Cover

Rose Gerdts

Morgengrauen

Kriminalroman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Rose Gerdts

Rose Gerdts-Schiffler, 1960 geboren, ist Sozialwissenschaftlerin und ausgebildete Redakteurin. Über 20 Jahre arbeitete sie für den Weser-Kurier in Bremen als Polizei- und Gerichtsreporterin. Regelmäßig begleitete die Journalistin große Schwurgerichtsprozesse. Einer ihrer Schwerpunkte waren Kriminalitätsphänomene und deren Ursachen. Im Frühjahr 2013 wechselte die Autorin als Pressesprecherin zur Bremer Innenbehörde. Rose Gerdts-Schiffler ist verheiratet und Mutter zweier Söhne. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in Bremen.

Über dieses Buch

Litauen 1941: Eine abgelegene Waldlichtung wird zum Schauplatz eines ungeheuerlichen Verbrechens.

Über 70 Jahre später müssen zwei alte Männer in Amsterdam und München sterben. Besteht eine Verbindung zwischen den beiden Morden? Eine der Spuren führt nach Bremen. Nach dem brutalen Überfall auf einen ihrer Kollegen übernehmen die Mordermittler Frank Steenhoff und Navideh Petersen den Fall. Dabei stoßen sie auf ein grauenhaftes Geheimnis in den eigenen Reihen …

 

«Für mich schon jetzt der Kriminalroman des Jahres!» (Michael Kruse, Radio Bremen)

 

«Glänzend recherchiert und fesselnd erzählt.» (Marieluise Beck, MdB und Osteuropaexpertin)

 

In der Reihe um die Ermittler Frank Steenhoff und Navideh Petersen sind bereits folgende Kriminalromane erschienen:

«Gedankenmörder» (Schünemann Verlag, ISBN 978-3-7961-1891-3)

«Brandfährte» (Schünemann Verlag, ISBN 978-3-7961-1905-7)

«Ehrenhüter» (rororo 25621)

«Schattenschmerz» (rororo 25725)

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Abbildung: Scheufler Collection/CORBIS)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25987-6 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-48941-7

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-48941-7

Die Beteiligung zweier Bremer Polizeibataillone nach 1939 am Völkermord im Osten sowie in den Niederlanden ist historisch belegt. Der Roman ist jedoch fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Krieg hat einen langen Arm. Noch lange, nachdem er vorbei ist, holt er sich seine Opfer.

(Martin Kessel)

Prolog

Eine Windböe strich über den Kanal an der Oude Waal und kräuselte die schmutzig braune Wasseroberfläche. Hermann Strömer blieb stehen, um den Reißverschluss seiner Jacke hochzuziehen. Im selben Moment bereute er, dass er nicht den Pullunder angezogen hatte. Janneke hatte ihm hinterhergerufen, sich wärmer anzuziehen. Aber er hatte getan, als hätte er die Stimme der Haushälterin nicht gehört und war einfach gegangen.

Die helle Klingel eines Hollandrades ließ ihn zusammenzucken. Einen Moment lang vergaß er die Anspannung, die sich seit Tagen in seinen alten Körper eingenistet hatte. Sie zerrte an den Nackenmuskeln und stach zwischen den Schulterblättern.

Zwei schnatternde Mädchen, die so nahe beieinander fuhren, dass sich ihre geschwungenen Lenkräder fast berührten, umrundeten ihn mit hohem Tempo, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen. Beide trugen kurze Hosen und Sandaletten wie im Hochsommer. Die feuchte Kühle, die nach Sonnenuntergang aus den Kanälen zu den schmalen, aber hohen Grachtenhäusern hinaufkroch, schien den Mädchen nichts anzuhaben.

Er beschleunigte seinen Schritt, um nach Hause zu kommen. Bevor es dunkel wurde, wollte er zurück sein. Schon nach wenigen Metern musste er stehen bleiben und sich an einem gusseisernen Geländer des Kanals festhalten. Gierig schnappte er nach Luft. Er ignorierte den Schweißausbruch und den klatschnassen Rücken, an dem sein Oberhemd klebte. Eine dunkelhäutige Frau, die ihn von hinten überholte, blieb stehen und musterte ihn besorgt. Strömer spürte, dass sie mit sich rang, als sie ihn in einem holprigen Niederländisch ansprach.

«Hebt u een probleem?»

Demonstrativ drehte er ihr den Rücken zu und betrachtete stattdessen die Glockengiebel der Häuserfronten auf der gegenüberliegenden Binnenkant.

«Hulp nodig? Zal ik een dokter halen?»

Er tat, als sei sie Luft. Als sie ein drittes Mal ansetzte, gab er ihr mit einer Handbewegung, als wolle er einen Schwarm lästiger Fliegen vertreiben, zu verstehen, ihn in Ruhe zu lassen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Frau nach kurzem Zögern weiterging.

Direkt an der Einmündung zur schmalen Montelbaanstraat stand eine Holzbank am Wasser. Seine Bank. Von hier hatte Strömer die dicht beieinanderliegenden Hausboote auf beiden Seiten des Kanals im Blick. An guten Tagen verbrachte er ganze Nachmittage auf der Bank und sog das Leben der Hausbootbewohner in sich ein.

Er schätzte, dass er noch 50 Meter bis zu der Bank an der kleinen Kreuzung gehen musste. Dort wollte er Pause machen und sich ein wenig ausruhen, bevor er den letzten halben Kilometer in Angriff nehmen würde. Mit geradem Rücken und ohne Stock. So wie man ihn hier in der Nachbarschaft kannte.

Sie bewunderten ihn dafür, wie rüstig er war. «Ein stolzer, alter Herr», hatte eine Nachbarin kürzlich zu Janneke gesagt, als sie eines Morgens an den verblühten Blumen vor dem Haus herumzupfte und wieder einmal so tat, als würde sie arbeiten. Er hatte im Badezimmer gestanden und den Plausch der beiden Frauen belauscht. Janneke war trotz ihrer Jugend zuverlässig, aber sie war langsam und tratschte gerne.

Seine Bank war noch feucht vom letzten Schauer, dennoch ließ er sich erleichtert darauf nieder.

Nur fünf Minuten, nahm er sich vor, dann gehe ich weiter.

Sein Blick streifte die Bootshäuser. Still und wie verlassen lagen die meisten von ihnen da. Nur etwas weiter entfernt saß ein Halbwüchsiger auf einem Gartenstuhl an Deck. Er hatte sich eine Decke um die Schultern geschlungen, las in dem Buch, das auf seinem Schoß lag und kraulte mit der linken Hand das struppige Fell seines Hundes.

Die Gewaltmärsche von früher kamen Strömer in den Sinn. 30, 40 Kilometer waren sie manchmal an einem Tag marschiert. Und nun machten ihm die paar Meter bis zu seinem Haus schon zu schaffen.

Seit die Postbotin vor vier Wochen die Karte aus Kaunas in seinen Briefkasten an der Prins Hendrikkade gesteckt hatte, musste er oft an die vergangenen Zeiten denken. Letzte Nacht war er von seinem eigenen Schrei erwacht. Ärgerlich schob er den Gedanken daran beiseite. Wer immer ihm aus Litauen schrieb, hatte nichts mit seinem Leben zu tun.

Dennoch bedauerte er, dass der Unbekannte keinen Absender hinterlassen hatte. Er hätte dem Mann geantwortet und ihm versichert, dass er niemanden in Litauen kenne.

Die nächste Karte werfe ich weg, nahm er sich vor.

Strömer hatte mit den anderen telefoniert. Soweit der Alte wusste, waren sie nur noch zu viert. Alle hatten sie eine Postkarte aus Kaunas erhalten. Alle, bis auf den einen. Der hatte sich schon immer weggeduckt. Die ganzen Jahre über. Wütend spuckte er aus. Angeblich sollte in Deutschland jetzt sogar gegen sie alle ermittelt werden, Erich hatte davon erfahren und sie gewarnt. «Wenn es so weit kommt, dann ist auch Karl dran. Er vor allem!», hatte Strömer seinem alten Freund Erich am Telefon gesagt. Und das hatte Strömer auch Karl gegenüber wiederholt, als dieser bei ihm anrief. Natürlich hatte der andere getobt, sogar gedroht. Aber die Zeiten, in denen er Strömer Angst machen konnte, waren lange vorbei.

Strömer schaute zum Montelbaanturm am Ende der Oude Waal. Stoisch stand der Turm seit Jahrhunderten an dem großen Kanal. Seinetwegen hatte er sich damals zusammen mit Fraukje das alte Haus an der Prins Hendrikkade gekauft. Der mittelalterliche Turm mit seiner weißen Renaissance-Spitze war ihm Sinnbild für Schutz und Unverwundbarkeit. Am liebsten wäre er mit seiner Frau in den Turm gezogen. Aber erst hatte sich die Verwaltung von Amsterdam die Räume unter den Nagel gerissen und dann, nach ihrem Auszug, eine astronomisch hohe Miete verlangt.

Heute bewohnte eine Gemeinschaft von Homosexuellen und Bisexuellen den Turm, hieß es in der Nachbarschaft. Er verzog den Mund. Das war die Seite, die er immer an Amsterdam gehasst hatte. Dieses Chaos. Diese Mischung. Amsterdam schluckte sie alle und spie jeden Tag neue aus.

Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Er nestelte an seinem linken Ärmel herum und suchte mit den Augen unauffällig die Oude Waal ab. In etwa 50 Meter Entfernung brachte ein Mann den Müll vor die Tür und verschwand gleich darauf wieder in seinem Haus. Strömer drehte den Kopf in Richtung der schmalen Gasse direkt hinter ihm. Für einen Moment war er überzeugt, einen Schatten in einem Hauseingang zu sehen. Er zwang sich, ruhig aufzustehen, ging mit gebeugtem Rücken um die Bank herum und taxierte die schmale Montelbaanstraat, die direkt auf seinen Platz mit der Bank zuführte. Soweit er in dem abnehmenden Licht erkennen konnte, befand sich niemand in der Gasse.

Als er die letzte Etappe zu seinem Haus antrat, hätte er schwören können, dass ihm jemand folgte. Seine Nervosität steigerte sich mit jedem Schritt. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und drehte sich mit einem Ruck um. Die Straße hinter ihm war leer. Langsam beruhigte sich sein Atem, aber das unruhige Gefühl blieb.

Was bin ich für ein alter, schreckhafter Greis geworden, schalt er sich in Gedanken. Zugleich wusste er, dass auf seine Instinkte Verlass war. Sie hatten ihn nicht nur damals, sondern auch in seiner Zeit als Polizist viele Male vor Schlimmerem bewahrt.

«Ein geschulter Mann spürt die Gefahr, lange bevor er sie sehen kann», hatte sein Ausbilder ihm damals eingeschärft. Strömer war jahrzehntelang auf der Lauer gewesen, erst beim Militär, später bei seiner Arbeit. Fraukje und er hatten sich deswegen oft gestritten. «Überall witterst du einen Feind», hatte sie ihm noch kurz vor ihrem Tod vorgeworfen. Er hatte widersprochen und gelernt, sein Misstrauen besser zu verbergen.

Als der alte Mann am Montelbaanturm abbog und den Kanal überquerte, hämmerte sein Herz vor Angst wie verrückt gegen die Brust. Erschöpft schloss er wenig später seine Haustür in der Prins Hendrikkade auf und stieg langsam die Stufen zu seiner Wohnung hinauf.

Mitten auf der Treppe fiel ihm ein, dass er seinen Briefkasten noch nicht geleert hatte. Seufzend drehte er sich um. Seine junge Mieterin, die seit einigen Monaten im Dachgeschoss wohnte, hatte Modehefte und zwei Briefe erhalten, die wie Rechnungen aussahen. Außerdem hatte ihnen jemand mehrere Prospekte desselben Pizza-Services in den Briefkasten gesteckt. Er wollte die Werbung gerade in den Karton fürs Altpapier werfen, als er die Karte zwischen der Post entdeckte.

Sein Herz schlug schneller.

Mit zittrigen Händen hielt er die Postkarte in den Lichtschein der Flurlampe. Er erkannte das abgebildete Gebäude sofort: das Rathaus von Kaunas. «Weißer Schwan» nannten es die Einheimischen, weil es komplett in Elfenbeinweiß gestrichen war. Strömer starrte die Postkarte an. Dann zwang er sich, sie umzudrehen. Lautlos formten seine Lippen die wenigen Worte, während er las:

«Hallo Hermann! Wir denken viel an euch. Lang ist es her, dass ihr bei uns wart. Doch bald sehen wir uns wieder. Bis dahin, Vladas.»

Er taumelte. In letzter Sekunde stützte er sich an der Wand ab. Als der Schwindel wieder verflog, taxierte er misstrauisch die Haustür. Hatte er sie wirklich abgeschlossen? Vorsichtig, als könne ihn jemand hören, schlich er zum Eingang und versuchte die Haustür aufzuziehen. Sie gab keinen Zentimeter nach. Erleichtert ließ er sich auf die erste Treppenstufe sinken. Dann las er die Karte ein zweites Mal. Aber er wurde nicht schlau aus der Nachricht. Wer war Vladas?

Vergeblich zermarterte er sich den Kopf.

Kaunas! Was geschehen war, war geschehen. Es war in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Verdammt, was wollte dieser Vladas von ihm? Wütend zerriss er die Karte und schmiss die Schnipsel in den Karton mit dem Altpapier. Dann zog er sich unter großer Kraftanstrengung mühsam Stufe für Stufe die Treppe hinauf. In seiner Wohnung kochte er sich einen Tee und hockte sich mit der Tasse in der Hand aufs Sofa. Seine wässerig blauen Augen fixierten die Wand vor ihm. Langsam wurde es im Zimmer um ihn herum dunkel.

 

Die nächsten Tage blieb Hermann Strömer zu Hause oder bat Janneke unter einem Vorwand, ihn bei seinen kleinen Besorgungen zu begleiten. Langsam wurde er wieder ruhiger. Nur in der Nacht drängten sich längst vergessene Bilder in seine Träume. Am Ende der Woche beschloss er, sich abzulenken und seinen winzigen Dachgarten neu zu bepflanzen. Das würde ihn auf andere Gedanken bringen.

Am Freitag fuhr Janneke ihn mit zwei üppig blühenden Petunien zurück in die Prins Hendrikkade. Sie hatte ihn bei der Auswahl der Sommerblumen beraten. Die restlichen Pflanzen sowie frische Erde für die Balkonkästen würden am nächsten Tag geliefert werden.

Auf der Rückfahrt blickte Strömer immer wieder in den Rückspiegel. Ein dunkler Minivan schien auffällig lange dicht hinter ihnen zu bleiben, doch kurz vor der Prins Hendrikkade bog er endlich in eine Nebenstraße ab.

Den Nachmittag verbrachte er damit, die beiden Gartenstühle auf der kleinen Terrasse zu streichen. Als sich Janneke am frühen Abend von ihm verabschiedete, war er fast fertig mit der Arbeit. Janneke ermahnte ihn, sich anschließend auszuruhen und den frischen Salat, den sie ihm bereitet hatte, zu essen. Dann lief sie die Treppe hinunter. Strömer hörte, wie hinter ihr die Tür ins Schloss fiel.

Umso erstaunter war er, als er wenige Minuten später erneut ihre Stimme hörte.

«Hermann, der Herr vom Gartencenter ist da!», rief sie ihm hinauf. Verwundert ging Hermann Strömer ins Treppenhaus.

«Ich dachte, der wollte erst morgen kommen?»

«Manchmal hat man eben Glück, und das Schöne kommt schneller», erwiderte seine Haushälterin fröhlich. «Ich lasse ihn herein. Er bringt die Blumen gleich hoch. Bis morgen!»

Strömer hörte, wie Janneke auf Englisch mit dem Lieferanten sprach. Warum konnten die Ausländer nicht als Erstes die Sprache ihres neuen Heimatlandes lernen! Er hatte es doch schließlich auch geschafft. Vergeblich versuchte er, seinen Ärger beiseitezuschieben.

Schneller, als es ihm guttat, lief er zum Fenster und beobachtete, wie sich Janneke mit ihrem Auto aus dem engen Stellplatz vor seinem Haus quälte. Anschließend parkte der Lieferant seinen Wagen ein.

Strömer wollte sich gerade abwenden, um den Mann im Hausflur in Empfang zu nehmen, als er stutzte. Das Fahrzeug vor seinem Haus war dunkelbraun. Ein Minivan. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Im selben Moment hörte er schwere Schritte auf der Treppe. Er suchte Halt an der schmalen Anrichte im Zimmer.

Wo hatte er nur sein Telefon liegen gelassen? Als es ihm einfiel, wurde ihm schwindlig: Es lag auf der Dachterrasse. Er wollte schreien, aber aus seiner Kehle drang nicht mehr als ein verzweifeltes Krächzen.

Der Unbekannte stand jetzt direkt vor der angelehnten Wohnungstür. Hermann Strömer hörte ihn laut atmen. Vielleicht war es ja doch nur der Blumenlieferant, der schwer an den Säcken mit Erde und den Pflanzen zu tragen hatte?

«Ja, bitte?» In seiner Aufregung hatte er mal wieder Deutsch gesprochen.

Vergeblich versuchte er, seiner Stimme die alte Festigkeit zu geben, da schleuderte der kräftige Tritt eines Stiefels die weiß lackierte alte Holztür so heftig gegen die Wand des Wohnzimmers, dass Farbsplitter auf den Teppich rieselten.

Strömer stand stocksteif im Zimmer. Vor ihm stand ein Mann mit dunklem Schnurrbart und schwarzen Haaren, die unnatürlich glänzten. Langsam ging der Fremde auf ihn zu. Mit beiden Händen hielt er den Stiel eines Spatens umklammert. Langsam, als handele es sich um ein feierliches Ritual, hob er ihn über seinen Kopf.

Die hellblauen Augen schienen Strömer zu durchbohren. Unwillkürlich wich der alte Mann dem Blick aus. In seiner Verzweiflung starrte er auf einen Sack Erde und eine lila blühende Clematis.

Bevor der Spaten ihm den Unterkiefer zerschmetterte, dachte Hermann Strömer, dass er nie zuvor eine schönere Blüte gesehen hatte.

01

Schon von weitem sah Antanas Kurdika, dass vor dem Haus in der Prins Hendrikkade mehrere Polizei- und Rettungswagen standen. Der Eingang war mit Flatterbändern abgesperrt. Zögernd ging er näher. Ein Uniformierter diskutierte vor dem Absperrband mit einer jungen Frau, die wie eine Studentin aussah. Die Frau wirkte aufgelöst und zeigte hektisch auf das Haus. Schließlich hob der Polizist das Absperrband und dirigierte sie zu einem Mann mit einem Raubvogelgesicht.

Kurdika sah sich suchend um. Sein Blick blieb an einem Jugendlichen haften, der sich am Lenker seines Rades festzuklammern schien.

«What happened?», erkundigte er sich auf Englisch. Der Junge sah nur flüchtig zu ihm herüber, dann starrte er wieder gebannt auf die Eingangstür, aus der gerade zwei Männer in weißen Vollschutzanzügen kamen. Antanas wiederholte seine Frage.

Der Junge wirkte mitgenommen. Vergeblich suchte er nach Worten. Schließlich stammelte er etwas von einem Verbrechen. Jemand sei erschlagen worden. Der alte Hauseigentümer. Hermann Strömer. Ein Deutscher. «Een aardige man», fügte der Junge hinzu. Seine Stimme drohte zu brechen. Als der Junge bemerkte, dass ihn der Fremde nicht verstand, fügte er auf Englisch hinzu: «He was a very nice man.»

Antanas Kurdika schnaufte ungewollt laut auf. Als ihn der Junge überrascht musterte, wechselte er blitzschnell den Gesichtsausdruck und tat, als schaue er bekümmert auf das Haus. Aber der Junge war mit seiner Aufmerksamkeit schon wieder woanders. Der Anblick einer heftig weinenden jungen Frau, die der Mann mit dem Raubvogelgesicht zu einem Polizeiauto führte, nahm ihn völlig gefangen. Antanas fragte ihn beiläufig, ob man schon wisse, wer den Mord begangen habe. Aber der Junge schüttelte den Kopf. Antanas wartete, dass die Bestattungsunternehmer den Sarg mit dem Leichnam heraustrugen. Doch nichts dergleichen geschah. Die Polizeiarbeit schien sich noch Stunden hinzuziehen.

Als die Männer schließlich die Überreste von Hermann Strömer in einer dunklen Metallschale die Treppe hinuntertrugen, standen weder Antanas noch der Junge an der Absperrung. Andere Neugierige hatten ihren Platz eingenommen und beobachteten jede Bewegung rund um das abgesperrte Haus.

Antanas Kurdika war längst zurück ins Hotel gefahren. Er rief beim Flughafen an und buchte für den nächsten Morgen einen Platz in einer Maschine nach Riga. Schon in wenigen Tagen wollte er wieder aufbrechen. Die Stadt in Norddeutschland kannte er bislang nur vom Hörensagen. Schöne Autos fertigten sie dort, hieß es. Berühmter war die Stadt jedoch für ihr rührseliges Tiermärchen. Er verzog den Mund. Für ihn und seinen Vater stand der Name der Stadt für etwas ganz anderes.

Gegen Mitternacht lag er auf seinem Bett und dachte an Hermann Strömer. Eine tiefe Ruhe breitete sich in seinem Körper aus. Er stellte sich vor, wie der Alte in einer großen Blutlache erschlagen am Boden lag. Schauder jagten ihm über den Rücken. Dann fühlte er wieder die Genugtuung in sich. Was geschehen war, war gerecht. Strömer hatte den Tod verdient. Jetzt fehlte nur noch einer.

Er blätterte in seinem Notizbuch und strich den Namen Hermann Strömer mit einem schwarzen Filzstift durch. Dann kreiste er den Namen ein, der direkt darunter stand: Erich Wessel. Er legte das Notizbuch auf seinen Nachttisch, drehte sich auf seinem Hotelbett um und war im selben Moment eingeschlafen.

02

Navideh Petersen klopfte an die Tür. Der junge Staatsanwalt, der dicht hinter ihr stand, sah sie belustigt an.

«Bei dem müssen Sie nicht anklopfen. Der kriegt gern Besuch von attraktiven Frauen.»

Sie ignorierte die Bemerkung und öffnete vorsichtig die Tür von Staatsanwalt Jens Degert. Der kleine Raum unter dem Dach der Bremer Staatsanwaltschaft war vollgestopft mit Akten. Links und rechts der Computertastatur, auf abgestoßenen, hölzernen Beistelltischen sowie auf der grauen Auslegeware auf dem Fußboden türmten sich Ordner und prallgefüllte Schnellhefter. Der Computer war eingeschaltet, aber Degert war nicht in seinem Zimmer.

«Eben war er noch da», bemerkte Degerts junger Kollege. Mit dem kleinen Kaffeetablett in der Hand lief er den Flur entlang und öffnete die Türen der Nachbarbüros. Drei der Zimmer waren verschlossen. «Die haben schon Feierabend gemacht», sagte er verblüfft.

«Es ist Freitag, 18 Uhr», erwiderte Petersen.

«Also mitten am Tag, wenn Sie unsere Vorgesetzten fragen würden», antwortete der Staatsanwalt sarkastisch. Er stellte das Tablett mit seinem Milchkaffee und einem gewaltigen Stück Apfelkuchen ab und bot sich an, Degert im anderen Trakt des alten Gebäudes zu suchen. «Vermutlich hat er sich nur irgendwo festgequatscht.» Dann eilte er davon. Müde lehnte sich Navideh Petersen mit dem Rücken gegen die Wand des schmalen Flurs. Sie widerstand dem Impuls, die Augen zu schließen. Plötzlich meinte sie ein leises Vibrieren in ihrer Jackentasche gespürt zu haben. Sie holte ihr Handy hervor und schaute aufs Display. Frank Steenhoff hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Sie sollte sich melden, sobald sie Degert erreicht hatte. «Der STA ist verschwunden. Suchtrupp bereits unterwegs», schrieb sie zurück. Steenhoffs Antwort kam prompt: «Soll ich die Mantrailer von der Leine lassen?» Sie musste schmunzeln, wurde aber sofort wieder ernst. Die Zeit drängte. Sie brauchten unbedingt Degerts Okay für ihre geplante Aktion.

Nachdem sie bald zehn Minuten auf die beiden Männer gewartet hatte, wählte sie Degerts Nummer. Sekunden später klingelte es zwei Zimmer weiter, ohne dass jemand abnahm. Sie brach den Anruf ab und versuchte es erneut. Wieder kam derselbe Klingelton aus dem Zimmer ganz in der Nähe des Fahrstuhls. Neugierig ging sie auf die Tür zu. Als sie die Klinke herunterdrückte, stellte sie fest, dass der Raum nicht abgeschlossen war.

«Herr Degert?»

Sie öffnete die Tür und starrte sprachlos auf die Szene, die sich ihr bot. Degert hockte auf dem Boden und hielt triumphierend ein abgeschraubtes Tischbein in seiner rechten Hand. Große Schweißflecken hatten sich auf dem Rücken und unter den Achseln seines blauen Hemdes gebildet.

«Alles okay bei Ihnen, Herr Degert?»

Jens Degert drehte sich mit einem Ruck zu ihr um. Einen Moment lang hätte Petersen schwören können, dass sein Kopf noch eine Spur roter wurde.

«Wie passend! Frau Petersen. Immer wenn man sie braucht, erscheint die Polizei.» Seine Stimme hatte einen amüsierten Unterton angenommen. «Könnten Sie mal bitte halten?»

Mit einer Kopfbewegung dirigierte er sie zu dem modernen, mehrfach verstellbaren Schreibtisch und forderte sie auf, ihn anzuheben.

«Haben Sie etwas verloren?»

Degert sah sie von schräg unten an. Dann machte er sich daran, das zweite Bein abzuschrauben und durch ein deutlich kürzeres zu ersetzen.

«Der werte Kollege würde vermutlich sagen, dass ich nichts in seinem Zimmer verloren habe», sagte er. «Aber obwohl ich wahrlich kein Sitzriese bin, überrage ich diesen Zwerg da um Längen.» Er schaute kurz auf den leeren Schreibtischstuhl. «Da mein Schreibtisch noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt und ich seit Jahren Bierdeckel unter die Beine stellen muss, um ihn auf meine Größe einzustellen, habe ich beschlossen, bei passender Gelegenheit mit dem Kollegen zu tauschen.»

«Tauschen», wiederholte Petersen trocken.

«Ja. Merkt der Zwerg gar nicht», fügte Degert ungerührt hinzu.

«So. Sie können jetzt den Tisch wieder abstellen.» Er zog sich an der Fensterbank hoch und grinste breit.

«Das heißt …», begann Petersen vorsichtig.

«Genau.» Mit einem letzten Blick auf den Schreibtisch schob er Petersen aus dem Raum. «Ich habe die Dinger geklaut.» Er taxierte sie von oben bis unten: «Irgendwelche Probleme damit?»

Petersens linke, geschwungene Augenbraue ging nach oben. «Nein, ich bin beim 1. K. Wir sind nur für Mord- und Totschlag, Entführung und Brandstiftung zuständig. Gestohlene Tischbeine gehören meines Erachtens nicht dazu.»

Degert überhörte den Unterton geflissentlich. «Dachte ich mir, dass Sie so etwas nicht erschüttern kann. Schließlich beschäftigen wir beide uns ja mit der wahren Kriminalität, nicht wahr?»

Er schien keine Antwort zu erwarten, öffnete die Tür zu seinem Büro und steuerte auf eine Art Kaffeemaschine zu, die irgendwo zwischen den Aktenordnern hervorlugte.

«Espresso?»

Navideh Petersen schüttelte den Kopf. Aber Degert hatte schon zwei Tassen bereitgestellt.

«Jetzt bringen wir die Sache hier erst mal zu Ende. Wenn Sie noch mal so freundlich wären und meinen Tisch anheben könnten?»

Fünf Minuten später waren die verstellbaren Tischbeine aus dem Nachbarzimmer an Degerts Tisch montiert. Zufrieden warf der Staatsanwalt für Kapitaldelikte den Stapel Bierdeckel in den Papierkorb und ließ sich in seinen Bürostuhl zurückfallen.

«Und was verschafft mir die Ehre, dass mich die hübscheste Mordermittlerin Norddeutschlands in meiner Behausung besucht?»

Er faltete die Hände wie zum Gebet zusammen und sah Petersen mit einem offenen Lächeln an.

«Es geht um die Steinewerfer. Gestern Nacht haben sie, wie Sie wissen, wieder zugeschlagen. Wir gehen davon aus, dass …»

«Wieso weiß ich davon nichts?» Degert schnellte aus seinem Stuhl vor und scrollte hektisch in seinem Posteingang herum.

«Meine Kollegen haben heute Morgen versucht, Sie zu erreichen, und Ihnen den Sachverhalt rübergeschickt. Es ist aber zum Glück auch nichts passiert. Und trotzdem wollen wir …»

«Ah. Hier ist es», unterbrach er Petersen erneut. «Ich war den ganzen Tag in einer Verhandlung und musste anschließend der Presse Interviews geben und dann …»

«Dann mussten sie noch dringend etwas klauen gehen.»

«Genau.» Degert sah Petersen auffordernd an. «Na, dann fassen Sie mal zusammen: Die Kerle haben also wieder Steine auf die Autobahn geworfen?»

Degert beobachtete die Kommissarin, während sie ein Notizbuch aus ihrer Tasche holte. Die langen, schwarzen Haare fielen ihr ins Gesicht. Als sich Navideh Petersen wieder aufrichtete, zwirbelte sie ihre Haare mit einer ungeduldigen Bewegung in Sekundenschnelle am Hinterkopf zusammen und befestigte sie mit einer einzigen langen Spange, die sie aus ihrer Jackentasche gezogen hatte. Eine Strähne löste sich aus der Hochsteckfrisur und gab ihrem Gesicht einen weichen Zug.

Wieder einmal beneidete der Staatsanwalt Frank Steenhoff darum, dass dieser Tag für Tag mit Navideh Petersen zusammen in einem kleinen Büro des Polizeipräsidiums sitzen durfte. Die gebürtige Iranerin war eine der auffälligsten Frauen, die er je gesehen hatte. Dabei schien sich die Kommissarin aus ihrem Äußeren nicht viel zu machen. Degert kannte sie kaum anders als in Jeans und Lederjacke. Er fragte sich, was Steenhoffs Frau wohl darüber dachte, dass Petersen und ihr Mann so eng zusammenarbeiteten. Unwillkürlich fiel ihm seine krankhaft eifersüchtige Exfrau ein.

Simone hätte ihm die Hölle heißgemacht.

Jetzt kramte Petersen nach einem Stift in ihrer Tasche.

Ob die beiden jemals etwas miteinander hatten? Degert fragte sich das nicht zum ersten Mal. Es hieß, Petersen habe nach ihrer Scheidung mehrere Jahre mit einer Frau zusammengelebt. Dem Flurfunk im Polizeipräsidium zufolge hatte sie aber derzeit eine Beziehung zu einem Mann, der an einer amerikanischen Universität an der Ostküste Medizin studierte. Weit weg von Bremen! Degert hatte sich einmal nach dem Mann, den er insgeheim nur das Phantom nannte, bei Steenhoff erkundigt, aber der hatte nur einsilbig geantwortet. Offenbar blockte Steenhoff alle Fragen nach dem Privatleben seiner Kollegin kategorisch ab. Degert fand die Haltung so anständig wie bedauerlich.

«Ein Reisebus mit Jugendlichen aus Spanien ist in Höhe der Uni beworfen worden», unterbrach Petersen plötzlich seine Gedanken. «Der Stein verfehlte die rechte Seite des Busses nur um Haaresbreite.»

Degert presste die Lippen zusammen und zwang sich zur Konzentration. «Nachahmer? Bislang waren unsere Täter doch nur im Bremer Norden auf den Autobahnbrücken unterwegs.»

«Eher nicht. Es handelt sich um einen ganz ähnlichen Stein wie am vergangenen Wochenende.» Petersen stellte ihre Tasche auf den Boden und beschrieb mit ihren Händen den Umfang des Steins.

«Habt ihr den Brocken gewogen?»

«Ja, fast 40 Kilogramm.»

«Damit steht fest, dass es keine Kinder sind», sagte Degert bestimmt. «Dagegen spricht auch die Uhrzeit. War es diesmal wieder in den frühen Morgenstunden?»

Petersen nickte. «Um 4.30 Uhr.»

«Gegen die Theorie von irgendwelchen durchgeknallten Kids sprechen auch die weit auseinanderliegenden Örtlichkeiten», fuhr Degert fort. «Die Täter müssen ein Auto haben, in dem sie die Steine transportieren.»

«Zeugen haben kurz vor dem Zwischenfall wieder zwei dunkel gekleidete Menschen auf der Brücke gesehen», fügte Petersen hinzu.

Degert schüttelte den Kopf. «Das ist doch total krank. Wenn einer davon trifft! Die Leute in den Autos sind tot.» Wütend schleuderte er seinen Kuli auf den Tisch. «Diese Kerle machen weiter. Morgen steht es in der Zeitung. Und mit jedem Anschlag bekommen sie größere Schlagzeilen. Wetten, der nächste passiert am Wochenende?»

«Davon gehen wir auch aus», erwiderte Petersen ruhig. «Deswegen werden wir mit den Kollegen vom Mobilen Einsatzkommando und der Bereitschaftspolizei rund 60 Leute im Einsatz haben. Die zehn Autobahnbrücken, die am wahrscheinlichsten in Frage kommen, werden von uns beide Nächte lang überwacht.»

Degert schnaufte empört. «Ach! So habt ihr euch das gedacht. Und der zuständige Staatsanwalt erfährt erst am Schluss davon.»

«Ich habe Ihnen zweimal aufs Handy gesprochen, Herr Degert. Außerdem hat Sie Frank Steenhoff heute Mittag von unseren Planungen per Mail in Kenntnis gesetzt. Und …» Sie machte eine Pause und betonte dann jedes einzelne Wort. «… da Sie nicht geantwortet haben, bin ich jetzt persönlich hier.» Herausfordernd sah sie ihn an.

«Hm.» Degert warf einen Blick auf sein Handy. «Tatsächlich. Heute Mittag. Zwei Anrufe. Ich hatte wohl vergessen, das Handy nach der Verhandlung wieder anzustellen.»

«Kann jedem mal passieren», erwiderte Petersen großzügig. «Und was sagen Sie nun zu unseren Planungen?»

«Wie viele Nächte halten Sie das personell durch? Was ist, wenn die eine Woche Pause einlegen? Oder, wenn die eine völlig andere Brücke benutzen?»

Petersen unterdrückte einen Seufzer. «Sie wissen genauso gut wie wir, wie dünn unsere Personaldecke ist. Deswegen können wir auch nicht sämtliche Übergänge observieren. Wir müssen darauf setzen, dass unsere Täter zwanghaft genug sind, dieses Wochenende weiterzumachen, und Standorte aussuchen, von denen man jedes sich nähernde Polizeiauto rechtzeitig sieht. Nur, dass wir dann schon längst da sind.»

«Okay. So machen wir es. Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.» Degert hob demonstrativ sein Handy vom Tisch auf. «In der Regel bin ich rund um die Uhr zu erreichen.»

«Der Espresso schmeckte übrigens vorzüglich!» Über Petersens Gesicht huschte ein Lächeln.

Degert zwang sich, nicht euphorisch auf die kleine Nettigkeit zu reagieren. «Danke», sagte er stattdessen eine Spur zu kühl.

Petersen linke Augenbraue ging erneut fragend nach oben. Dann drehte sie sich um und war schon fast aus der Tür hinaus, als Degert noch etwas einfiel.

«Ach ja, richten Sie bitte Ihrem Kollegen Michael Wessel aus, dass ich auf seinen Bericht im Cold-Case-Verfahren Gertrud Berger warte. Er hatte ihn mir schon letzte Woche zuschicken wollen.»

Ein Schatten legte sich kurz über Petersens Gesicht. «Ich werde Michael wohl erst am Wochenende wiedersehen. Er hat sich freigenommen. Er muss sich um Max, den Sohn seiner alleinerziehenden Schwester kümmern, die gerade beruflich im Ausland ist, und darüber hinaus liegt seit ein paar Tagen sein Vater im Krankenhaus.»

«Der alte Wessel?», rief Degert betroffen. «Was hat er?»

«Eine plötzliche Kreislaufschwäche. Er soll zuvor völlig gesund gewesen sein.» Navideh Petersen zögerte, dann gab sie ihrer Neugier nach. «Woher kannten Sie Michaels Vater?»

«Der war früher auch bei der Polizei. Ein knurriger Kerl, soweit ich weiß. Aber soll ein guter Kriminalist gewesen sein.»

Petersen hob zum Abschied ihre Hand ans Ohr: «Ich melde mich bei Ihnen, sobald wir mehr wissen.»

Noch Minuten später hing ihr Duft im Raum. Degert tippte auf eine Bodylotion für Sportler. Während sich der Staatsanwalt einen zweiten Espresso zubereitete, dachte er an die geplante Aktion am Wochenende. Hoffentlich vermasselte es die Polizei nicht.

Er nahm sich vor, ein Auge darauf zu haben.

03

Antanas Kurdika landete gegen Mittag in Lettland. In der Männertoilette des Rigaer Flughafens wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Da kein Papier mehr im Handtuchhalter war, wischte er die Tropfen mit dem Ärmel seiner Jacke ab. Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Tiefe Schatten lagen unter seinen Augen. Antanas fuhr sich mit den fünf Fingern seiner rechten Hand durch die kurzen, dunkelblonden Haare. Dann machte er sich auf die Suche nach einem Café, trank zwei Tassen schwarzen Kaffee und ging zu dem Parkplatz, wo er seinen Lada abgestellt hatte.

Erst wenige Wochen zuvor war er, aus München kommend, denselben Weg von Riga nach Raseiniai gefahren. Aufgewühlt und mit Bildern im Kopf, die sich permanent zwischen ihn und die Wirklichkeit drängten. Überall schien der Greis vor ihm aufzutauchen.

Walter Bierhans hatte dem Fremden aus Litauen nicht nur bereitwillig die Tür geöffnet, sondern zu Antanas’ Überraschung auch das Gespräch mit ihm gesucht. Bierhans wollte erklären, rechtfertigen, wo es nichts zu rechtfertigen gab, sogar entschuldigen – aber Antanas hatte dem alten Mann keine Möglichkeit gegeben, ihn einzulullen. Er wusste, was geschehen war. Aber er begriff nicht, wie die Bierhans’, Wessels und Strömers all die Jahre einfach hatten weitermachen können. So, als sei nichts passiert. Sie sollten wissen, dass sie jemanden übersehen hatten. Jemanden, der allein durch seine Existenz ihre Schuld bezeugte.

Als Antanas Walter Bierhans damals in seinem kleinen Wohnzimmer in der Münchner Wohnung geantwortet hatte, verströmte seine Stimme eisige Kälte. Der alte Mann zuckte unter jedem der Sätze zusammen, die sich Antanas in zahlreichen schlaflosen Nächten zurechtgelegt hatte. Die Augen des Greises füllten sich mit Tränen. Doch Antanas hatte gerade erst begonnen. Er ignorierte, wie Bierhans’ Hände zu zittern begannen, wie er verzweifelt nach einer Möglichkeit suchte, seinen Besucher von der besonderen Lage, in der er sich befunden hatte, zu überzeugen. Antanas sprach weiter. Schneidend. Die Worte wurden zu Hieben. Mit jedem weiteren Satz schien Bierhans noch mehr in sich zusammenzuschrumpfen.

Als endlich alles gesagt war, hockte der alte Mann zusammengekauert auf dem Sofa. Ein Greis, der mit seinem Leben abgeschlossen hatte. Das war der Moment, als Antanas seine Tasche öffnete. Der alte Mann wurde blass, als er sah, was Antanas in der Hand hielt.

 

Ohne eine Pause einzulegen, überquerte Antanas die Grenze zu Litauen und erreichte knapp vier Stunden später Raseiniai. Er hielt in der Kleinstadt nur an, um beim Bäcker Brot und in einem winzigen Supermarkt etwas frisches Obst zu kaufen, und fuhr dann die letzten Kilometer bis nach Sakava. Es war später Nachmittag, als er vor der Einfahrt seines zweistöckigen Häuschens am Rande des Dorfes stand. Tor und Eingangspforte waren wie immer mit einem Schloss gesichert. Nur Antanas und seine Frau Evelina besaßen einen Schlüssel dafür. Seinem Vater Petras hatte Antanas den Schlüssel vor gut einem Jahr heimlich vom Schlüsselbund entfernt. Zu groß war die Gefahr, dass der Alte wieder davonlaufen und draußen herumirren würde.

Antanas stellte den Wagen auf dem Hof ab. Im selben Moment schoss kläffend ein schwarz-weißer Hund auf ihn zu. Mirco und sein Vater waren seit Jahren unzertrennlich. Daran hatte auch Petras’ Erkrankung nichts geändert.

«Ist ja gut, ist ja gut», sagte Antanas beschwichtigend und kraulte ihn zur Begrüßung. Begeistert sprang der Rüde an Antanas hoch. Dann flitzte Mirco zum Haus zurück und bellte die Tür an, so als wolle er Antanas’ Rückkehr ankündigen. Tatsächlich ging plötzlich die Haustür auf. Petras hielt sich die Hand über die Augen, da ihn das Abendlicht blendete. Unsicher ging er einen Schritt hinaus auf den Hof.

«Ich bin es, Vater, Antanas!» Keine Reaktion.

«Antanas. Dein Sohn!» Immer noch verzog der alte Mann keine Miene.

Furcht packte Antanas. Hatte Petras während seiner Abwesenheit auch den letzten schmalen Weg in die Gegenwart verloren?

Antanas ging auf ihn zu und griff nach seiner Hand. «Vater, ich bin wieder da», wiederholte er mit warmer Stimme. Mirco hatte sich neben den alten Mann gesetzt und blickte ihn mit heraushängender Zunge an. Auch der Hund schien ungeduldig auf ein Zeichen des Erkennens zu warten.

Plötzlich hellte sich das Gesicht des Alten auf.

«Antanas. Da bist du ja. Ich habe schon Monate auf dich gewartet.» Petras stieß sich mit seiner rechten Hand vom Türrahmen ab und ging wankend auf Antanas zu. Mit einer Kraft, die man dem alten Mann gar nicht zugetraut hätte, schloss er seinen Sohn in die Arme.

«Ich war nur ein paar Tage weg, Vater. In den Niederlanden. Weißt du nicht mehr?»

Petras nickte beflissentlich, aber Antanas begriff im selben Moment, dass sein Vater keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

«Ist Evelina nicht zu Hause?», erkundigte sich Antanas.

«Evelina», antwortete sein Vater, seufzte laut und zeigte mit der Hand zur Straße hinter dem verschlossenen Zaun.

«Ach, sie ist einkaufen», beantwortete Antanas sich selbst die Frage. «Keine Sorge. Sie wird bald wieder zurückkommen.»

Sein Vater nickte gutmütig. Dann drehte er sich um und ging mit schlurfendem Schritt zurück ins Haus.

Antanas kochte Kaffee und setzte sich gegenüber von Petras ans Fenster. Mirco hatte sich zu den Füßen des alten Mannes gelegt, alle viere von sich gestreckt, und schlief. Ab und an zuckte er mit den Beinen, als verfolge er im Traum eine Katze.

«Ich war in Amsterdam, Vater», begann Antanas zu erzählen. Sein Vater sah ihn mit leerem Blick an.

«Hermann Strömer ist tot. Ich …» Er zögerte und suchte nach Worten. «Ich … habe ihn gesehen. Er ist umgebracht worden. Stell dir vor, er ist tot. Erschlagen.»

Antanas stellte seine Tasse auf der Fensterbank ab und lehnte sich zu seinem Vater vor, um dessen Blick einzufangen. Aber Petras schien sich in einer anderen Welt aufzuhalten. Er hatte sein Gesicht zum Fenster gedreht und sah unverwandt nach draußen, als erwarte er, gleich jemanden auf dem Hof zu sehen.

«Sie werden zurückkommen», sagte der Alte.

Antanas setzte sich verwundert auf. «Von wem redest du, Vater?» Er legte seine Hand auf das Knie des alten Mannes und streichelte es sanft. Die Knochen stachen spitz hervor. «Vater, hörst du mir überhaupt zu?»

Endlich sah Petras ihn an. Antanas versuchte erneut, zu ihm durchzudringen. «Ich war bei ihm, Vater. Hermann Strömer ist tot. Bald fahre ich wieder los. Nach Deutschland. In die Stadt mit dem Himmelsschlüssel im Wappen. Du weißt doch, Bremen. Da lebt der Letzte von ihnen. Sie sollen alle erfahren, dass es dich gibt. Ihre Kinder und Kindeskinder. Und sie sollen endlich für ihre Schuld zahlen. So, wie du es dir immer gewünscht hast.»

Langsam sickerten Antanas’ Worte in das Bewusstsein des alten Mannes. Er nickte. Seine Lippen formten unhörbare Worte. Mühsam purzelten die Sätze schließlich heraus. «Du bist ein guter Sohn, Antanas. Und ein guter Enkel.» Er machte eine Pause, als müsse er sich von dem Gesagten erholen. Seine Zunge fuhr über die rissige Unterlippe. Dann fügte er ernst hinzu: «Ich war kein guter Sohn.»

Antanas schüttelte heftig den Kopf. Jedes Wort betonend sagte er: «Das stimmt nicht, Vater. Was hättest du machen sollen?» Petras nickte, aber Antanas wusste, dass sein Vater nie aufhören würde, sich Vorwürfe zu machen.

 

Evelina kam am frühen Abend vom Einkauf zurück. Sie kochte ihnen zur Feier des Tages Kugelis, einen Kartoffelauflauf, den Antanas besonders liebte. Nebenbei erkundigte sie sich, wie seine anwaltlichen Gespräche in den Niederlanden gelaufen seien. Er antwortete ihr ausweichend, und Evelina ließ es zu. Vielmehr interessierte sie sich für Amsterdam. «Hast du dir das Tuschinski-Theater angeschaut? Oder den Königspalast?» Erwartungsvoll schaute sie ihn an.

Antanas schüttelte den Kopf. «Ich war nicht als Tourist da, Evelina. Ich habe mich dort im Auftrag eines Mandanten mit einem wichtigen Gesprächspartner getroffen.»

«Aber du hast doch bestimmt mal eine Grachtenfahrt gemacht?», ließ seine Frau nicht locker. Antanas seufzte. Ihr zuliebe erzählte er schließlich von den imposanten Herrenhäusern, den bunten Hausbooten und den Studenten aus aller Welt, die an schönen Tagen die zahllosen Cafés belagerten. Evelina strahlte. «Da müssen wir auch mal zusammen hin», beschwor sie ihren Mann. Er nickte. Aber insgeheim wusste er, dass er nie wieder den Wunsch verspüren würde, ein zweites Mal nach Amsterdam zu fliegen. Die Stadt würde für ihn immer mit Hermann Strömer verbunden sein. Schon bei dem Gedanken an den Mann spürte er, wie wieder der Hass in ihm aufstieg. Der Alte war jämmerlich zu Tode gekommen. Erschlagen wie ein Hund.

Antanas’ Glaube und sein ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit, der ihn einst den Beruf des Anwalts wählen ließ, bewahrten ihn nicht davor, voller Genugtuung an das eine Bild zu denken, das sich ihm immer wieder aufdrängte: Strömer, wie er am Boden lag. In seinem eigenen Blut. Von Mal zu Mal wurde die Lache in seiner Vorstellung größer. Strömers gewaltsames Ende war ein winziger Trost. Ein kleiner Funke Hoffnung auf Gerechtigkeit in dieser grausamen Geschichte.

 

Am nächsten Morgen riss ihn Evelina aus dem Schlaf. «Wach auf, Antanas! Dein Vater ist weg!»

«Er kann nicht weglaufen», murmelte Antanas schlaftrunken. «Das Tor ist verschlossen.»

«Wir müssen vergessen haben, es abzuschließen, als wir gestern noch Holz geholt haben. Er muss schon Stunden weg sein. Sein Bett ist kalt.» Antanas war mit einem Schlag wach. Evelina hatte recht. Er hatte am Abend noch eine Fuhre Holz von einem Nachbarn besorgt. Es war sein Fehler gewesen, auch wenn Evelina nun so tat, als sei sie mitverantwortlich dafür, dass Petras ohne Orientierung draußen herumirrte.

Der Vormittag ging vorbei, ohne dass sie ihn entdeckten. Am Nachmittag hatten sich mehrere Halbwüchsige aus dem Dorf und ein paar Nachbarn der Suche angeschlossen. Sie riefen nach Petras und durchkämmten die umliegenden Wälder, doch vergebens. Am frühen Abend hielt ein Auto neben Antanas, und der Fahrer, ein Elektriker aus dem Nachbarort, erkundigte sich, was passiert sei. «Das halbe Dorf scheint auf den Beinen.» Evelina erklärte ihm, dass Antanas’ Vater vom Hof verschwunden sei. Seit er an Demenz erkrankt sei, versuche er immer wieder wegzulaufen. Der Mann wurde blass. «Ich wusste nichts von seiner Krankheit. Ich meine, ein bisschen eigentümlich war Petras ja schon immer. Ich …»

«Was ist los? Hast du ihn gesehen?», herrschte ihn Antanas ungeduldig an. Schuldbewusst nickte der Elektriker. «Er stand heute Morgen mit dem Hund an der Straße, hielt die Hand raus. Da habe ich ihn mitgenommen. Hab mir nichts dabei gedacht. Er hat nur mit dem Hund gesprochen. Wollte Verwandte besuchen. Das hat er nicht mir gesagt, sondern dem Hund. Da habe ich ihn dann 25 Kilometer von hier am Dorfrand von Paliniai rausgelassen.» Er sah Antanas neugierig an. «Wusste gar nicht, dass ihr dort auch Verwandtschaft habt.»

Antanas erschrak. «Was sagst du da? Paliniai?»

Der Mann nickte. Antanas rannte zum Auto. Evelina musste einen Spurt einlegen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Einer der Suchtrupps war schon wieder im Wald verschwunden, als Antanas mit hoher Geschwindigkeit an den abgestellten Fahrzeugen vorbei nach Paliniai raste.

Während sich Evelina hastig im Auto anschnallte, sah sie ihren Mann besorgt an. «Was macht Petras dort? Warum will er nach Paliniai?» Antanas reagierte nicht. Stattdessen drückte er das Gaspedal seines Ladas bis zum Anschlag runter. Gequält heulte der Motor auf. Der Wagen geriet ins Schleudern. Vor Angst schrie Evelina auf.

04

Jens Degert ließ die Scheibe auf der Beifahrerseite herunter und sog die kalte Luft ein, die in den Wagen strömte. Es war wieder mal spät geworden, und das an einem Sonntag. Der Gedanke löste einen Druck im Magen aus. Automatisch suchte Degert nach einer Entschuldigung: die Aktenstapel auf seinem Schreibtisch, eine aktuelle Leichensache … Er wischte die Gedanken beiseite. Die Zeiten, in denen er sich rechtfertigen musste, waren vorbei. Eine der positiven Seiten seiner Trennung.

Vor einem halben Jahr war Simone ausgezogen. Degert hatte sich selbst beglückwünscht an diesem Tag. Endlich keine Rechtfertigungen mehr dafür, dass er viel arbeitete. Keine vorwurfsvollen Blicke, keine gereizten Kommentare mehr.

Er war an dem Wochenende, als seine Frau zusammen mit ihren Freunden ihre letzten Kartons aus der Wohnung trug, Golf spielen gegangen und hatte sich anschließend mehrere Saunagänge gegönnt. Am Abend hatte er sich zwei Hamburger mit einer großen Portion Pommes gekauft und sich darauf gefreut, ohne jede Diskussion Fußball im Fernsehen gucken zu können.

Bei dem Gedanken an seine Exfrau wurde er wütend. Es hieß, Simone gehe es gut. Sie blühe auf. Vermutlich hatte sie doch einen Kerl, auch wenn sie die Existenz eines neuen Liebhabers immer geleugnet hatte. Warum hätte sie ihn sonst verlassen? Eine Krankenschwester einen Staatsanwalt! Wer weiß, was der andere ihr alles versprochen hatte? Niemand sollte ihm erzählen, dass eine Frau wie Simone einen Mann einfach verlassen würde, nur weil er angeblich zu wenig Zeit für sie hatte. Lächerlich. Viele verheiratete Männer arbeiteten noch deutlich mehr als er.

Wieder streifte sein Blick die Uhr im Armaturenbrett seines Wagens. Kurz nach zehn. Ob die Polizei schon ihre Posten bei den Brücken bezogen hatte? Draußen war es bereits dunkel. Theoretisch konnten die Steinewerfer schon wieder unterwegs sein. Auch wenn Degert eher vermutete, dass sie erst wieder in den Morgenstunden zuschlagen würden. Ob Steenhoff auch die Brücke für Fußgänger und Radfahrer bei der Universität in seine Überlegungen mit einbezogen hatte? Er kannte die Stelle von einer früheren Radtour. Degert lenkte seinen Wagen in eine Parkbucht und wählte Steenhoffs Nummer. Doch bei dem Kommissar sprang nur die Mailbox an. Auch Petersen schien ihr Handy abgestellt zu haben.

Die sitzen noch gemütlich in ihrer Besprechung, und die Typen sind vielleicht schon längst wieder unterwegs, dachte Degert verärgert.

Kurzentschlossen wendete er seinen Wagen und fuhr in Richtung Universität. 20 Minuten später bog er kurz vorm Stadtwaldsee nach rechts in einen schmalen Weg ab, der ins Naturschutzgebiet führte. Außer den wenigen Bewohnern des Blocklandes nutzten diese Brücke nur Radfahrer, um die Autobahn zu queren. Als er seinen Wagen in Höhe eines Minigolfplatzes abstellte, war er sich sicher, dass die Polizei diesen Überweg nicht im Blick hatte. Die Fluchtmöglichkeiten waren zu schlecht. Aber was, wenn die Täter nicht so strategisch dachten?

Degert lief auf die Autobahnbrücke zu und versuchte Steenhoff ein zweites Mal zu erreichen. Vergeblich. Kurze Zeit später stand er auf dem vorderen Drittel der Brücke und schaute von oben in die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos. Er beugte sich über die Brüstung, um zu sehen, ob an der Brücke Schilder befestigt waren, die potenziellen Werfern im Wege sein könnten. Zwei Fahrzeuge wechselten mit hoher Geschwindigkeit die Fahrbahn. Erst jetzt wurde Degert bewusst, dass der dunkle Schatten auf der Brücke für die Autofahrer bedrohlich wirken musste. Suchend sah er sich nach allen Seiten um.

Wie erwartet: Keiner der Herrschaften da!, dachte er.

Stattdessen saßen sie jetzt alle noch im Polizeipräsidium und führten große Reden. Er schaute auf die Uhr. Halb elf. Wütend griff er in die Tasche, um Steenhoff eine geharnischte SMS