenthalt aus Frankreich gekommen und hatten selbst die üblen Straßen und tückischen Wälder von Marseille bis Genua unbeschadet überstanden. Nun aber lauerten überall Kontrollen. Zu viele Staaten, zu viele Grenzübergänge, zu viele verschlagene Wachposten, deshalb schien der Seeweg am sichersten. Giorgio wunderte sich allerdings, warum die Kisten nicht schon in Marseille verschifft worden waren. Argwöhnisch musterte er den Fremden, der noch immer dastand, zögernd, die Mütze tief in der Stirn, so dass die Augen im Schatten lagen.

„Es wird nicht mehr Eingeweihte geben als es ohnehin schon gibt. Und mein Freund wird mitmachen, sobald er den Schmerz über den Verlust seines Jungen überstanden hat. Fidati di me!“

Antonio Paganini war ein echter Genueser und liebte Geld, das wusste Giorgio mit Sicherheit. Jetzt brauchte er es besonders, da wieder eine Beerdigung bevorstand. Er hielt dem Fremden die Hand hin und sagte:

„Morgen Nacht zur verabredeten Stelle am Hafen! Promesso!“

„Ich verlasse mich darauf!“ Der Fremde drehte sich ohne einen weiteren Gruß um und ging auf den schiefen Pflastersteinen der Via Lorenzo hinunter Richtung Hafen.

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Nachdenklich sah Antonio aus dem Fenster. Das gegenüberliegende schlammfarbene Gebäude lag so nah, dass er es mit der Hand hätte berühren können, wäre das Fenster offen gewesen. Aber es war Februar, die Scheibe beschlagen und seine Laune auf dem Tiefpunkt. „Es heißt, Großherzog Leopold habe in der Toskana Todesstrafe und Folter abgeschafft und er habe Privateigentum dem Volk zugänglich gemacht, den Bauern vom Großteil seiner Fron befreit, damit er langsamer krepiert …“ Er redete nun lauter, um das Gejammer seiner Frau zu übertönen. „Ja, ja, ich bin für Veränderung. Das ist doch klar, aber sie soll friedlich vor sich gehen, in aller Ruhe. Ich will keine Schwierigkeiten, keine Gefahr für meine Familie heraufbeschwören!“

„Antonio, wovon redest du? Was interessiert dich die Politik? Was interessiert das Schicksal Genuas? Das Kind ist tot …“

„Genua ist eine Republik und war immer schon besser dran als die anderen Staaten. Die reichen Grimaldis, Dorias, Balbis haben dazu beigetragen und uns dabei ausgenommen. So ist das eben! Wollen wir uns beklagen? So schlecht wie in Süditalien geht es uns lange nicht.“ Antonios Worte klangen hohl. Es fehlte der Herzschlag, denn er hasste es, in der armseligen Gasse zu hausen, in einem feuchtklammen Wohnkasten zu nisten, Missgeburt italienischer Architektur, durch die übelste Gerüche strömten. Für ihn würden Genuas wunderschöne Winkel, die herrlichen Hänge und malerische Viertel auf immer verschlossen bleiben. Dort wohnten die Dorias, Grimaldis und ihresgleichen. Er gehörte nicht dazu und konnte sich wenig Hoffnung machen, jemals dazu zu gehören.

„Antonio! Marito! Was gehen sie uns an? Das Kind ist tot …“, wiederholte Teresa tonlos und endlich kehrte Antonio seiner Frau das Gesicht zu. Sie war eine gute Frau, gute Katholikin, gute Italienerin, von kleiner Gestalt, die durch das schwere Haupthaar noch gedrängter wirkte. Sie hatte schwarze Augen, eine spitze, sehr lange Nase und das Kinn einer Eule. Vielleicht liebte er sie, vielleicht auch nicht. Jedenfalls sorgte er für sie und die Kinder.

Teresa schluchzte. Allmählich löste sie den traurigen Blick vom reglosen Körper ihres Sohnes und sah zu ihrem Mann. Sie verabscheute seine dummen Reden, wollte er damit doch nur von seinem Schmerz ablenken, denn auch er litt, wenn er es auch nicht zeigte, der strenge Mensch mit den finsteren Augen, die im Widerschein des milchigen Tageslichtes weiß funkelten. Sie starrte an ihm vorbei auf die schmutzige Fensterscheibe. Dort meinte sie, ein Blatt zu erkennen, das langsam in Stufen durch die Luft zur Erde sank. Sonderbar, dachte sie. Da schwebt vom nasskalten Februarhimmel ein Olivenblatt. Es schwebt in diese schmale Gasse, in der kein einziger Baum wächst, fliegt vor das Fenster des schäbigsten Hauses. Nichts blühte in diesem finsteren Viertel, nur Unkraut drängte sich durch die Ritzen der Steinquader und Mauerrisse. Wenn hier ein Lebenslicht erlosch, wunderte sich niemand.

Ihr Mann, Francesco Antonio Paganini, kam auf sie zu. Er hatte einen kantigen Kopf, dichtes struppiges Haar und die schmalen Lippen eines verbitterten Menschen. Und er stank nach Knoblauch. Als Teresa ihn 1777 in einer der schönsten Kirchen Genuas, der Chiesa delle Grazie, geheiratet hatte, war er dreiundzwanzig und seine Lippen hatten die Form eines Kusses. Teresa konnte nicht lesen, aber sie erkannte Zahlen. Dreimal die sieben war ein gutes Zeichen und darum hatte Teresa befunden, dass sich unter der harten Schale ihres finsteren Mannes ein guter Kern verstecken
musste.

„Wieder ein totes Kind!“, murmelte er, während er zum Bett schritt. Er schob das Leintuch über das Gesicht des Vierjährigen und bekreuzigte sich. Teresa schluchzte auf.

„Angela ist kaum begraben und schon müssen wir den Jungen hergeben. Heilige Mutter Gottes, Santa Maria, was habe ich getan?“ Teresas Gesichtsfarbe war nun bräunlich blass und krank, ihre lebhaften schwarzen Augen wirkten stumpf, ihr Atem ging flach.

„Nichts Schlechtes hast du getan, Weib! Nur warst du so dumm, an den Humbug deines Heilands zu glauben. Hat er dir nicht im Traum prophezeit, unser Sohn würde ein großer Geiger werden? Wie du siehst, wird unser Sohn nicht einmal groß.“

„Antonio! …“, wimmerte sie und warf die Arme in die Luft. „Antonio! Nicht schreien … bitte nicht schreien …!“

„In unserer Stadt sterben die Kinder wie Fliegen, während sich die Spinolas und Dorias bester Gesundheit erfreuen. Überall lauert diese verdammte Krankheit, vor der wir unsere Türen nicht verschließen können, weil wir nicht die passenden Pforten haben wie die Reichen. Aber Dreck ist genug da, den Tod anzulocken. Weiß der Teufel, wie diese Krankheit heißt. Tückisch, tückisch, denn wer achtet auf Flecken im Mund und hinter den Ohren. Wir haben alle Flecken. Überall haben wir Flecken. Schau dich an, Weib. Siehst ganz scheckig aus.“

Resigniert ließ die Frau ihre Arme sinken. Obwohl noch jung, wirkte sie erschöpft. In ihrem Haar schimmerten Silberfäden, es hatte seine Spannkraft verloren und das Strahlen ihrer Augen war erloschen. Hilflos sah sie zu ihrem Mann. Dieser drehte sich wieder zum Fenster. Er öffnete die Scheibe und blickte suchend hinunter.

„Der Dottore wollte noch einmal kommen. Ich sehe ihn nicht, und es ist ja auch egal. Was wir brauchen ist ein Priester.“

„Antonio!“, jammerte die Frau von neuem. „Du sprichst vom Teufel und von Flecken und ob der Dottore kommt ist dir egal. Antonio, du bist kein guter Mensch.“

Teresas Blick wanderte an den schimmeligen Wänden hinauf, über die armseligen Möbel zu dem rostigen Bettgestell, auf dem ihr Sohn lag und sich nicht mehr rührte. Zitternd trat sie näher. Nachdem sie den verhüllten Körper eine Weile angestarrt hatte, zog sie vorsichtig das Tuch vom Gesicht. Beim Anblick der reglosen feinen Züge zuckte sie zurück, fiel vor dem Jungen auf die Knie, faltete die Hände und betete mit monotoner, kraftloser Stimme mehrere Rosenkränze. Ihr Gemurmel und ihr Schluchzen gesellten sich zum Klang der eiligen Schritte des Dottore, die in der gepflasterten Gasse wie Pferdegetrappel hallten. Antonio rief ihm vom Fenster aus zu.

„Parieren Sie zum gemächlichen Schritt durch, Dottore! Es ist nicht mehr viel zu reparieren.“

„Mi scusi?“ Sein bleiches Gesicht blickte auf, dann verschwand er im Hauseingang. Antonios Rat hatte er nicht befolgt, denn er sprang regelrecht die Stufen zum oberen Geschoss hinauf.

„Verzeihen Sie die Verspätung, aber meine Kutsche ist in der Gasse stecken geblieben und ich musste durchs Dach hinausklettern wie eine Katze!“, röchelte er, wobei er den Hut abnahm.

„Madre mia, Dottore! Wer brachte Sie auf die einfältige Idee, eine Kutsche durch die Passo del Gatto zu quetschen? In Genua gibt es nur zwei Straßen, die breit genug für Kutschen sind. Hier kommen gerade mal eine Katze durch oder ein Rudel Ratten, guter Signore.“

Verlegen drehte Dottore Gambaro den Hut in seiner Hand und antwortete schief lächelnd:

„Ich wollte einfach ein Exempel statuieren. Man muss der äußeren Macht mit innerer Stärke trotzen. Die Kraft der Gedanken kann Wände durchbrechen, nicht wahr?“ Er atmete vorsorglich durch den Mund, denn der Gestank war unerträglich. Antonio quittierte seine absonderliche Rede mit einem verächtlichen Zucken seines Mundes und wies auf den verhüllten Körper des Jungen. Erstaunt trat Gambaro ans Bett des Vierjährigen. Damit, dass er schon tot sein könnte, hatte er wahrhaftig nicht gerechnet. Wohl war ihm beim letzten Besuch neben der Masern­erkrankung eine Entzündung des Rückenmarkes aufgefallen weshalb er entzündungshemmende Pflanzenextrakte verschrieben hatte. Heute hatte er eine kleine Dosis Chinin mitgebracht, um dem Masernvirus den Garaus zu machen. Teresa machte dem Arzt Platz, der sie voller Mitleid musterte. Vor knapp einem Jahr war die einjährige Biagio gestorben, und erst vor zwei Wochen musste sie Angelina, Niccolòs jüngere Schwester, begraben. Der zweijährige schmächtige Körper hatte den Kampf gegen Masern, Dreck und Feuchtigkeit verloren. Niccolò hingegen war älter und schien, trotz seiner schmächtigen Statur, sehr zäh zu sein. Teresa hatte hektisch das Leintuch hochgezogen, aber nur die untere Gesichtshälfte bedeckt. Niccolòs Gesicht sah tatsächlich wächsern aus wie das eines Toten.

„Schlimmer als es ist, kann es nicht werden!“, flüsterte der Vater trocken. Der Dottore schüttelte den Kopf. Dann beugte er sich hinab, drückte sein Ohr auf die Brust des Jungen und runzelte die Stirn. Er befühlte die Pulsadern und wackelte mit dem Kopf, kramte einen Spiegel hervor und hielt ihn dicht an die Nase des Kindes. Im Raum war es atemlos still. Teresa zitterte am ganzen Leib, während ihre Lippen unablässig das Ave Maria murmelten. Der Vater stand stocksteif, wobei sein glühender Blick jede Bewegung des Arztes verfolgte. Als dieser den Spiegel betrachtete, konnte er einen schwachen Ring Feuchtigkeit entdecken. Er kniff die Augen zusammen und hielt den Spiegel nochmals hin. Nachdem er einen zweiten schwachen Ring wahrgenommen hatte, knöpfte er Niccolòs Hemd auf, legte sein Arzt­ohr erneut auf die Brust des Jungen und hielt den Atem an. Eine Minute verstrich, bevor er sich aufrichtete und den Eltern einen vorwurfsvollen Blick entgegenschleuderte.

„Sie wollten also das Kind lebend begraben? Was für eine Sünde!“

Teresa brach in lautes Schluchzen aus, sank erneut in die Knie, hob die gefalteten Hände. Der Vater sprang auf den Dottore zu und hätte ihn am Kragen gepackt wäre, der Mediziner nicht geschickt ausgewichen.

„Nehmen Sie sich zusammen, Signor Paganini! Sein kleines Herz ist schwach, aber nicht tot. Die Atmung flach, aber nicht still. Er ist in ein leichtes Koma gefallen, der geschwächte Junge.“ Furchtlos ging der Arzt nun auf Herrn Paganini zu. Streng bannte er ihn mit seinem unerbittlichen Blick. „Helfen Sie ihm, wieder auf die Beine zukommen, statt ihn bei der ersten Reglosigkeit einsargen zu wollen. Geben Sie ihm sorgfältig alle Medikamente, die ich ihm verordne, und lassen Sie ihn keinesfalls aus dem Bett. Er braucht Wärme, Medizin und Ruhe, verstanden?“ Nebenbei dachte er: Und mehr Hygiene würde ihm nicht schaden. Aber das war ein frommer Wunsch. In ganz Genua hatte er keine saubere Bleibe gesehen. Wo er auch hinkam, versanken die Wohnungen in schmierigem Dreck, stank es in den Treppenhäusern nach Urin, Kot, in den Küchen nach ranzigem Fett, in den Schlafkammern nach Sperma und Erbrochenem. Auf den Holzböden rutschte man aus, weil ihn jeder Mann mit seinem oralen Auswurf besudelte. Allein auf den Anhöhen der anmutigen Genueser Bucht oder entlang der Nuova Strada thronten wunderschöne, von zahlreichen Domestiken in Schuss gehaltene Villen. Gambaro blickte Antonio lange an. Dieser nickte beherrscht, Teresa schluchzte und lachte in einem.

„Maria benedetta! Wir brauchen keine Beerdigung zu bezahlen. Angela wurde außerhalb der Stadtmauer in einer Gemeinschaftsgrube in Meeresnähe bestattet. Bei dem Mädchen war es nicht so schlimm, aber für Niccolò hätte ich ein Grab und einen Sarg bezahlen müssen. Ich habe doch nur zwei Söhne und auf ihn setzte ich meine elenden Hoffnungen.“

„Reden Sie nicht so gottlos! Trinken Sie einen Vino rosso und kommen Sie am Samstag zu unserer Versammlung an der Piazza Maddalena Nr. 3. Dort wird über die Zukunft unserer Halbinsel nachgedacht. Endlich, möchte ich sagen. Die Zeit ist reif! Sie wissen sicherlich, was im Königreich Sizilien los ist. Vizekönig Caracciolo will dem Ancien Régime endlich ein Ende bereiten. Als ehemaliger Botschafter in Paris hat er einiges aufgeschnappt. Dort brodelt es gewaltig, Signor Paganini! Ich sag Ihnen, wir werden in ganz Italien die Auswirkungen spüren: Sehr viel weniger Macht der Kirche, gerechte Aufteilung der Steuerbelastung, was unseren feinen Herren und Gottesdienern nicht passen wird. Il vento cambia!“

„Aber Dottore, wissen Sie es nicht? Caracciolos Amtszeit wird ein Riegel vorgeschoben! Sein eiliges Reformkonzept geht der Noblesse gegen den Strich. Überhaupt brauchen Reformen Zeit. Das Volk versteht sonst nicht, was los ist, und die Aristokraten regieren fürchterlich brutal, wenn sie ihr schönes Leben gefährdet sehen. Überhaupt: Was geht uns Sizilien an. Wir leben in der Republik Genua. Unser Volk ist schläfrig und will seine Ruhe haben!“

„Signor Paganini, Ihre Skepsis gefällt mir gar nicht. Gehen Sie forscher an die Dinge heran. Wie ich, amico! Nehmen wir noch einmal mein statuiertes Exempel von vorhin: Warum sollte ich nicht eine Kutsche durch die enge Passo del Gatto quetschen? Warum sollte sich Italien nicht aus seinem Nest von Nattern triumphierend herauswinden können? Die Lombardei, die Toskana und wie gesagt Sizilien haben Reformen erfahren, auch wir Genueser werden es schaffen. Es ist unsere Pflicht, dieses Land aus dem Sumpf zu ziehen.“

„Sumpf? Erlauben Sie, dass ich lache! Ihr Mediziner denkt gleich an die schlimmsten Krankheiten. Wenn einer hustet, vermutet ihr Schwindsucht. Chiaro, auch ich ärgere mich über unser erstarrtes System und die Privilegien der Noblen. Aber im Großen und Ganzen haben wir in Genua wenig Grund zur Klage.“

„Santa Maria, sind Sie kurzsichtig, Signor Paganini! Italiens Situation ist fatal. Sie ist der französischen nicht unähnlich in ihrer Bedrängnis, wenn auch die italienische Bedrängnis eine ganz andere ist! Heute drängen sich auf engem Raum absolutistisch-feudale Mittel- und Kleinstaaten, habsburgerische und bourbonische Dynastie, der Kirchenstaat Rom und …“

„Genua und Venedig sind Republiken …“

„Aber was für welche, Signor Paganini! Genua zumindest ist ein verstaubtes Regime nach aristokratischem Muster. Dagegen müssen wir angehen. Kompetente Leute müssen die Geschicke unseres Landes in die Hand nehmen, müssen die Wiege betten, in der ein junges Italien heranreift. Beteiligen Sie sich am Samstagabend an unserer Versammlung. Dort wird Ihnen ein Licht aufgehen. Das Licht der Revolution. Es scheint in die hintersten Ecken. Unsere Wirtschaft ist rückständig, die Bevölkerung wächst, obwohl viele nichts zu beißen haben, das kulturelle Leben stagniert. Die Pyramide wird nach unten immer breiter und ihre Spitze dünner. Und mit welcher Art von Arbeit halten sich die meisten Leute über Wasser? Na? Mit Bettelei, Betrug, Fälschung, Schmuggel …“

„Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung.“ Antonios brennender Blick schnitt dem Arzt das Wort ab. Entschuldigend lächelnd nahm dieser seinen Hut. Er drehte ihn verlegen in der Hand und suchte nach ein paar versöhnenden Schlussworten:

„Jedenfalls wissen auch Sie, dass es nicht so weitergehen kann, denn Sie sind ein kluger Mann. Es muss Ihnen, wie jedem vollblütigen Italiener, eine Herzensangelegenheit sein, Italien zur Geburt zu verhelfen. Italia, Italia, mio amore!“, schrie er und stieß die Faust in die Luft. „Fort mit den Besatzern …!“

Antonio unterbrach ihn verärgert:

„Was Sie sagen, hört sich nach Kampf an, und ich mag das nicht. Ich will keine Unruhe im Land.“

„Santo padre, Signor Paganini. Sie sind eine harte Nuss. Ich lade Sie doch nicht zu einer Versammlung streitsüchtiger Buben ein. Die meisten sind studierte Leute wie ich. Unser Vorsitzender hat Literatur und Jura studiert. Kommt aus Pisa wie Michelangelo und ist ein feuriger Bewunderer Rousseaus, des Freidenkers. Sie wissen doch, Signor Paganini, die Aufklärung, les années des lumières.“ Er sprach den französischen Satz mit stark italienischem Akzent aus. Antonia blickte ihn finster an, doch nichts in seinem Ausdruck deutete darauf hin, ob er irgendetwas verstanden hatte. Lumières“, murmelte er nach. Gambaro griff das Wort nochmals auf und fügte an:

„Esattamente, Antonio Paganini! Sie haben’s begriffen. Ans Licht, an die Sonne, heraus aus den Kellern der Unwissenheit und Unterdrückung!“

„Hm“, brummte Antonio. „Mache ich mich dabei nicht strafbar? “

„Ach, was! Im Gegenteil. Es ist die Pflicht des gebildeten Italieners zu reagieren. Und zwar jetzt, wo sich die Flamme der Freiheit auch in anderen Ländern entzündet. Kommen Sie! Ja, kommen Sie gleich heute Abend. Avanti popolo! Filippo Buonarotti ist heute Abend persönlich anwesend, während er bei der nächsten Sitzung vertreten wird.“ Dottore Gambaro setzte seinen Hut wieder auf, verneigte sich vor Signora Paganini, wies mit strengem Blick auf die Medikamente und strebte hinaus.

Sekundenlang betrachtete Antonio seinen reglosen Sohn. Dann schloss er die Augen, setzte sich auf die Bettkante, strich über die verhüllten Beine des Jungen und grübelte. Es passte ihm nicht, dass der Dottore die Schmuggelei erwähnt hatte, weshalb er auch geneigt war, an dessen Diagnosen und Prognosen grundsätzlich zu zweifeln. Ob politisch oder medizinisch. Konzentriert hefteten sich seine Augen auf das Kind. Starr wie ein Toter lag es unter dem fleckigen Laken. Lebte er tatsächlich? Hatte sich der Dottore nicht getäuscht? Nichts hatte sich verändert. Und Teresas gerunzelte Stirn bestätigte ihn in seiner Vermutung, dass der Tod hämisch grinsend am Fußende des Bettes saß und auf seinen Einsatz wartete.

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Ich kann euch nicht sehen, doch ich kann euch fühlen. Mamas weiche Hand, die mein störrisches Haar aus dem Gesicht streicht. Ihre Finger sind zart, aber zittern, weil sie die Temperatur meiner Haut fürchtet. Ist sie vielleicht kalt wie der Tod? Sie tastet über meine Nase, meinen Mund, meine Stirn und dort spüre ich nun ihre kühlen Lippen.

Ich kann euch auch hören. Es ist schon sonderbar, aber meine Ohren nehmen das leiseste Geräusch auf, in den feinsten Tönen. Ich höre Stimmen, die zu Melodien werden. Sie schwingen hoch hinauf, brechen sich und fallen, fallen wie Blätter … setzen sich sanft auf meinem Bett nieder, wanken auf dem grauen Laken. Schwarze und weiße Fragmente der Melodien. Könnt ihr nicht sehen, wie sie einander suchen? Könnt ihr nicht sehen, wie sie sich finden auf einer schlangenförmigen Linie, die nach unten, dann nach oben schwingt? Viele winzige schwarze Köpfchen schmiegen sich aneinander, halten sich gegenseitig an ihren dünnen schwarzen Ärmchen fest, lassen sich los, machen da und dort einem hellen, ruhigen Köpfchen Platz, um sogleich in die Höhe zu springen, wo sie wild durcheinander wirbeln, bis sie in Reih und Glied stehen und mich mit ihren schwarzen Augen ansehen. Jetzt singen sie. Hört ihr sie nicht?

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Das alles geht nicht mit rechten Dingen zu, dachte Teresa, doch ich will nicht undankbar sein. Santa Maria hat den Dottore durchs Dach der Kutsche klettern lassen, um uns zu sagen, dass Niccolò leben wird.

Akribisch befolgte sie nun seine Verordnungen. Sie massierte den Brustkorb des Jungen, seine Beine, bettete ihn weich, betupfte seine Stirn mit belebendem Öl und ganz allmählich spürte sie, wie sich das junge Leben unter ihren Händen wieder regte. Ihr olivenfarbenes Gesicht hellte sich auf, in den stumpfen Augen erwachte der alte Glanz. Antonio hielt sich in einiger Entfernung auf und beobachtete die Szene. Dann glitt sein Blick über die Wände des Zimmers, über die grauen Flecken, schwarzen Löcher, die dünnen langgezogenen Risse. Schimmel wuchs unter den Deckenbalken. Fedrige Fäulnis bildete sich in den Wohnzimmerecken. Es stank nach Abfall, Urin, nach ungewaschenen Menschen, nach altem Knoblauch und verfaulten Zwiebeln. Augenblicklich mischte sich der Geruch von würzigem Öl und Kräutermedizin darunter. Er hasste diese erniedrigende Behausung. Er träumte den vergeblichen Traum von einem Häuschen in einem der Flusstäler Polcevera und Bizagno. Ein heftiger Ruck durchzuckte ihn, ließ ihn hochfahren. Er ging über die Schwelle und schlug laut die Tür hinter sich zu.

2

 

Der Vorsitzende erweckte Antonios Vertrauen. Seine Ideen begeisterten, seine Sprache war besonnen und seine Denkweise eher traditionsgebunden als revolutionär. Er sprach von ganz konkreten Problemen. Ständig steigenden Brückengeldern, Zöllen, Privilegien der Clans, von der Vielfalt der Währungen. Solange wir alles widerstandslos hinnehmen, kann nichts anders werden, sagte er und griff weit zurück in Italiens Geschichte. Antonio, der trotz bescheidener Herkunft ein wenig Bildung besaß, hatte den Eindruck, zum ersten Mal tiefgreifende Dinge über sein Land zu erfahren, über seine Menschen, über seine Leiden.

„In den kleinen Dingen offenbart sich das Unheil des ganzen Landes. Um sie müssen wir uns kümmern, die kleinen Wunden müssen wir heilen, um ein gesundes Ganzes zu schaffen. Nicht zupflastern, nicht übertünchen. Nein! Den Bazillus ausmerzen und etwas Neues gestalten. Unser Konzept ist ein unabhängiges, von fremder Herrschaft befreites Italien, wir streben eine politische und wirtschaftliche Einheit aller fortschrittlichen Staaten unserer Halbinsel an. Dieses Ziel soll uns leiten und in den kleinen Dingen unser Richtmaß sein. Schritt für Schritt voran und keinen einzigen Schritt zurück. Es ist an uns, die wir gebildet sind, dieses Ziel, diese Botschaft, unters Volk zu tragen, das kaum lesen und nicht schreiben kann.“ Ernst blickte der Redner in die Gesichter der Zuhörer. Der stattliche Mann mit der hohen Stirn, den strengen Augen und dem energischen Mund sprach aus, was Antonio dachte. Dieser Mann hatte eine sorgsame, friedvolle Veränderung im Auge. So jedenfalls fasste Antonio seine Sätze auf und voller Bewunderung blickte er hinauf zu dem stattlichen Herrn, dessen dichtes schwarzes Haar den Denkerschädel noch ganz bedeckte. Zwar war sein Kopf quadratisch und saß auf einem kurzen Hals, der durch die modische Halsbinde noch kürzer wirkte, aber daran störte sich Antonio nicht. Es gab wenige harmonisch aussehende Menschen. Sehr wenige. Man konnte sie an fünf Fingern abzählen.

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„Niccolò lebt!“, brüllte er am frühen Morgen des nächsten Tages seinem Freund entgegen. Hier am Hafen entfaltete die Sonne ihre ganze Kraft und durchströmte die kalten Monate mit ihrer Wärme. Sie spiegelte sich im ­glitzernden Meer, in den feuchten Dohlen der Landungsstege, im schmutzi­gen Weiß der niedrigen Gebäude. Antonio sprang über ein Fass und landete direkt vor Giorgios Nase. Beinahe hätte er ihn umgeworfen. Er war bester Laune, was man von Giorgio hingegen nicht behaupten konnte.

„Che merda!“, entfuhr es ihm gegen seinen Willen.

„Was soll das heißen? Wolltest du etwa Niccolòs Tod? Ich dachte immer, du magst ihn, du falscher Hund.“ Zornig funkelten seine dunklen Augen.

„Es tut mir leid, Antonio. Natürlich mag ich ihn und er mag die Musik wie ich. Und niemals will oder wollte ich seinen Tod. Ich hab nur so reagiert, weil ich dem Kerl die Kistenverschiffung schon zugesagt habe, denn ich dachte, du brauchst Geld für die Beerdigung.“

Antonio stürzte sich auf Giorgio, packte die öligen Zipfel seines Hemdkragens, schrie:

„Du miese Ratte! Du geldgieriger Genueser! In Wahrheit wäre dir Niccolòs Tod sehr gelegen gekommen. Aber ich sag dir: So oder so gebe ich mich für keine krummen Sachen her.“

„Sie ist sicherlich nicht krummer als dein geheimer Musikhandel. Was du aus Cremona mitbringst und hier nachts zollfrei verschiffst, ist kein Käse, mein Alter! Ich weiß, was für herrliche Instrumente übers Wasser gehen und welche Summen in deinen Geldbeutel. Warum solltest du Buonarotti und Italien nicht auch mal einen Gefallen tun?“

„Buonarotti?“ Jählings ließ Antonio den Kameraden los und riss erstaunt die Augen auf.

„Kennst du ihn etwa?“

„Irgendwie schon. Ich hab ihn auf der Versammlung gesehen.“

„Was für eine Versammlung?“

Und Antonio erzählte seinem Freund von Buonarotti. Aber es irritierte ihn, den korrekten Mann mit verbotenen Geschäften in Verbindung zu bringen.

„Ascolta, amico! Manch hehres Ziel erreicht man nur auf Schleichwegen.“

„Und die Schleichwege sind oft mit Leichen gepflastert. Solche Schweinereien kommen im Musikhandel nicht vor, ob geheim oder offiziell.“ Jetzt grinste Antonio, was seinem von Natur aus finsteren Gesicht etwas Fratzenhaftes gab. Freundliche Regungen waren ihm fremd. Die beiden Männer wurden sich einig und in der kommenden Nacht beluden Antonio, Giorgio sowie ein taubstummer Hafenarbeiter einen Dampfer nach Neapel. Der Taubstumme erhielt ein paar Scudi Zuschuss, damit er die Kisten begleitete und am Bestimmungshafen an den Verbindungsmann weiterleitete.

Auf dem Nachhauseweg grübelte Antonio darüber, was wohl in den Kisten sein mochte. Seine Ohren dröhnten noch von Giorgios Gefasel, man müsse furchtlose Anhänger für die gute Sache finden, sonst verlaufe sie im Sande. Überall gab es unzufriedene Bauern, auf denen eine hohe Fron lastete, Handwerker und Tagelöhner, die am Hungertuch nagten, Bettler und Diebe, denen die grausamsten Strafen drohten, vor allem in Neapel und Palermo, aber auch in den Kirchenstaaten. Sie müsse man gewinnen und kampffähig machen. Vermutlich verbargen die Kisten den Schlüssel zum Erfolg. Antonio vermutete Waffen und Pamphlete. In ihm regte sich das schlechte Gewissen, etwas Ungesetzliches getan zu haben, darum versuchte er, zu vergessen und wollte auch nicht mehr wissen, was in den Kisten war.

In der heimischen Gasse angekommen, atmete er tief durch, bevor er ins stinkende Treppenhaus trat, übersah die drei fetten Ratten am Eingang und nahm dann zwei Stufen auf einmal. Leise drehte er den Türknopf der Wohnungstür. Teresa schlief noch und vom Matratzenlager, auf dem sich alle Kinder drängten, nahm er gleichmäßige Atemzüge wahr. Der enge Raum war von seiner Schlafkammer nur durch einen zipfeligen Vorhang getrennt. Er schob ihn zur Seite und suchte mit den Augen Niccolò. Der Junge schlief an der Wandseite, die beiden Schwestern in der Mitte, flankiert von Bruder Carlo. Niccolòs Gesicht war zum Fenster gerichtet und so konnte Antonio ihn nicht betrachten, er hätte sonst über die Kinder steigen müssen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es dem Jungen wieder besser ging.

3

Genua 1789

Interessiert betrachtete Niccolò die Mandoline, die auf der Kommode ruhte. Sie gefiel ihm besser als die anderen Instrumente, die sein Vater vom Hafen mitbrachte. Im Porto Franco hatte der pfiffige Antonio schon eine Flöte, zwei Gitarren aus Spanien und eine Querflöte erstanden. Neulich war er mit dieser neapolitanischen Mandoline nach Hause gekommen. Sämtliche Instrumente wurden zuerst von ihm auf ihren Zustand überprüft, dann poliert, ausprobiert und schließlich gehortet, bis sich ein Käufer fand, der gut zahlte. In der Zeit fand Niccolò Gelegenheit, die Instrumente in Ruhe zu betrachten, sie auch zu betasten. Sein Vater schimpfte nie, wenn er behutsam über die Flöte oder die Zupfinstrumente strich. Der sonst so strenge Mann blickte aufmunternd. Die Mandoline hatte es Niccolò besonders angetan. Sie lag zum Greifen nah und in ihrem schimmernden Holz meinte er ein Lächeln zu sehen, als bitte sie darum, von ihm berührt zu werden. Er nahm sie vorsichtig in die Hand, schaute sie liebevoll an, blies in ihren Bauch und lauschte. Er zupfte geschickt, als wäre sie ihm schon lange vertraut, und entlockte ihr klare, volle Töne. Antonio kam ins Grübeln. Vielleicht sollte er die Stunden, die er in langweiligen Versammlungen zubrachte, lieber dem kleinen Niccolò widmen. Das Kerlchen hatte ohnehin nicht das Zeug zum kräftigen Gassenbuben.

„Du zupfst ganz ordentlich, mein Sohn“, sagte er eines Tages zu ihm. „Willst du dich nicht an einem Lied versuchen, anstatt so kreuz und quer zu zupfen?“

Niccolò probierte eines der italienischen Volkslieder aus, die seine Mutter den Kindern vorsang. Der Vater brummte.

„Das scheint noch nicht hinzuhauen. Ich will dir beibringen, die Töne zu finden!“

Und so ging für Niccolò die spielerische Zweisamkeit mit der Mandoline zu Ende. Es begannen die ersten ernsten Musikstunden.

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Drei Jahre waren seit Niccolòs schwerer Krankheit vergangen. In dieser Zeit hatte Antonio mehrmals geholfen, Holzkisten nach Palermo und Neapel zu verschiffen, und die Versammlungen besucht. Sein Freund Giorgio war ein begeisterter Anhänger Buonarottis geworden. Hatten ihn seine Ideen anfangs fasziniert, so verteidigte er sie mittlerweile sogar fanatisch, indessen Antonio die Sache mit steigerndem Argwohn verfolgte. Inzwischen wusste er nämlich, dass die geheimnisvollen Kisten aufwieglerische Schriften enthielten, die das geknechtete Volk Süditaliens aufklären und auf den Kampf vorbereiten sollten. Buonarotti wurde seit einiger Zeit von der toskanischen Polizei überwacht, weil er in seiner jüngst gegründeten Zeitschrift gegen Großherzog Leopold polemisierte. Darin schimpfte er ihn einen Lügner und Heuchler, der mit vagen Reformen sein Volk an der Nase herumführe. Antonio schwoll der Kamm und er machte sich rar bei den Versammlungen. Er nahm es Buonarotti übel, dem reformbereiten Großherzog in den Rücken zu fallen. Er nahm es ihm übel, nach dem blutrünstigen Frankreich zu schielen. Was ging in seinem Denkerschädel vor? War er gespalten?

„Sie sind alle gleich. Der Mensch ist Mensch, solange er nicht nach der Macht schielt. Einmal auf dem Thron, benimmt er sich wie der, den er vom Thron stieß. So ist es, mein Niccolò!“

Der Junge hörte mit seinen Übungen auf und sah den Vater ehrfürchtig an. Seine großen dunklen Augen blickten traurig, das Gesicht war trotz seiner olivenfarbenen Tönung bleich, was durch die schwarzen Locken noch verstärkt wurde.

„Ich habe dir nicht erlaubt, die Übungen zu unterlassen!“, herrschte der Vater den Kleinen an, der daraufhin zusammenzuckte. „Mach weiter, immer weiter! Übe, bis sich eine zentimeterdicke Hornschicht auf deinen Fingerkuppen bildet. Du zeigst mir jeden Tag deine Finger und wehe, die Hornhaut bildet sich nicht.“ Er hob die flache Hand gegen ihn. Niccolò duckte sich und zupfte fleißig weiter.

An die Wand des einzigen ordentlichen Zimmers gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, beobachtete Vater Paganini den Jungen. Er zupft wie der Teufel, dachte er. Klangvoll, flink, exakt. Maria benedetta, das ist gut so, denn was soll aus dem schmächtigen Kerlchen auch werden, wenn nicht ein Musikus? Lasten kann er nicht schleppen, Kisten nicht verladen, aber Geld muss er verdienen. Am besten so schnell wie möglich, damit noch einiges in meine Tasche wandert.

Niccolò übte täglich viele Stunden, auch an diesem Sonntag, an dem er sich nachts fiebrig gefühlt hatte und nach der Morgentoilette von der Mutter wieder ins Bett zurückgeschickt worden war. Antonio prüfte Zunge und Puls des Jungen, fand nichts Beunruhigendes und jagte ihn aus den Federn.

„Siehst du nicht sein scheckiges Gesicht, Marito? Lass das Kind, es braucht Ruhe!“

„Nichts da! Er hat zu lange herumgelegen. Davon ist er scheckig.“ Sein flammender Blick zuckte von Teresa zu Niccolò. „Du übst, bis ich zurückkomme, hai capito? Jeder Bettler in Italien kann die Mandoline handhaben, aber du sollst sie spielen wie kein anderer. Ich befehle es, und wehe, du spielst stattdessen den Kranken.“

Er schlug die Tür hinter sich zu und beschloss, den Tag zu genießen, fern von Kindern und Ehefrau. Es war Spätsommer 1789, die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind lag träge in den Winkeln oder schlummerte auf der schimmernden Decke des Meeres. Bei diesem Wetter strebte Antonio nicht sofort zum Hafen. Gemächlich schlenderte er über die Via Dante, streifte durch die verwinkelten Gassen, in denen Menschen so dicht aufeinander hausten wie Ratten. In fast alle Häuser, so finster und schmierig sie auch aussahen, war eine Marien­skulptur gemeißelt. Erhaben, doch blind sah sie auf das Elend zu ihren Füßen herab. Vor der Chiesa Santa Maria Maddalena machte Antonio kurz Halt, lüftete die Mütze und stapfte sogleich weiter durch die Vico della Maddalena, über die Vico del Tempo Buono, von wo aus er die Strada Nuova erreichte. Der Unterschied sprang ihm heute deutlicher als sonst ins Gesicht. Er wollte sich die Laune nicht ganz verderben lassen, weshalb er arrogant durch die Straße der Paläste schritt und vor jeder reichen Pforte ausspuckte. War er auch kein Revolutionär, so wünschte er dem hoffärtigen Gesindel dennoch die Krätze an den Hals. „Pack!“, schimpfte er und stieß mit dem Fuß gegen eine Statue am Eingang eines Palastes. „Ihr seid schlimmer als die Österreicher!“ Ein Wachposten näherte sich drohend. Antonio entwischte durch die Via San Siro. Plötzlich hatte er es eilig, das Viertel der Wohlhabenden zu verlassen. Er überquerte eine Piazza, begrüßte da und dort einen Bekannten, der vor einem heruntergekommenen Hauseingang döste, und gelangte endlich ins Hafengelände. Heute erwartete ihn nicht der Hafenkapitän, bei dem er sich von Dienstag bis Samstag allmorgendlich zum Entladen und Packen der Schiffsladungen melden musste. Offiziell war er ein Ligaballe, ein Packer am Hafen, inoffiziell galt er als Suonatore, als Musikant.

Die Hände in den Hosentaschen peilte er einen Schlupfwinkel des Hafens an. Dort erwartete ihn eine Bande bärtiger Gesellen zum Mora-Spiel. Dieses Glückspiel verlangte nichts weiter als zehn Finger und deren glückliche Anwendung. Man spielte es zu zweit. Einer der beiden Spieler nannte eine Zahl und bezeichnete mit den Fingern, welchen Teil er davon haben wollte. Gleichzeitig musste der andere, ohne die Hand des ersten zu sehen, so viele Finger zeigen, dass die anfangs genannte Zahl voll wurde. Natürlich spielte man nicht umsonst. Antonio war gefürchtet, denn oft gewann er seine kostspieligen Einsätze doppelt und dreifach zurück. Er hatte Glück im Spiel, verstand sich aufs Handeln und er vertraute auf das Talent der Paganinis sowie den guten Riecher des Genuesers. An diesem Sonntagabend kam er sehr spät, aber mit vollen Taschen nach Hause. Er brannte darauf, seinen Erfolg vor der ganzen Familie wie einen Sieg hinauszuposaunen und war gleichzeitig auf die Fortschritte seines Sohnes gespannt.

Doch der Junge lag vermummt im Bett. Über ihn beugte sich Dottore Gambaro, am Fußende stand klagend Teresa, die weinende einjährige Paola auf dem Arm. Ein grässlicher Gestank nach Erbrochenem und Urin schlug dem Hausvater entgegen und er hatte gute Lust, zum Hafen zurückzukehren.

„Scarlatina!“, diagnostizierte der Arzt.

„Kenn ich nicht!“, antwortete Antonio mürrisch.

„Scarlatina verdankt ihren Namen dem kräftigen roten Hautausschlag, den sie hervorbringt. Das Fieber steigt auf 39 Grad, die Nase läuft und entzündet sich, kleine Punkte sprießen, die dann zu großen Flecken zusammenfließen.“

„Flecken! Flecken! Flecken!“, spie Antonio aus. „Warum hat der Kerl ständig Flecken? Liegt das an unserer Gegend? Anlage kann es nicht sein. Ich hatte nie Flecken und Teresa bekam sie erst nach dem zweiten Kind.“

Gambaro erklärte, dass die Flecken eine harmlose Nebenerscheinung des eigentlichen Übels seien.

„Bedenklicher ist die Rachenschleimhaut. Sie wird stark in Mitleidenschaft gezogen und die katarrhalen Symptome, die das Ausschlagfieber begleiten, wirken sich verheerend auf die Bronchien aus.

„Hören Sie mit Ihrem Latein auf und reden Sie Italienisch!“

„Madre mia!“, schimpfte der Dottore. „Der Junge wird vermutlich Zeit seines Lebens schwach auf der Brust sein, weil der Husten, la tossa ripetitiva, seine Lungen angreift und seine ewige Rotznase den Schleimhäuten den Garaus macht. Er braucht Wärme und frische Luft. Hier jedoch, in dieser klammen Bude, die trotz des trockenen Sommers wie ein Kellerloch muffelt und stinkt, wird er nicht genesen.“ Er fasste sich an die Gurgel, als wolle er ersticken.

„Was soll ich also tun, Sie Besserwisser?“

„Mieten Sie eine Sänfte, packen Sie ihn warm ein und lassen Sie ihn in Genuas schönster Bucht Boccadasse herumtragen.“

Antonio starrte sekundenlang betäubt auf Gambaro und brach dann in ein so irres Gelächter aus, als habe er einen Harlekin vor sich. Verwirrt wich Teresa zurück.

„Ich habe vier Kinder zu ernähren und drei Bestattungen bezahlt. Glauben Sie, ich bin ein Goldesel?“

„Ob Sie ein Esel sind, sei dahin gestellt. Jedenfalls lassen Sie keine Gelegenheit aus, Ihre Taschen zu füllen. Hier!“, er deutete auf die Mandoline, „warum haben Sie das edle Stück aus Neapel noch nicht zu einem horrenden Preis verkauft? Das Mandolinenspiel ist noch immer sehr beliebt.“

„Sie ist für Niccolò. Er soll Musikant werden.“

Dottore Gambaro nahm seinen Hut. Er wiederholte, an Teresa gerichtet, die Dosis der einzunehmenden Medizin und blieb beim Hinausgehen vor Signore Paganini stehen.

„Die Medizin allein reicht nicht aus. Sollten Sie meinen Ratschlag nicht befolgen, wird Niccolò kein Musikant, weil ihm dazu keine Zeit bleibt.“ Gambaro setzte den Hut auf und wandte sich ab.

„Schwarzseher!“, nuschelte Antonio. Gambaro drehte sich um.

„Nicht ich! Sie sind es. Deshalb kommen Sie auch nicht mehr zu unseren Versammlungen. Sie glauben, die Republik Genua sei eingerostet. Sie glauben, sie bewege sich nicht nach vorn. Vielleicht nicht einmal nach hinten. Einfach gar nicht mehr. Sie täuschen sich, lieber Signore!“

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Ich kann sehen, aber die Sonne sticht in meine Augen. Silbrig glänzende Weingärten ziehen sich den Hang hinab zu einer verfallenen Kapelle. Von hier aus sieht sie aus wie ein Spielzeug. Sie ist nicht größer als meine Hand und doch steht sie wie eine Königin auf der Klippe. Einsam und erhaben. Dahinter liegt das Meer, tiefblau, schäumend und kraftvoll. Wenn das Meer ausatmet, tanzen die Wellen in ihren weißen Röcken, wenn es einatmet, rollen sie sich wie Schnecken zusammen. Ich versuche, so zu atmen wie das Meer. Vater hat gesagt: Nimm beim Einatmen die Weite des Meeres und des Himmels in dir auf, atmest du aus, stoße das Meer mit deinem Atem bis zum Horizont. Das ist leichter gesagt als getan, außerdem stört mich Vaters Mandolinenspiel. Gemütlich lehnt er an der verwitterten Mauer eines zerfallenen Steinhauses und zupft Mandoline. Zu den herrschaftlichen Häusern, die die Anhöhen der Bucht schmücken, passt das zerschossene Gebäude nicht, aber vermutlich war es einmal ein Schloss oder ein Teil davon und soll uns an Genuas Kriege erinnern. Ich sitze in einen Mantel gehüllt neben ihm, die Sonne wärmt mein Gesicht, meinen Kopf, meine Brust. Immer wieder muss ich husten. Vater glaubt, es ist die frische Luft, die meine Lungen reizt und reinigt. Ich aber glaube, es sind die unreinen Töne der Mandoline. Vater sagt: Hör gut zu Niccolò, so freundlich bin ich nicht alle Tage. Sobald du gesund bist, wirst du wieder viele Stunden täglich üben, und dann spielst du so. Schau auf meine Hände. Hörst du nicht, Niccolò? So spielst du. Genau so!

Und er zupft, wie eine Katze ihr Fell zupft. Er rupft an den Saiten wie Mama das Huhn am Samstag rupft. Er reißt an der Saite wie Paola an ihrem Haar reißt, wenn sie Flöhe hat.

„Hörst du, Niccolò?“, fragt er grimmig. Oh ja ich höre sehr wohl und sehr gut. Ich habe kein unharmonisches Ohr wie Sie, böser Padre! Und ängstlich sehe ich zu ihm hoch. Ich kneife die Augen zusammen, und er denkt, ich tue es, weil ich ihn fürchte. Aber es ist die Sonne, die meine Augen blendet.

„Hörst du, kleiner, nichtsnutziger Kerl, was dein Vater sagt?“

Ich nicke und er meint, ich sei einverstanden, aber ich denke ganz fest, dass ich nie so zupfen und nie so spielen werde wie Vater, weil ich nicht so spielen und zupfen kann. Niemals! Dieses Instrument, diese Mandoline ist doch kein Acker, auf dem man pflügt, keine Straße, auf der Kutschen fahren, aber vielleicht ist es ein Meer, in dem Tiere schwimmen und das durch eine leise Bewegung des Windes aufgewühlt wird.