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8. Kapitel

Die Trauung am Strand hatte eine große Zahl von Zaungästen angelockt, sodass sich um die festlich, wenn auch sommerlich gekleideten Gäste ein Pulk von Menschen in Badekleidung bildete. Sie alle folgten mit ihren Blicken der Braut im weißen Kleid, als sie von ihrem Vater zum Bräutigam im ebenfalls weißen Smoking geleitet wurde. Allerdings war Marty die lange Hose wohl zu warm gewesen, denn er hatte die Hosenbeine kurz vor Beginn der Trauung mit einer Schere bis knapp oberhalb seiner Knie abgeschnitten. Dabei war er nicht eben sorgsam vorgegangen, sodass das Ganze reichlich ausgefranst aussah. Zudem offenbarte er damit einen auf seinen Unterschenkel tätowierten Hai mit offenem Maul, der den Eindruck vermittelte, als wolle er ihm in die Kniekehle beißen – oder nach einem der Hosenfetzen schnappen.

Barfuß schritt Regina durch die mit weißen Hussen geschmückten Stuhlreihen und trat schließlich unter den Schatten spendenden Bambusbogen, der mit weißen Blüten geschmückt war und an dem mintfarbene Bänder munter im Wind flatterten.

Reginas Kleid spannte ein wenig um die Hüfte – vermutlich hatte sie seit der Anprobe nochmals einige Kilos zugelegt –, doch ihr glückliches Lächeln machte diesen winzigen Makel allemal wett. Martys Ohren schienen vor Aufregung und Freude förmlich zu glühen, und er benötigte einen kleinen Schubs von Lukas, seinem Treuzeugen, damit er die Augen von Regina abwandte und sich stattdessen neben sie gesellte, zumal der aus den USA angereiste Pastor sich bereits zweimal auffordernd geräuspert hatte.

Eine der vier Brautjungfern in ihren Kleidern in dezentem Mintton nahm Regina den üppigen Brautstrauß ab und sortierte die lange Schleppe des Kleides, nachdem die Braut sich auf den Stuhl gesetzt hatte. Zuletzt zog ihre Helferin die mintfarbene Schleife der Husse glatt und setzte sich dann in die erste Reihe neben Lukas.

Rebecca hatte einen Platz leicht versetzt und zwei Reihen hinter ihm zugewiesen bekommen. Sie beobachtete lächelnd, wie Lukas die ebenfalls mintfarbene Krawatte um seinen Hals lockerte und vermutete anhand seiner Bewegungen, dass er auch einige Knöpfe des kurzärmligen weißen Hemdes öffnete. Sie selbst war froh, sich nicht für ein dunkles, sondern ein apricotfarbenes kurzes Trägerkleid entschieden zu haben, denn obwohl unzählige Sonnenschirme aus Bast- und Palmwedeln aufgestellt worden waren und eine leichte Brise vom Meer über den Strand strich, waren die gut 30 °C nicht zu ignorieren. Sie bohrte die Zehen mit den heute ausnahmsweise einmal lackierten Nägeln in den weichen Sand und lauschte einer stark übergewichtigen schwarzen Sängerin, die schwitzend, aber voller Hingabe mit kraftvoller Stimme einen Gospel intonierte.

Der Pastor begann in erstaunlich hoher Stimmlage seine Predigt, aber Rebecca wurde rasch abgelenkt. Links von ihr entstand Unruhe unter den Neugierigen. Sie sah den weißblonden Bo durch die Reihen huschen, gefolgt von Liska, die ihn aufzuhalten versuchte. Doch der Kleine war zu flink, drückte sich an den drei jungen Frauen neben Rebecca vorbei und strahlte sie siegessicher an.

Liska hielt vor der Stuhlreihe inne, wirkte gehetzt und unangenehm berührt. Ihr Gesicht lief rot an, als jemand von hinten einen Zischlaut von sich gab. Vermutlich hatte das Mädchen von den Eltern die Aufgabe übertragen bekommen, auf den Dreijährigen aufzupassen. Rebecca fragte sich, ob das schwedische Ehepaar wieder einmal eine seiner vielen Diskussionen führte. Die Frustration der beiden hatte sich offenbar über lange Zeit angestaut und drängte hier im Urlaub mit Vehemenz an die Oberfläche.

Sie nickte dem Mädchen beruhigend zu, drehte Bo an der Schulter um und hob ihn auf ihren Schoß. Begeistert machte er es sich bequem und sah sich neugierig um.

Liska lächelte beschämt und zog sich unverzüglich zurück, als hoffte sie, dass dadurch jedermann schnell ihr kleines Missgeschick mit dem Bruder vergaß.

„Da vorne ist Lukas“, verkündete Bo viel zu laut. Lukas wandte sich um und zwinkerte in seine Richtung, was Bo veranlasste, sich mit den molligen Händen abwechselnd das linke und das rechte Auge zuzuhalten – seine Version eines Zwinkerns.

„Ich hab Urlaubsopa Nathanael und Urlaubsoma Anna gesehen. Sie sitzen fast ganz hinten.“

Amüsiert zog Rebecca den zappelnden Jungen näher an sich. Marty hatte das ältere Ehepaar demnach auch noch offiziell eingeladen. Lara neben ihr begann, unruhig auf ihrem Stuhl herauszurutschen; offenbar war ihr der Junge zu quirlig. Von irgendwo kam ein Kichern, begleitet von einem neuerlichen Zischen, da sich jemand in der Zeremonie gestört fühlte.

„Mama sagt, in der Kirche muss man leise sein.“

„Meistens, ja“, flüsterte Rebecca, froh über die Eingebung des Jungen.

„Hier ist keine Kirche!“, stellte der jedoch fest und rutschte auf ihren Oberschenkeln wieder ein Stück nach vorn, um besser sehen zu können.

„Wo er recht hat …“, kommentierte eine Stimme von weiter hinten.

„Jetzt fangen Sie nicht auch noch an!“, rügte einer der deutschen Gäste.

„Da sind auch Kinder“, fuhr Bo unbeeindruckt fort. „Aber in den Klamotten können die nicht mal ins Wasser, sagt Sven.“

„Könnten sie schon. Die Frage ist, was die Eltern dazu sagen, die sie so ausstaffiert haben“, lautete der Kommentar aus den hinteren Reihen. In Rebecca manifestierte sich der Verdacht, dass es sich bei dem Mann um einen Hochzeitsgast handelte, der die auf Englisch gehaltene Predigt nicht verstand und sich langweilte.

Nun folgten Zischlaute von verschiedenen Seiten, sodass Rebecca beschloss, dem Spiel ein Ende zu bereiten. Sie stand auf, setzte sich den entzückenden Unruheherd auf die Hüfte und tappte durch den tiefen Sand an den drei Frauen links von ihr vorbei. Die Zuschauermenge am Rand teilte sich wie das Rote Meer vor den Israeliten und ließ sie hindurch.

Sie traf auf Liska, die noch immer einen hochroten Kopf hatte und missmutig mit einer gelben Kinderschaufel Sand in einen blauen Eimer schleuderte. Neben ihr, allerdings mit gebührendem Sicherheitsabstand, wälzte sich Sven lachend auf dem Boden. „Der Kleine nervt ja meistens, aber das hat er klasse gemacht“, prustete Sven so laut, dass Rebecca sich neben ihn auf die Knie fallen ließ und ihm den Mund zuhielt.

„Sven, bitte! Für Marty und Regina ist dieser Augenblick sehr wichtig.“

„Marty ist cool“, brummte Sven hinter ihren Fingern hervor.

„Woher willst du das denn wissen?“ Sie zog die Hand zurück.

„Lukas hat erzählt, was er und Marty schon alles angestellt haben. Und Marty hat vorhin kurz mit mir geredet. Er hat gesagt, ich könne nachher zum Empfang bleiben. Doch wenn ich an den Alkohol gehe, würde er meinen Eltern gegenüber leugnen, dass er mich eingeladen hat.“

Bo war mittlerweile dazu übergegangen, Sand auf seine stämmigen Beine zu häufen, der jedoch ständig wieder herunterrieselte. Er wiederholte: „Das ist keine Kirche!“

Rebecca setzte sich zwischen die Brüder und beugte sich zu Bo hinüber. „Da hast du recht. Aber Gott ist nicht nur in Kirchen, sondern auch hier, und Marty und Regina wollen sich vor ihm versprechen, immer zusammenzubleiben. Da sollten wir nicht stören.“

Der Junge sah sie mit seinen blauen Augen interessiert an, und Rebecca wünschte sich, dass sie hinter die kindliche Stirn sehen könnte.

„Ist der Gott jetzt böse auf mich?“

Rebecca legte einen Arm um Bo. Der Junge rutschte näher, verteilte den Sand in seinen Händen großzügig auf Rebeccas Schoß und kuschelte sich an sie.

„Natürlich nicht. Er liebt Kinder ganz besonders! Vermutlich fand er das sogar lustig.“

„Dann ist Gott auch … cool!“

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Dein Einsatz kam zu früh! Ich hatte dich gebeten, dass du bei meiner Rede die Aufmerksamkeit auf dich ziehst.“ Breit grinsend reichte Lukas Rebecca eine Champagnerschale, in der winzige Bläschen perlend nach oben stiegen und deren Rand eine halbe Scheibe Ananas und eine Lotusblüte zierten.

„Bo und ich haben unseren Auftritt heute vor dem Frühstück geprobt. Wir können das jederzeit wiederholen.“

„Gut zu wissen“, seufzte Lukas theatralisch und stieß mit ihr an. Rebecca trank einen kleinen Schluck und wandte sich dann den fröhlichen Stimmen am Strand zu. Da Marty, gewohnt spontan und großherzig, die zuschauenden Badegäste zu einem ersten Umtrunk eingeladen hatte, hatten die Hotelangestellten alle Hände voll zu tun, um mit den Tabletts durch den unebenen Sand zu stapfen und Getränke anzubieten.

Das strahlende Paar nahm mittlerweile die Glückwünsche der Gäste entgegen. Während die Neugierigen allmählich zu ihren Strandliegen entlang der Bucht zurückkehrten, reihten sich auch Lukas und Rebecca in die Schlange der Gratulanten ein.

„Becci!“ Noch bevor Rebecca einen Ton herausbrachte, zog Marty sie an sich. Hatte bereits die Abkürzung ihres Namens erahnen lassen, dass Marty und Lukas wohl öfter über sie gesprochen hatten, bestätigten seine geflüsterten Worte ihr das zusätzlich: „Lukas und du, ihr macht Fortschritte? Das freut mich für ihn – und für dich. Halte ihn fest, er ist ein toller Kerl!“

Rebecca murmelte eine halbwegs sinnvolle Gratulation, ehe Marty mit einem wilden Aufschrei, der wohl sein Glück transportierte, seinen langjährigen Freund umarmte und die beiden sich mehrmals kräftig auf den Rücken klopften. Rebecca trat zu Regina in ihrem weißen Traum aus Chiffon und Seide, gratulierte auch ihr und wurde erneut umarmt.

„Ich danke dir, dass du nie versucht hast, dich an Marty heranzumachen.“

„Ach, Regina, selbst wenn ich das vorgehabt hätte – Marty hatte immer nur Augen für dich. Er hat keine andere Frau wahrgenommen, außer vielleicht, um sie an seine Freunde zu verkuppeln.“

Regina lachte leise. Sie wirkte so gelöst, wie Rebecca sie niemals zuvor erlebt hatte. Ihre Augen blitzten, ein Lächeln, das ihr rundliches Gesicht wunderschön machte, wollte gar nicht mehr enden.

„Du hast nie miterlebt, wie er umschwärmt und umgarnt wurde – vor allem in den Staaten.“

„Er liebt dich, Regina.“

„Ja, ich weiß!“, seufzte diese und ließ Rebecca los. Plötzlich hängte sich Lara bei Rebecca unter und zog sie mit sich.

„Siehst du den langen Kerl da drüben?“, flüsterte sie ihr aufgeregt zu und deutete mit dem Kinn auf Martys älteren Halbbruder Benno.

„Was ist mit ihm?“

„Du hast ihn doch sicher gestern schon kennengelernt, nicht?“

„Ja.“

„Dann los. Stell mich ihm vor!“

„Lara …“

„Ich weiß, du findest es nicht gut, wie ich an das Thema Männer herangehe. Aber hör mal: Ich bin zehn Jahre älter als du und beruflich nicht weniger eingespannt. Wann bietet sich mir eine bessere Möglichkeit, eine gute Partie kennenzulernen, als im Urlaub?“

„Gut, ich mache euch bekannt. Aber bitte beschwer dich hinterher nicht bei mir, wenn er sich nie wieder meldet oder sich unfair verhält oder-“

„Irgendwann muss es ja mal mit einem Kerl klappen!“

„Lara, du bist eine hervorragende, strukturiert arbeitende und souveräne Ärztin, dazu ein sympathischer Mensch. Doch dein Privatleben ist ein eigentümliches Chaos!“

Lara seufzte und zog sie unaufhörlich in Richtung Benno, der an einem Bistrotisch saß und sich gerade mit einigen älteren Damen unterhielt. „Ich weiß“, gab sie freimütig zu. „Das Chaos beherrscht mich, nur nicht bei der Arbeit. Du hast keine Ahnung, wie oft ich meine Geldbörse suche oder meinen Autoschlüssel. Hast du gewusst, dass ich drei Anläufe gebraucht habe, um den Führerschein zu schaffen? Beim dritten Mal hat es nur deshalb geklappt, weil der Prüfer beide Augen und alle Hühneraugen zugedrückt hat.“

„Vor Angst?“

„Möglich!“ Lara kicherte nervös. Inzwischen hatten sie den Mann, den Rebecca auf Anfang 40 schätzte, fast erreicht.

„Ich habe nie zwei zusammengehörende Schuhe nebeneinander im Schuhregal stehen. Irgendwie trennen die sich da drin ständig. Und im Winter trage ich meist hohe Stiefel, damit niemand sieht, dass meine Socken nicht zusammenpassen. Im Sommer bin ich ausnahmslos barfuß in den Schuhen. Zum Glück tragen wir bei der Arbeit ausschließlich Weiß.“

Unwillkürlich glitt Rebeccas Blick zu Bennos Füßen. Er war einer der wenigen Anwesenden, die unter den ohnehin viel zu warmen langen Hosen auch Schuhe trugen, und sie meinte doch tatsächlich, zwischen Hosenbein und Schuh einen dunkelblauen und einen schwarzen Strumpf zu sehen. Sie grinste und tippte dem Mann mit wesentlich mehr Enthusiasmus auf die Schulter, als sie das wohl noch Sekunden zuvor getan hätte.

„Ah, Rebecca!“, rief er in seinem breiten texanischen Slang aus, sprang auf und schüttelte ihr überaus kräftig die Hand.

„Benno, ich möchte dir gern eine Freundin vorstellen.“

„Lass mich raten: Lara, die Ärztin, die unserem Marty das Leben gerettet hat?“

Lara wurde auf die gleiche überschwängliche Weise begrüßt und sofort von Martys Eltern und einem weiteren Bruder in Beschlag genommen, die nach Rebecca nun endlich auch die zweite Lebensretterin kennenlernen wollten. Rebecca zog sich zurück, sobald es ihr möglich war – und prallte gegen Lukas.

„Was hast du vor?“, raunte er ihr mit einem vielsagenden Blick auf Lara zu. Seinen Arm behielt er besitzergreifend um ihre Hüfte.

„Ich? Im Moment nichts. Später muss ich mich aber noch in ein Riesenungetüm von Hochzeittorte stürzen und dabei mein Kleid ruinieren.“

Sein Blick glitt an ihr hinunter. „Wäre schade“, murmelte er und fuhr mit einem Grinsen fort: „Andererseits müsste ich dich dann mitsamt Kleid und Sahneüberzug ins Meer werfen, damit du das süße Zeug wieder loswirst. Das wiederum könnte mir gefallen.“

„Du hast gerade deine ablenkende Unterstützung verloren, falls deine Rede wirklich völlig daneben ist“, konterte Rebecca.

„Das war unvorsichtig von mir.“ Lukas zog sie fester an sich, und Rebecca sah aus dem Augenwinkel, wie sich die Trauzeugin, die während der Zeremonie neben ihm gesessen hatte, abrupt umdrehte und ihren Weg in eine andere Richtung fortsetzte. Offenbar war es Lukas ein Anliegen gewesen, hier etwas klarzustellen.

„Sie ist weg, du kannst mich wieder loslassen.“

„Eigentlich hättest du das jetzt nicht mitbekommen sollen“, brummte er.

„Ich bin Rettungsassistentin, schon vergessen? Manchmal muss ich zwei oder mehr Personen auf einmal im Blick behalten.“

„Ich hätte aber gern, dass du dich ausschließlich auf mich konzentrierst.“

„Zu gegebener Zeit.“

Lukas beugte sich über sie und flüsterte: „Das klingt verheißungsvoll.“

Rebecca lachte übermütig. Sie wollte ihre letzten Tage in Thailand vollauf genießen, ebenso wie Lukas’ charmante Aufmerksamkeit und Zuneigung. Sie hakte sich bei ihm unter, und sie folgten den anderen Gästen in Richtung des Strandrestaurants.

Irgendjemand – vermutlich der trickreiche und doch einfühlsame Marty – hatte dafür gesorgt, dass nicht eine der Brautjungfern, sondern Rebecca einen Platz neben Lukas erhielt. Als Lukas aufstand und mit der Gabel mehrmals um Aufmerksamkeit bittend an ein Glas klopfte, lehnte sie sich zurück und blickte abwartend zu ihm auf. Er hatte die Krawatte mittlerweile gänzlich verschwinden lassen, das Hemd stand weit offen und die weißen Hosenbeine hatte er bis knapp unter die Knie hochgekrempelt. Mit seiner gebräunten Haut und dem leichten Bartschatten wirkte er ein bisschen wie ein Seeräuber. Rebeccas klopfendes Herz verdeutlichte ihr, wie stark die Anziehungskraft inzwischen war, die er auf sie ausübte.

Lukas räusperte sich und begann: „Die bezaubernde Rebecca hier neben mir hat sich großmütig angeboten, sich in die Hochzeitstorte zu werfen, falls meine Rede peinlich wird oder zu lang gerät.“

Gelächter brandete auf. Regina versteckte ihr Gesicht hinter beiden Händen, so sehr amüsierte sie sich über Lukas’ Scherz. Marty hob sein halbvolles Champagnerglas und prostete Rebecca zu.

„Wir sind für dieses Opfer äußerst dankbar!“, rief eine männliche Stimme. Sie erinnerte Rebecca verdächtig an die, die sie während der Trauung vernommen hatte. So schüchtern Regina auch auftrat, einer ihrer Verwandten hatte offenbar einen Clown gefrühstückt.

„Falls Rebecca zu lange zögert, dürfen Sie gern für sie einspringen“, wandte Lukas sich an den Unbekannten und erntete erneut Beifall und Gelächter.

Knapp, ehrlich und herzlich fielen seine folgenden Worte aus. Rebecca beobachtete, wie Martys Mutter und Regina heimlich ein paar Tränen wegwischten. Lukas hatte sich kaum gesetzt, da eilte Marty auch schon herbei und klopfte seinem Freund erneut dankbar auf die Schulter. „Das merke ich mir. Für meine Rede bei deiner … eurer Hochzeit?“

„Mach mal halblang, Junge. Du verschreckst sie mir ja!“, gab Lukas zurück und wirkte tatsächlich besorgt darüber, wie Martys Vorstoß auf Rebecca gewirkt hatte.

„Wohl kaum“, meinte Marty, zwinkerte Rebecca zu und ging dann mit Regina zu der siebenstöckigen, in Weiß und zartem Mint gehaltenen Hochzeitstorte, die in Unmengen Eis eingebettet war, das allerdings bedenklich vor sich hin tropfte.

„Hoffentlich fällt das Monstrum auf ihn drauf!“, knurrte Lukas.

„Weshalb? Brauchst du dringend jemanden, den du ins Meer werfen kannst?“, zog Rebecca ihn auf.

Er musterte sie intensiv. „Ganz ehrlich, bei dem Geplänkel deiner Geschwister über süße Jungs und was das offenbar bei dir ausgelöst hat, bereiten mir derartige Frechheiten meines ansonsten so feinfühligen Freundes erhebliche Bauchschmerzen.“

„Vielleicht weiß er das und hofft, dadurch mehr von der Torte abzubekommen?“

„Du bist kein bisschen ernst.“

„Weil du dir unnötige Sorgen machst.“

„Wirklich?“

„Wirklich.“

Er beugte sich weit zu ihr herüber, und das Aufblitzen in seinen Augen hätte Rebecca eigentlich warnen müssen. „Gut. Wann heiraten wir?“

„Ich gehe mich jetzt in die Torte werfen.“

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Die Dämmerung brach herein und mit ihr sank die Sonne als blutrote Kugel in Richtung Horizont. Das Meer, dessen weiße Schaumkrönchen sich plötzlich in demselben Rot von den Wellen abhoben, verlor seine freundliche Farbe. Fasziniert beobachtete Rebecca das Schauspiel, sah zu, wie die flimmernde Sonne schließlich im Meer ertrank und der Himmel dies in wilden Orangetönen betrauerte. Die Palmen trugen nicht mehr Beige und Grün, sondern Schwarz, und ein Kormoran glitt wie zu einem letzten Gruß über den Himmel.

In die verklingenden Schreie der Möwen und das dumpfe Rauschen der Wellen auf dem Sand mischten sich die sanften Töne einer Musikkapelle, die am Strand vor dem Hotel zum Tanz aufspielte. Spaziergänger hielten inne und schauten den unter Lampions tanzenden Hochzeitsgästen zu, einige drehten sich abseits im Takt der Musik, ehe sie eng umschlungen weiterschlenderten. Rebecca erkannte in einem der Pärchen Henrik und Ingrid. Offenbar hatten sie den Zwist des heutigen Tages ausdiskutiert und zur Zweisamkeit zurückgefunden.

Lächelnd blickte Rebecca ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckte. Sie hoffte, dass ihre Kinder die Versöhnung mitbekommen hatten und beruhigt und mit einem Gefühl der Sicherheit zu Bett gegangen waren. Bestimmt würde der morgige Tag einfacher und schöner für sie sein, nun, da erst einmal wieder Frieden in der Familie Einzug gehalten, die Liebe gesiegt hatte.

Rebecca stapfte gemächlich durch den warmen Sand auf die Tanzenden zu. Nathanael stand am Rand der mit kleinen Wimpeln abgesteckten Tanzfläche. Er bewegte leicht die Hüften und klatschte im Takt in die Hände. Sein liebevoller Blick ruhte auf der Tanzfläche, und als Rebecca diesem folgte, entdeckte sie Annalisa-Marie und Lukas. Das Paar drehte sich schwungvoll und offenkundig gekonnt an den anderen vorbei; nur zwei weitere Paare zeigten eine ähnliche Eleganz, dem unebenen Untergrund zum Trotz.

„Meine Liebe!“ Nathanael war auf Rebecca aufmerksam geworden und legte kurz seinen Arm um ihre Schulter – ein Zeichen seiner Zuneigung, ohne die Grenzen der Schicklichkeit zu übertreten. „Sind sie nicht ein tolles Tanzpaar?“

„Ja, das sind sie.“

„Annalisa-Marie freut sich, endlich mal wieder einen schneidigen Tanzpartner zu haben. Meine alten Knochen kommen mit ihren jungen einfach nicht mehr mit.“

Rebecca lachte leise auf. Die beiden trennten höchstens drei Jahre, aber tatsächlich wirkte Annalisa-Marie wesentlich agiler als Nathanael, der sich eher behäbig, fast vorsichtig bewegte.

„Ich wusste gar nicht, dass Lukas tanzen kann.“

„Er ist ein guter Tänzer“, räumte Nathanael mit Kennerblick ein. „Seine Eltern haben gern und viel getanzt. Nach dem Tod seines Vaters hat er die Rolle des Tanzpartners übernommen, um seiner Mutter eine Freude zu machen und sie unter Leute zu bringen. Und dabei hat sie dann wohl auch ihren neuen Mann kennengelernt.“

Rebecca wunderte sich nicht mehr darüber, dass Nathanael so viele Details über seine Mitmenschen wusste. Seine Fähigkeit, mit jedem Menschen unkompliziert zu kommunizieren, gepaart mit echtem Interesse an seinem Gegenüber, waren wirklich eine unwiderstehliche Kombination.

„Und wie steht es mit dir? Darf ich dich zum Tanz auffordern?“

„Schone lieber deine Füße“, lachte Rebecca halb verlegen, halb entsetzt. „Ich fürchte, mehr als einen langweiligen Walzer bekomme ich nicht hin.“

„Wer behauptet, dass ein Walzer langweilig sei?“, fragte Nathanael und bot ihr galant seinen Arm. Zögernd nahm sie ihn und ließ sich an der abgesteckten Tanzfläche und den flackernden Fackeln vorbei zu den Musikern führen. Er sprach kurz mit dem lässig weitermusizierenden Pianisten. Der Mann, wohl kaum jünger als Nathanael, nickte und senkte wieder den Kopf, obwohl er gar keine Noten vor sich liegen hatte. Nathanael kehrte zu Rebecca zurück und geleitete sie an die offene Seite der Tanzfläche.

Übergangslos wechselte die Melodie in einen Dreivierteltakt. Nathanael legte eine Hand auf ihren Rücken, ergriff mit der anderen ihre Rechte und wirbelte sie mit überraschend viel Schwung zwischen die anderen Tanzpaare. Sie passierten Lara und Benno, die nichts um sich herum zu bemerken schienen, und das Brautpaar, das in seiner Schrittfolge etwas unsicher wirkte, dies aber einfach weglachte, und schrammten dann haarscharf an Annalisa-Marie und Lukas vorbei. Die Frau strahlte und Lukas zwinkerte ihnen zu. Rebecca hatte den Eindruck, dass dies vielmehr ihrem Galan als ihr selbst gegolten hatte. Sie entfernten sich voneinander, doch als das Stück endete, befanden sie sich plötzlich erneut nebeneinander. Die Männer tauschten wortlos, als hätten sie das abgesprochen, ihre Partnerinnen und ein zweiter Walzer folgte.

„Was für ein abgekartetes Spiel“, kommentierte Rebecca.

„Das war Nathanaels Idee, nachdem ich gesagt habe, dass ich dich vermutlich nicht auf die Tanzfläche locken kann.“

Gleich darauf verstand Rebecca auch, weshalb Nathanael einen Walzer keinesfalls als langweilig betrachtete. Lukas verstärkte den Druck seines Arms um sie und presste sie förmlich an sich, seine Wange lag an ihrer Schläfe. Sie spürte seine Muskeln, atmete sein Aftershave ein und fühlte seinen Atem durch ihr Haar streifen. So hatte ihr Vater ihr das vor der Hochzeit von Karsten und Miriam aber nicht beigebracht! Dies war mehr als ein Tanz, mehr als eine Verführung und weitaus mehr, als ihr wild pochendes Herz und die dahinfliegenden Gedanken zu verkraften schienen.

Sie war dankbar, dass Lukas sie an den Rand der Tanzfläche führte, als der Walzer endete, denn mit dem nachfolgenden Mambo wäre sie wohl überfordert gewesen.

„Ich muss mich jetzt erst mal ins Meer stürzen“, keuchte Rebecca.

„Erst die Torte, jetzt das Meer. Immer diese leeren Versprechungen!“

„Leere Versprechungen?“

„Das mit der Torte hast du ja nicht gewagt.“ Er klang äußerst herausfordernd.

„Ich wollte ohnehin abhauen, bevor die amerikanische Verwandtschaft auf die Idee kommt, Regina müsse ihren Brautstrauß werfen.“

„Feigling.“

„Ich hatte immer eine Eins in Sport, Basketball und Handball waren meine Steckenpferde. Die anderen hätten keine Chance – und ich damit auch nicht.“

„Zu entkommen.“

„Richtig.“

„Also doch schwimmen?“

„Unbedingt.“

„Ich sage nur kurz dem Traumpaar schlechthin Bescheid.“ Er deutete auf Nathanael und Annalisa-Marie, die sich eine Pause vom Tanzen gönnten, dabei jedoch die restlichen Paare nicht aus den Augen ließen, als könnten sie damit ihre Sehnsucht stillen, noch einmal ohne Atemnot und Schmerzen über die Tanzfläche wirbeln zu können.

Rebecca nickte und schlenderte an den Fackeln und Lampions vorbei in Richtung Meer. Das Traumpaar schlechthin … Sie lächelte. Nathanael und Annalisa-Marie hatten keinen Traumstart und vermutlich auch kein ausnahmslos traumhaft leichtes Leben gehabt. Aber ihre Liebe war stark, ihre Fantasie, mit der sie ihre Ehe gestalteten, groß, ihre Treue unverbrüchlich und ihre Geduld miteinander unauslöschlich. Das hatte sie zu einem Traumpaar geformt – ebenso wie vermutlich ihr gemeinsamer Glaube an einen liebenden, fantasievollen, treuen und geduldigen Gott.

Rebeccas Gedanken wanderten zu Lukas. Sie wünschte sich … tat sie das wirklich? Rebecca lächelte erneut in die Nacht hinein, ohne die Überlegung zu Ende zu bringen.

Drei torkelnde, patschnasse Freunde von Marty in Anzugshosen, Hemden und Krawatten kamen ihr entgegen. Offenbar waren sie auf eine ähnliche Idee verfallen – oder hatten in ihrem Zustand das Meer übersehen.

Lukas stieß erst zu Rebecca, als sie bereits bis zu den Knien ins Wasser gewatet war. Sie drehte sich um und sah im Licht des Vollmonds zu, wie er sich das Hemd über den Kopf zog, die Krawatte aus der Hosentasche nahm und beides in den Sand legte. Seine Geldbörse folgte, ebenso das Handy. In seiner hochgekrempelten Hose rannte er ins Wasser, sodass das Mondlicht die aufspritzende Gischt in Tausende goldene Funken verwandelte. Ohne etwas zu sagen, packte er Rebecca, hob sie hoch und ließ sich einige Schritte weiter mit ihr gemeinsam in die dunklen Fluten fallen.

Als Rebecca wieder aufrecht stand, klebte ihr Kleid wie eine zweite Haut an ihr, und sie war froh, dass sie Unterwäsche trug, die halbwegs als Bikini durchging. Das Salzwasser rann ihr aus dem Haar ins Gesicht. Lukas wischte es sanft fort. Ansonsten hielt er sich aber mit Berührungen zurück, was Rebecca ein kleines bisschen bedauerte, andererseits erleichtert wahrnahm, denn von Abkühlen wäre dann wohl keine Rede mehr gewesen.

Aus dem Augenwinkel sah sie einen breiten männlichen Schatten am Strand, der leicht geduckt davonhuschte. Alarmiert wandte sie sich um. „Ich fürchte, dir hat gerade jemand deine Sachen geklaut“, stieß sie hervor.

„Aber nein“, meinte Lukas erstaunlich gelassen und streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie und gemeinsam wateten sie ins seichte Wasser und schließlich an Land. Zu Rebeccas Verwunderung lag neben der Kleidung, dem Geldbeutel und dem Handy Reginas Brautstrauß.

Sie bückte sich und nahm den schweren Strauß mit den weißen Rosen auf. Die mintfarbenen Bänder flatterten um ihr Handgelenk, als sie die Blüten erstaunt betrachtete.

„Versuch jetzt nur nicht, dich damit herauszureden, dass du davon nichts gewusst hast.“

Lukas reckte beide Hände gen Himmel. „Ich wusste wirklich nichts davon, aber ich habe Marty erkannt.“

„Dein Freund ist ein rettungsloser Romantiker!“

„Mag sein.“

„Dem ich morgen gehörig die Leviten lesen werde.“

„Er wird sich vor Lachen biegen.“ Lukas’ Lachen klang schon jetzt über das Meer hinaus.

„Das ist nicht hilfreich“, schalt Rebecca, ungehalten über sich selbst, da sie ein Schmunzeln kaum unterdrücken konnte.

„Das ist nur ein Strauß, kleiner Trotzkopf.“

„Aber er steht für etwas.“

„Gib ihn mir. Ich lasse ihn schwimmen.“ Lukas wollte ihr den Strauß abnehmen, doch Rebecca zog ihn reflexartig weg. Nein, das wollte sie nicht. Verwirrt über sich selbst starrte sie die duftenden, zarten Blumen an.

Lukas bückte sich schweigend nach seinen Sachen, und Rebecca erhaschte einen Blick auf seine weißen Shorts unter der Anzughose. Er streifte sich das Hemd über die nassen Haare, das sofort an seinem Körper festklebte. Der junge Mann hüllte sich auch noch in Schweigen, als er sich die Krawatte locker um den Hals legte und Handy und Geldbeutel aufhob. Nebeneinander schritten sie in Richtung des Strandabschnitts, von dem aus sie zu ihrem Hotel gelangen konnten. Mit gerunzelter Stirn versuchte Rebecca, einen Blick auf das Gesicht ihres schweigsamen Begleiters zu werfen. Das helle Mondlicht offenbarte ein breites Grinsen. Sie schüttelte leise lachend den Kopf. Nein, sie wollte nicht wissen, was Lukas daraus schloss, dass sie sich geweigert hatte, den Strauß aus der Hand zu geben.

Wenig später erreichten sie die kleine Hotelanlage und dieses Mal begleitete Lukas sie bis zum Fuße der Verandatreppe. Die Blätter der Bäume raschelten, der Geruch von feuchter Erde lag schwer in der Luft. Der Mond, groß und rund, als habe Marty ihn für seine Hochzeit eigens so bestellt, bestrich die Landschaft mit sanftem Licht.

„Nicht vergessen: Wir haben morgen Abend ein Date. Romantisches Abendessen mit dem ausführlichen Bericht über meine Tauchgänge.“

„Holst du mich hier ab?“

„Gegen sechs?“

„Abgemacht. Ich wünsche dir morgen einen wunderschönen Tag!“

„Gute Nacht, Becci.“

„Gute Nacht, Lukas.“

Sie drehte sich nur zögernd von ihm fort. Als sie die erste Stufe betrat, wechselte sie den Strauß in die linke Hand. Nach der zweiten Stufe sah sie sich nach Lukas um. Er war inzwischen einige Schritte entfernt und im Schatten der Kasuarina-Bäume kaum mehr zu erkennen.

Sie setzte den Fuß gerade auf die dritte Stufe, als er plötzlich mit wenigen Sätzen zurück war und von außen an der Treppe hochsprang. Er hielt sich mit einer Hand am Holzgeländer fest, die andere legte er in ihren Nacken und zog sie an die Brüstung, die sie voneinander trennte. Sanft küsste er sie. Ein Beben ging durch ihren Körper, als fließe ein elektrischer Stromschlag durch sie hindurch.

Lukas verstand das Ausbleiben jedes Widerstands von ihr als Einladung, seine Finger in ihrem Haar zu vergraben und sie erneut zu küssen, dieses Mal mit deutlich mehr Leidenschaft. Dann sprang er rücklings wieder auf den Pfad hinunter und die Dunkelheit verschluckte ihn innerhalb eines Sekundenbruchteils. Zurück blieb Rebecca; atemlos und mit dem seltsamen Gefühl, dass er ein Stück von ihr mitgenommen hatte.