[39|40]Ulrike Brandt

Aufmerksamkeitshandel und Unsterblichkeit
Zu einer ›Poetik der Gegenwartsromanrezensionen‹

1 Poetik der Literaturschaffenden

Von der Definition der Begriffe »Poetik«, »Gegenwart« und »Roman« hängt ab, wie die Frage nach einer Poetik des Gegenwartsromans aufgefasst wird. Als »Roman« soll im Folgenden ein komplexerer, fiktionaler, erzählender Prosatext, der selbständig veröffentlicht wurde, verstanden werden. Ist von »Gegenwart« die Rede, sind in diesem Beitrag, stark eingegrenzt, die letzten fünf Jahre gemeint. Der Term »Poetik« geht zurück auf das altgriechische Konzept ποιητικὴ τέχνη (poietike techne), eine die πоίησις (poiesis) betreffende Könnerschaft. Üblicherweise meint poiesis die Tätigkeit des Dichtens und »Poetik« die Kunst des literarischen Schreibens.1 Doch poiesis kann auch allgemeiner jede Art produktiven Schaffens bezeichnen und »Poetik« generell ein professionelles ergebnisorientiertes Tätigsein apostrophieren. Diese Konnotation steht im Vordergrund, wenn – wie hier – das Augenmerk nicht allein auf Dichtern, Schriftstellern, Autoren liegt, sondern sich auf Literaturmacher und im Literaturbetrieb Tätige in einem weiteren Sinn richtet. Auf welche Art des Schaffens auch immer sich die Könnerschaft bezieht, sie erwächst aus der Anwendung von Regeln, die erlernt und gelehrt werden können. Dass genialische Inspiration und Musenkuss dem Könner zum Vorteil gereichen, mag sein. Jedoch sind sie für seine Tätigkeit aus Sicht eines ›Regelpoetologen‹ nicht notwendige Bedingung.

Wer der vorgenommenen Begriffsbestimmungen eingedenk sich fragt, nach welchen Prinzipien heute Romane geschaffen werden, wird davon profitieren, das gegenwärtige Verhältnis von Wortkunst und Literaturwirtschaft wenigstens ansatzweise auszuloten. Zwei elementare Aspekte regulieren dieses Verhältnis: erstens der Kampf um Aufmerksamkeit für den jeweiligen Roman. Letzterer muss sich gegen unzählige Konkurrenzromane in der Öffentlichkeit durchsetzen, um überhaupt von potenziellen Lesern wahrgenommen zu werden. Nicht immer, aber oft ist mit dem Ringen um Aufmerksamkeit zweitens die Jagd nach Verkäufen auf dem Buchmarkt verbunden. Spätestens wenn die Wortkunst Leser und Käufer anzuziehen bemüht ist, kann sie kaum umhin anzuerkennen, nicht nur Kulturgut, sondern auch Handelsware zu sein. Als Ware verliert ein literarisches Werk nicht zwingend seinen künstlerischen Wert, Gerhard Richters »Kerze« vergleichbar, [40|41]die nicht weniger Kunstwerk wird, wenn ein Käufer sie für zwölf Millionen Euro ersteigert.2 Im Gegensatz zum materiellen Unikat der bildenden Kunst sind erzählende Prosatexte auf Verbreitung durch Vervielfältigung in zeitgemäßen Formaten angewiesen. Zumeist ist lediglich der immaterielle ›Stoff‹ – Stil, Handlung, Figuren – für das Prädikat »Kunst« maßgeblich. Der Warenwert spiegelt sich davon unabhängig im Ladenpreis des Titels, der sich wiederum aus Auflagenhöhe, Produktionskosten, Honorarzahlungen etc. ergibt. Dass die ökonomischen Bedingungen, unter denen Schriftsteller leben und schreiben, das Schaffen beeinflussen, wird kaum jemand bestreiten.3 Es wäre sicherlich ertragreich, die verschiedenen Wechselbeziehungen zu entfalten.

Wird der auf Literaturmacher ganz allgemein bezogene »Poetik«-Begriff angewendet, erweitert sich der Kreis der Kulturgut und Handelsware Schaffenden und mit ihm das Netz der ökonomisch-ästhetischen Wechselbeziehungen beträchtlich. Nicht nur Autoren, sondern Literaturagenten, Lektoren, Verleger, Übersetzer, Rezensenten, Kritiker, Literaturwissenschaftler, Blogger, Buchhändler, Verlagsmenschen; Barsortimente, Onlineversandhändler, Schreibwerkstätten, Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Literaturhäuser, Literaturarchive, Vereine, Stiftungen, Verwertungsgesellschaften; Lizenzen, Poetikdozenturen, Preise, Stipendien, Festivals, Kolloquien, Poetry Slams, Lesungen, Buchmessen, Netzwerktreffen, Tagungen; Feuilleton, Presse, Funk, Fernsehen, Internet, Medien und andere mehr – all diese Menschen, Institutionen und Erlebniswelten beteiligen sich an der Produktion und Rezeption von Literatur und treten im Wettstreit um Aufmerksamkeit und Verkaufszahlen mit- und gegeneinander an. Diesen Agon gewinnt, wer die Öffentlichkeit am besten davon überzeugen kann, dass und warum ein bestimmter Roman gelesen werden soll. Ihn verliert, wer nicht genug Gründe dafür aufbieten kann. Ihn verliert auch, wer zwar starke Argumente wie beispielsweise einen guten Roman auf seiner Seite hat, diese allerdings von einer randständigen, schwächeren Position aus dem Publikum präsentieren muss. In erster Linie bemühen sich Marketing und Vertrieb, einem Roman Aufmerksamkeit zu sichern, und liefern immer wieder neue Anreize, ihn wahrzunehmen.4 Auch Rezensenten und Kritiker leisten solche Überzeugungsarbeit. Sie sind die ersten öffentlichen, gleichsam ›offiziellen‹ und als Sachverständige gemeinhin akzeptierten Leser. Es ist ihr Kerngeschäft, das stetig neue Romanangebot zu vergleichen, zu bewerten und dem größeren Publikum eine Auswahl anzuempfehlen oder auszureden. Klassischerweise nehmen Besprechungen und Kommentare durch Empfehlung und Verriss Einfluss und fundieren oder festigen die jeweiligen Maßstäbe für lesenswerte Literatur.

Neben Lob und Tadel nutzen Marketing und Rezensionen auch verschiedene Formen des Storytellings, um einen Roman in Szene zu setzen [41|42]und seinem Erscheinen mitunter die Wucht eines schicksalhaften Ereignisses zu verleihen.5 Die Diskussion über angemessene Maßstäbe zur Bewertung von Literatur sowie der Streit um die zutreffende Anwendung dieser Kriterien auf einen bestimmten literarischen Text treten einerseits neben anschaulich geschilderte Leseerlebnisse, andererseits neben eindrücklich vorgetragene Zweckbestimmungen, anhand derer die individuelle oder gesellschaftliche Relevanz des besprochenen Romans hervorgehoben wird. Es geht um die die Leser betreffende, sie bewegende Geschichte »hinter«, »vor« oder »zu« der Erzählung des Romans. Sie scheint jedem literarischen Werk gegenwärtig mehr Durchsetzungskraft zu verleihen als die subtilste Literarizität.

2 Rezensionen zu Preisträgern der Buchmessepreise

Ob dieser Schein trügt oder sich bewahrheitet, soll anhand einer Auswahl von Besprechungen untersucht werden. Rezensionen eignen sich gerade deshalb als Untersuchungsgegenstand, weil sie qua Textgenre Einschätzungen liefern. Die re-censio mag nicht die ursprüngliche Musterung der Bürger durch einen Beamten der römischen Republik, sondern die Lektüre und Bewertung deutschsprachiger Gegenwartsromane durch einen fürs Feuilleton Schreibenden betreffen. So ungleich beide Situationen anmuten, jeweils schätzt eine institutionalisierte Instanz, deren Gutachten generell anerkannt wird, den Wert. Aus der Vielzahl verfügbarer Artikel und Kommentare wurden deshalb Rezensionen ausgewählt, deren Verfasser sich beruflich mit der Bewertung von Gegenwartsliteratur beschäftigen. »Beruflich« impliziert hier vor allem zweierlei. Die Verfasser der ausgewählten Rezensionen mögen nicht immer explizit als »Literaturkritiker« tituliert werden. Sie agieren indes wie solche, indem sie ihre Besprechungen häufiger und im öffentlichen Rahmen von (über-)regionalen Tages- und Wochenzeitungen publizieren. Ihre Urteile gewinnen aufgrund der Anerkennung, die ihnen die literaturbetriebliche Institutionalisierung verleiht, Aussagekraft und Wirkungsmacht.

Die ausgewählten Rezensionen beschäftigen sich wiederum mit einer Auswahl der mit dem Deutschen Buchpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneten Romane der Jahre 2011 bis 2014: Eugen Ruges »In Zeiten des abnehmenden Lichts« (Deutscher Buchpreis 2011), Wolfgang Herrndorfs »Sand« (Leipziger Buchpreis 2012), Ursula Krechels »Landgericht« (Deutscher Buchpreis 2012), David Wagners »Leben« (Leipziger Buchpreis 2013), Terézia Moras »Das Ungeheuer« (Deutscher Buchpreis 2013) sowie Lutz Seilers »Kruso« (Deutscher Buchpreis 2014). Diese Beispiele eignen sich besonders, weil erstens die Auszeichnungen den prä[42|43]mierten Werken eine relativ hohe Durchsetzungskraft im Literaturbetrieb zuweisen, da zweitens die ausgezeichneten Texte die deutschsprachige Gegenwartsliteratur verhältnismäßig überregional und verlagsübergreifend repräsentieren und weil drittens Romane den Schwerpunkt im Reigen der mit beiden Preisen dekorierten Texte bilden.

Anders als etwa der Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, der insbesondere literarische Neuentdeckungen prämiert, und anders als der Georg-Büchner-Preis, der vorrangig ein über einen Roman hinausgehendes Werk auszeichnet, küren die beiden Buchmessenpreise das ›beste‹ deutschsprachige Buch des Frühjahrs oder Herbstes eines Verkaufsjahres. Beide Auszeichnungen werden zum Auftakt oder während einer Buchverkaufsveranstaltung verliehen. Allein dieser Anlass macht die vermarktende, verkaufsfördernde Funktion der Preise offenkundig. Dass jedoch nicht notwendigerweise allein das ›Kunstlose‹ zum Verkauf sich eignet, war mit dem oben angeführten Gerhard-Richter-Vergleich schon angemerkt worden. Während der Preis der Leipziger Buchmesse nicht auf das Genre Roman festgelegt ist, wie die Auszeichnung der Erzählungen »Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes« von Clemens J. Setz oder der Gedichte »Regentonnenvariationen« von Jan Wagner zeigen, übernimmt der auf der Frankfurter Buchmesse verliehene Deutsche Buchpreis seiner Satzung nach gegenwärtig am sichtbarsten die literaturpolitische Funktion, »den deutschsprachigen ›Roman des Jahres‹« auszuzeichnen.6

Preisvergabepraxis wie Auswahlprinzipien gaben und geben indes immer wieder Anlass zu Kritik. Selektion, die »Aufmerksamkeitsmonopolisierung« zur Folge habe, und Personalisierung, die einzelnen Autoren zu mehr symbolischem Kapital verhelfe, werden unter anderem bemängelt.7 Auch entsprächen die ersten zehn mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Romane einer Art »Formel«, indem sie allesamt »eine fiktive Handlung in einer unserer Realität ähnelnden Welt erzählten – am liebsten mit Geschichtsbezug«.8 Hier werden DDR- beziehungsweise Wende-, NS-Thematik und 9/11 genannt.

Im Folgenden geht es nicht darum, diese thematische ›Formel‹ für einen vermeintlich erfolgreichen Gegenwartsroman zu prüfen, zu belegen oder zu erweitern. Die zu den angeführten Romanen ausgewählten Besprechungen werden zwar ebenfalls daraufhin gelesen, welche thematischen Aspekte die Rezensenten hervorheben. Außerdem werden deren Äußerungen anhand von wirkungs- und darstellungsästhetischen Kriterien ausgewertet. Naturgemäß ergibt die Auswertung von Besprechungen von Romanen in erster Instanz eine ›Poetik der Gegenwartsromanrezensionen‹. Es zeigen sich parallele oder gegensätzliche Wertschätzungen der meinungsbildenden Leser, welche deren von Situation, Funktion und Zeit bedingten Ansprüche an und Normen für heutige Romane offenbaren.9

[43|44]3 Movere, delectare, docere

Zunächst vermitteln die Besprechungen, dass es sich bei den ausgezeichneten Romanen um besondere Exemplare dieser Art handelt. In allen Rezensionen werden Adjektive erwartungsgemäß zahlreich verwendet, um Wirkung und Wert der Texte zu beschreiben. Am häufigsten treten solche auf, die sich den drei klassischen Persuasionsgraden der römischen Rhetorik10 entsprechend zur Gewinnung des Publikums durch movere zählen lassen. Die prämierten Romane sind »bewegend«11, »erschütternd«12, »aufregend«13, »aufwühlend«14, »mitreißend«15, »spannend«16, »atemberaubend«17, »packend«18, »fesselnd«19. Ob sie »beklemmend«20 und »bedrückend«21 oder »anrührend«22 und »bestrickend«23 wirken, sie scheinen darauf abzuzielen, mithilfe der Erregung starker Emotionen einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Der Eindruck bleibt, wenn die Lektüre zum Ereignis und Erlebnis wird. Ein Roman gilt heute als Erfolg versprechend, gelingt es ihm, aus einem intellektuellen Lesevorgang eine affektive Erfahrung zu machen. Aufsehen unter Lesern zu erregen, die an emotionalisierte Information, an Schock- und Horrorgeschichten der Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie gewöhnt sind, verlangt dem Gegenwartsroman jedoch einiges ab.

Etwas seltener, aber immer noch häufig werden Ruges »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, Herrndorfs »Sand«, Krechels »Landgericht«, Wagners »Leben«, Moras »Das Ungeheuer« und Seilers »Kruso« Eigenschaften zugeschrieben, die je nach Intensität der Emotion, die sie hervorrufen, sowohl der Wirkungsart des movere als auch der des delectare zuzuordnen sind. Die komischen Effekte reichen von »lakonisch«24, »ironisch«25, »satirisch«26 über »witzig«27, »heiter-melancholisch«28, »scherzhaft«29 hin zu »wahnwitzig«30, »makaber«31 und »absurd«32. Harmlos Humorvolles tritt zurück. Es dominiert Hintersinniges, Kurioses oder Abgründiges, wenn es darum geht, Leser ebenso anspruchsvoll wie vergnüglich zu unterhalten und ihre Gunst zu erlangen.

Die ›unterhaltende‹ Wirkungsart scheint vor der ›ernsten‹ des docere zu rangieren oder ihr mindestens ebenbürtig zu sein. Kein positiv beurteilter Roman kommt indes ohne Letztere aus. Besonders Zwischenmenschliches und Historisches wird dem Leser vermittelt, und zwar möglichst »genau«33 und »detailliert«34, »sachlich«35 und »analytisch«36, »glaubwürdig«37 und »authentisch«38. Der Vorzug, den Kritiker der Genauigkeit geben, verrät eine Vorliebe fürs Exakte, Akkurate, Distinkte. Geschätzt wird die Suggestion, es komme auf ein Einzelnes an, das den Unterschied mache. Ebenfalls besonders lobend erwähnt wird analytischer Sachverstand, mit dessen Hilfe komplexe, vielfältige Situationen erklärt werden können. Die Leistung desjenigen, der erläutert und entfaltet, wird umso bewunderungswürdiger, je schwieriger und verworrener das Erklärte zuvor gewirkt hat. Schließlich [44|45]drückt die Beachtung, die Glaubwürdigkeit in den Besprechungen erfährt, das Bedürfnis aus, lieber Mögliches und Wahrscheinliches zu erfahren als Unmögliches und Unwahrscheinliches.39 Das wenigstens vermeintlich Echte und von der Wirklichkeit Verbürgte hat gegenwärtig Vorrang vor dem Utopischen.

Allein diese knappe Übersicht zeigt einige der wesentlichen Ansprüche, die Rezensenten an preiswürdige Gegenwartsromane stellen. Sie sollten mehr aus unserer Lektüre machen, indem sie zum Ereignis stilisiert werden. Sie sollten uns mehr Vergnügen bereiten und mehr Wissen vermitteln als vieles, dem wir üblicherweise unsere Aufmerksamkeit schenken. Doch es handelt sich bei diesem triadischen Mehr keineswegs um ein rein quantitatives Plus, wie die in den Besprechungen positiv hervorgehobenen Darstellungsweisen von Gegenwartsromanen belegen.

4 Virtuosität

Das Prädikat »virtuos« wird besonders häufig und emphatisch verwendet, um die literarische Beschaffenheit eines ausgezeichneten Textes herauszustellen.40 Die mit dem Virtuosen, von lateinisch virtus, aufgerufene Tugend oder Tüchtigkeit führt direkt zurück zur oben genannten poietike techne, der poietischen Könnerschaft, die entwickelt, wer sich die Regeln einer Kunst aneignet und sie richtig anwendet. Das Virtuose steht im Kontext der Regelpoetik, auch wenn es auf eine selten erreichte technische Meisterschaft verweist, die wahrscheinlich ohne Begabung nicht erlangt werden würde. Wer seine Könnerschaft sogar bis zu einer Meisterleistung zu steigern vermag, wird die Regeln einer Kunst nicht bloß artgerecht anwenden. Er wird sie auf die bestmögliche Weise umsetzen und gegebenenfalls für seine Zwecke weiterentwickeln. Nennt ein Rezensent einen Roman virtuos gemacht, beschreibt er also eine Qualität eines Textes, nämlich die besondere Art und Weise, in der dieser Text und derjenige, der ihn verfasst hat, den Begriff des Literarischen erweitert.

– Multiperspektivität

Vergleicht man die ausgewählten Besprechungen unter dem Gesichtspunkt technisch meisterhaft umzusetzender Normen für den Gegenwartsroman, wird Multiperspektivität besonders oft angeführt.41 So setze Ruge »eigenständig (…) das multiperspektivische Erzählen des zwanzigsten Jahrhunderts fort, ohne eine historisch gewordene Avantgarde zu imitieren«.42 Auch Mora erzähle den »Darius-Part« »in einer (…) multiperspektivischen Haltung. Erste, zweite, dritte Person Singular wechseln sich bruchlos ab.«43 Sie habe sich »gewissermaßen einen beweglichen Erzähler einfallen lassen, der [45|46]im selben Absatz mehrfach von der Außenperspektive auf eine Figur zu deren Innensicht« wechsle.44 Im Hinblick auf die drei auf das Drama bezogenen aristotelischen Einheiten45 drängt sich die antithetische Parallele auf, für den heutigen Roman gelte das Ideal der Vielheit von Zeit, Raum und Handlung. Souveräne Ortswechsel, Zeitsprünge und Handlungsschachtelungen, sich meta-, extra- sowie intradiegetisch durchdringende Handlungsebenen und pro-, per-, retro- oder introspektiv das Geschehen aufzeichnende Erzählerpositionen haben großen Anteil daran, dass ein Rezensent einem Werk das Prädikat »meisterlich« verleiht.46

– einprägsame Figuren und deren Schicksale

Der Multiperspektivität nachgeordnet, doch ebenfalls im Kampf um Aufmerksamkeit geschätzt werden einprägsame Figuren und deren Schicksale.47 Sobald ein zentrales Erzähler-Ich zur Orientierung im Perspektivenlabyrinth auftritt, steht dessen identifikatorische Tauglichkeit auf dem Prüfstand. Wenn Erzählstimmen oder Figuren aufgrund ihres antiheldischen Denkens und Verhaltens eher Distanz denn Nähe zum Leser schaffen, gereicht ihnen das in den Augen der Rezensierenden häufig zum Vorteil. Mit Blick auf »Landgericht« bestehe »Krechels bewusstseinsbildende Kunst« vor allem darin, »Regungen und Empfindungen (…) eher mit rationaler Empathie als emotional zu schildern und damit gleichzeitig größte Nähe und sachliche Distanz zu den Protagonisten herzustellen«. »Statt zu psychologisieren, beschreibt sie die Farbe und Form der marmorverkleideten Wände, die Finessen der hohen Schwingtüren und Ähnliches mehr.«48 Ebenfalls exemplarisch spreche in Wagners »Leben« »keine selbstverständlich aus sich heraus existierende Subjektivität, alles wird erzählt wie in einer irritierenden dritten Person – auch wenn das Ich von sich berichtet«.49

– Akribie

Die Besprechungen bewerten auch einen ausdauernden Fleiß, mit dem Autoren umfangreiche Recherchearbeiten bewerkstelligen, häufig äußerst wohlwollend. Dass Krechel mehr als zehn Jahre für »Landgericht« recherchiert und 26 Monate an den fast 500 Seiten geschrieben habe, wird genauso anerkennend hervorgehoben wie Seilers Vergleich des Romanschreibens »mit einer Baustelle, auf der man sich jahrelang aufhalten müsse, um die Konstruktion zu Ende zu bringen«.50 Schlagen sich Sammelfunde in nüchternen Formen des faktionalen Berichtens und Schilderns nieder oder werden Forschungsergebnisse anhand diverser Fokalisierungstypen den Lesern zur selbständigen Interpretation mit auf den Weg gegeben, erkennen Rezensenten darin historische und allgemein menschliche Tiefendimensionen. Diese bieten oft dankbar angenommenes Material, um der prämierten Fiktion eine gewisse Resonanz zu verschaffen.

[46|47]– ›Sound‹

Schließlich zählt zu den für Erfolg versprechend gehaltenen Darstellungsweisen, was als besonderer ›Sound‹ eines Autors beschrieben wird.51 Dieser animiere dazu, auch andere Werke desselben Schriftstellers zu lesen, um etwa »mehr zu haben vom Mora-Sound«.52 Hier fragen die Besprechungen nach der Originalität des Stils, der Ideen, der Geschichte, und man mag darin eine Andeutung genieästhetischen Anspruchs aufblitzen sehen. Ein so noch nicht da gewesener eigenständiger Ton verleitet die Rezensenten zu klingenden Laudationes, wiewohl das »bildreiche«53, »sprachmächtige«54 oder »wortgewaltige«55 Große und Starke der sprachlichen Ausdrucksformen nicht selten in einem »knappen«56, »klaren«57, »kunstvoll tiefstapelnden«58 verbalen Bescheidenheitsgestus aufgehoben werden sollte.

Gegenwartsromane, die dem Anspruch der Rezensierenden, als vergnügliches wie informierendes Ereignis zu wirken, gerecht werden, zeigen das, was sie erzählen, nicht aus einem autoritativen Blickwinkel, sondern bemühen sich um perspektivische Vielfalt, die sich auf Ort, Zeit, Handlung und Figuren erstreckt. Doch mit solchen Vervielfältigungen geht nicht einher, dass alles haarklein ›auserzählt‹ würde. Im Gegenteil, das Erzählen ›auf Lücke‹, das den Leser nötigt vor- und zurückzuspringen, ihn mit Rätseln oder Leerstellen konfrontiert und ihm nie die Gewissheit von Lösungen oder vollständigen Zusammenhängen gönnt, lässt die Rezeption zu einer Leistung eigener Art werden und wird in zahlreichen Besprechungen sehr geschätzt.59 Vergnügt und informiert wird sich nur derjenige fühlen, der Kapazitäten und Kompetenzen hat, sich lustvoll anzustrengen, den möglicherweise das Wissen, der Autor habe selbst mühsam ringen müssen, um das Material zu bändigen, über seine eigenen Mühen, alles nachzuvollziehen, hinwegtröstet und der sich zu guter Letzt ein offenes Ohr für einen vielleicht ungewöhnlichen und nicht unmittelbar eingängigen ›Sound‹ bewahrt hat. Die von Rezensenten an für preiswürdig erachtete Romane von heute erhobenen Ansprüche werden dergestalt auch auf deren mögliche Leserschaft übertragen.

5 Nation, Identität und Existenz

Ein Argument, mit dem Besprechungen all diese Anforderungen und Anstrengungen rechtfertigen, liegt auf der Hand: In jedem einzelnen gepriesenen Roman geht es um etwas oder, noch besser, geht es ums Ganze. Dieses von den Besprechungen hervorgehobene Ganze tritt vorzugsweise in Gestalt der deutschen Geschichte, der Identität eines Individuums respektive einer Gruppe oder der Entscheidung zwischen Leben und Tod auf. Vornehmlich hoch geschätzt werden diejenigen Romane, die auf die drei Stoffkomplexe [47|48]Nation, Identität und Existenz, teilweise auch auf alle zusammen, zurückgreifen, wenn es darum geht, das Erzählte mit der Realität ihrer potenziellen Leser in Verbindung zu bringen.

Mit Preisen bedacht wird eine Art ›Nationalliteratur‹, die sich mit Ereignissen der bundesrepublikanischen wie der DDR-Geschichte befasst.60 Diesen historischen Hintergrund teilen Autor und Leser zumeist. Erst wenn der Roman in Übersetzung auf dem internationalen Markt erscheint, spielt dieser gemeinsame Nenner eine weniger bedeutende Rolle. Dann eignet sich das Werk jedoch insbesondere, um die nach der Shoah etablierte ›deutsche Tugend‹, vorbildlich selbstkritische Zeitgeschichtsanalyse zu betreiben, zu exemplifizieren. Mag es darum gehen, vergangene Verbrechen dem Vergessen zu entreißen oder unbekannten Opfern eine Stimme zu verleihen, die Rekonstruktion der historischen Ereignisse kommt nicht ohne den Bezugspunkt des Nationalen aus.

Der zweite, Anerkennung eintragende Stoffkomplex der Identität ist mit dem erstgenannten oftmals eng verbunden. Er eröffnet allerdings einen über das Deutsche hinausreichenden, weiter gefassten Rahmen, wenn es um die generelle Frage geht, wer man überhaupt sei.61 Exil- und Fluchterfahrungen geben häufig Anlass zu dieser ›Identitätsliteratur‹, die sich nicht in sozialen ›Ontologisierungen‹ erschöpft, sondern das Individuum samt seiner Persönlichkeit ins Blickfeld rückt. Auch hier erhöhen (auto-)biografische Ergänzungen zum im Roman Dargestellten dessen Glaubwürdigkeit und Attraktivität, wie die Besprechungen offenlegen.62

Drittens schließlich geht es tatsächlich um alles, wenn das Geschriebene vermittelt, ihm verdanke jemand oder etwas seine (bestimmte Form der) Existenz. So erstaunt es kaum, dass zahlreiche Romane, die in der jüngsten Vergangenheit mit einem der beiden Buchmessenpreise ausgezeichnet wurden, vor allem das, was das Sein und Leben bedroht, thematisieren, namentlich Krankheit, Tod, Vernichtung. In diesen thematischen Rahmen lassen sich alle in den letzten fünf Jahren mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romane einfassen: »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, »Landgericht« und »Das Ungeheuer« ebenso wie »Kruso« und zuletzt Frank Witzels »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manischdepressiven Teenager im Sommer 1969«. Unter den vergangenen fünf mit dem Preis der Leipziger Buchmesse prämierten Werken können »Sand« und »Leben« darunter subsumiert werden.63

Die über das Virtuelle hinausreichende Wirkung auf die Realität, die diesen Texten zugeschrieben wird, erfassen die Rezensionen häufig in performativen Begriffen, welche zugleich auf die gesellschaftlich relevanten Funktionen der Texte hinweisen. Diese sind beispielsweise Nekrolog, Nachruf auf das Lebenswerk eines Verstorbenen, oder fungieren als Requiem. So sei Moras »Das Ungeheuer« der Begründung der Jury zufolge »ein ›perspektivenreicher [48|49]Nekrolog‹, eine persönliche Leidensgeschichte und zugleich eine Reise in die Gegenwart eines vielschichtigen und teils fremden Europas«64, wohingegen Seilers »Kruso« »in seinem nüchternen Epilog ein Requiem für all jene Flüchtlinge, für die der riskante Weg in die Freiheit mit dem Ertrinken endete«65, darstelle.

Die Romane übernehmen zudem die Rolle eines Denkmals und dienen dem Gedächtnis an eine Person oder bezeugen ein Ereignis. Krechel soll »Landgericht« eigens »die Qualität dieses ›Denkmals‹ (…) für einen durchschnittlichen Flüchtling, der das Glück hatte, am Leben zu bleiben, aber letztlich an seiner nie ganz gelungenen Rückkehr zerbrach«, zugeschrieben haben.66 In ihrer beispielhaftesten Gestalt tritt diese ›Existenzliteratur‹ in Form eines Dankesbriefs an einen verstorbenen Organspender auf: »Leben« sei, »wie sich am Ende herausstellt, ein Dankbarkeitsbuch, nämlich ein Brief an den toten Menschen, dem die Leber gehört, welche jetzt in dem Erzähler lebt, dem man alles, alles Gute wünscht«.67

6 Fazit

Rezensenten legen in einem nicht zu unterschätzenden Maß sprachlich-stilistische und thematische Kriterien an, um ein Werk als (nicht) lesenswert oder (nicht) preiswürdig zu beurteilen. Gleichwohl stärken personalisierte, emotionalisierte Paratexte die Durchsetzungskraft eines Romans auf dem Buchmarkt beträchtlich, gerade wenn sie die mediale Meinungsbildung dominieren. Schreiben und Lesen, um eine nach dem Ableben vom Vergessen bedrohte Seinsweise präsent zu halten – notorisches Schreiben und Lesen gegen den Tod und für die Ewigkeit also –, das ist die in den Besprechungen zum fulminanten Ereignis stilisierte und postulierte Wirkungsmacht, mit der sich prämierte deutschsprachige Gegenwartsromane gegenüber der Konkurrenz im Buch- und Aufmerksamkeitshandel fast garantiert durchzusetzen scheinen. Hier zeigt sich die von den Rezensenten viel beschworene göttergleiche Kraft schriftstellerischer Wortkunst: In Buchstabenform gesicherte Existenz löst das Versprechen ein, unsterblich zu werden.68

1 Arist. Po. 1447a8–13. — 2 Vgl. <http://www.focus.de/kultur/diverses/kunst-12-millionen-euro-fuer-kerze-von-gerhard-richter_aid_674867.html> (3.6.2016). — 3 Z. B. Pierre Bourdieu: »Angebot und Nachfrage«, in: Ders.: »Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes«, übersetzt von Bernhard Schwibs und Achim Russer. Frankfurt/M. 2001, S. 395–400. — 4 Marc Reichwein hebt Personalisierung, Emotionalisierung und Skandalisierung als wesentliche Verfahren hervor, um die Attraktivität von Medieninhalten zu steigern und ihre Rezeption gezielt zu motivieren; vgl. ders.: »Diesseits und jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten«, in: Johann Holzner / Stefan Neuhaus (Hg.): »Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen«, 2. Aufl., Göttingen 2009, S. 89–99, hier S. 90 f. — 5 Marie Lampert / Rolf Wespe: »Im Labor der Aufmerksamkeit«, in: Dies.: »Storytelling für Journalisten«, Konstanz 2011, S. 177–186; Dieter Herbst: »Wichtige Wirkmechanismen des Storytelling«, in: Ders.: »Storytelling«, 2. überarb. Aufl., Konstanz 2011, S. 27–72; Marina Grishakova (Hg.): »Intermediality and storytelling«, Berlin u. a. 2010. — 6 Ingo Irsigler / Gerrit Lembke: »›The winner takes it all‹. Der deutsche Buchpreis im Profil«, in: Dies. (Hg.): »Spiel, Satz, Sieg. 10 Jahre Deutscher Buchpreis«, Berlin 2014, S. 11–28, hier S. 24. Hervorhebung von U. B. — 7 Vgl. Corinna Haug: »Bitte nicht füttern! Zur Kritik am Deutschen Buchpreis«, in: Irsigler / Lembke (Hg.): »Spiel, Satz, Sieg«, a. a. O., S. 83–96. — 8 Ebd., S. 84. — 9 Es würde sich lohnen, die Urteile der Rezensenten vor und nach Bekanntgabe der Preisverleihungen zu vergleichen, worauf hier aus Platzgründen verzichtet wurde. — 10 Cic. de or. 2,115; Heinrich Lausberg: »Handbuch der literarischen Rhetorik«, 3. Aufl., Stuttgart 1990, § 256–257. — 11 Georg Diez: »Ironie der Vergänglichkeit«, in: »Der Spiegel«, 4.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Karl-Markus Gauß: »Ein Stammgast des Unglücks«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 22.9.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Andrea-Hanna Hünniger: »Die Wüste ist ein sinnloser Ort«, in: »Die Zeit«, 17.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«); Wilfried Mommert: »Deutschlandroman voller Mitgefühl«, in: »stern«, 9.9.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Ulrich Rüdenauer: »Erzählen im Grenzbereich«, in: »die tageszeitung«, 9.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Ders.: »Der überhöfliche Star«, in: »Falter«, 10.10.2014 (zu: Seiler, »Kruso«); Bettina Schulte: »Eine persönliche Wiedergutmachung«, in: »Badische Zeitung«, 9.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Hajo Steinert: »Im Osten geht die Sonne unter«, in: »Die Welt«, 17.9.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Judith von Sternburg: »›Ich bin eine poetische Anwältin‹«, in: »Frankfurter Rundschau«, 8.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«). — 12 Hajo Steinert: »Herr W. soll leben«, in: »Die Welt«, 2.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«). — 13 Alexander Cammann: »Die letzte Instanz ist das Ohr«, in: »Die Zeit online«, 6.9.2014 (zu: Seiler, »Kruso«). — 14 Christoph Schröder: »Terézia Moras neuer Roman ›Ungeheuer‹«, in: »Der Tagesspiegel«, 14.9.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«). — 15 Volker Hage: »Oberwelt und Unterwelt«, in: »Der Spiegel«, 7.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«). — 16 Volker Breidecker: »Mutlose Mitte«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 12.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Eva Pfister: »Darius Kopp im Porzellanladen«, in: »Die Wochenzeitung«, 24.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Ulrich Rüdenauer: »Die Reise ins Ungewisse – Terézia Moras Roman ›Das Ungeheuer‹«, in: »Badische Zeitung«, 21.9.2013; Tim Schleider: »Buchpreis geht an die Autorin Terézia Mora«, in: Stuttgarter Zeitung, 7.10.2013; Ulrich Seidler: »Leipziger Buchmesse-Preis für Wolfgang Herrndorf«, in: Frankfurter Rundschau, 15.3.2012; Uwe Wittstock: »Mein Opa, der Kommunist«, in: »Focus Magazin«, 12.9.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Ders.: »Wozu diese seltsame Sache namens Leben?«, in: »Focus Magazin«, 14.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«). — 17 Paul Jandl: »Wende als Welttheater«, in: »Die Welt«, 10.9.2014 (zu: Seiler, »Kruso«). — 18 Ina Hartwig: »Die Pein des Buchpreises«, in: »Die Zeit«, 10.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«). — 19 Sandra Kegel: »Der Untergang des Hauses Ruge«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 26.8.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Elke Schmitter: »Der proletarische Zauberberg«, in: »Der Spiegel«, 1.9.2014 (zu: Seiler, »Kruso«). — 20 Friedmar Apel: »Wo Schmuggler, Hippies, Künstler und Agenten auftanken«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 11.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«); Michael Braun: »Deutschland, die Mitläuferfabrik«, in: »Der Tagesspiegel«, 30.9.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Peter Kock: »Tod in der Wüste«, in: literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2012 (zu: Herrndorf, »Sand«); Kirsten Voigt: »Gerettet und dennoch verloren«, in: »Frankfurter Rundschau«, 6.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«). — 21 Eva Pfister: »Feindliches Inland«, in: »Die WochenZeitung«, 18.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«). — 22 Tim Caspar Boehme: »Gespräch mit einem Toten«, in: »die tageszeitung«, 18.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Christa Gürtler: »Niemandskind am Rand des Dorfes«, in: »Der Standard«, 27.9.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Martin Zingg: »Heimkehr ins Unglück«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 6.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«). — 23 Stefan Kister: »Die Schiffbrüchigen unserer Gesellschaft«, in: »Stuttgarter Zeitung«, 7.10.2014 (zu: Seiler, »Kruso«). — 24 Gerrit Bartels: »Nie mehr allein«, in: »Der Tagesspiegel«, 25.2.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Helmut Böttiger: »Ein fremdes Flirren«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 14.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Jens Jessen: »Das unbewegte Pokerface«, in: »Die Zeit«, 28.2.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Dirk Knipphals: »Wehe dem, der in der Wüste liegt«, in: »die tageszeitung«, 15.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«); Elke Schmitter: »Agentenoperette«, in: »Der Spiegel«, 7.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«). — 25 Cammann: »Die letzte Instanz ist das Ohr«, a. a. O.; Diez: »Ironie der Vergänglichkeit«, a. a. O.; Gürtler: »Niemandskind am Rand des Dorfes«, a. a. O.; Jan Küveler: »Wer labert, der lebt«, in: »Die Welt«, 12.11.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«); Schleider: »Buchpreis geht an die Autorin Terézia Mora«, a. a. O. — 26 Kock: »Tod in der Wüste«, a. a. O. — 27 Thomas Andre: »Roman ›Sand‹: Ein Mann verliert sich in der Wüste«, in: »Hamburger Abendblatt«, 28.11.2011. — 28 Thomas Andre: »Eugen Ruge ist der beste Erzähler des Jahres«, in: »Hamburger Abendblatt«, 11.10.2011; Bartels: »Nie mehr allein«, a. a. O.; Diez: »Ironie der Vergänglichkeit«, a. a. O.; Gürtler: »Niemandskind am Rand des Dorfes«, a. a. O.; Peter Michalzik: »Das Lächeln des Nihilismus«, in: »Frankfurter Rundschau«, 21.1.2012 (zu: Herrndorf, »Sand«). — 29 Sebastian Fasthuber: »Die drei ??? und der Mord in einer Hippiekommune«, in: »Falter«, 9.12.2011 (zu: Herrndorf, »Sand«). — 30 Ebd. — 31 Angelika Overath: »Ostdeutscher Totentanz«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 8.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«). — 32 Böttiger: »Ein fremdes Flirren«, a. a. O.; Martin Ebel: »Die Erfindung des Trottelromans«, zuerst erschienen in: »Tages-Anzeiger«, 13.1.2012 (zu: Herrndorf, »Sand«); Hünniger: »Die Wüste ist ein sinnloser Ort«, a. a. O.; Wittstock: »Wozu diese seltsame Sache namens Leben?«, a. a. O. — 33 Braun: »Deutschland, die Mitläuferfabrik«, a. a. O.; Diez: »Ironie der Vergänglichkeit«, a. a. O.; Eberhard Falcke: »Im Osten das Neue«, in: »Tages-Anzeiger«, 8.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Hartwig: »Die Pein des Buchpreises«, a. a. O.; Andreas Platthaus: »In der Sache Kornitzer«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 3.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Frank Schäfer: »Einmal Unterwelt und zurück«, in: »die tageszeitung«, 13.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Bettina Schulte: »Der Favorit hat sich durchgesetzt«, in: »Badische Zeitung«, 7.10.2014 (zu: Seiler, »Kruso«); Steinert: »Im Osten geht die Sonne unter«, a. a. O. — 34 Böttiger: »Ein fremdes Flirren«, a. a. O.; Andreas Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, in: »Die Zeit«, 11.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Steinert: »Herr W. soll leben«, a. a. O. — 35 Tim Caspar Boehme: »Weiterleben als Fiktion«, in: »die tageszeitung«, 14.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Voigt: »Gerettet und dennoch verloren«, a. a. O. — 36 Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, a. a. O.; von Sternburg: »›Ich bin eine poetische Anwältin‹«, a. a. O. — 37 Dirk Knipphals: »Was will man mehr«, in: »die tageszeitung«, 11.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«). — 38 Böttiger: »Ein fremdes Flirren«, a. a. O.; Steinert, »Herr W. soll leben«, a. a. O. — 39 Arist. Po. 1451a36–38, 1460b22–23. — 40 Jandl: »Wende als Welttheater«, a. a. O.; Eva Pfister: »Der Untergang des Hauses Umnitzer«, in: »Stuttgarter Zeitung«, 11.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Rüdenauer: »Erzählen im Grenzbereich«, a. a. O.; Bettina Schulte: »Im Leben verfehlt, im Text vereint«, in: »Badische Zeitung«, 8.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheur«); Wittstock: »Wozu diese seltsame Sache namens Leben?«, a. a. O. — 41 Britta Heidemann: »Wo Buchpreis-Gewinnerin Terézia Mora ihr ›Material‹ findet«, in: »Der Westen«, 16.10.2013; Kegel: »Der Untergang des Hauses Ruge«, a. a. O.; Knipphals: »Was will man mehr«, a. a. O.; Pfister: »Darius Kopp im Porzellanladen«, a. a. O.; Rüdenauer: »Erzählen im Grenzbereich«, a. a. O.; Hubert Spiegel: »Der einsamste Mann auf dem Kontinent«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 6.9.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Steinert: »Im Osten geht die Sonne unter«, a. a. O.; Judith von Sternburg: »Keine Versteckspiele«, in: »Frankfurter Rundschau«, 11.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Maike Wetzel: »Kampf des 110-Kilo-Mannes«, in: »der Freitag«, 9.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«). — 42 Achim Engelberg: »Desillusionskunst«, in: »der Freitag«, 11.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«). — 43 Schröder: »Terézia Moras neuer Roman ›Ungeheuer‹«, a. a. O. — 44 Gauß: »Ein Stammgast des Unglücks«, a. a. O. — 45 Wobei Aristoteles in seiner »Poetik« explizit lediglich auf die Einheit der Zeit (1449b12–13) und auf die Einheit der Handlung (1450b23–34, 1459a17–21) eingeht. — 46 Kister: »Die Schiffbrüchigen unserer Gesellschaft«, a. a. O.; Wittstock: »Mein Opa, der Kommunist«, a. a. O. — 47 Andre: »Roman ›Sand‹: Ein Mann verliert sich in der Wüste«, a. a. O.; Engelberg: »Desillusionskunst«, a. a. O.; Volker Hage: »Die Natur ist gerecht«, in: »Der Spiegel«, 10.10.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, a. a. O.; Jessen: »Das unbewegte Pokerface«, a. a. O.; Mommert: »Deutschlandroman voller Mitgefühl«, a. a. O.; Rainer Moritz: »Ein Gedächtnis wie ein Sieb«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 7.1.2012 (zu: Herrndorf, »Sand«); Pfister: »Feindliches Inland«, a. a. O.; Steinert: »Herr W. soll leben«, a. a. O. — 48 Erstes Zitat aus Voigt: »Gerettet und dennoch verloren«, a. a. O.; zweite Beobachtung von Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, a. a. O. — 49 Martin Ebel: »›Ich bin die Kurve meiner Werte‹«, in: »Tages-Anzeiger«, 5.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«). — 50 Zu Krechel s. Platthaus: »In der Sache Kornitzer«, a. a. O. Zu Seiler s. Rüdenauer: »Der überhöfliche Star«, a. a. O. — 51 Bartels: »Nie mehr allein«, a. a. O.; Falcke: »Im Osten das Neue«, a. a. O.; Kister: »Die Schiffbrüchigen unserer Gesellschaft«, a. a. O.; Judith von Sternburg: »Lutz Seiler bekommt Deutschen Buchpreis«, in: »Frankfurter Rundschau«, 6.10.2014. — 52 Cornelia Geissler: »Zwischen den Lebenden und den Toten«, in: »Berliner Zeitung«, 4.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«). — 53 Martin Ebel: »Schöner ging die DDR nie unter«, in: »Tages-Anzeiger«, 25.9.2014 (zu: Seiler, »Kruso«); Julia Schröder: »Das Gedächtnis der See«, in: »Stuttgarter Zeitung«, 10.9.2014 (zu: Seiler, »Kruso«); Christoph Schröder: »Roman über ein Utopia in Seepferdchenform«, in: »die tageszeitung«, 8.10.2014 (zu: Seiler, »Kruso«). — 54 Cammann: »Die letzte Instanz ist das Ohr«, a. a. O.; Hans-Peter Kunisch: »Ein durchschnittlicher Flüchtling«, in: »Die Weltwoche«, 17.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Lothar Müller: »Lutz Seiler gewinnt Deutschen Buchpreis«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 6.10.2014; Pfister: »Darius Kopp im Porzellanladen«, a. a. O.; Schmitter: »Agentenoperette«, a. a. O. — 55 von Sternburg, »Lutz Seiler bekommt Deutschen Buchpreis«, a. a. O.; Wetzel: »Kampf des 110-Kilo-Mannes«, a. a. O. — 56 Andreas Platthaus: »Meine eigene Geschichte, wie geht die?«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 21.2.2013 (zu: Wagner, »Leben«). — 57 Apel: »Wo Schmuggler, Hippies, Künstler und Agenten auftanken«, a. a. O.; Antonia Baum: »Nein, du sollst nicht überfahren werden«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 9.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Engelberg: »Desillusionskunst«, a. a. O.; Geissler: »Zwischen den Lebenden und den Toten«, a. a. O.; Jessen: »Das unbewegte Pokerface«, a. a. O.; Kegel: »Der Untergang des Hauses Ruge«, a. a. O.; von Sternburg: »Lutz Seiler bekommt Deutschen Buchpreis«, a. a. O. — 58 Diez: »Ironie der Vergänglichkeit«, a. a. O.; Ebel: »Die Erfindung des Trottelromans«, a. a. O.; Jenny Hoch: »Spendenquittung«, in: »Die Welt«, 24.2.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Kegel: »Der Untergang des Hauses Ruge«, a. a. O. — 59 Apel: »Wo Schmuggler, Hippies, Künstler und Agenten auftanken«, a. a. O.; Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, a. a. O.; Elmar Krekeler: »Die Frau muss man aushalten«, in: »Die Welt«, 9.10.2013 (zu: Mora, »Das Ungeheuer«); Schröder: »Das Gedächtnis der See«, a. a. O.; Schmitter, »Agentenoperette«, a. a. O.; Dies.: »Der proletarische Zauberberg«, a. a. O.; Seidler: »Leipziger Buchmesse-Preis für Wolfgang Herrndorf«, a. a. O.; Wittstock: »Wozu diese seltsame Sache namens Leben?«, a. a. O. — 60 Braun: »Deutschland, die Mitläuferfabrik«, a. a. O.; Breidecker: »Mutlose Mitte«, a. a. O.; Cammann, »Die letzte Instanz ist das Ohr«, a. a. O.; Stefan Gmünder: »Thomas Hettche und Lutz Seiler: In den Vorhöfen des Verschwindens«, in: »Der Standard«, 4./5.10.2014 (zu: Seiler, »Kruso«); Isenschmid: »Fremd im eigenen Land«, a. a. O.; Jandl: »Wende als Welttheater«, a. a. O.; Kegel: »Der Untergang des Hauses Ruge«, a. a. O.; Stefan Kister: »Mit Kohlhaas im Glück«, in: »Stuttgarter Zeitung«, 9.10.2012 (zu: Krechel, »Landgericht«); Krekeler: »Aktenkundig«, a. a. O.; Mommert: »Deutschlandroman voller Mitgefühl«, a. a. O.; Pfister: »Der Untergang des Hauses Umnitzer«, a. a. O.; Dies.: »Feindliches Inland«, a. a. O.; Iris Radisch: »Ein Meter Leben retten«, in: »Die Zeit«, 1.9.2011 (zu: Ruge, »In Zeiten«); Rüdenauer: »Der überhöfliche Star«, a. a. O.; Schmitter: »Der proletarische Zauberberg«, a. a. O.; Schröder: »Roman über ein Utopia in Seepferdchenform, a. a. O.; Schulte: »Eine persönliche Wiedergutmachung«, a. a. O.; Steinert: »Im Osten geht die Sonne unter«, a. a. O.; von Sternburg: »›Ich bin eine poetische Anwältin‹«, a. a. O.; Dies.: »Keine Versteckspiele«, a. a. O.; Wittstock: »Mein Opa, der Kommunist«, a. a. O. — 61 Jessen: »Das unbewegte Pokerface«, a. a. O.; Kock: »Tod in der Wüste«, a. a. O.; Schäfer: »Einmal Unterwelt und zurück«, a. a. O.; Steinert: »Herr W. soll leben«, a. a. O. — 62 Böttiger: »Ein fremdes Flirren«, a. a. O.; Ebel: »›Ich bin die Kurve meiner Werte‹«, a. a. O.; Engelberg: »Desillusionskunst«, a. a. O.; Fasthuber: »Die drei ??? und der Mord in einer Hippiekommune«, a. a. O.; Jessen: »Das unbewegte Pokerface«, a. a. O.; Richard Kämmerlings: »Sein Preis ist das Leben«, in: »Die Welt«, 15.3.2013 (zu: Wagner, »Leben«); Platthaus: »Meine eigene Geschichte, wie geht die?«, a. a. O.; Radisch: »Ein Meter Leben retten«, a. a. O. — 63 Die letzten drei mit dem Preis der Leipziger Buchmesse Ausgezeichneten, Saša Stanišić mit »Vor dem Fest« 2014, Jan Wagner mit »Regentonnenvariationen« 2015 und Guntram Vesper mit »Frohburg« 2016, setzen andere thematische Schwerpunkte. — 64 Zitiert nach Rüdenauer: »Erzählen im Grenzbereich«, a. a. O. — 65 Zitiert nach Schulte: »Der Favorit hat sich durchgesetzt«, a. a. O. — 66 Kunisch: »Ein durchschnittlicher Flüchtling«, a. a. O. Auch Seilers »Kruso« wird von Schröder als »Denkmal« bezeichnet: »›Kruso‹ ist der Roman einer Männerfreundschaft, eine atmosphärisch dichte Robinsonade, die (…) letztendlich auch jenen Menschen ein literarisches Denkmal setzt, die bei ihren Versuchen, aus der DDR über die Ostsee in Richtung Dänemark zu fliehen, ums Leben gekommen sind.« Ders.: »Roman über ein Utopia in Seepferdchenform«, a. a. O. — 67 Baum: »Nein, du sollst nicht überfahren werden«, a. a. O. — 68 Inwiefern sich Veränderungen und/oder Kontinuitäten im Hinblick auf die Normen, denen Romane entsprechen müssen, um erfolgreich zu sein, aus historischer Perspektive ausmachen lassen, wäre der weiteren Untersuchung wert.

[100|101]Monika Schmitz-Emans

Visuelle Romane und Graphic Novels

1 Konzepte, Themen, Techniken: zu den Rahmenbedingungen neuerer visueller Literatur

Die visuelle Dimension von Texten sowie deren literarische Gestaltungsmöglichkeiten sind in jüngerer Zeit verstärkt in den Blick genommen und kommentiert worden. Dazu haben verschiedene Diskurse und Tendenzen beigetragen, so evidenterweise das als ›visual turn‹ etikettierte verstärkte transdisziplinäre Interesse an Visualität, visuellen Strukturen und Prozessen, der ›medial turn‹, insofern er auch und gerade Bilder, Praktiken der Bilderzeugung und Bildprogramme erörtert, ferner das in der Literaturwissenschaft so folgenreiche Intermedialitätsparadigma, aber auch der sogenannte ›cultural turn‹, insofern dieser sich Bildkulturen und kulturellen Praktiken des Umgangs mit Bildern widmet. Zum theoriegeschichtlichen Rahmen, innerhalb dessen die Sichtbarkeit von Texten zum Untersuchungs- und Gestaltungsobjekt wird, gehört ferner die Semiotik seit den 1960er Jahren, insofern sie ein Analyseinstrumentarium bereitstellt, das gleichermaßen auf textuelle, grafisch-bildliche und hybride Phänomene beziehbar ist. Signifikant erscheint aber vor allem eine in literatur- und texttheoretischen Diskursen zu beobachtende Erweiterung und Entgrenzung des Textbegriffs selbst.

Ein im späteren 20. Jahrhundert intensiviertes transdisziplinäres Interesse an Schrift, Schriftlichkeit, Schriftsystemen und Schriftgeschichte leistet dem Trend zur visuellen Literatur insofern Vorschub, als es der Schrift als visuell gestaltetem Medium literarischer Darstellung gilt. Schriftlichkeitsdiskurse sensibilisieren unter anderem für die historisch und kulturell diversen Spielformen visueller Textpräsentation sowie für die Semantisierungen, die mit dem ›schrift-bildlichen‹ Charakter von Texten verbunden sind.1 Auch das literaturwissenschaftliche Interesse an Paratexten und an Spielformen der Paratextualität sowie das verstärkte Interesse der jüngeren Philologie (inbegriffen die Editionswissenschaft) an Textprozessen, ihrer Materialität und ihrer Darstellbarkeit tragen erheblich zur allgemeinen Sensibilisierung für die grafische Dimension literarischer Phänomene bei. Poetik, insofern sie sich auf der Basis literatur- und texttheoretischer Diskurse profiliert, ist eine Poetik der Graphie, der visuellen Inszenierung und Rahmung, des sichtbaren Textmaterials, kurz: eine Poetik der Schrift-Bildlichkeit im engeren und weiteren Sinn.

[101|102]In enger Wechselwirkung mit diesen theoretischen Interessen stehen Tendenzen in der jüngeren Literatur selbst. Mit verstärktem Nachdruck und auf oft einfallsreiche Weise kehren Texte die eigene Sichtbarkeit hervor und suchen das Bündnis mit bildlich-grafischen Darstellungsformen. Schreibtechnische und schreibkulturelle Innovationen sind dabei von nicht zu unterschätzender Bedeutung. In jüngerer Zeit entstehen Textgestalt und Layout vielfach direkt am Autoren-PC; flexibel nutzbare Schriftfonts gestatten eine differenzierte Textgestaltung, unerschöpfliches grafisches Material lässt sich bearbeiten und in Texte integrieren. Nicht zufällig finden sich unter den erfolgreichsten Vertretern der jüngeren Schriftstellergeneration ausgebildete Grafikdesigner wie Judith Schalansky und Nick Bantock.

Der Roman hat seit seinen Anfängen eine enge Beziehung zu Bildern, grafischen Formen und Prozessen visueller Perzeption unterhalten. Auf der von Laurence Sternes »Tristram Shandy« (1759–1767) gewiesenen Spur bewegen sich auch zeitgenössische Romanautoren. Die rezente Tendenz zu einer Visualisierung der Literatur, welche deren Sichtbarkeit konzeptionell nutzt, lässt sich im Übrigen an Beispielen verschiedener Sprachräume beobachten. Zumal aus der angloamerikanischen Romanliteratur kommen wichtige Impulse. Eine ganze Reihe dort erfolgreicher Romane mit ausgeprägtem Anteil an Bildern und prägnanten visuellen Arrangements liegen in deutscher Übersetzung vor, so Mark Z. Danielewskis Labyrinth-Roman »House of Leaves« (2000, dt. 2007), Jonathan Safran Foers 9/11-Roman »Extremely loud and incredibly close« (2005, dt. »Extrem laut und unglaublich nah«, 2005), Reif Larsens Traumreiseroman »The Selected Works of T. S. Spivet« (2009, dt. »Die Karte meiner Träume«, 2009) und Leanne Shaptons Fotokatalog-Roman »Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry« (2009, dt. »Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck«, 2010).

2 Bild- und schriftmediale Varianten visueller Literatur

[102|103]