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Johannes Wilkes

 

Das kleine

NÜRNBERG

BUCH

 

Facetten einer Stadt

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage September 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Eva Elisabeth Wagner

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-755-1

 

Inhalt

Eine kurze Geschichte der Stadt

Wer war der erste Nürnberger?

Das Stadtwappen

Dürers »Betende Hände« …

Wenn Sie in Nürnberg heiraten wollen

Der Club-Kreißsaal

Wie nennen wir das Baby?

Der heilige Sebald – Nürnbergs Schutzpatron

Die Marien vom Germanischen Nationalmuseum

Wenn Sie Ihre neue Flamme in die Oper ausführen wollen

Nürnberg und seine Kaiser – ein Rosenkrieg

Nürnberg, tiefenpsychologisch betrachtet

Das Gedächtnis der Stadt: das Fembohaus

Schwiegermutteralarm oder: Wo kann ich am Sonntag noch schnell was einkaufen?

Johann Palm – Märtyrer für die Pressefreiheit

Drei besondere Frauen

Hans Sachs – eine Verteidigung

Welcher ist Ihr Lieblingsbrunnen? – Ein Psychotest

Zehn Dinge, die jeder Nürnberger einmal im Leben gemacht haben muss

Ein Spaziergang entlang der Nürnberger Stadtmauer

Der Internationale Nürnberger Menschenrechtspreis

Ich back mir einen Nürnberger Lebkuchen

Café Kraft? Bogglhadd!

Der Nürnberger Trichter

Der schönste Blick über Nürnberg

Welcher ist der größte Nürnberger Hit aller Zeiten?

Ohne Moos nix los – Nürnberg und das liebe Geld

Von der Zukunftsstiftung der Sparkasse und anderen Wohltätern

Mit Freunden durch die Nordstadt

Der Sternenhimmel über Nürnberg

Das schöne Fürth – Nürnbergs heimliche Liebe

Durch die Nürnberger Everglades

Vom Nürnberger Witz – zehn große Erfindungen und Entdeckungen

Liebe im Tiergarten

Mord im Tiergarten

Warum das Christkind weiblich sein muss

Wohin zum Silvesterfeiern?

Woodstock im Luitpoldhain

Vier Migranten

Welcher ist Ihr Lieblingsbaum?

Altstadtfreunde

Ein Stadtbummel im Jahr 2033

Wer ist der größte Nürnberg-Experte? – Das Quiz

Auflösung

Der Autor

 

Eine kurze Geschichte der Stadt

Am Anfang stand eine Liebesgeschichte: Richolf hatte sich in die schöne Sigena verguckt. Sigena aber war seine Leibeigene, um sie standesgemäß ehelichen zu dürfen, musste Richolf sie durch den Kaiser freisprechen lassen. Kaiser Heinrich III. wollte dem jungen Glück nicht im Wege stehen und stellte am 16. Juli 1050 eine entsprechende Urkunde aus, Nürnberg war zum ersten Mal offiziell erwähnt.

Mit drei Friedrichen ist die frühe Geschichte der Stadt verknüpft: Friedrich I. Barbarossa hielt seinen Hoftag mehrmals auf dem Felsen über der Pegnitz ab, die Aussicht gefiel dem Kaiser mit dem roten Bart so gut, dass er Nürnberg zur Kaiserpfalz machte. Um 1190 wurde ein Friedrich aus dem Geschlecht der Hohenzollern (damals hießen sie noch Zollern) mit der Burggrafschaft zu Nürnberg belehnt, dieser Friedrich und seine Nachfolger sollten den Nürnbergern allerdings jede Menge Ärger bereiten. Der dritte Friedrich war Friedrich II. Am 8. November 1219 verlieh der Kaiser der Stadt Nürnberg den Großen Freiheitsbrief, von nun an hatte den Nürnbergern nur noch der Kaiser etwas zu sagen.

Drei Friedriche, ein Karl. 1356 bestimmte Kaiser Karl IV. in seiner Goldenen Bulle, dass jeder neu gewählte Kaiser seinen ersten Reichstag in Nürnberg abzuhalten habe, was Nürnberg in den Rang der ersten Städte Deutschlands erhob. Schwierig war die Reise nicht, egal, von welchem Fleck des Reiches man aufbrach, denn bekanntlich führen alle Wege nach Nürnberg. Sieben große Handelsstraßen kreuzen sich hier, andere zählen sogar zwölf, und so wuchs die kaisertreue Stadt zu einem gewaltigen Marktplatz. Für jede Menge Touristen sorgten neben dem Sebaldusgrab die Reichskleinodien, die Kaiser Sigismund »zur ewigen Aufbewahrung« Nürnberg anvertraut hatte. Die Weisung des Reichsheiltums, also die feierliche Präsentation von Krone, Zepter, Schwert und weiteren Kleinodien auf dem heutigen Hauptmarkt an jedem zweiten Freitag nach Ostern, war ein Magnet, zumal die Pilgerfahrt nach Nürnberg vom Papst mit einem Ablass versüßt wurde.

Wo Geld, da Kultur. Die Patrizier wollten zeigen, was sie hatten, und so staunte bald alle Welt über die Werke Albrecht Dürers oder Adam Krafts, über die prächtigen Kirchen und den größten Rathaussaal nördlich der Alpen. Die Nürnberger klebten sich Chörlein an ihre Häuser, verbutzten ihre Scheiben, feilten an dem besten Lebkuchenrezept und optimierten ihre Bratwürste. Die Meistersinger sangen ihre Lieder, die Humanisten schrieben gelehrte Abhandlungen, Herr Behaim bastelte hübsche Globen und Herr Schedel entwarf seine Weltchronik, dazu feierte man in Nürnberg die lustigsten und übermütigsten Faschingsfeste.

Schluss mit lustig war mit der Reformation. Die Stadt bekannte sich zu Luthers Lehren. Luthers Freund Andreas Osiander, Pfarrer an Sankt Lorenz, beschloss, allem sündigen Treiben ein Ende zu setzen, besonders, als er beim Schembartlauf übel verhöhnt wurde. Die einfachen Arbeiter stöhnten, ihr Urlaubsanspruch schmolz mit der Abschaffung aller Marienfeiertage dahin. Mit dem Dreißigjährigen Krieg kamen die Schweden in die Stadt, und die Nürnberger wurden blonder. Ein üppiges Friedensmahl beendete den Krieg, die Pegnitzschäfer besangen die Friedenssehnsucht.

Mit der Zeit wurden die Patrizier, welche die Herrschaft über die Stadt für alle Zeiten zementieren wollten, immer träger, stießen beim gegenseitigen Begrüßen mit ihren riesigen Halskrausen ständig aneinander und verpassten den Anschluss an die Moderne. Das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bedeutete auch das Ende Nürnbergs als Reichsstadt. Napoleon verschenkte Franken an die mit ihm verbündeten Bayern, Nürnberg wurde nun von München aus regiert. »Ihr armen Kinder, nun seid ihr Fürstenknechte«, rief entsetzt Frau Merkel, die Frau eines Kaufmanns.

Die Fürstenknechte machten das Beste daraus. Zwar hatte man die Selbstständigkeit verloren, aber dafür an Bürgerrechten gewonnen. Mit frischer Kraft ging man daran, die Spinnweben von Nürnbergs Chörlein und Butzenscheiben zu wedeln und aus dem etwas verschlafenen Freilichtmuseum eine moderne Großstadt zu machen. Industrie und Gewerbe begannen zu florieren, die erste Sparkasse Bayerns wurde eingerichtet, 1835 pfiff die erste deutsche Eisenbahn und dampfte Richtung Fürth. Die Dampfkraft ließ auch die Fabrikschlote rauchen, viele Arbeiter zogen herbei, die Stadt platzte bald aus allen Nähten. Die Stadtmauer aber behielt man trotzdem, nur manches Tor war bald den immer dicker werdenden Einkaufstüten im Weg und wurde abgebrochen. Von 1892 bis 1913 wagte man ein mutiges Experiment: Man wählte einen Fürther zum Bürgermeister. Das Experiment glückte, und Nürnberg wurde in der Zeit Georg Schuhs mit Volksbad, Opernhaus und dem neuen Hauptbahnhof reich beschenkt.

Der Erste Weltkrieg brachte den Stillstand, der Zweite Weltkrieg die Katastrophe. Hitler hatte sich in den Kopf gesetzt, aus der Stadt der Reichstage die Stadt der Reichsparteitage zu machen. Schrecklich tobte ein cholerisches Volksschullehrerlein: Julius Streicher goss seinen Hass über die Juden aus und beförderte deren Vertreibung und Vernichtung. Das arme Nürnberg wurde zum Inbegriff der Nazischreckensherrschaft und von den Bomben fürchterlich verwundet. Nach dem Krieg baute man wieder auf, so gut es ging. Den überlebenden Nazischergen machte man den Prozess, die internatio­nale Strafgerichtsbarkeit war geboren.

Bald wirtschaftswunderte es auf das Schönste, und die Nürnberger machten aus ihrer Stadt eine liebenswerte Metropole der Neuzeit, mit U-Bahn, Flugplatz, Europakanal, Fernsehturm und Frankenstadion. Viele hübsche Mädchen wuchsen an der Pegnitz heran, kein Zufall, dass eine von ihnen 1963 den Titel der Miss Germany gewann. 1968 holte der Club mit Max Merkel die Meisterschale und feierte so lange, dass man ein Jahr später mit derselben Mannschaft zugleich den Abstieg schaffte. 2005 schlug Nürnberg New York in puncto Lebensqualität, die Halbmillionengrenze wurde schon manches Mal durchbrochen, zuletzt 2014, als der 500.000 Nürnberger vergnügt in seiner Wiege quietschte. Die Zukunft, auch sie ist in Nürnberg zu Hause.

 

Wer war der erste Nürnberger?

Natürlich hat es schon vor der offiziellen Erwähnung der Stadt Nürnberger gegeben. Auch wenn sich diese nicht so genannt haben, dürfte die schöne und fruchtbare Landschaft an der Pegnitz schon früh Verehrer angezogen haben. Woher man das weiß? Nun, will man in Nürnberg neu bauen, wird’s spannend, denn aus den Tiefen der Baggergruben hat man schon so manche Überraschung ans Licht geholt. Besonders aus alten Latrinen – schon damals war die Unart verbreitet, Dinge ins Klo zu werfen, die dort nicht hineingehören. Auf dem Gelände der Industrie- und Handelskammer nahe Sankt Sebald entdeckten Archäologen neben anderen Gegenständen eine unscheinbare graue Tonscheibe. Darauf finden sich Wellen und Striche als Verzierung und verraten dem Kundigen ihr Alter. Um 850 nach Christus muss das Gefäß getöpfert worden sein und zwar mit ziemlicher Sicherheit von Slawen, die damals in Nürnberg siedelten. Hatte man damit aber auch den Ur-Nürnberger gefunden, mitten im Stadtzentrum, auf dem Areal zwischen Pegnitz und Burgfels?

Ach, was bedeutet schon ein Jahr wie 850! Tiefer, viel tiefer muss man in der Geschichte graben, will man auf den ersten Nürnberger stoßen. Auf dem Gostenhofer Bärenschanz-Gelände fand man scharfe Splitter, die eindeutig von Steinen stammen, mit denen Steinzeitmenschen ihre Speere und Messer geschärft haben. 12.000 Jahre ist das her. Nicht geklärt ist, ob die Nürnberger Steinzeitmenschen mit ihren Waffen im Pegnitzgrund jagen wollten oder ob sie sich rüsteten, um ins nahe Fürth zu ziehen, wo mit einem fellummantelten Höhlenbärenschädel ein frühes Lokalderby ausgetragen wurde. »Früher Steinscherbenviertel, später Glasscherbenviertel«, sagt spöttisch mancher Altstädter. Daraus spricht nur der Neid. Der erste Nürnberger, von dem wir wissen, stammt jedenfalls aus Gostenhof. Die Gostenhofer haben es immer schon gewusst.

 

Das Stadtwappen

Eine solch bedeutende Stadt wie Nürnberg kommt natürlich nicht mit einem Wappen aus. Deshalb gibt es ein Großes und ein Kleines Stadtwappen. Lassen Sie uns mit dem Großen Stadtwappen beginnen. Die Urversion findet sich schon auf Siegeln aus dem 13. Jahrhundert. Aus rotem Siegelwachs geformt ist ein Fabelwesen zu sehen, ein Hybrid aus Vogel und Mensch. Ein Adler hat seine Schwingen ausgebreitet, der Kopf aber stammt von einem jungen Mann, lang fallen seine Locken auf das Adlergefieder hinab. Sein Lächeln deutet an, dass er mit seiner Vogelgestalt durchaus einverstanden ist. Die mächtige Krone auf seinem Haupt weist ihn als Herrscher, als Kaiser aus. Rundherum zieht sich der Spruch SIGILLUM UNIVERSITATIS CIVIUM DE NURENBERCH, das stolze Selbstbewusstsein einer Reichsstadt. Der Adler ist Symbol für das Reich, und der Kopf des Kaisers soll jedem klarmachen: Nur von diesem wird man sich in Nürnberg etwas sagen lassen. Außer, er stammt aus Fürth.

Aus dem Siegel entwickelte sich das Stadtwappen. Über die Jahrhunderte aber begann es sich langsam zu verändern. Der ursprüngliche Blähbauch des Adlers wurde – vielleicht auf Wunsch des Kaisers – zunehmend schlanker und das Gefieder immer gefiederter. Die erstaunlichste Wandlung aber erlebte der Kaiser. Der blonde Jüngling nahm immer weiblichere Züge an. Aus der Adlerbrust knospten plötzlich zwei Brüste, die – da ein Adler kein Säugetier ist – eindeutig dem menschlichen Teil des Hybridwesens zuzuordnen sind. Um die Pubertätsentwicklung noch deutlicher zu machen, rutschte das Federkleid des Adlers vom Hals abwärts tiefer und tiefer, bis die nun voll entwickelten Brüste lustig in der Sonne glänzten. Aus dem Kaiser war eine FKK-Kaiserin geworden.

Wer diese erstaunliche Entwicklung aus der Nähe betrachten will, der begebe sich zum Rathaus. Über einer der Eingangstüren hängt der freundliche Kaiserinnenadler in seiner vollen Schönheit. ­Tempora mutantur. Heute ist aus dem offenherzig weiblichen Stadtwappen wieder ein eindeutig maskulines geworden, aus der freizügigen Kaiserin wieder ihr prüderer Herr Gemahl. Im Volk aber ist die Liebe zu der alten Variante lebendig geblieben. Kann man im Nürnberger Christkind mit seinem Flügelgewand nicht auch ein weibliches Vogelwesen erblicken?

Im Kleinen Stadtwappen hat man dem Adler seinen Vogelkopf zurückgegeben, dafür musste er auf die komplette rechte Körperhälfte verzichten. Die rechte Wappenseite wird stattdessen von weißen und roten Streifen schräg durchzogen, den stolzen Farben des Frankenlandes. Das Kleine Stadtwappen musste eingeführt werden, weil sich im Jahr 1349 aufständische Handwerker des offiziellen Stadtwappens bemächtigt hatten, dessen Rückseite aus einem bekrönten N mit abgekürzter Umschrift bestand. Dieses Rücksiegel bestätigte die Echtheit vieler Urkunden und musste nun durch ein neues Siegel ersetzt werden. So kam der halbe Adler dahergeflogen. Heute dient das Kleine Stadtwappen vielen städtischen Dienststellen als Siegel und als repräsentatives Zeichen. Um sich als Stadt der Moderne zu präsentieren, lassen die Stadtverantwortlichen von Grafikern gelegentlich neue Logos entwerfen. Beliebt war eine Zeit lang eine Art EKG in Form der Burgsilhouette, aktuell ist es ein schlichtes weißes N auf rotem Grund. Das schönste Wappen aber war sicherlich die flatterhafte Kaiserin. Lassen Sie uns für ihre Rückkehr kämpfen!

 

Dürers »Betende Hände« …

»Will ich noch etwaß machen, das nit viel leut khönnen machen«, schrieb Albrecht Dürer an den Frankfurter Tuchhändler Jakob Heller. Der wohlhabende Mann wünschte sich für die Frankfurter Dominikanerkirche einen Wandelaltar, ein Altargemälde also, das man mittels zweier beweglicher Seitenflügel zuklappen konnte, sodass nur noch deren weniger aufwendig gestaltete Außenseiten sichtbar waren. An Sonn- und Feiertagen wurde ein Wandelaltar geöffnet, die Gläubigen sollten über das zentrale Bild der Mitteltafel ins Staunen geraten. Hierfür schwebte Jakob Heller die gloriose Krönung Mariens durch Jesus und seinen himmlischen Vater vor. Alle Ehre Gott in der Höhe! Ein bisschen Ehre aber auch den Menschen auf Erden, dachte sich der Stifter und bestimmte, sich und seine Ehefrau Katharina, mit ihren Familienwappen, auf der linken und rechten Seitentafel andächtig niederkniend abbilden zu lassen.

»Will ich noch etwas machen, das nicht viele Leute können machen!« Albrecht Dürer versprach nicht zu viel. Die zentrale Mitteltafel, die Krönung Mariens, führte er selbst mit äußerster Akribie aus, noch dem kleinsten Detail schenkte er seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Um größtmögliche Lebensnähe zu erzielen, fertigte er zahlreiche Vorstudien an, auch für den Kreis der Apostel, die der entschwebenden Gottesmutter andächtig hinterherblicken und so den Blick des Betrachters in die himmlische Sphäre lenken. Ein keck im rosaroten Mantel kniender glatzköpfiger Jünger am rechten Seitenrand sollte seine Hände anbetend erheben. Dürer beschloss, diesem Apostel – vielleicht ist es Petrus – seine eigenen Hände zu leihen und für diese eine extra Vorstudie zu erstellen. Hierfür legte sich Albrecht Dürer blau grundiertes Papier zurecht. Wie aber malt man seine eigenen Hände? Ein Modell muss doch stillhalten und darf sich nicht ständig bewegen. Dürer griff zu einem Trick. Er stellte einen Spiegel auf und berührte diesen mit seiner linken Hand. ­Mittels eines zweiten Spiegels fand er die richtige Perspektive. Nun ergriff Dürer mit seiner Rechten den Tuschestift und zeichnete seine Linke und deren Spiegelung, Lichtreflexe deutete er mit heller Kreide an. Jedes Hautfältchen, jedes Äderchen mit seinem geschlängelten Verlauf, ja selbst die feinsten Rillen der Papillarleisten treten plastisch hervor, schlanke, schöne Hände in Perfektion, ideal, aber nicht idealisiert, die Hände eines arbeitenden Menschen, eines Künstlers.

Was nur selten in der Kunstgeschichte passiert: Die Vorstudie wurde bekannter als das Original. Das Altargemälde erlitt zudem das Schicksal, in der Münchner Residenz 1729 zu verbrennen, nachdem es Herzog Maximilian von Bayern für seine Kunstsammlung erworben hatte. Die Vorstudie aber, die Betenden Hände, wurde unsterblich. Kein zweites Werk Dürers hat es zu einer solchen Bekanntheit gebracht, wurde so häufig reproduziert, selbst der Hase ist nur auf Platz zwei gehoppelt. Eingeritzt in Brotteller, abgedruckt auf Traueranzeigen, als Konfirmationsgeschenk, als Schutztäfelchen über der Kinderwiege, als Motiv für diverse Bibelausgaben: Hände über Hände. Ja, selbst als 3-D-Modell werden die Hände vertrieben, besonders gerne in den USA, wo sie neben der Urne mit Großmutters Asche im Wohnzimmerregal beten oder auf Friedhöfen aus dem Grabstein wachsen. Kein zweites Händepaar dieser Welt ist so verbreitet wie die Betenden Hände von Dürer, wobei dem Wörtchen »von« eine doppelte Bedeutung innewohnt: Dürers Hände, von Dürer gemalt. So kommt es, dass die Hände des Nürnbergers, den viele für den bedeutendsten Künstler Deutschlands halten, dessen Werke die Wände der größten Museen der Welt zieren, allen Menschen rings um den Globus lieb und vertraut sind, vom Kunstexperten bis zum einfachsten Laien. Auch wenn es sich streng genommen nur um Dürers linke Hand handelt, diese dafür aber in doppelter Ansicht.

 

Wollen Sie Dürers Betende Hände im Original betrachten, müssen Sie nach Wien reisen. In der dortigen Albertina könnten die Hände bei geschicktem Arrangement zugleich Dürers Hasen streicheln, der sich ebenfalls auf den Weg gemacht hat und nach Österreich gehüpft ist.

 

… und Dürers Füße

 

Es ist doch ungerecht. Unseren Händen schenken wir viel mehr Aufmerksamkeit als unseren Füßen. Zugegeben, unsere Hände sind großartige Werkzeuge, haben uns Menschen erst zu Menschen gemacht. Dieses aber wurde doch nur möglich, weil sich unsere Füße irgendwann in grauer Vorzeit bereit erklärt haben, die ganze Last unseres Körpers künftig allein zu tragen. Hatte sich vorher das Gewicht gerecht auf vier Punkte verteilt, so mussten nun die unteren Extremitäten für unsere Fortbewegung und zugleich für einen sicheren Stand sorgen. Schon aus diesem Grund verdienen es die Füße, in gleicher Weise gewürdigt zu werden.

Wer das genauso sah, war Albrecht Dürer. Die gleiche Sorgfalt wie für die Betenden Hände wandte er für ein Fußpaar auf. Auch dieses wurde für den Mittelteil des Heller-Altars geschaffen, und für die Füße fertigte Albrecht Dürer ebenfalls eine Vorstudie auf eingefärbtem Papier. Weil der Apostel, für den er das Fußpaar entwarf, andächtig niederkniete, sehen wir die Füße aus einer seltenen Perspektive. Dargestellt sind die nackten Fußsohlen, ein ungemein anrührendes, ja verletzliches Bild. Unsere Fußsohlen entziehen sich ja gemeinhin unserer Betrachtung. Sowohl wir selbst als auch andere werfen kaum je einen Blick darauf. Eine Ausnahme ist das kleine Kind, der Säugling. Weil er seine Füße noch nicht zum Laufen benutzt, dürfen wir uns daran erfreuen, wie er vergnügt mit ihnen spielt. Dass auch die Sohlen eines Erwachsenen von großer Anmut sein können, beweist uns aufs Schönste Albrecht Dürer. Da man beim Knien auf nackter Erde die Zehen überstreckt, bilden die Fußsohlen des Apostels zahlreiche Fältchen, was mit den Zehen, die wie Perlen zu einer Kette geordnet sind, ein Bild kindlicher Unschuld ergibt.

Als der Heller-Altar in der Frankfurter Dominikanerkirche aufgestellt wurde, kam es offenbar zu Massenaufläufen, ja zu einer regelrechten Hysterie. Alle wollten das neue Meisterwerk sehen. Wer aber glaubt, es seien Dürers Hände gewesen, welche die größte Aufmerksamkeit erzielten, der irrt. Es waren die nackten Füße, von denen die Leute magisch angezogen wurden, Kunsthistoriker berichten uns von einem wahren Fußfetischismus, den Dürers Altarbild auslöste. Die Mönche nahmen viel Geld damit ein, Neugierigen einen Blick auf die Füße zu gewähren, es soll sogar Besucher gegeben haben, die eine große Summe für das Herausschneiden der Füße boten.

Unklar ist, ob Dürer für den Entwurf des Fußpaars ebenfalls mittels Spiegeltechnik seinen eigenen Körper zum Modell genommen hat. Es wäre ihm zuzutrauen, wenngleich es mit einer gehörigen Portion Akrobatik verbunden gewesen wäre. Man müsste es mal ausprobieren.

 

Die Devotionalienindustrie ist scharf zu tadeln, sich nur auf Dürers Hände gestürzt zu haben. Seine Füße hätten es in gleicher Weise verdient. Dürfen wir einen Vorschlag machen? Sehr nürnbergerisch wäre es, das hübsche Fußpaar in das erweiterte Club-Wappen aufzunehmen. Gäbe es ein passenderes Motiv für einen Fußballverein?

Wer die Füße auf dem Originalskizzenblatt betrachten möchte: Sie befinden sich im Museum Boijmans Van Beuningen, dem großen Kunstmuseum von Rotterdam.

 

Wenn Sie in Nürnberg heiraten wollen

Herzlichen Glückwunsch Ihnen beiden! Eine gute Entscheidung! Besser gesagt: zwei gute Entscheidungen! Erstens, dass Sie heiraten wollen, und zweitens, dass Sie für den schönsten Tag Ihres Lebens Nürnberg gewählt haben. Nürnberg ist die optimale Hochzeitsstadt und das seit vielen Jahrhunderten. Wenn man allein an die Hochzeitsfeiern der Patrizier denkt, der ganze versammelte mittelalterliche Jetset, Feste voller Glanz und Glamour. Aber auch heute noch kann eine Heirat in Nürnberg zu einem unvergesslichen Moment werden. Dürfen wir ein wenig dazu beitragen, dass Sie sich immer gerne daran zurückerinnern?

Für die standesamtliche Zeremonie bietet die Stadt Nürnberg verschiedene Festräume an, in denen Ihr Jawort in einem würdigen Rahmen erklingt. Schon die Basisversion ist nicht zu verachten. Im Rathaus am Hauptmarkt stehen zwei Trauzimmer zur Verfügung, die mit schlichter Eleganz überzeugen. Was braucht es Pomp und Prunk, aller Glanz geht doch von Ihnen aus, das heißt von der Braut. Den Bräutigam erkennt man ja nur, wenn er neben seiner Verlobten steht und an den Schweißperlen auf der Stirn, sonst könnte man ihn mit jedem anderen Hochzeitsgast verwechseln.

Sie sagen, Sie sind nicht so der nüchterne Typ? Sie wünschen sich durchaus etwas Festatmosphäre im Trauzimmer? Nun, Festatmosphäre bekommen Sie bei der Basisversion durchaus auch geboten, zumindest nach dem Verlassen des Trauzimmers, denn auf dem Flur wartet eine original venezianische Gondel darauf, von Ihnen bestiegen zu werden. Das gibt hübsche Hochzeitsfotos und ist zugleich auf symbolische Weise passend, denn eine Ehe mit ihrem steten Auf und Ab ist ein zuweilen schwankendes Gebilde. Sie protestieren gegen die Gondel? Was ein italienischer Kahn im Nürnberger Rathaus verloren hat? Sie wünschen sich etwas typisch Fränkisches? Nun, woran denken Sie? An ein Tretboot vom Dutzendteich? Wie sieht denn das aus, ein Tretboot im Standesamt, wo bleibt da die Romantik?

Falls Sie mit der Basisversion, also den Trauzimmern im Rathaus, nicht zufrieden sein sollten, kein Problem, die Stadt Nürnberg hat auch für wählerische Brautleute einige Schmankerl im Angebot. Da wäre zum Beispiel das historische Schürstabhaus am Albrecht-Dürer-Platz. Unter den Augen des großen Künstlers das Jawort, sozusagen mit Albrecht Dürer als Trauzeugen, das ist schon was. Zwar gilt Dürers Ehe nicht als Musterbeispiel für eine gelungene Verpartnerung, davon aber sollten Sie sich nicht abschrecken lassen. Künstlerehen sind ein Kapitel für sich. Die Werkstatt Albrecht Dürers könnte zudem Ihre Hochzeitseinladung gestalten, wir empfehlen den schönen Stich Adam und Eva.

Das Schürstabhaus ist eines der prächtigsten Nürnberger Patrizierhäuser. Es lag bereits völlig in Trümmern und konnte doch wieder aufgebaut werden, wenn das keine tröstliche Perspektive für jede darin geschlossene Ehe ist! Das perfekte Hochzeitshaus ist das Schürstabhaus auch deshalb, weil es aus zwei getrennten Häusern zusammengewachsen ist, was man noch an der unterschiedlichen Zahl der Geschosse erkennen kann. Zwei Häuser, die zu einem verschmelzen, was für ein starkes Symbol. Und keine Angst: Das Schürstabhaus trägt seinen Namen nicht, weil die Hausherrin ihrem Gatten mit einem Schürstab aufgelauert hat, wenn dieser nach durchzechter Nacht ins Haus taumelte. Schürstab hieß eine alte Patrizierfamilie, die es sich einst in diesem Haus gemütlich gemacht hatte.

Das Trauzimmer im Schürstabhaus umfasst allerdings nur 30 Plätze. Falls es Ihnen zu klein erscheint, gehen Sie lieber ins Fembohaus. Was für eine Stuckdecke! Selbst wenn Sie später einmal das Ende Ihres Singledaseins bereuen (nein, das wird natürlich nicht der Fall sein!), an die Stuckdecke werden Sie sich immer gerne erinnern. Sollten Sie das Fembohaus in Betracht ziehen, empfehlen wir Ihnen das entsprechende Kapitel in diesem Buch. Da die Hochzeit unter Stuck sehr gefragt ist, bittet das Standesamt um frühzeitige Reservierung. Dieses gilt übrigens für alle historischen Räumlichkeiten. Um sparsame Geister nicht unnötig zu weiterer Lektüre zu zwingen: Für diese Schmuckkästchen fallen Sondergebühren an, mindestens 290 Euro pro Paar. Für alle, die jetzt noch weiterlesen wollen: Glückwunsch, Sie haben nicht an der falschen Stelle gespart. Also diese Stuckdecke … Mancher soll schon vergessen haben, das Jawort zu sagen, so sehr hat ihn der knuffige Amor in Bann gezogen.

Wenn Sie kein barocker Typ sind und es lieber gotisch, also klassisch nürnbergisch mögen, dann können wir Ihnen das Tucherschloss ans Herz legen. Sie müssen zwar noch ein paar Euros drauflegen, dafür überspannt Sie beide dann das schönste spätgotische Kreuzrippengewölbe. Besonders für alle zu empfehlen, die zwar nicht kirchlich heiraten, aber dennoch etwas Kirchenatmosphäre schnuppern wollen. Man kommt sich in der historischen Lagerhalle vor wie in einer Kapelle. Zu diesem Eindruck trägt auch ein allerliebstes Fensterchen bei, das von dem großen Nürnberger Glaskünstler Veit Hirsvogel geschaffen wurde. Er malte es im Jahr 1502 nach Entwürfen der Werkstatt Albrecht Dürers; Maria ist darauf zu sehen, wie ihr vom Engel die Geburt ihres Kindes verkündet wird, eine Art himmlischer Schwangerschaftstest. Für Paare mit Kinderwunsch das perfekte Ambiente!

Im Tucherschloss darf allerdings nur an ausgewählten Samstagen geheiratet werden, und der Andrang ist oft so groß, dass es auf der Homepage des Standesamtes heißt: »Eheschließungen im Tucherschloss finden immer zwischen 9.00 Uhr und 12.30 Uhr im 30-­Minuten-Takt statt.« – Sie protestieren schon wieder? Sie weigern sich, im Takt verheiratet zu werden? Wo denn da der Zauber bleibe, das Einmalige? Da können Sie ja gleich am Fließband heiraten! – Bitte seien Sie doch nicht so empfindlich. Ordnung muss sein, andere drängen schließlich auch in den ersehnten Ehestand.

Wenn Sie noch höher hinauswollen, kommt für Sie nur die Kaiserburg infrage, Nürnbergs Top-Adresse. Wer auf der Kaiserburg heiratet, ist sich seiner Bedeutung gewiss. Auch wenn das Trauzimmer »nur« die ehemalige Wachstube des Rittersaals ist und nicht der Kaisersaal: Kaiserburg bleibt Kaiserburg. Ob die Ehe allerdings darum glücklicher wird, ist nicht sicher. Das Nürnberger Standesamt führt darüber keine Statistiken.

Wir sind uns sicher, Sie haben den passenden Trauungsort gefunden. Bitte behelligen Sie das Standesamt nicht mit exotischen Wünschen. Eine Zeremonie vor dem Affenhaus des Tiergartens oder auf dem Sprungturm des Stadionbads ist nicht möglich. Nürnberg ist eine ernsthafte Stadt und nicht Las Vegas. Das Standesamt weist ausdrücklich darauf hin, dass Trauungen unter freiem Himmel in Nürnberg nicht zulässig sind! Auch nicht auf dem Anstoßpunkt des Frankenstadions. Ihr Jawort muss sich in überdachter Atmosphäre entfalten, in speziell dafür vorgesehenen Räumlichkeiten, und darf nicht vom Wind davongeweht werden, das werden Sie doch verstehen. Wenn es Ihnen in der Altstadt nicht gefällt, können Sie ja in das Bürgeramt von Katzwang oder nach Großgründlach ausweichen. Oder Sie fahren nach Fischbach, das dortige Pellerschloss ist gleichfalls sehr hübsch. Das Standesamt bittet Sie noch darum, sich im ganzen Rathausbereich weder mit Reis noch Konfetti oder Blumen bewerfen zu lassen! Nicht verboten ist es jedoch, etwas fliegen zu lassen, das nicht zu Boden fällt, Tauben zum Beispiel. Diese kann man für knappe 200 Euro beim Hochzeitstaubenservice Nagl bestellen. Jeweils eine Taube dürfen Sie als Brautleute in die Hände nehmen und zu einem schönen Taubengedicht in die Luft werfen. Zusammen mit den anderen schneeweißen Vögelchen werden die Symbole des Ehefriedens in den Nürnberger Himmel steigen und nach Osten abschwenken, um zurück nach Möning zu fliegen.

Wo auch immer Sie sich trauen lassen, versprechen können wir Ihnen, dass sich die Nürnberger Standesbeamten alle Mühe geben, aus dem nüchternen Verwaltungsakt einen Festakt zu machen. Nicht selten fließen Tränen der Rührung dabei. Deshalb sollten auch Sie mit vollem Ernst bei der Sache sein. Besonders in dem entscheidenden Moment, wenn Sie aufgefordert werden, Ihr Jawort zu geben. Lockere Sprüche wie »Wenn’s denn sein muss« oder »Wo ich schon mal hier bin« sind absolut unpassend und werden in Nürnberg nicht gerne gehört. Auch ein genuscheltes »Na ja, okay!« ist fehl am Platz. Beantworten Sie die Traufrage mit einem couragierten, kräftigen »Ja!«. Sie dürfen im Anschluss gerne noch eine ausführliche persönliche Liebeserklärung abgeben, doch bitte denken Sie, so Sie im Tucherschloss zu Gast sind, an die 30-Minuten-Taktung! Und nun: Trauen Sie sich!

 

Für die kirchliche Trauung sind die Möglichkeiten in Nürnberg so zahlreich, dass wir sicher sind, Sie werden auch ohne Tipp fündig. Heiraten Sie im Tucherschloss, ist für das anschließende Festessen der dortige Hirsvogelsaal sehr zu empfehlen. Ein Wort noch zum Fischbacher Pellerschloss: Der auf einem schmaleren Steinsockel schwebende Fachwerkbau zählt zu den wenigen noch in seiner ursprünglichen Substanz erhaltenen Nürnberger Herrensitzen und war einmal ein Wasserschloss. Es lohnt den Besuch auch ohne Brautkleid. (Siehe außerdem das Kapitel »Durch die Nürnberger Everglades«.)

Vielleicht fragen Sie sich, warum alle Trauzimmer, welche die Stadt Nürnberg im Zentrum anbietet, auf der Sebalder Seite liegen. Das ist kein Zufall. Damit wollen die Stadtverantwortlichen klug verhindern, dass Sie am Ehekarussell vorbeikommen. Zu weit sollte ein junges Brautpaar nicht in die Zukunft schauen. Nicht an seinem Jubeltag.

 

Der Club-Kreißsaal

Groß prangt das rot-weiße Logo an der Tür, ein Foto der Pokalsieger-­Mannschaft von 2007 steht im Zimmer, von der Wand lächelt die Club-Legende Max Morlock und überall hocken süße Club-Teddybären. Das Echo war lebhaft, als im Dezember 2015 im Südklinikum ein Kreißsaal dem 1. FC Nürnberg gewidmet wurde. Neben begeisterten Club-Fans, die sich sofort an die Reproduktion begeben wollten, war auch manch skeptische Stimme zu hören. Ob denn schon der erste Ort, den ein Erdenbürger betritt, dem Fußball gewidmet sein müsse, wurde gefragt, ob dies nicht ein weiterer Schritt hin zur Kommerzialisierung noch der letzten intimen Lebensbereiche sei.

Uns scheint eine solche Kritik übertrieben, ja im Gegenteil, wenn je ein Fußball-Kreißsaal seine Berechtigung gehabt hat, dann der des Club. Machen wir uns bewusst, woher das Wort Kreißsaal kommt. »Kreißen« ist ein altes deutsches Wort, das so viel bedeutet wie »kreischen«, »weinen« oder »schreien«. Wenn je in einem Stadion gekreischt, geweint oder geschrien worden ist, dann doch im Frankenstadion. Insofern ist jeder weibliche Club-Fan bestens auf die Geburt des Kindes vorbereitet, ja man könnte einen Stadionbesuch mit Fug und Recht in jeden Geburtsvorbereitungskurs aufnehmen. Der Club, das ist gelebte Emotion. Zudem pflegt so mancher Club-Fan stolz einzugestehen, schon bei der Zeugung nur an den Club gedacht zu haben, da ist die Geburt in einem Club-Kreißsaal doch nur folgerichtig.

Noch weniger zu akzeptieren sind Nörgeleien, die fehlende fußballerische Alternativen bekritteln. So schrieb doch ein Bayern-Fan, was er denn tun soll, wenn alle anderen vier Kreißsäle belegt sind. Man könne seine Frau doch nicht zwingen, ihr Kind in einem Club-Kreißsaal zur Welt zu bringen. Du liebe Güte! Erstens ist davon auszugehen, dass der Club-Kreißsaal immer belegt sein wird. Zweitens, selbst wenn seine Befürchtung eintritt, so werden die fremden Vereinsfarben die Geburt doch höchstens beschleunigen. Drittens ist es doch sonst stets der FC Bayern, der wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Club-Fans nimmt, und viertens – was mit drittens eng zusammenhängt – sind die Bayern doch auch auswärts sehr erfolgreich.

Ernster sind Einwände zu nehmen, die sich auf gelegentlich vorkommende unterschiedliche emotionale Vereinsbindungen der Eltern beziehen. Was, wenn der Vater Club-Fan, die Mutter aber ein Fan des Kleeblatts ist? Ihr gefalle es nicht, in solch einem intimen Moment von fremden Männern angestarrt zu werden, hören wir die Fürtherin rufen, von Max Morlock nicht und erst recht nicht von einer ganzen Club-Mannschaft. Könnten sich ihre Schmerzen im Club-Kreißsaal tatsächlich ins Unerträgliche steigern, wie sie behauptet? Während ihr Mann das schöne Club-Lied »Ich bereue diese Liebe nicht …« anstimmt, lässt sie trotzig das letzte Wort weg, und auch die hübsche rot-weiße Geburtsurkunde mit dem Aufdruck »Volltreffer« und dem Fußabdruck des Babys will sie nicht freuen. Angehenden Vätern in einer solchen Konstellation sei geraten, klug auf einen neutralen Kreißsaal auszuweichen. Es sei denn, es sind Zwillinge zu erwarten. Dann kann man zuerst in den Club-Kreißsaal, um das Geburtsbett nach dem ersten Schrei schnell nach nebenan zu schieben. (Und dem Vater sei beruhigend zugeflüstert: Auf den Erstgeborenen kommt doch alles an!)

Das Südklinikum ist als Standort des Club-Kreißsaals auch deshalb gut gewählt, weil es nur fünf Autominuten vom Stadion entfernt liegt, man also auch im höchstschwangeren Stadium noch unbesorgt die Club-Fahne schwingen kann. Und was gibt es Schöneres, als dem frisch geborenen kleinen Club-Fan ein Hemdchen überzustreifen, auf dem steht: »50 % Mama & 50 % Papa – 100 % Clubberer!«

 

Erfreulich: Die Geburtenrate steigt in Nürnberg wieder deutlich an, man spricht sogar schon von einem Babyboom. Im Südklinikum wurden 2015 erstmals über 3.000 Kinder geboren, in der Klinik Hallerwiese sogar noch ein paar Babys mehr. Und auch im Theresienkrankenhaus wird kräftig geboren.

 

Wie nennen wir das Baby?

Gratulation! So ein süßes Kleines! Qualität Made in Nürnberg. Wie wollen Sie Ihren Sprössling denn nennen? Dass wir uns nicht falsch verstehen, wir wollen Ihnen natürlich keine Vorschriften machen. Wenn Sie entschlossen sind, Ihr Kind Mia oder Max zu nennen, tun Sie das. Wenn Sie allerdings bezüglich der Namenswahl noch flexibel sind, dürfen wir Ihnen ein paar kleine Vorschläge machen und ein paar Ideen ins Gespräch bringen, die für Nürnberg sehr passend wären.

Fangen wir – Ladies first – mit den Mädchennamen an. Wie wäre es mit Sigena? Sie wissen, dass Sigena die erste namentlich genannte Nürnbergerin der Geschichte ist. Sie muss recht hübsch gewesen sein, sonst hätte ihr Herr und Meister Richolf den Kaiser nicht darum gebeten, ihr die Freilassung zu gewähren, denn nur so durfte er sie offiziell zur Frau nehmen. Sigena ist nicht nur urnürnbergisch, Sigena klingt auch wunderbar. Ein Dreiklang wie die Hochzeitsglocken von Sankt Lorenz, leicht und hell beginnend, sanft abwärts steigend und mit dem weiblichsten Vokal, dem »a« ausklingend. Ein Name wie Musik: Sigena! Möglicherweise leitet sich der Name von Sequana ab, einer gallo-romanischen Quellengöttin, die beim Seine-Ursprung in der Nähe von Dijon verehrt wurde. Also auch für frankophile Nürnberger eine passende Option, und welcher Franke wäre nicht frankophil?

Sehr nürnbergisch, ja der nürnbergischste Name schlechthin ist natürlich Noris. Besonders in der Kombination mit Amoena ergibt sich eine reizvolle Klangkombination. Noris Amoena ist lateinisch und bedeutet »liebliche Noris«. Geprägt hat den Ausdruck der Humanist Helius Eobanus Hessus (1488–1540), der sich von den Stadtnamen »Noricum« oder »Norimberg«, wie Nürnberg in den offiziellen Dokumenten genannt wurde, inspirieren ließ. Eoban Koch, wie er wohl ursprünglich geheißen hat, stammte aus dem hessischen Halgehausen und wirkte in Nürnberg als Lehrer der Rhetorik und Poetik am Aegidium, dem Egidien-Gymnasium. »Der berühmteste Poet seiner Zeit, der fromme und reine Sänger«, wie ihn Martin Luther nannte, war ein guter Freund Albrecht Dürers. Seine Norimberga illustrata ist eine gedruckte Liebeserklärung an die Stadt.

Auch die Nürnberger Stadtkirchen bieten ihre hübschen Namen an. Wie wäre es mit Klara, oder vornehmer »Clara«? Auch die letzte Äbtissin des renommierten Frauenklosters der Klarissen, Caritas Pirckheimer, könnte zur Namenspatronin werden. Die Schwester von Willibald war eine selbstbewusste, kluge und emanzipierte Frau, die es in der Diskussion mit jedem Mann aufnahm. Zudem bedeutet ihr Name »Liebe«, die Liebe als Nächstenliebe in ihrer sozialen, zupackenden, helfenden Weise. Und Caritas klingt doch ebenfalls recht hübsch. (Über Caritas Pirckheimer wird noch zu sprechen sein.)

Von der Klarakirche ist es nicht weit zu Martha, der vielleicht besten Zuhörerin des Neuen Testaments. Wer beschreibt das Entsetzen, als in den Morgenstunden des 5. Juni 2014 ein Feuer ausbrach und große Teile der schönen Kirche zerstörte? Man ist dabei, Sankt Martha so gut wie möglich wieder aufzubauen. Ebenfalls nicht weit entfernt liegt Sankt Elisabeth, in den modischen Kurzformen »Lisa« oder »Elisa« eine lockende Option. Auch die Hauptkirche links der Pegnitz, Sankt Lorenz, darf nicht vergessen werden. Wie wäre es mit Laurentia? »Laurentia, liebe Laurentia mein, wann werden wir wieder beisammen sein …«

Unsere Vorschläge überzeugen Sie alle nicht? Sie wollen bei Mia bleiben? Kaa Deema! Auch Mia ist sehr, sehr nürnbergerisch, ist Mia doch eine Variante von Maria, und Maria wurde schließlich die ­Frauenkirche am Hauptmarkt geweiht. Zudem gibt es mit Maria Sibylla Merian eine sehr prominente Nürnberger Namensträgerin. Mit Mia können Sie also nichts verkehrt machen.

Wenden wir uns nun den Jungennamen zu. Lorenz und Sebald sind natürlich die Klassiker. Der Schriftsteller Johann Fischart meinte 1575: »Die Nürnberger heißen alle Sebald.« Das waren noch Zeiten! Leider backt heute kaum noch ein Sebald seinen Sandkuchen am Pegnitzstrand. Sehr schade. Sprechen Sie den Namen mal laut aus, und Sie werden merken, wie hübsch er ist, geradezu zärtlich. Humanistische Eltern könnten sich natürlich auch für Sebaldus entscheiden. Ebenfalls ein Ohrschmeichler! Albrecht hingegen können wir bei aller Bewunderung Dürers nur bedingt empfehlen, dieses »brrr« in der Mitte ist leider allem Wohlklang abträglich. Auch der Name von Dürers gutem Freund Willibald dürfte spätestens ab der Grundschule für Lacher sorgen. Anders verhält es sich mit Hans, diesem zeitlos passenden Namen. (Über dessen Langform »Johannes« steht es uns nicht zu urteilen an, wir müssen uns als befangen erklären.) Hans Sachs jedenfalls hätte es verdient, dass sein Name in Nürnberg weiterlebt.

Sie bleiben bei Max? Völlig in Ordnung, auch aus stadtpatriotischer Sicht. Kaum ein anderer Kaiser hat so viel für Nürnberg getan wie Maximilian I. Er war es, der das wahre Talent Dürers erkannte, ihm zu Ehren wurde der große Rathaussaal von Dürer so prachtvoll ausgemalt. Und noch weitere gewichtige Gründe gibt es, Ihre Namenswahl zu begrüßen. Max Merkel war der letzte Nürnberger Meisterträger, und der größte Nürnberger Fußballspieler aller Zeiten war zweifellos Max Morlock. Ohne ihn wäre Deutschland 1954 nicht Weltmeister geworden. Vielleicht wird es Ihrem Max gelingen, die Meisterschale einst wieder in den Nürnberger Himmel zu stemmen. Und wenn es doch ein Sebald wird, ist das clubmäßig voll in Ordnung. Sebald heißt übersetzt Siegbald. – »Sieg bald!« Dieser Hoffnungsschrei passt ebenfalls perfekt zu jedem Glubberer.

 

Der heilige Sebald – Nürnbergs Schutzpatron

Ein Besuch bei ihm ist Pflicht und Kür zugleich, liegt er doch im schönsten Grab weit und breit. Es befindet sich – wie könnte es anders sein? – in der Kirche, die seinen Namen trägt, in Sankt Sebald. Setzen wir uns in eine Kirchenbank und hören wir, was wir von dem Nürnberger Stadtheiligen wissen. Oder besser, was wir zu wissen glauben, denn vieles reicht in das Reich der Legende zurück, bis hinein ins 8. oder 9. Jahrhundert.