Vom Verdacht zur Diagnose

Schnell steht der Verdacht: Das Kind hat ADHS. Die Diagnose sollte jedoch nicht leichtfertig gestellt werden. In umfangreichen Untersuchungen müssen Ärzte oder Psychologen den Verdacht kritisch prüfen.

Haben Eltern oder Lehrer den Verdacht, dass ein Kind eine ADHS haben könnte, sind Kinderärzte die erste Anlaufstelle. Sie können mithilfe von Fragebögen, die Eltern oder Lehrer ausfüllen, einen ersten Test durchführen. Deutet darin vieles auf eine ADHS hin, sollte nicht gleich eine Diagnose vergeben werden, sondern weitere, umfangreichere Untersuchungen müssen genau abklären, ob es sich wirklich um ADHS handelt. Dafür sind meist mehrere Termine nötig.

Lehrer und Erzieher sind die Personen, die das Kind jeden Tag mehrere Stunden am Stück unter Gleichaltrigen beim Lernen, Spielen, Basteln, Malen, Essen oder auch Schlafen und Aufräumen sehen. Sie haben daher jede Menge Eindrücke von dem Kind in unterschiedlichsten Situationen, wissen, wie es sich allein, in Gruppen, in ruhigen Momenten und in Aktion verhält. Sie können vergleichen, sowohl mit jüngeren Kindern als auch direkt mit den Gleichaltrigen in der Gruppe. Ihr Eindruck ist daher sehr wichtig und ergänzt das Bild der Eltern.

Der Kinderarzt selbst, ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder ein Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut sollte nach dem kürzeren Test ein längeres Gespräch mit den Eltern, den Kindern und wenn möglich Lehrern oder Erziehern führen.

Bei den Gesprächen geht es um die Biografie, das bisherige Leben und Verhalten des Kindes: Wie benimmt es sich in der Schule, zu Hause, bei Freunden, im Sportverein? Wie verlief die frühere Kindheit, gab es Probleme im Kindergarten, welche körperlichen Erkrankungen hatte das Kind? Wie ist die Situation zu Hause, gibt es Geschwister, wie läuft der Alltag ab, haben andere Familienmitglieder ähnliche Probleme?

Neben diesen theoretischen Inhalten sollten Mediziner oder Psychologen für die Diagnostik auch einen Blick in den Alltag werfen, also das Verhalten der Kinder gezielt beobachten. Einen ersten Eindruck bekommen sie meist schon bei den Terminen in der Praxis oder Ambulanz. Zusätzlich helfen ihnen Besuche zu Hause und in der Schule, um sich ein Bild vom Kind zu machen.

In einer umfassenden medizinischen Untersuchung wird geprüft, ob keine anderen körperlichen Probleme die Symptome auslösen. Wahrnehmungs- und Intelligenztests dienen zudem dazu, weitere psychologische oder nervliche Beeinträchtigungen als Ursache auszuschließen.

Steht am Ende die Diagnose ADHS fest, gibt es je nach Alter und Schwere der Erkrankung unterschiedliche Möglichkeiten diese zu behandeln.

 Gut    zu wissen  

Wer einen drängenden Verdacht hegt, das eigene Kind könnte ADHS haben, sollte nicht lange warten, dies bei einem Kinderarzt, Psychiater oder Psychologen überprüfen zu lassen. Handelt es sich wirklich um die Erkrankung, kann dem Kind zeitnah geholfen werden. Ein früher Behandlungsbeginn schützt das Kind vor zusätzlichem Leid. Denn je länger ein betroffenes Kind mit seinem Verhalten in Schule, Freizeit und daheim aneckt, desto mehr Zurückweisung, Ärger und Tränen erlebt es, desto angespannter sind die Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Klassenkameraden oder Lehrern. Das kann in zusätzliche psychische Erkrankungen wie Depressionen münden.

Ein erster Schritt ist es, dass Angehörige und das Kind (wenn es alt genug ist) die Erkrankung verstehen lernen – also erfahren, warum die Kinder handeln, denken und fühlen, wie sie es tun (siehe „ADHS verstehen“).

In einem zweiten Schritt geht es um eine konkrete Behandlung. Was ist sinnvoll: Eine Psychotherapie, ein Elterntraining, Medikamente oder die Kombination mehrerer Maßnahmen? Das ist in jedem Fall anders und muss von den Eltern und auch den Kindern entscheiden werden (siehe „ADHS behandeln“).

ADHS verstehen

Zu wissen, woher die Symptome einer ADHS rühren, kann mehr Verständnis für die betroffenen Kinder ermöglichen. Das erleichtert die Eltern – und das Miteinander.

Forschung als Hilfe

ADHS ist unangenehm. Den Kindern, den Eltern, den Lehrern. Die Kinder leiden darunter, anders zu sein.

Den Eltern ist das ausufernde Verhalten ihrer Kinder mitunter peinlich, die täglichen Dramen belasten ihre Seele. Lehrer sind genervt und überfordert damit, das Energiebündel im Klassenraum zu bändigen. ADHS eckt an.

Doch zu verstehen, wie das Verhalten, die andere Wahrnehmung entsteht, kann helfen, manche Situationen mit etwas mehr Leichtigkeit zu durchleben, unwirsche Handlungen der Kleinen nicht persönlich zu nehmen oder auch einer Eskalation vorzubeugen. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen nämlich: Die Kinder können nichts für ihr Verhalten, sie agieren und reagieren nicht aus Niedertracht so wild und aufmüpfig. Sie sind nicht bösartig.

Die aktuelle Forschung nimmt vor allem Eltern eine Last ab. Denn sie zeigt: Sie sind nicht schuld an der Störung. Und zugleich gibt sie Hoffnung, denn: Eltern können den Verlauf der ADHS beeinflussen (siehe „Zu Hause unterstützen: Hilfen für Eltern“).

Aber was genau löst ADHS nun aus, woher kommen die Symptome und weshalb entsteht so manche schwierige Situation? Ganz sicher können Experten das noch immer nicht sagen, doch die bisherigen Befunde ermöglichen es bereits, die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit der Störung besser zu verstehen – und somit das Zusammenleben zu erleichtern.

Auch wenn Forscher noch nicht sagen können, welche Kräfte aufeinandertreffen müssen, damit ein Kind an ADHS erkrankt, so wissen sie dennoch mit Sicherheit: Es gibt nicht den einen Faktor, nicht das eine Gen oder die eine Fehlschaltung im Gehirn oder gar eine bestimmte Erziehungsmethode, die die Probleme auslöst. Vielmehr treffen mehrere ungünstige Bedingungen aufeinander. ADHS entsteht aus einem Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Einflüsse, also zum Beispiel durch Gene, bestimmte Vorgänge im Gehirn und das, was ein Kind erlebt.

Der hilfreiche Blick ins Gehirn

Wichtige Bereiche im Gehirn funktionieren in Köpfen von ADHS-Kindern anders als üblich. Das erklärt viele Symptome – und ist veränderbar.

Lange Jahre galt die Erziehung der Eltern als Kern allen Übels, wenn Kinder an einer ADHS erkrankten. Die Forschung widerspricht dem inzwischen deutlich. Denn: Die Störung ist zu einem großen Teil in die Wiege gelegt. Wissenschaftler konnten inzwischen mehrere Genkombinationen ausfindig machen, die offenbar das Risiko erhöhen, dass ein Kind später starke Konzentrationsprobleme haben und übermäßig aktiv sein wird. Zugleich betonen Experten, dass es nicht das eine Gen gibt, das ADHS unvermeidlich in Gang setzt. Trägt ein Kind eines oder mehrere der speziellen Gene in sich, ist damit sein „Schicksal“ nicht gleich besiegelt. Es kann trotzdem völlig unauffällig aufwachsen.

Die Zusammensetzung des Erbguts hat dennoch einen großen Einfluss darauf, wie sich das Gehirn von Menschen entwickelt, wie Nervenzellen untereinander kommunizieren und wie wir denken, handeln und fühlen. So sind bei Kindern mit ADHS einige Gehirnregionen kleiner oder wachsen langsamer, und auch die Art der Signalübertragung zwischen den Nervenzellen weicht von derjenigen gesunder Kinder ab. Ein Blick auf die einzelnen Abweichungen im Gehirn lässt bereits zahlreiche Probleme von betroffenen Kindern nachvollziehbar werden.

Flaute hinter der Stirn

Neurowissenschaftler haben mithilfe ausgefeilter Technik zahlreiche Regionen im Gehirn ausfindig gemacht, die bei Kindern mit ADHS eine andere Größe haben oder anders arbeiten als bei Gleichaltrigen. Vor allem der Gehirnbereich direkt hinter der Stirn scheint weniger gut zu funktionieren als bei normal entwickelten Kindern. Hier werden wichtige Denk- und Handlungsprozesse gesteuert. Wenn dieser Bereich seine Aufgaben korrekt erfüllt, sorgt er unter anderem dafür, dass wir unsere Umwelt nicht völlig ungefiltert sehen, riechen, schmecken oder fühlen, sondern dass nur bestimmte, für uns wichtige Informationen zu uns durchdringen. Das schützt uns vor Überforderung und ermöglicht, dass wir uns auf eine Aufgabe, ein Bild oder einen Gedanken konzentrieren können. Mithilfe dieses Gehirnbereiches setzen wir zudem Prioritäten, kontrollieren Impulse und können so zielgerichtet, planvoll und flexibel handeln. Auch bestimmte Erfahrungen werden hier verankert. All diese Funktionen sind bei Kindern mit ADHS eingeschränkt.

ADHS-Kinder erleben ihre Umgebung größtenteils ungefiltert. In einem Klassenraum mit 25 Schülern prasselt daher auf das Kind neben der wichtigen Ansage der Lehrerin auch in gleichem Maße ein, wie Mitschüler vor und neben ihm schreiben, etwas auspacken, flüstern oder kichern. Es sieht die Tafel, aber auch bunte Bildchen drumherum oder was vor dem Fenster passiert. Die Ansage der Lehrerin geht dann schnell mal unter und wird wegen der Vielzahl an Informationen, die das Kind parallel wahr- und aufnimmt, schneller vergessen. Die Reizflut macht das Kind zudem leicht ablenkbar. Es fällt ihm schwer, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Doch nicht nur Aufgabenstellungen gehen unter, weil sie bei all den zusätzlichen Eindrücken nicht im Gehirn abgespeichert werden können. Das Gehirn ist oftmals auch einfach mit der Vielzahl der Eindrücke überlastet. Daher verschwinden auch Erfahrungen bisweilen schnell wieder. Das erklärt, warum Kinder mit ADHS oft nicht aus guten oder schlechten Ereignissen für später etwas lernen, sondern eine Dummheit mehrfach begehen beziehungsweise einen Erfolg nicht immer auch wiederholen können.