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Barbara Martina Strebel

Zu keiner
anderen Zeit

Historischer Roman

Ulrike HELMER Verlag

ISBN 978-3-89741-987-2

© 2016 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL

unter Verwendung des Fotos »Forever is a long time II«

© Herzstillstand / photocase.de

Ulrike Helmer Verlag

Neugartenstraße 36c, D-65843 Sulzbach/Taunus

E-Mail: info@ulrike-helmer-verlag.de

www.ulrike-helmer-verlag.de

Für Katja

Inhalt

Prolog

Teil I: Die letzten Jahre des Vertrauens (1912/13)

Kapitel 1: Wilhelms Wien

Kapitel 2: Der große Tag

Kapitel 3: Eine Landpartie

Kapitel 4: Sittenbilder

Kapitel 5: Die Herren von Greiffenwalde

Kapitel 6: An die Fürstin

Kapitel 7: Karlsbader Beschlüsse

Kapitel 8: An Fräulein von Lederer

Teil II: An der Heimatfront (1914–1917)

Kapitel 9: Das Glück, dabei zu sein

Kapitel 10: Winterschlachten

Kapitel 11: An Wilhelm

Kapitel 12: Der Russe

Kapitel 13: An den Grafen

Kapitel 14: Die Kosten des Krieges

Kapitel 15: Frontbericht

Kapitel 16: An Madame du Pré

Kapitel 17: Väter und Söhne

Kapitel 18: Stärkere Dinge

Teil III: Im Trümmerreich (1917–1920)

Kapitel 19: Offenbarungen

Kapitel 20: An den Professor

Kapitel 21: Unter den Lebenden

Kapitel 22: Ein Dolchstoß

Kapitel 23: Auf Seiten der Sieger

Kapitel 24: An John Forrester

Kapitel 25: Die Suchbildzeit

Kapitel 26: Heimkehr

Kapitel 27: An Jakob

Teil IV: Jenseits des Ozeans (1922/23)

Kapitel 28: Thanksgiving

Kapitel 29: Präludium

Kapitel 30: An Natalia

Kapitel 31: Am Ende der Reise

Kapitel 32: Geheimnisse und Wahrheiten

Teil V: Die Welt dazwischen (1924–1926)

Kapitel 33: Die Zukünftigen

Kapitel 34: Eine gute Seele

Kapitel 35: An Doktor Pierce

Kapitel 36: Tanganjika-Land

Kapitel 37: Die neue Frau

Kapitel 38: Vergeben und vergessen

Kapitel 39: Passagen

Kapitel 40: An Leonore

Kapitel 41: Im Feindesland

Kapitel 42: Sui generis

Über die Autorin

Prolog

An Bord der «Liberty», Februar 1924

Die Frau an der Reling fröstelt. Der Wind auf See ist schneidend, das Wasser unter ihnen schwarz und tief wie die Nacht, die sie umgibt. Nur die Wellenkämme am Horizont glitzern schwach im Licht des Mondes.

Die Frau ist an Deck gekommen, weil sie nicht schlafen kann. Es ist nicht der Seegang, der sie am Schlafen hindert – das Schiff gleitet ruhig dahin – und auch nicht die Enge ihrer Kabine, die im Unterdeck liegt und kein Fenster hat.

Es sind die Albträume, die kommen, sobald sie eingeschlafen ist. In ihren Träumen hört sie sie wieder, die Schreie des Mannes, hört sie umschlagen in ein Gebrüll, an dem nichts Menschliches mehr ist. Sie fühlt die Wucht, mit der die Kugel in ihr Fleisch eindringt, schmerzlos zuerst und doch tödlich. Und was das Schlimmste ist: Sie sieht ihre Gesichter. Ganz deutlich kann sie den verächtlichen Gesichtsausdruck der Mutter erkennen, den gequälten des Vaters. Nur das Gesicht ihres Großvaters ist liebevoll wie immer.

Er streichelt ihre Hand und sagt: «Es wird alles gut.»
Er kann das sagen, weil sie ihn angelogen haben. Um ihn zu schonen, wie sie behaupten. «Ein furchtbares Missgeschick», so logen sie.

Ein Missgeschick. Wenn es nicht so schrecklich wäre, müsste sie lachen. Er hat das Leben aus ihr herausgeschossen. Das andere und beinahe auch ihr eigenes. Danach hat sie wochenlang im Bett gelegen, der Qual des Vaters, der Verachtung der Mutter ausgesetzt. «Du hast es verloren», beschied ihr diese, kaum dass sie wieder bei klarem Verstand war, und machte sich dabei nicht die Mühe, den Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.

«An allem bist ganz allein du schuld», sagte dieser Ton.

In dem Augenblick hat sie aufgehört, sich schuldig zu fühlen. Keiner dieser gnadenlosen Menschen ist auch nur ein Jota besser als sie. Sie hat genug gebüßt. Das Leben, das ihr jetzt noch bleibt, will sie in Frieden verbringen.

Die Frau an der Reling beugt sich vor und blickt an der Schiffswand entlang in die Tiefe. Die Unterarme auf das Geländer gestützt, beobachtet sie eine Weile, wie der mächtige Rumpf das Wasser zerteilt, sich stetig vorwärts schiebt, einem anderen Erdteil zu.

Vor vielen Jahren hat sie den Ozean schon einmal in diese Richtung überquert: Mit Kurs auf Europa.

Wie froh und unbeschwert sie doch damals gewesen ist.

Es ist lange her.

«Wollen Sie nicht reinkommen, Madam? Sie holen sich hier draußen noch den Tod!»

Die Frau richtet sich auf und dreht sich um.

Es ist ein junger Mann in einem schlichten, etwas zu weit geschnittenen Anzug, der vom Heck her zu ihr herüberruft. Er steht im Eingang zum Foyer zwischen den Aufenthaltsräumen Dritter Klasse und hält seinen Hut fest, damit der Wind ihn nicht mit sich fortreißt. Die Frau erinnert sich, beim Einschiffen einige Worte mit ihm gewechselt zu haben. Er spricht Englisch mit einem deutschen Akzent. Sagte er nicht, er sei aus Österreich? Aber vielleicht irrt sie sich auch.

«Wir haben es uns gemütlich gemacht. Kommen Sie, gesellen Sie sich zu uns!»

Mit einem Mal nimmt sie die Töne wahr, die aus dem Schiffsinneren dringen. Es sind die Klänge eines Klaviers, auf dem Walzer gespielt wird.

Ausgerechnet.

«Vielen Dank, aber ich bin müde, ich werde zu Bett gehen», gibt sie zur Antwort.

Der junge Mann zögert, öffnet den Mund, als ob er noch etwas anfügen wollte, und verabschiedet sich dann wortlos, indem er den Hut zwei Finger breit anhebt.

Die Frau wendet sich wieder der Reling zu. Eine Wolke hat sich über den Mond geschoben. Das Meer liegt jetzt in vollkommener Dunkelheit da.

Sie zieht den Mantel enger um sich. Die Klavierklänge scheinen ihr plötzlich sehr laut. Aufdringlich. Anachronistisch.

Als ob die Zeit des Walzers nicht längst abgelaufen wäre.

Und doch rühren sie an etwas in ihr, wecken Erinnerungen und den Wunsch, jemandem zu erzählen, wie es gewesen ist damals, und wie es so weit hat kommen können, dass sie hier an Deck dieses Schiffes steht und nicht schlafen kann.

Die Frau macht auf dem Absatz kehrt. Ihr Kopf fühlt sich leicht an, so leicht, dass sie eine Sekunde lang fürchtet, das Bewusstsein zu verlieren. Das lange Stehen in der Kälte hat sie erschöpft. Sie ist nach wie vor schwach. Es wäre vernünftiger gewesen, noch etwas länger zuzuwarten mit der Reise. Doch sie hat nicht länger warten können. Es wurde schon von der Anstalt geredet, in die man sie einliefern will.

Die Frau vergräbt die Hände in den Manteltaschen und schlägt den Weg zum Bug des Schiffes ein. Langsam entfernt sie sich von der Musik, die immer leiser wird, bis sie gänzlich im Stampfen der Schiffsmotoren untergeht.

In drei Tagen werden wir am Ziel sein.

Der Gedanke kommt ihr, als sie die Bugspitze beinahe erreicht hat. Sie zeigt gegen Osten, das weiß die Frau auch ohne Kompass. Die Motoren stampfen tröstlich. Unaufhaltsam treiben sie das Schiff vorwärts, dem anderen Erdteil zu.

Einen Moment hält sie inne, betrachtet die amerikanische Flagge, die auf der Bugspitze weht, dann dreht sie sich um und geht in Richtung Heck zurück. Sie geht bis zur Tür, die zum Foyer zwischen den Aufenthaltsräumen führt. Noch immer spielt dort jemand Klavier.

Die Frau stößt die Tür auf und geht hinein. Die Walzerklänge kommen aus dem Rauchersalon, der zu ihrer Rechten liegt. In die Töne des Klaviers mischen sich Gelächter und das Klappern von Geschirr. Ein kurioser Duft steigt ihr in die Nase: Es riecht nach Tabak, Kaffee und menschlicher Gesellschaft.

Da erscheint ein Lächeln auf den Lippen der Frau. Es ist das erste seit vielen Wochen. Vielleicht wird sie sich doch einen Augenblick zu ihm setzen, zu dem jungen Mann mit dem deutschen Akzent, wird eine Tasse Tee trinken, der Musik lauschen und sich erinnern.

Als sie sich dem Saloneingang nähert, öffnet er sich ihr wie von selbst. Ein Herr kommt heraus. Er sagt «Guten Abend» und hält ihr die Tür auf. Die Frau grüßt zurück und tritt über die Schwelle. Der Salon ist voller Menschen, obwohl die Uhr an der Wand schon fast Mitternacht zeigt. Die Luft im Raum ist geschwängert mit Zigarettenrauch. Es dauert einen Augenblick, bis die Frau den jungen Mann entdeckt. Er sitzt an einem Tisch in der Nähe des Klaviers und unterhält sich mit einem Paar, das zu mondän aussieht für Passagiere Dritter Klasse. Sie ist nicht die einzige, die in den letzten Jahren tief gefallen ist.

Die Frau lächelt erneut.

Während sie auf den Tisch zugeht, setzt der Pianist zum Schlussakkord an. Das Publikum bricht in Beifallsstürme aus. Die Begeisterung ist so ansteckend, dass die Frau nicht anders kann, als in den Applaus mit einzustimmen.

Wie wenn er ihr Klatschen gehört hätte, hebt der junge Mann den Kopf und sieht sich um. Sobald er sie erblickt, springt er auf, um einen Stuhl für sie zurechtzurücken. Die Geste lässt die Frau an einen anderen jungen Mann denken, der ihr vor Jahren mindestens ebenso unbeholfen den Hof gemacht hat – und ebenso aussichtslos. Sie nimmt Platz und bedankt sich bei ihrem Kavalier. Er will etwas sagen, doch ehe sie eine Unterhaltung beginnen können, setzt die Musik wieder ein.

Die Frau lehnt sich im Stuhl zurück und schließt die Augen.

Von Anfang bis Ende will sie ihre Geschichte erinnern.

Sie kann es jetzt, weil das Ende wieder offen ist.

Es wird ein anderes sein, als sie erwartet hat.

Ein besseres, denkt sie.

Teil I:
Die letzten Jahre des
Vertrauens
(1912/13)

 

Kapitel 1: Wilhelms Wien

August 1912

Wilhelm Alois Schmitz reckte den Kopf in die Höhe, als müsste er über jemanden hinwegblicken, was jedoch nicht der Fall war, da er fast alle übrigen auf dem Bahnsteig Wartenden um eine halbe Haupteslänge überragte. Der Gepäckträger tat es dem amerikanischen Herrn nach, wobei er es durchaus nötig hatte, sich etwas länger zu machen, reichte er dem massigen Amerikaner doch kaum bis zur Brust.

Die auf dem Ankunftsperron des Wiener Südbahnhofes einfahrende Eisenbahn hielt gerade an. Noch einmal ließ der Lokomotivführer die Pfeife ertönen, dann war die Dampflok der Reihe 109, dieses Wunderwerk der Technik, nach über zwölf Stunden Fahrt endlich still. Stattdessen hörte man wieder die Kakophonie der Stimmen der auf dem Bahnsteig versammelten Menschen, die in allen Sprachen der Monarchie durcheinander redeten, schrien und gelegentlich sogar auf den Fingern pfiffen im angestrengten Bemühen darum, einen Verwandten, einen Freund oder – im Falle der Gepäckträger – Kundschaft auf sich aufmerksam zu machen.

Mitten in das Durcheinander hinein öffnete der Schaffner die Tür des vordersten Eisenbahnwagens, der gleich neben Wilhelm Schmitz zum Stehen gekommen war, und rief: «Expresszug aus Triest! Expresszug aus Triest!» Als ob die Menge nicht längst erfahren hätte, um welchen Zug es sich handelte, war es doch der einzige, der um diese Stunde – es war halb sieben Uhr abends – am Südbahnhof erwartet wurde.

Wilhelm ließ seine Augen über die Waggons gleiten, deren Türen nun eine nach der anderen aufflogen. Sein Herz klopfte so schnell, dass er sich darüber gewundert hätte – war er doch kein Mensch, dessen Blut rasch in Wallungen geriet –, wenn er nicht zu beschäftigt gewesen wäre damit, keinen aussteigenden Fahrgast zu verpassen.

«Gustav! Gustl! Hier bin ich! Hier!»

Eine Dame in eierschalefarbenem Kleid, den geschlossenen Schirm wie einen Säbel vor sich in die Luft gereckt, drängte sich an Wilhelm vorbei. Ihr letztes «Hier!» endete in einem ungesunden Pfeifton, der ihn veranlasste, seinen Blick von den aussteigenden Fahrgästen ab- und der Dame zuzuwenden, von der er allerdings nur noch das großzügig gerundete Hinterteil zu Gesicht bekam, ehe sie in der Menschenmasse verschwand.

«Wie sieht sie aus?», wollte der Gepäckträger über die Schulter gewandt wissen. Er ging jetzt einen Schritt vor dem amerikanischen Herrn, um ihm einen Weg durch die Menge zu bahnen.

Wilhelm runzelte die Stirn und überlegte. Er hatte Helena seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gesehen und fragte sich augenblicklich, ob sie sich wohl sehr verändert hatte. «Braunes Haar, braune Augen, etwa so groß», begann er und zeigte mit der Hand die ungefähre Größe seiner Tochter an. Ein Nicken wie zu sich selbst. «Ja, so groß geworden ist sie, mein kleines Mädchen …» Wilhelm hielt inne. Seine Gedanken drohten abzuschweifen, seine Augen vorübergehend den Fokus zu verlieren.

Dann erblickte er sie.

Hinter einer mageren Person unbestimmbaren Alters, deren Kopf aussah, als ob er auf dem Kragen ihres hochgeschlossenen Kleides aufgespießt worden wäre, erschien eine junge Frau in der Tür des letzten Wagens Erster Klasse. Ihr auf dem Fuße folgte ein rotwangiger Jüngling in geflickten Hosen, der sich augenscheinlich zu ihrem persönlichen Gepäckträger ernannt hatte. Er mühte sich mit zwei sperrigen Koffern ab, hatte es sich dabei aber nicht nehmen lassen, auch noch die Hutschachtel der jungen Dame unter den Arm zu klemmen, sodass er sich nun seitwärts durch den Ausstieg schieben musste.

«Helena!»

Mit ein paar raumgreifenden Schritten war Wilhelm bei der Wagentür, wobei er die magere Person um ein Haar überrannt hätte, und streckte seiner Tochter beide Hände entgegen.

«Papa!», rief Helena mit heller Stimme freudig aus und schlang die Arme um seinen Hals, derweil er sie vom Trittbrett hob und schwungvoll auf den Bahnsteig beförderte.

«Mein liebes Kind!», brach es aus Wilhelm heraus, als er das Mädchen abgesetzt hatte, und einen Moment lang schien ihm die Stimme zu versagen. Doch dann brachte der Amerikaner ein weiteres «Mein liebes Kind!» zustande und vermochte sogar noch ein lautes «Willkommen in Wien!» anzufügen, ehe er wieder verstummte.

Die Hände auf ihre Hüften gelegt, schob Wilhelm Helena ein klein wenig von sich weg, um sie besser anschauen zu können. Dann betrachtete er sie lange vor Ergriffenheit schweigend.

Seit er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, hatte er nicht mehr aufgehört, sich zu wundern, wie so etwas Feines, Zartes mit seinem Zutun hatte entstehen können. Während er selbst breit und massig war, war seine Tochter schmal und zierlich; während er sich ungelenk und schwerfällig vorkam, erschien ihm Helena graziös und elegant. «Sentimental» hatte seine Frau ihn genannt, als er vor Jahren einmal versucht hatte, ihr seine Empfindungen zu schildern. Doch Wilhelm konnte sich des Gefühls tiefster Bewegtheit nicht erwehren, das ihn jedes Mal überkam, wenn er Helena nahe war so wie jetzt, und während er sie in seinen Händen ein wenig nach links und nach rechts drehte, wie einen schönen Gegenstand, den man von allen Seiten begutachten wollte, fragte er sich mit ungläubigem Staunen, wie er sie nur so lange hatte fortlassen können.

In Philadelphia hatte noch tiefer Winter geherrscht, als sie zu ihrer großen Reise aufgebrochen war. Die Reise, die er etwas altmodisch «Bildungsreise» nannte, war sogar Wilhelms Idee gewesen, und dieses eine Mal hatte er sich gegen seine Frau durchgesetzt. Wenn sie alt genug war – das hatte er sich geschworen, noch bevor das Kind laufen konnte –, würde seine Tochter den Kontinent ihrer Vorfahren kennenlernen. Den Verlauf der Reise hatte er selbst geplant, hatte genau aufgelistet, welche Länder sie bereisen, welche Städte sie besuchen sollte. Die Route führte von Hamburg aus quer durch Deutschland, die Schweiz und Italien bis nach Griechenland, wo sie sich wieder nach Norden wandte, um über die Balkanküste schließlich nach Wien vorzustoßen. Dort, am End- und Höhepunkt ihrer Reise – auch das hatte Wilhelm sich geschworen, als Helena noch sehr klein gewesen war –, würde er sie in Empfang nehmen, um ihr die Stadt seiner Väter zu zeigen.

«Papa?»

Helenas Stimme drang durch das Dickicht seiner Gedanken und ließ Wilhelms Staunen noch ein wenig ungläubiger werden.

«Papa», sie entwand sich seinem Griff und fasste ihn am Arm, «darf ich dir Fräulein von Lederer vorstellen? Meine Reisebegleiterin.»

Wilhelm Schmitz drehte sich der mageren Person zu, die mit fest verschlossenen Lippen einen Schritt hinter seiner Tochter stand und darauf wartete, dass man sie beachten würde. Das Fräulein, so viel hatte Helena ihm geschrieben, war bei den besten Hamburger Familien in Diensten gewesen und mit den wärmsten Empfehlungen bei ihren Gastgebern vorstellig geworden, als diese eine passende Reisebegleiterin für die ihnen anvertraute junge Dame aus Übersee gesucht hatten. «Meinen Wachhund» hatte seine Tochter sie in ihren Briefen scherzhaft genannt und dabei mehr als ein Mal durchblicken lassen, dass das Fräulein zwar sehr gebildet und korrekt, aber eben auch sehr humorlos war.

«Grüß Sie Gott, wertes Fräulein», sagte Wilhelm mit einer ungelenken Verbeugung, bevor er der mageren Person die Hand reichte, um die welken Finger bis zwei Zentimeter vor den Mund zu führen und einen Kuss anzudeuten. Dabei nahm er den Geruch von Mottenkugeln, vermischt mit einem Hauch Lavendel wahr, der den abgetragenen Handschuhen entstieg.

«Guten Tag, Herr Schmitz. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ihre Tochter hat mir schon viel von Ihnen erzählt», erwiderte Fräulein von Lederer, bevor sie die Hand so ruckartig zurückzog, dass sie dem Amerikaner beinahe einen Nasenstüber versetzt hätte. Sie sprach mit gerade so viel Stimme, wie Luft durch die zusammengepressten Lippen entweichen konnte; ihr Hochdeutsch dagegen klang sehr gepflegt, was Wilhelm augenblicklich mit ihrer blutleeren Erscheinung versöhnte. Er wollte dem Fräulein gerade ein Kompliment zur stilvollen Rede aussprechen, als seine Tochter ihn auch schon wieder am Ärmel zupfte und seine Aufmerksamkeit auf den rotwangigen Jüngling lenkte, der hinter ihr ausgestiegen war.

«Und das hier, das ist der Friedrich», sagte sie mit einem Lächeln, das Wilhelm übertrieben vergnügt vorkam, während sie auf den schlaksigen Burschen zusteuerte, der in gebührendem Abstand von den feinen Leuten ein wenig verloren inmitten ihres Reisegepäcks stand und die Hutschachtel umklammert hielt, als ob sein Leben daran hinge.

Wilhelm begrüßte Friedrich mit einem für seine Verhältnisse festen Händedruck und schaute ihm dabei prüfend ins Gesicht. Er konnte auf den ersten Blick erkennen, dass der Bursche nur Augen für seine Tochter hatte, obschon er sie jedes Mal hastig abwandte, wenn seine Angebetete ihn ansah. Wie Helena gleich darauf erklärte, hatte sie Friedrich beim Flanieren am Hafen von Triest kennengelernt. Über dem Kauf eines Souvenirs waren sie miteinander ins Gespräch gekommen und bald so ins Reden vertieft gewesen, dass sich die gemeinsame Fortsetzung ihres Spazierganges wie von selbst ergab. Zu beider Freude hatte man sich an diesem Morgen auf dem Bahnhof wiedergetroffen und beschlossen, ein Zugabteil zu teilen. Ganz zufällig, wie Helena mit einem Augenzwinkern an die Adresse ihres Verehrers betonte, der darauf noch eine Nuance röter wurde.

Wilhelm murmelte etwas Unverständliches in seinen Bart und wackelte bedächtig mit dem Kopf, wie er es immer tat, wenn er nicht wusste, welche beziehungsweise ob überhaupt eine Reaktion von ihm erwartet wurde. Um Zeit zu gewinnen, klaubte er seine zerbeulte Schirmmütze aus der Jackentasche und begann sie umständlich zurechtzuklopfen. Er hatte sie soeben wieder in die richtige Form gebracht, als er seine Tochter sagen hörte: «Lassen Sie mich das tragen.»

Wilhelm blickte auf und bemerkte, wie Helena sich anschickte, dem widerstrebenden Jüngling die Hutschachtel aus den Händen zu nehmen. Der Bursche war so verlegen, dass er einem direkt leidtun konnte.

‹Daran muss ich mich also auch gewöhnen›, dachte Wilhelm mit einem Anflug von Wehmut, während er die Mütze mit beiden Händen auf seinem kahlen Schädel platzierte, ‹dass junge Männer sich für mein kleines Mädchen interessieren.›

Doch wer konnte es ihnen verdenken?

Die Augen unter dem Mützenschirm verborgen, ließ der Amerikaner seinen Blick erneut voller Zärtlichkeit auf seiner Tochter ruhen. Ihr Haar war von der Sonne so ausgebleicht, dass man es inzwischen eher als blond denn als braun bezeichnen musste. Sie trug es zu einem Kranz geflochten, aus dem sich da und dort eine Strähne gelöst hatte, was ihr einen Zug kindlicher Nonchalance verlieh, den seine Frau mit Sicherheit missbilligt haben würde. Im Gegensatz zu ihrem Haar war Helenas Teint ein ganzes Stück dunkler geworden, als es gemeinhin für schicklich galt, und auf ihrer Stirn leuchteten Sommersprossen. Aber selbst dieser Veränderung vermochte Wilhelm nur Positives abzugewinnen, verstärkte sie doch den Eindruck gesunder Frische, den ihr Anblick bei ihm hervorrief. Nicht nur das südliche Klima, auch die italienische Küche war seiner Tochter offenbar gut bekommen: Ihre Wangen erschienen Wilhelm voller, ihre Schultern weniger kantig als vor ihrer Abreise, und unter dem leichten Sommerkleid – es war von der Taille an aufwärts eng geschnürt, wie es die vorherrschende Mode verlangte – zeichneten sich Rundungen ab, die ihm zuvor nicht aufgefallen waren.

Kurzum: Sein kleines Mädchen sah hinreißend aus, und als sie sich nun umwandte, die Hutschachtel in Händen, die sie von ihrem Verehrer zurückerobert hatte, und ihren Vater aus grünbraunen Augen triumphierend anstrahlte, da hätte Wilhelm am liebsten laut geseufzt vor Glück und Wehmut zugleich.

«Gehen wir, Papa?»

Helena klemmte sich die Hutschachtel unter den linken Arm und hakte sich mit dem rechten bei ihm ein.

Wilhelm erwiderte ihr Lächeln und nickte. Dann schaute er sich nach seinem Gepäckträger um und gab ihm einen Wink.

Der Mann kam aus dem Hintergrund hervorgesprungen, wie wenn er nur darauf gewartet hätte, seiner Dienerpflicht endlich nachkommen zu dürfen. «Aus dem Weg, Bub», herrschte er Friedrich an, bevor er den verdutzten Jüngling unsanft beiseiteschob und sich der Koffer bemächtigte. Sekunden später machte er auf dem Absatz kehrt, setzte sich der Gesellschaft an die Spitze und marschierte mit dem Ausruf «Bitte mir folgen zu wollen, Herrschaften!» in Richtung Ausgang davon.

Die Herrschaften folgten dem Gepäckträger in einigem Abstand. Vorne gingen, angeregt plaudernd, Wilhelm Schmitz und seine Tochter Helena, dahinter folgten, angespannt schweigend, Fräulein von Lederer, die darauf bestanden hatte, ihren kleinen Handkoffer selbst zu tragen, und Friedrich, dem nichts zu tragen verblieben war als sein abgeschabter Rucksack. Dergestalt zu Paaren geordnet, ließ die Reisegesellschaft sich zur Treppe lotsen, die an der Stirnseite der Geleisehalle über zwei Abgänge in die Kassenhalle hinunterführte. Von dort aus gelangte man auf den Vorplatz des Bahnhofs, wo die Fiaker auf Fahrgäste warteten.

Als sie durch den Torbogen ins Freie traten, legte Wilhelm seiner Tochter fürsorglich den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Es war ein für diese Jahreszeit kühler und trüber Tag, der den Ankömmlingen unsanft ins Bewusstsein brachte, dass sie die Mittelmeerwelt endgültig hinter sich gelassen hatten und in eine Klimazone eingetreten waren, die es mit den Menschen nicht ganz so gut meinte wie das Land der alten Römer. Helena verschränkte die Arme vor dem Körper und schmiegte sich an ihren Vater, während sie schnurstracks auf den offenen Wagen zugingen, den der Gepäckträger für sie ausgesucht hatte.

«Steigen S’ ein, Fräulein, hier sitzen S’ bequem», sagte der Mann, als sie bei dem Fiaker angelangt waren, und reichte Helena die Hand, um ihr hineinzuhelfen. Die junge Dame bestieg leichtfüßig das Gefährt und setzte sich auf die Bank zu ihrer Linken, sodass sie mit dem Gesicht in Fahrtrichtung saß. Ihr gegenüber, mit dem Rücken zum Kutscher, nahm Fräulein von Lederer Platz, dann folgte Wilhelm, der sich neben seiner Tochter niederließ. Er zog die Geldbörse aus der Tasche, reichte dem Gepäckträger seinen verdienten Lohn und wollte dem Kutscher bereits den Befehl zum Losfahren geben, als sein Blick den Reisekompagnon seiner Tochter streifte, der wie angewurzelt neben dem Wagen stand.

Wilhelm schickte sich ins Unvermeidliche. Mit einem stummen Seufzer lehnte er sich über den Rand der Kutsche vor und fragte so ruhig wie möglich: «Wo wohnst du, Junge?»

«Ottakring», stieß der junge Mann hervor.

«Unsere Richtung. Steig ein.»

Mit einem überschwänglichen «Danke sehr!» kletterte Friedrich in den Wagen und nahm neben der indignierten Anstandsdame Platz, die augenblicklich noch ein paar Zentimeter weiter ans andere Ende der Bank rutschte.

Der Wagen rollte an. Die Pension, in der Wilhelm sich eingemietet hatte, lag im 8. Bezirk, der Josefstadt, einer angenehmen, wenngleich etwas biederen Gegend, deren Sehenswürdigkeiten sich natürlich nicht mit denjenigen des 1. Bezirks messen konnten, wo Leute wie er für gewöhnlich abstiegen. Doch Wilhelm wies den Fiaker an, den Weg über die Ringstraße zu nehmen. So würde seine Tochter schon am Tag ihrer Ankunft einen Eindruck von Wiens vielgerühmter Schönheit erhalten.

Wie geheißen, lenkte der Kutscher sein Gespann über den Vorplatz des Südbahnhofes in Richtung Innere Stadt. In leichtem Trab ging es die Prinz-Eugen-Straße hinunter, am oberen und unteren Belvedere vorbei, über den Schwarzenberg-Platz auf die Ringstraße zu.

Die Reisenden ließen die Szenerie auf sich wirken. Die Haupt- und Residenzstadt der Donaumonarchie hatte sich von dem unfreundlichen Wetter nicht beirren lassen. Man befand sich am Vorabend des Kaisergeburtstages, und ganz Wien vibrierte vor Aufregung und Vorfreude. In den Gärten blühten Blumen, leuchtend und duftend, dass einem schwindlig werden konnte, auf den Dächern wehten Fahnen im stolzen Schwarz-Gelb der Monarchie. Die Gehsteige waren gefegt, die Fassaden gereinigt, die Standbilder poliert worden, um für einen Tag zu glänzen, ehe der Schmutz der Großstadt – der sich in Wien so schnell ansammelte wie in jeder anderen Metropole dieser Welt –, sich ihrer wieder bemächtigt haben würde.

Als der Wagen auf den Kärntner-Ring einbog und in flottem Tempo auf das Hof-Operntheater zurollte, ergriff Helena Wilhelms Hand und rief ganz atemlos: «Oh, Papa! Schau! Ist das nicht wunderbar?» Und während sie an Burggarten und Hofburg vorbeifuhren, zwischen Volksgarten und Parlament hindurch, am Burgtheater und an der Universität vorüber, wuchs ihre Begeisterung dermaßen, dass man hätte glauben können, sie sei eben erst aus dem hintersten Winkel Amerikas in diese europäische Großstadt versetzt worden und stünde nicht am Ende, sondern am Anfang ihrer Reise durch die Alte Welt.

Wilhelm drückte zärtlich ihre Finger und lehnte sich zufrieden ins Polster zurück. Es war eingetroffen, wovon er immer geträumt hatte: Die Stadt seiner Väter hatte seine Tochter im Sturm erobert.

*****

Als sie die Geräusche des herannahenden Wagens vernahm, schaute Joséphine von dem Haushaltsbuch auf, in das sie gerade die Einnahmen der vergangenen Woche eintrug. Sie ließ ihr Lorgnon sinken, flatterte ein paar Mal erwartungsvoll mit den Wimpern und erhob sich dann schnaufend vom Schreibtisch im Kontor, um sich zur Rezeption im Entree zu begeben.

Joséphine, die in ihrem früheren Leben auch als «l’impératrice» bekannt gewesen war, hieß mit bürgerlichem Namen Johanna Ganglbauer und kam aus dem Salzburger Land, wo sie als uneheliche Tochter einer armen Magd auf dem Hof eines reichen Viehbauern aufgewachsen war. Mit allem, was zu so einer Kindheit eben dazugehörte. Heute ging Joséphine auf die Sechzig zu, lebte seit über vierzig Jahren in Wien und führte ihr «Etablissement», wie sie ihr Haus nicht ohne Stolz nannte, seit fünfzehn Jahren mit fester Hand. Streng genommen gehörte das Haus nicht ihr, sondern einer unglücklichen Dame ungarischer Provenienz, deren Namen in den Gängen des Gebäudes jedoch nicht fallen durfte, weil sie einer Familie entstammte, die nie und nimmer mit einer wie Joséphine hätte in Verbindung gebracht werden wollen. Besagte Dame hatte vor siebzehn Jahren ihren Mann verloren und vor sechzehn ihr Vermögen, woraufhin Joséphine ihr angeboten hatte, das Haus «in Pension zu nehmen». Das Arrangement begünstigte beide: Der unglücklichen Dame blieb die Schmach erspart, bei der hochnäsigen Verwandtschaft um Geld bitten zu müssen, und Joséphine entging der Gefahr, von einer hübschen jungen oder zumindest noch halbjungen Dirne zu einer hässlichen alten Hure zu werden. Bei ihrem Übergang in den ehrbaren Beruf einer Pensionswirtin hatte sie kurz erwogen, wieder ihren bürgerlichen Namen anzunehmen, den Gedanken aber schnell wieder verworfen. Johanna Ganglbauer hatte mehr als die Hälfte ihres Lebens als Joséphine gelebt, also wollte sie auch als Joséphine sterben; wobei sie sich als Konzession an die veränderten Umstände immerhin entschloss, endlich Französisch zu lernen, um sich ihren Künstlernamen so gewissermaßen auf rechtschaffenem Weg noch einmal anzueignen.

Das Klappern der Pferdehufe auf dem Straßenpflaster verstummte. Joséphine griff nach der Glocke, die auf der Rezeption stand, und schüttelte sie mit einer dezidierten Handbewegung. Sogleich kam ein Lakai in roter Livree herbeigeeilt, der die Eingangstür aufstieß, damit sie sehen konnte, was sich vor ihrem Haus zutrug.

Der Wagen war vor dem mit Rosen bewachsenen Torbogen zum Stehen gekommen, der den Zugang zur Pension überwölbte. In dem Gefährt saßen – von Joséphine aus gesehen im Uhrzeigersinn – ein verhärmtes Fräulein schwer zu schätzenden Alters, dem das Wort «Anstandsdame» quasi auf der Stirn geschrieben stand, ein rotwangiger Jüngling von vielleicht achtzehn Jahren, der aussah, als ob die Reisegesellschaft ihn am Straßenrand aufgelesen hätte, ein gesetzter Herr mit einer zerbeulten Schirmmütze, in dem Joséphine den gutmütigen Amerikaner wiedererkannte, der seit einigen Tagen in ihrer Pension wohnte, sowie ein junges Mädchen, das die Tochter sein musste, von der er ihr schon so viel erzählt hatte.

Die junge Dame schien es kaum erwarten zu können, den fahrbaren Untersatz endlich verlassen zu dürfen. Noch bevor der Kutscher vom Bock gestiegen war, stieß sie die Seitentür auf und sprang aus dem Wagen, dicht gefolgt von dem rotwangigen Jüngling, der ihr nur zu gern beim Aussteigen geholfen hätte, sich nun aber damit begnügen musste, das Gepäck für sie tragen zu dürfen. Nach den beiden jungen Leuten kletterte das verhärmte Fräulein aus dem Fiaker, sorgfältig darauf bedacht, die gleichgültig entgegengestreckte Hand des Kutschers nicht in Anspruch nehmen zu müssen, und zuletzt der gutmütige Amerikaner, unter dessen Gewicht sich das Gefährt gefährlich zur Seite neigte, sodass er mehr aus der Kutsche stürzte als stieg.

Während der Herr noch damit beschäftigt war, die Balance wiederzufinden, war seine Tochter schon fast beim Eingang der Pension angelangt. «Dass du mir nur nicht fällst, Mädchen», murmelte Joséphine, derweil sie nicht ohne Spannung verfolgte, wie die junge Dame – die Röcke mit der Linken ganz undamenhaft zusammengerafft – auf die Rezeption zugeflogen kam.

Der Lakai öffnete die Tür noch ein paar Zentimeter weiter und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung, als sie an ihm vorbei ins Entree stürmte, wo sie nach zwei Schritten abrupt stehen blieb und sich suchend umsah. Joséphine vermutete, dass sie nach einer Sitzgelegenheit Ausschau hielt. Wenn, tat sie es vergebens. Für Sessel oder Ähnliches war im Entree kein Platz; es war gerade groß genug, um die kleine Reisegesellschaft samt ihrem Gepäck aufzunehmen. Letzteres wurde gleich darauf vom jugendlichen Verehrer des Mädchens hereingetragen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich um einen Arbeitersohn aus einem der Vororte, einen Tschechen wohl, wie die ausgeprägt slawischen Gesichtszüge nahelegten. Ihm tropfte der Schweiß von der Stirn und seine Wangen glühten vor Aufregung, ein Anblick, der Joséphine ganz gegen ihren Willen einen nostalgischen Schauder über den Rücken jagte.

Während die Augen der Wirtin noch einige Sekunden länger auf dem schwitzenden Jüngling verweilten, betraten das verhärmte Fräulein und der gutmütige Amerikaner hintereinander das Entree. Das Fräulein blieb neben der Tür stehen, der Herr bahnte sich zwischen den Gepäckstücken hindurch einen Weg zur Rezeption, nahm die Mütze ab und anerbot Joséphine ein gut gemeintes «Grüß Gott», das allerdings mehr amerikanisch als wienerisch klang.

Die Wirtin lächelte milde. Sie tätschelte die große, weiche Hand, mit der er sich auf die Theke stützte, bevor sie das Gesicht dem Mädchen zuwandte, das den Austausch an der Rezeption neugierig beäugte. In einer dramatischen Geste, die sie den zweitklassigen Primadonnen in den Wiener Singspielhallen abgeschaut hatte, schlug sie die Hände vor der Brust zusammen und rief mit pfeifender Stimme aus: «Und dies muss Ihr reizendes Fräulein Tochter sein!»

Der Amerikaner nickte und schwelgte einen Augenblick in ungetrübtem Vaterstolz, ehe ihm bewusst wurde, dass die Damen darauf warteten, einander vorgestellt zu werden. Zu seiner Tochter gewandt, erklärte er: «Frau Joséphine, die Hausherrin», zu Joséphine: «Meine Tochter, Helena», worauf das Mädchen artig «Sehr erfreut» sagte und Joséphine nicht weniger comme il faut «Die Freude ist ganz meinerseits» erwiderte.

In dem Schweigen, das auf ihre Worte folgte, nahm die Wirtin drei Schlüssel von dem Schlüsselbrett, das hinter der Rezeption an der Wand hing, und ließ sie in die Tasche ihrer Schürze gleiten. Dann schob sie sich hinter der Theke hervor, um mit wiegenden Schritten das Entree zu durchmessen, wobei sie mit Genugtuung zur Kenntnis nahm, dass die Blicke der anwesenden Männer ihr wie magisch angezogen folgten.

Joséphine bewegte ihren fülligen Körper mit dem sicheren Gespür für maximalen Effekt, das sie in ihrem langen Vorleben als Verkäuferin eben dieses Körpers ausgebildet hatte. Ihre Garderobe tat ein Übriges, die Gäste in ihren Bann zu schlagen: In Erwartung des kaiserlichen Geburtstages hatte sie ein mit Spitzen und Rüschen reich besetztes Kleid aus dunkelgrünem Samt angelegt, das sich sehr vorteilhaft an ihre eindrucksvollen Brüste schmiegte. Das Kleid erinnerte entfernt an eine Tracht und verstärkte den Eindruck bodenständiger Gemütlichkeit, den Joséphine für das Erfolgsrezept ihrer Pension hielt. Gäste wie diese Amerikaner hätten sich zweifellos eine teurere Unterkunft leisten können, doch sie zogen den urwüchsigen Wiener Charme ihres Hauses dem seelenlosen Internationalismus der Ringstraßen-Paläste vor. Dem seelenlosen jüdischen Internationalismus, wie die Wirtin im Geist präzisierte. Der Jude saß in Wien nämlich überall, wo es ein Geschäft zu machen gab. Auch darum war sie eine glühende Verehrerin des Bürgermeisters Lueger gewesen, dessen Bild noch immer über ihrem Schreibtisch hing, obwohl der schöne Karl schon über zwei Jahre tot und ein anderer im Rathaus eingezogen war.

Joséphine war bei Helena Schmitz angelangt. Sie stemmte die Hände in die Hüften und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, um das Objekt ihrer Neugierde genauer in Augenschein zu nehmen. Während sie ihren forschenden Blick über das Mädchen gleiten ließ, legte sich ein Ausdruck leiser Enttäuschung über die Miene der Wirtin.

Helena Schmitz musste mehr nach der Mutter kommen. Sie war ohne Zweifel hübsch, doch l’impératrice brauchte nicht lange, um zu entscheiden, dass die Hübschheit von jener Art war, die einen Mann eher ästhetisch als erotisch befriedigen würde. Im Gegensatz zu Wilhelm, hinter dessen trägem Äußeren Joséphine einen leidenschaftlichen Kern schimmern sah, vermochte sie in den ebenmäßigen Zügen seiner Tochter nichts zu entdecken als eben dies: wohlgeformte Oberfläche ohne das geringste Versprechen jener geheimen Sehnsüchte und Lüste, die einen Menschen nach ihrem Dafürhalten erst interessant machten. An fehlender Erfahrung und strenger Erziehung allein konnte so etwas nicht liegen. Ein solcher Zustand war für gewöhnlich angeboren und darum auch kaum zu korrigieren. Man konnte nur beten, dass der Zukünftige der jungen Dame zu den Männern gehören würde, die ihr Glück nicht unbedingt im Ehebett zu finden hofften.

Helena Schmitz hob die Hand vor den Mund und unterdrückte ein Gähnen.

Joséphine hatte ein Einsehen und entließ sie aus ihrer Prüfung. «Sie müssen müde sein», konstatierte sie. «Dann will ich Ihnen gleich Ihr schönes Zimmer zeigen, damit Sie sich ausruhen können. – Hier entlang, bitte.»

Die Wirtin fasste das Mädchen mit der Rechten am Ellbogen und steuerte es zur Treppe, derweil sie dem Lakai mit der Linken das Zeichen gab, ihnen zu folgen. Sofort ergriff der Diener die Koffer der Amerikanerin und machte sich anheischig, sie hinter den Frauen die Stiege hoch zu hieven. Er hatte seinen Fuß soeben auf die unterste Stufe gesetzt, als Helena Schmitz noch etwas einfiel. «Einen Moment, bitte», sagte sie, entwand sich dem Griff der Wirtin und hastete an dem verdutzten Lakai vorbei zu ihrem Reisebegleiter hinüber, der stumm in der entferntesten Ecke des Entrees stand und auf seine Schuhe starrte.

Mit hochgezogenen Brauen verfolgte Joséphine, wie das Mädchen dem schwitzenden Jüngling die Hand reichte und sich für seine Hilfe bedankte. Nicht ohne Amüsement beobachtete sie, wie der Jüngling die Hand des Mädchens nahm, sie einen Augenblick unschlüssig in der Seinen hielt, als wüsste er nicht, ob er sie schütteln oder küssen sollte, und sie schließlich wieder losließ, ohne eins von beidem getan zu haben. Joséphine hörte, wie er eine Spur zu laut «Auf Wiedersehen, Fräulein Schmitz» sagte und nach einer Pause, allen seinen Mut zusammennehmend, hinzufügte: «Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.»

Was die junge Dame ihrem Verehrer antwortete, konnte die Wirtin hingegen nicht verstehen. Es war einerlei. Sie wusste auch so, dass der bedauernswerte Tscheche die hübsche Kleine mit größter Wahrscheinlichkeit nie wiedersehen würde.

Kurz darauf stand Helena Schmitz wieder neben ihr. Joséphine bedachte sie mit einem vielsagenden Blick, bevor sie erneut ihren Arm ergriff und sie mit einem fast akzentfreien «Venez, ma chère» die Treppe hinaufkomplimentierte.

Die Zimmer, die der Amerikaner angemietet hatte, befanden sich im dritten Stock ihrer Pension. Der Raum, in den Joséphine Helena nun führte, war ganz in Rottönen gehalten: Auf den Blumentapeten dominierte zartes Rosa, auf der Bettstatt Zinnober, während die Balkonfenster mit schweren weinroten Gardinen behangen waren. Auf der Kommode neben der Tür lag ein leuchtend weißer Briefumschlag, auf dem, in makelloser Schrift Helena Schmitz geschrieben stand.

«Von Ihrer Frau Mutter», erklärte die Wirtin mit einem Kopfnicken in Richtung des Briefes, bevor sie sich vergewisserte, dass der Lakai das Gepäck der jungen Dame am richtigen Ort deponierte und das Zimmer schleunigst wieder verließ.

Helena Schmitz schenkte dem Brief keine Beachtung. Mit raschen Schritten durchquerte sie den Raum und öffnete die Balkontür. Frische Luft strömte ins Zimmer und vermischte sich mit dem süßlichen Duft des billigen Parfüms, das Joséphine darin hatte versprühen lassen.

«Willst du ihn denn nicht lesen?», fragte Wilhelm Schmitz, der hinter den Frauen über die Schwelle getreten war. In seinem Ton lag diese gewisse ratlose Schwere, die Joséphine häufig bei Männern entdeckte, die unglücklich verheiratet waren.

Helena Schmitz wandte sich zu ihrem Vater um. «Später. Ich bin müde und möchte mich erst ein wenig ausruhen», sagte sie mit einem Lächeln, das selbst Joséphine warm ums Herz werden ließ.

«Selbstverständlich. Ich lasse dich dann allein.»

Der Amerikaner begab sich zur Tür, die sein Zimmer mit demjenigen seiner Tochter verband. Im Türrahmen blieb er stehen und wandte sich noch einmal über die Schulter zurück. «Du weißt nicht, wie froh ich bin, dich heil wiederzuhaben», sagte er mit belegter Stimme, worauf er in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung feuchte Augen bekam.

«Ach, Papa, ich freue mich doch auch, endlich wieder bei dir zu sein», entgegnete Helena Schmitz. Sie lächelte nach wie vor, aber Joséphine, die ein feines Gehör für derlei Schwingungen hatte, vermeinte eine Spur des Bedauerns in ihrer Stimme zu vernehmen.

Nachdem ihr Vater gegangen war, ließ die junge Dame sich im Sessel vor der offenen Balkontür nieder und schaute zwischen den geschwungenen Stäben des Geländers hindurch auf den kleinen Park hinaus, der ihrem Zimmer direkt gegenüber lag. Er war um diese Zeit für gewöhnlich menschenleer. Die Kirchturmuhren hatten soeben dreiviertel acht geschlagen und in den Josefstädter Häusern saß man noch beim Abendbrot. Doch zu Joséphines Überraschung hob Helena Schmitz die Hand, um jemandem zuzuwinken. Die Pensionswirtin folgte ihrem Blick und bemerkte den rotwangigen Jüngling, der auf der Wiese zwischen den Bäumen stand und mit sehnsüchtiger Miene zu den Fenstern der Pension hochsah.

«Na, jetzt ist es aber genug!», brummte die Wirtin ärgerlich, «Sie müssen sich ausruhen, Mademoiselle. Für solche Sachen ist hernach noch genug Zeit.» Und weil sie nicht sicher war, ob die junge Dame verstanden hatte, was sie mit «solche Sachen» ausdrücken wollte, fügte sie zur Verdeutlichung hinzu: «Sie werden in Wien noch genug fesche Burschen kennenlernen. Und zwar solche aus Ihren Kreisen.»

Damit schloss Joséphine die Balkontür und zog die Vorhänge davor zu.

Als sie sich wenig später zum Gehen wandte, stellte sie fest, dass Helena Schmitz im Sessel eingeschlafen war.

«Bonne nuit», raunte Joséphine, obwohl es draußen noch Tag war, und schlich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer.

Kapitel 2: Der große Tag

«Herr Direktor, die Gäste sind eingetroffen. Frau Direktor bitten um Ihr Erscheinen.»

«Ich komme.»

Sigmund Steinmayr senior faltete die Morgenausgabe der Reichspost zusammen, in der er soeben ein treffliches Porträt des kaiserlichen Jubilars gelesen hatte, legte sie auf den Kaffeetisch zu den anderen Zeitungen, die er regelmäßig las – die Neue Freie Presse natürlich, weil die in seinen Kreisen jeder las, die Wiener Zeitung, weil er über alles Offizielle im Bild sein musste, den Pester Lloyd, wenn er wissen wollte, was sich in Ungarn tat, sowie die Illustrierte Kronen-Zeitung, wenn er zu erfahren wünschte, was der Mann von der Straße dachte –, und stand auf. Er verließ das Studierzimmer, in das er sich zurückgezogen hatte, um sich vor dem großen Ereignis noch einmal zu sammeln, und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, wie es seiner Gewohnheit entsprach, die Treppe hinunter ins Erdgeschoss. Mit raschen Schritten durchquerte er die Eingangshalle, in der es verführerisch nach den Mehlspeisen roch, deren Herstellung seine Frau auch dieses Jahr wieder persönlich überwacht hatte, schwenkte ins Wohnzimmer ein und steuerte auf die offene Verandatür zu, durch die man in den Garten gelangte.

Bevor er ins Freie trat, machte Sigmund senior noch einmal kurz halt und legte die Hand auf seine Westentasche, um sich zu vergewissern, dass er die Notizen für seine Festrede auch tatsächlich eingesteckt hatte.

Er nickte zufrieden, als seine Finger das fein säuberlich gefaltete Papier ertasteten. Es würde seine bis dato beste Rede werden, des Anlasses würdig. Mit diesem beruhigenden Gedanken im Kopf überschritt er die Schwelle und begab sich hinaus in den Garten.

Der Anblick, der ihn erwartete, ließ ihm das Herz aufgehen. Vor ihm breitete sich die ganze Herrlichkeit seines kleinen Paradieses aus, sein Garten Eden in der Zwei-Millionen-Metropole Wien, seine Oase der Ruhe in der Großstadt-Hektik, sein Refugium, sein Tempel.

Der Himmel hatte über Nacht aufgeklart, und die Sonne strahlte, ganz so, als hätte sie sich nach Tagen der Abwesenheit plötzlich entschlossen, dem Wiegenfest des greisen Herrschers doch noch die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen. Das Wetter war ideal für ein Gartenfest, wie es die Steinmayrs jedes Jahr zu des Kaisers Geburtstag zu geben pflegten. Kein Wunder also, dass der Großteil der Gäste bereits eingetroffen war, unter ihnen, wie Sigmund senior mit Freuden feststellte, auch Wilhelm Schmitz, der gerade seine Mütze abnahm, um die Dame des Hauses zu begrüßen, und seine Tochter Helena, die lächelnd neben dem Herrn Papa stand und selbst auf diese Entfernung äußerst entzückend aussah.

«Jetzt bist du also vollkommen kahl geworden, guter Freund», murmelte der Hausherr, während er die Szene schmunzelnd beobachtete. «Das kommt davon, wenn man die Hände zu früh in den Schoß legt.»

Sigmund senior wäre es im Traum nicht eingefallen, sein Leben dem Müßiggang zu widmen. Er liebte es, tätig zu sein, und er liebte seinen Beruf. Er war Direktor des Bankhauses Steinmayr, welches er in dritter Generation leitete und das unter seiner Führung zu einem der bedeutendsten Geldinstitute der Monarchie aufgestiegen war. Anders als es seine Neider gerne verbreiteten, war ihm der Direktorenposten nicht einfach in die Wiege gelegt worden. Sigmund hatte sich seinen Platz im Familienunternehmen im Schweiße seines Angesichts erarbeiten müssen. Wie alle Lehrlinge der Bank hatte er seine Karriere in einem schmucklosen Kontor im ersten Stock der Wiener Zentrale begonnen, nicht wissend, ob sein Talent ihn je weiter nach oben führen würde als in den zweiten Stock, wo die ausgelernten Bankkaufleute saßen. Erst als man ihn nach zehn Jahren im Dienst des Unternehmens in die USA geschickt hatte, um den Aufbau einer Zweigstelle in Philadelphia an die Hand zu nehmen, hatte er sich ernsthaft Hoffnungen auf einen Sitz im Direktorium machen dürfen.

Drüben in den fernen Staaten, wo er sich unter widrigen Bedingungen als Kaufmann hatte bewähren müssen – in Amerika herrsche noch das Faustrecht, hatte man ihn vor der Abreise in der Zentrale gewarnt –, war Sigmund das erste Mal mit Wilhelm Schmitz in Berührung gekommen. Aus der geschäftlichen Verbindung war mit den Jahren eine Freundschaft erwachsen, die sowohl Sigmunds Aufstieg in der Bank als auch Wilhelms Rückzug aus der Firma seines Schwiegervaters unbeschadet überstanden hatte. Die beiden Männer teilten nicht nur eine innige Liebe zum deutschen Liedgut – ganz besonders zum Werk Franz Schuberts –, sondern auch eine nie erlahmende Leidenschaft für italienische Weine, die sie bei ihren leider viel zu seltenen Zusammentreffen zu genießen pflegten. Sigmund Steinmayr senior hielt die Tatsache, dass er überall auf der Welt italienischen Wein trinken konnte, denn auch für den besten Beweis dafür, dass der Kapitalismus allen anderen Wirtschaftssystemen haushoch überlegen war. Und wem dies nicht genügte, dem empfahl er einen Blick in die Bilanzen seiner Bank, die schwarz auf weiß bestätigten, dass nichts so viel Wohlstand schuf wie das frei zirkulierende Kapital.

Es war ein Wohlstand, der sich nicht verbergen ließ, trotzdem man sich im Hause Steinmayr Mühe gab, jene zwar unsichtbare, aber deshalb nicht minder strikte Grenze zum Luxus nicht zu überschreiten, der in Österreich-Ungarn nach wie vor dem Adel vorbehalten war. Die Söhne wurden kurz gehalten, damit sie später wüssten, wie man haushälterisch mit seinem Geld umging, Fleiß und Strebsamkeit in der Erziehung groß geschrieben, damit der Nachwuchs nie vergäße, dass Reichtum nicht vom Himmel fiel. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Buben waren gut geraten. Sigmund junior, der ältere der beiden und als Erstgeborener auserkoren, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, hatte die vergangenen drei Jahre in England verbracht, wo er sich in der Londoner Niederlassung der Bank seine Sporen verdiente. Jakob, der jüngere der Brüder, dem man als Zweitgeborenem etwas mehr Freiheit zugestand, hatte im vergangenen Jahr die Matura abgelegt und sich danach eine Zeitlang als Journalist versucht. Inzwischen war er zu der Einsicht gelangt, dass ein Studium das bessere Mittel war, der gebeutelten Arbeiterklasse zu helfen, als das Verfassen sozialkritischer Reportagen, die außer der Arbeiter-Zeitung ohnehin niemand druckte. Arzt wollte er werden, zur Zufriedenheit des Vaters, der den Medizinerberuf zwar für nur mäßig lukrativ, dafür aber für umso respektabler hielt, und zur Freude der Mutter, deren Vater, Samuel Birnbaum, ebenfalls Mediziner gewesen war, ein recht bekannter noch dazu.