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Aus dem Amerikanischen
von Beatrice Howeg, Malte Friedrich
und Nikolaus Hansen

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2016

ISBN 978-3-8270-7895-7
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Collected Stories bei Picador, New York
© 2013: James Salter
© 2013 für das Vorwort: John Banville
© 2014 für die Kapnick-Lectures: James Salter
Für die deutsche Ausgabe:
© 2016 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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VORBEMERKUNG

Dieser Band versammelt erstmals sämtliche Erzählungen James Salters. Im Wesentlichen vereint er die Geschichten aus den beiden Erzählungsbänden Letzte Nacht und Dämmerung. Der Autor selbst hat die entsprechende englischsprachige Ausgabe zusammengestellt, überarbeitet und eine bis dato unveröffentlichte Geschichte, Charisma, hinzugefügt. In den USA wurden die Collected Stories, versehen mit einem Vorwort von John Banville, im Jahr 2013 publiziert. Es war die letzte Buchveröffentlichung James Salters vor seinem Tod im Jahr 2015.

Für die deutsche Ausgabe sind alle Stories entsprechend Salters Änderungen durchgesehen, wo nötig, überarbeitet bzw. neu übersetzt und in die Reihenfolge der englischen Ausgabe gebracht worden. Außerdem finden sich in diesem Band – statt eines Nachworts – drei Vorlesungen. Salter hat sie 2014 als Kapnick Writer-in-Residence an der Universität von Virginia gehalten. In seiner unnachahmlichen Weise spricht er darin über die Literatur, das Schreiben und das Leben, und sie lesen sich wie sein literarisches Testament.

Die Übersetzungen der Geschichten Am Strande von Tanger, Zwanzig Minuten, Dämmerung, Kino, Akhnilo, Die Zerstörung des Goetheaneums, Erde, American Express, Verlorene Söhne, Via Negativa und Fremde Küsten sind von Beatrice Howeg.

Die Übersetzungen der Geschichten My Lord, Platin, So viel Spaß, Die Augen der Stars, Komet, Bangkok, Palm Court, Gabe, Arlington und Letzte Nacht sind von Malte Friedrich.

Das Vorwort von John Banville, die Kapnick-Lectures und die in diesem Band erstmal auf Deutsch erscheinende Geschichte Charisma hat Nikolaus Hansen übersetzt. In den Kapnic-Lectures zitiert James Salter viel aus den Werken anderer Autoren. Sofern deutschsprachige Übersetzungen zur Verfügung standen, haben wir sie dankbar benutzt und in Fußnoten auf die entsprechenden Quellen verwiesen.

VORWORT

Nichts in der Literatur ist schwieriger als die Darstellung von ganz banaler Wirklichkeit. Nur die Besten haben diese Aufgabe erfolgreich bewältigt. Beim Roman denken wir zuallererst an Flaubert, an die Eingangsszene des Ulysses von Joyce. Unter den Autoren von Erzählungen ist natürlich Tschechow zu nennen, und abermals Joyce mit seinen Dublinern. Diese wunderbaren Künstler schreiben nicht über die Wirklichkeit: ihr Werk ist Wirklichkeit schlechthin. Wenn wir sie lesen, vergessen wir, dass wir eine höchst ziselierte und vermittelte Version der Welt dargeboten bekommen. Die sterbende Emma Bovary; Leopold Bloom, der seiner Frau das Frühstück ans Bett bringt; die Dame mit dem Hündchen, die sich unglücklich verliebt und wieder entliebt und wieder verliebt; Gabriel Conroy, der hinausstarrt auf die Schneewüste seiner Ehe und seines Selbst – all diese Szenen erreichen uns mit der Kraft wirklich gelebten Lebens, unmittelbar, greifbar, profan und zugleich erhaben.

James Salter ist uns wohl vor allem als Romancier bekannt. Zwei seiner Bücher, Ein Spiel und ein Zeitvertreib und Lichtjahre, sind Klassiker dieses Genres. 2013, im Alter von siebenundachtzig Jahren, hat er Alles, was ist herausgebracht, einen großen und gewagten Roman über den Krieg und das Leben von Soldaten nach dem Krieg, über das Schreiben und das Veröffentlichen, über Amerika und Europa, über die Liebe und deren Verlust. Es ist ein faszinierendes Werk, das geschrieben zu haben jeder auch nur halb so alte Autor stolz wäre. Und im selben Jahr erschien außerdem diese großartige Sammlung seiner Kurzgeschichten, zusammengestellt aus zwei schmalen Bänden, Dämmerung und Letzte Nacht, im Original 1988 respektive 2005 erschienen. Als besonderen Leckerbissen enthält der Band eine nagelneue Geschichte, Charisma. In all diesen Erzählungen erweist sich Salter als meisterhafter Chronist von alltäglichen Leben.

Salter wurde 1925 als James Arnold Horowitz in New Jersey geboren. Sein Vater war Grundstücksmakler und ehemaliger Soldat. Dem eindrucksvollen Beispiel des Vaters folgend, begann der junge Horowitz mit siebzehn sein Studium an der West-Point-Militärakademie. Das war 1942 und der Weltkrieg tobte. Er war ein fleißiger Student und graduierte 1945 cum laude. Eine Geschichte in diesem Band mit dem bezeichnenden Titel Verlorene Söhne – deren Eingangsszene auf gespenstische Weise an Joyce’ Geschichte von jugendlicher Wildheit, Nach dem Rennen, erinnert – schildert mit stakkatohafter Spritzigkeit und in kühlem Berichtston ein Ehemaligentreffen in West Point:

»Im Empfangsbereich wurde eine Willkommensparty gegeben. Man sah Gesichter, die sich kaum verändert hatten, und andere wie Reemstmas, dessen Namensschild mehr als einmal gelesen wurde. Jemand mit einer Kamera und Blitzgerät lief in einem Kadettenschlafrock herum. Drüben in der Kaserne wurde getrunken. Türen standen offen. Stimmen drangen nach draußen.«

Diese Art des Schreibens beherrscht Salter wie kein anderer. Es geht zügig voran, aber hin und wieder springt ein Detail heraus – Reemstmas Namensschild wird »mehr als einmal gelesen« –, an dem die Aufmerksamkeit des Lesers hängen bleibt wie ein eingerissener Fingernagel an Seidenstoff. Es ist nicht allein Reemstmas sonderbarer Name, der ihn von den anderen unterscheidet. Nachdem er die Akademie verlassen hatte, wurde er Maler, und jetzt, da er für einen kurzen Moment an die alte Schule zurückgekehrt ist, stellt er sich mit grüblerischer Wehmut das Leben vor, das er hätte führen können: »Eine Welle von Traurigkeit erfasste ihn, Erinnerungen an Paraden, das Ende von Bällen, den Weihnachtsurlaub … Es war vorbei, aber niemand kehrt dem jemals ganz den Rücken.«

Salter ist einer jener äußerst seltenen Fälle, wo ein Mann der Tat sich mit Erfolg, mit überwältigendem Erfolg zum Künstler wandelt – er hat den Werdegang, von dem Hemingway nur träumen konnte. In West Point wurde er zum Piloten ausgebildet, er war in den Philippinen und in Japan stationiert, und nach weiterführenden Studien an der Georgetown University wurde er dem Tactical Air Command zugeteilt. Ein paar Jahre später meldete er sich freiwillig zum Einsatz im Koreakrieg und erhielt eine Ausbildung zum Piloten des F-86-Sabre-Kampfjet. In Korea flog er mehr als hundert Kampfeinsätze. Seine ersten beiden Romane, Jäger (Originalausgabe 1957) und The Arm of Flesh (Originalausgabe 1961), beruhten auf Salters Kriegserfahrungen. Diese Bücher waren Gesellenstücke, über die er sich in späteren Jahren zutiefst kritisch äußerte, auch wenn er The Arm of Flesh 2000 unter dem Titel Cassada neu herausbrachte.

Insgesamt diente Salter zwölf Jahre bei der Luftwaffe und weitere drei oder vier Jahre als Luftwaffen-Reservist, ehe er das Soldatenleben gänzlich aufgab und hauptberuflich Schriftsteller wurde. Das muss eine schwere Entscheidung gewesen sein. Er war ein geborener Flieger und Gefechtskitzel lag ihm im Blut. Auch war er verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Sein Frühwerk fand weder bei Verlagen noch bei der Leserschaft Anklang – ihm wurde bereits das äußerst gefürchtete Etikett »schwieriger Schriftsteller« angeheftet. Trotz dieses Handicaps warf er sich selbst auf den Markt und begann, Filmdrehbücher zu schreiben. Das erwies sich, wie schon für so viele seiner Vorgänger und Kollegen, als entmutigende Erfahrung. In der Geschichte Kino mit ihrem mokant ahnungsvollen Titel und ihrem Sprungschnitt-Stil ist diese Enttäuschung perfekt eingefangen – »Ja, mach dir Notizen«, drängt ein Regisseur seinen Hauptdarsteller, »Manches, was ich sage, ist brillant.« Ein Drehbuch, das Salter für Robert Redford geschrieben hatte, wurde abgelehnt, und der Autor verarbeitete es zu einem Roman, In der Wand (Originalausgabe 1979). Das Buch war eine angemessene Metamorphose und bezeichnete das Ende von Salters Filmtagen.

Die Jahre, in denen Salter das Leben der Tat gegen ein Leben für die Literatur eintauschte, brachten auch für Amerika als Ganzes faszinierende Veränderungen. Die Aufregungen und Gewissheiten der Kriegszeit wichen der rauen Wirklichkeit des Zivillebens. Die Frauen, die während des Krieges am Arbeitsplatz, zu Hause und im Bett bis dahin ungekannte Freiheiten genossen, mussten – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – aus ihren Latzhosen gepellt und wieder in Baumwollkleider und Stöckelschuhe gesteckt werden. Hollywood war eine treibende Kraft dieses normativen Feldzugs – man erinnere sich nur an Doris Day und an all die Musik-Komödien, strotzend von weißen Telefonen und heißblütigen Hauptdarstellern wie Rock Hudson.

Salter schreibt mit Kenntnis, Präzision und Witz über diese Nachkriegswelt. Die frühen Geschichten aus den sechziger bis hin zu den achtziger Jahren haben einen jazzigen Rhythmus und den aalglatten, kühlen Glanz der Welt von Mad Men. Die Figuren sind trendig und gewieft, und sie machen sich gegenseitig fertig. Wir befinden uns in der zweiten Hälfte des ›Amerikanischen‹ Jahrhunderts und das World Trade Center befindet sich gerade erst in der Planung. Was kann schon schiefgehen? Und dann geht so ziemlich alles schief. In Zwanzig Minuten, einer der bekanntesten Geschichten Salters, wird eine reiche Frau von ihrem Pferd abgeworfen und lässt, während sie im Sterben liegt, zufällige Momente ihrer Vergangenheit Revue passieren, die sich irgendwie nicht zu einem Leben zusammenfügen wollen. »Da waren all die Dinge, die sie noch machen wollte, wieder in den Osten gehen, bestimmte Freunde besuchen, ein Jahr am Meer wohnen. Sie konnte nicht glauben, dass es vorbei war …«

Salters Figuren sind unscharf gezeichnet, und doch prägen sie sich sofort ein. Er versteht es besonders gut, über junge Frauen zu schreiben, eine Fähigkeit, die er sich bis ins hohe Alter bewahrt hat – man sehe sich nur die Eingangsszene von Charisma an, in der sich zwei kluge junge Frauen auf einer New Yorker Party über den Maler Lucien Freud unterhalten, den eine der beiden im Metropolitan Museum of Art gesehen hatte, wo er sich die Bilder anschaute:

»Wie macht er das bloß alles?«

»Keine Ahnung«, gestand Cecily.

Sie dachten darüber nach.

»Trotzdem, ich würde mit ihm ficken«, sagte sie.

»Ehrlich?«

»Auf der Stelle.«

»Ich auch.«

Sehr viele von Salters Geschichten sind aufgeladen mit einer hocherotischen Spannung. In dem nie endenden Krieg zwischen Männern und Frauen nehmen seine Charaktere früh ihre Positionen in den ersten Reihen der Schlachtordnung ein und gehen mit offenem Visier aufeinander los. Meistens ist es ein schmutziger Kampf. In American Express machen zwei Rechtsanwälte, Frank und Alan, beide erfolgreich, derb und gierig auf die Welt, ausgedehnte Ferien in Italien. Sie fahren durch Arezzo, wo sie an einer Straßenecke eine Schülerin aufgabeln, die Frank mit auf sein Hotelzimmer nimmt. »An einem Punkt schien sie zu zittern, ihr Körper erbebte. ›Ist dir nicht gut?‹, sagte er.« Später reist das Trio gemeinsam weiter, nach Florenz, nach Spoleto, in andere Touristenstädte. Unausweichlich erwacht bei Alan eine Begierde nach dem Mädchen, und Frank, stets der gute Kumpel, bietet lässig an, sie zu teilen. So läuft das nun einmal unter Freunden. Das Mädchen, das Kind, zählt nicht, es ist quasi Objekt. Auf ein paar wenigen Seiten gestaltet Salter so etwas wie die Miniaturausgabe eines Henry-James-Romans: Amerikaner in Europa, der Missbrauch der Unschuld, das eigenartig vage Gefühl des vergehenden Lebens. »Er wusste nicht, was er tun sollte. Davon abgesehen, war es perfekt.«

In einer anderen Geschichte, Am Strande von Tanger, ist wieder ein Trio auf Reisen, ein junger Amerikaner und zwei deutsche Frauen sind zusammen in Barcelona. Es passiert nicht viel, oberflächlich betrachtet jedenfalls: Die entscheidende Handlung ist überdeckt, sie findet in den Leerstellen zwischen den Wörtern statt. Die Geschichte ist ein Bravourstück, ein blendendes Beispiel für die Kunst, wenig zu sagen und doch viel zu transportieren. Am Ende stirbt ein Käfigvogel, und wir verstehen, dass mit ihm noch viel mehr stirbt. Die Schlusssätze kreieren mit den banalsten Mitteln eine Trostlosigkeit, die einen erschaudern lässt: »Sie hat kleine Brüste und große Brustwarzen. Außerdem, wie sie selber sagt, einen ziemlich dicken Hintern. Ihr Vater hat drei Sekretärinnen. Hamburg liegt nah am Meer.«

Hier, wie an so vielen anderen Stellen auch, nutzt Salter objektive Wechselbeziehungen, um einen genialen Effekt zu erzielen. In einer der bewegendsten und in ihrer Verlorenheit schönsten Geschichten der Sammlung, Dämmerung, erhält Mrs. Chandler, eine geschiedene Frau gewissen Alters und in gewisser sozialer Stellung – »Sie wusste, wie man Dinnerpartys gab, mit Hunden umging, Restaurants betrat« –, Besuch von ihrem halbherzigen Liebhaber, der ihr erzählt, er habe das Zerwürfnis mit seiner Frau gekittet und werde zu ihr zurückkehren. Für Mrs. Chandler ist dies ein Verlust unter vielen, von denen der schlimmste der Tod ihres kleinen Sohnes ist. Sie betet für das Kind, »O Herr, übersieh ihn nicht, er ist so klein …« Die Geschichte ist nur acht Seiten lang, aber sie verfügt über gewaltige Kraft, vor allem in der perfekt intonierten, herzbewegenden Schlusssequenz. Überall im Text gibt es Bilder von Wildgänsen, die von Jägern aus dem Himmel geschossen werden, und als die Dämmerung zur Nacht wird, spürt die Frau, wie ihr die Dunkelheit ins eigene Herz kriecht: »Irgendwo im nassen Gras, stellte sie sich vor, lag eine von ihnen, die Brust dunkel durchnässt, den anmutigen Hals noch ausgestreckt, die großen Flügel versuchen zu schlagen, blutige Blasen treten aus den Öffnungen in ihrem Schnabel. Sie ging durchs Haus und machte Licht. Der Regen kam herunter, das Meer toste, eine Kameradin lag tot in der wirbelnden Dunkelheit.«

In My Lord wird das erotische Element verbunden mit der zerstörerischen Kraft der Kunst. Eine bürgerliche Dinner-Party wird gestört von einem betrunkenen und gescheiterten Dichter, Brennan, der in der Nachbarschaft wohnt. Unter den Gästen befindet sich eine junge Frau namens Ardis, die von der störenden Anwesenheit des Mannes gleichermaßen beunruhigt und fasziniert ist. Am nächsten Tag auf dem Rückweg vom Strand macht sie einen Umweg an Brennans Haus vorbei. Abgesehen von einem riesigen, schweigsamen Hund, der ihr nach Hause folgt, scheint niemand dort zu sein – »Er trabte schwerfällig, wie ein dicker Mann, der durch den Regen läuft.« –, das Tier bleibt bei ihr, schläft im Gras hinterm Haus. Sie bringt den Hund zurück zu Brennans Haus, und da niemand dort ist, geht sie hinein, um sich umzusehen – für sie eine sonderbare, beunruhigende Erfahrung, für die sie ihr eigenes Verhalten nicht verantwortlich zu machen vermag. »Langsam, ohne nachzudenken, begann sie sich auszuziehen. Sie ging nicht weiter als bis zur Taille. Sie war geblendet von dem, was sie tat.« Irgendwann verschwindet der Hund aus ihrem Leben, »er war weg, verloren, lebte woanders, vielleicht fand sein Name eines Tages den Weg in eine Gedichtzeile, aber sehr wahrscheinlich war er vergessen, nur nicht von ihr«.

Eine geisterhafte Version vom Hund des Dichters läuft durch all diese Geschichten, er ist das Sinnbild für Bedrohung und geheimnisvolle Kraft, eine schweigende, lauernde Erinnerung an die Wildheit und die unstillbaren Begierden des Lebens. James Salter ist ein Zauberer und seine Wunderwerke sind fein gewirkt, und doch vermögen sie die alltägliche Wirklichkeit des Lebens kraftvoll zu packen. Wieder und wieder gelingt ihm auf diesen Seiten, was John Updike als die Aufgabe des Schriftstellers definiert hat, nämlich dass er das »Schöne am Gewöhnlichen« zu zeigen habe. Salter zeigt das Gewöhnliche als das, was es wirklich ist: das Wunderbare.

John Banville, 2013

AM STRANDE VON TANGER

Barcelona im Morgengrauen. Die Hotels sind dunkel. Alle großen Alleen weisen aufs Meer.

Die Stadt ist leer. Nico schläft. Sie ist gefesselt von verdrehten Laken, ihrem langen Haar, einem nackten Arm, der unter ihrem Kissen liegt und über die Bettkante hängt.

In einem Käfig, der sich unter einem Tuch aus indigoschwarzer Seide abzeichnet, schläft ihr Vogel, Kalil. Der Käfig befindet sich in einem offenen, ausgefegten Kamin. Daneben stehen Blumen und eine Schale mit Obst. Kalil schläft, sein Kopf unter der Weichheit eines Flügels.

Malcolm schläft. Seine stahlgerahmte Brille, die er nicht braucht – die Gläser sind ungeschliffen –, liegt geöffnet auf dem Tisch. Er schläft auf dem Rücken, seine Nase zieht durch die Traumwelt wie ein Kiel. Diese Nase, die Nase seiner Mutter oder zumindest eine Kopie der Nase seiner Mutter, ist wie ein theatralisches Requisit, eine merkwürdige Verzierung, die ihm ins Gesicht geklebt wurde. Sie ist das Erste, was einem an ihm auffällt. Das Erste, was man an ihm mag. Die Nase ist in gewissem Sinne ein Zeichen von Lebenslust. Es ist eine große Nase, die man nicht verstecken kann. Außerdem hat er schlechte Zähne.

An den Spitzen der vier steinernen Türme, die Gaudi unvollendet ließ, werden durch das Licht langsam goldene Inschriften sichtbar, zu blass, um sie entziffern zu können. Es scheint keine Sonne. Es herrscht nur weiße Stille. Sonntagmorgen, der frühe Morgen Spaniens. Dunst bedeckt die Hügel um die Stadt. Die Geschäfte sind geschlossen.

Nico ist nach ihrem Bad auf die Terrasse hinausgetreten. Das Handtuch ist um sie geschlungen, Wasser glänzt noch auf ihrer Haut.

»Es ist bewölkt«, sagt sie. »Kein guter Tag, um ans Meer zu fahren.«

Malcolm sieht auf. »Es kann noch aufklaren«, sagt er.

Es ist Morgen. Villa-Lobos läuft auf dem Plattenspieler. Der Käfig steht auf einem Hocker in der Balkontür. Malcolm lehnt sich in einen Liegestuhl und isst eine Orange. Er ist verliebt in die Stadt. Er fühlt sich mit ihr tief verbunden, zum einen durch eine Geschichte von Paul Morand, und dann wegen einer Begebenheit, die sich vor Jahren in Barcelona zutrug: Eines Abends bei Einbruch der Dunkelheit wurde Antonio Gaudi, der mysteriöse, zerbrechliche, sogar heiligenähnliche große Architekt dieser Stadt, auf seinem Weg zur Kirche von einer Straßenbahn angefahren. Er war sehr alt, mit weißem Bart, weißem Haar, er trug die einfachste Kleidung. Niemand erkannte ihn. Er lag auf der Straße, und es gab nicht einmal ein Taxi, um ihn ins Krankenhaus zu fahren. Schließlich wurde er ins Armenspital gebracht. Er starb an dem Tag, als Malcolm geboren wurde.

Die Wohnung liegt an der Avenida General Mitre, und ihr Schneider, wie Nico ihn nennt, ist nahe der Kathedrale von Gaudi am anderen Ende der Stadt. In einem Arbeiterviertel, schwacher Abfallgeruch hängt in der Luft. Der Platz ist von Mauern umgeben. In das Trottoir sind vierblättrige Kleeblätter gestanzt. Hoch oben, über allem schwebend, die Türme der Kathedrale. Sanctus, sanctus, rufen sie. Sie sind hohl. Die Kathedrale ist nie fertiggestellt worden, ihre Türen führen in beiden Richtungen ins Freie. Malcolm ist an den ruhigen Abenden Barcelonas oft um dieses leere Bauwerk herumgegangen. Er hat mehr oder minder wertlose Pesetascheine in den Schlitz mit der Aufschrift spenden für die fortsetzung der arbeiten gesteckt. Es scheint, als fielen sie auf der anderen Seite einfach auf den Boden, oder als würden sie – er hört genauer hin – von einem Priester mit Brille in eine Holzkiste geschlossen.

Malcolm glaubt an Malraux und Max Weber: In der Kunst liegt die wahre Geschichte der Nationen. In seinen eigenen Charakterzügen gibt es Hinweise auf einen nicht abgeschlossenen Prozess. Es geht darum, den Menschen zu einem wahren Instrument zu machen. Er bereitet sich auf die Ankunft jenes großen Künstlers vor, der er eines Tages sein wird, wie er hofft, ein Künstler im wahren, modernen Sinne, das heißt ohne Fähigkeiten, aber überzeugt vom eigenen Genie. Ein Künstler, der sich von den Anforderungen des Handwerks befreit hat, ein Künstler der Konzepte, des Großmuts, sein Werk ist die Erschaffung der eigenen Legende. Solange er auch nur einen einzigen Bewunderer hat, kann er an die Würde dieses Konzepts glauben.

Er ist glücklich hier. Er mag die breiten baumkühlen Alleen, die Restaurants, die langen Abende. Er ist tief versunken im Strom eines langsamen Lebens zu zweit.

Nico tritt in einem strohfarbenen Pullover auf die Terrasse.

»Hättest du gern einen Kaffee?«, sagt sie. »Soll ich dir unten einen holen?«

Er überlegt einen Moment.

»Ja«, sagt er.

»Wie willst du ihn?«

»Solo«, sagt er.

»Schwarz.«

Sie tut das gerne. Das Haus hat einen kleinen Aufzug, der langsam heraufkommt. Als er oben ist, steigt sie ein und schließt sorgfältig die Tür hinter sich. Dann fährt sie genauso langsam hinunter, Etage um Etage, als wären es Jahrzehnte. Sie denkt an Malcolm. Sie denkt an ihren Vater und seine zweite Frau. Sie ist wahrscheinlich intelligenter als Malcolm, beschließt sie. Sie hat mit Sicherheit einen stärkeren Willen. Er hingegen sieht auf eigenwillige Art besser aus. Sie hat einen breiten, ausdruckslosen Mund. Malcolm ist großzügig. Sie weiß, dass sie ein wenig spröde ist. Sie kommt am zweiten Stockwerk vorbei. Sie betrachtet sich im Spiegel. Natürlich entdeckt man diese Dinge nicht sofort. Es ist wie in einem Theaterstück, sie entfalten sich langsam, Szene um Szene verändert sich die Wirklichkeit der anderen Person. Aber pure Intelligenz ist sowieso nicht so wichtig. Sie ist etwas Abstraktes. Sie schließt dieses grausame, intuitive Wissen, wie man das neue Leben – ein Leben, das ihr Vater niemals verstehen würde – leben sollte, nicht ein. Malcolm hat es.

Um zehn Uhr dreißig klingelt das Telefon. Auf dem Sofa liegend nimmt sie den Hörer ab und spricht auf Deutsch. Als sie auflegt, ruft Malcolm ihr zu: »Wer war das?«

»Hast du Lust, an den Strand zu fahren?«

»Ja.«

»Inge kommt in ungefähr einer Stunde vorbei«, sagt Nico.

Er hat von ihr gehört und ist neugierig. Zudem besitzt sie ein Auto. Der Morgen verändert sich langsam, ganz nach seinen Wünschen. Auf der Allee unten hört man den ersten Verkehr. Die Sonne bricht für einen Moment hervor, verschwindet, bricht wieder hervor. Weit fort, fern seinen Gedanken, bewegen sich die vier Türme zwischen Schatten und Herrlichkeit. Wenn die Sonne darauf scheint, werden weit oben die Buchstaben sichtbar: Hosanna.

Gegen Mittag erscheint Inge, mit lächelndem Gesicht. Sie trägt einen camelfarbenen Rock und eine Bluse, die oberen Knöpfe sind offen. Sie ist für den Rock, der sehr kurz ist, ein wenig zu stämmig. Nico stellt sie einander vor.

»Warum hast du gestern Abend nicht angerufen?«, fragt Inge.

»Wir wollten, aber dann ist es so spät geworden. Wir haben erst um elf gegessen«, erklärt Nico. »Ich war sicher, du seist ausgegangen.«

Nein. Sie hat zu Hause die ganze Nacht darauf gewartet, dass ihr Freund anruft, sagt Inge. Sie fächert sich mit einer Ansichtskarte von Madrid Luft zu. Nico ist ins Schlafzimmer gegangen.

»Das sind alles Schweine«, sagt Inge. Sie spricht lauter, damit man sie hört. »Er sollte um acht Uhr anrufen. Um zehn hat er sich gemeldet. Er hat keine Zeit zu reden. Er ruft gleich noch mal an. Na ja, er hat sich nicht mehr gemeldet. Schließlich bin ich eingeschlafen.«

Nico zieht sich einen hellgrauen, schmal plissierten Faltenrock und einen zitronengelben Pullover an. Sie betrachtet sich von hinten im Spiegel. Ihre Arme sind bloß. Inge spricht in dem zur Straße gelegenen Zimmer weiter.

»Sie haben keine Manieren, das ist das Problem. Sie haben keine Ahnung. Sie gehen in den Polo-Club, das ist das Einzige, was sie können.«

Sie wendet sich an Malcolm.

»Wenn man mit jemandem ins Bett geht, kann man sich doch hinterher zumindest vernünftig benehmen. Hier nicht. Kein Respekt vor den Frauen!«

Sie hat grüne Augen und weiße ebenmäßige Zähne. Er überlegt sich, wie es wäre, einen solchen Mund zu haben. Ihr Vater ist angeblich Chirurg. In Hamburg. Nico sagt, das sei nicht wahr.

»Das sind Kinder hier«, sagt Inge. »In Deutschland achten sie dich heutzutage wenigstens ein bisschen. Die Männer behandeln einen nicht so wie hier, sie wissen, was sich gehört.«

»Nico«, ruft er.

Sie kommt herein, bürstet sich das Haar.

»Ich mach ihm Angst«, erklärt Inge. »Weißt du, was ich schließlich getan habe? Ich hab ihn um fünf Uhr morgens angerufen. Warum hast du nicht angerufen?, sage ich. Ich weiß nicht, sagt er – ich konnte hören, dass er geschlafen hatte – wie spät ist es? Fünf Uhr, sage ich. Bist du sauer auf mich? Ein bisschen, sagt er. Gut, ich bin nämlich auch sauer auf dich. Peng, hab ich aufgelegt.«

Nico schließt die Tür zum Balkon und bringt den Käfig herein.

»Es ist warm«, sagt Malcolm, »lass ihn da draußen. Er braucht Sonnenlicht.«

Sie sieht in den Käfig.

»Ich glaub, ihm geht es nicht gut«, sagt sie.

»Er ist okay.«

»Der andere ist letzte Woche gestorben«, erklärt sie Inge. »Ganz plötzlich. Er war nicht mal krank.«

Sie schließt einen Türflügel und lässt den anderen offen. Der Vogel sitzt im mittlerweile strahlenden Sonnenschein, gefiedert, heiter.

»Ich glaub nicht, dass sie alleine leben können«, sagt sie.

»Dem geht es gut«, versichert Malcolm ihr. »Sieh ihn dir an.«

Die Sonne bringt seine Farben zum Leuchten. Er sitzt auf der obersten Stange. Seine Augen haben vollkommen runde Lider. Er blinzelt.

Der Fahrstuhl ist noch auf ihrem Stockwerk. Inge betritt ihn als Erste. Malcolm zieht die schmalen Türen zu. Es ist, als schließe man einen kleinen Schrank. Sie fahren abwärts, die Gesichter dicht beieinander. Malcolm sieht Inge an. Sie ist in Gedanken versunken.

Sie gehen auf einen weiteren Kaffee in die kleine Bar unten im Haus. Er hält ihnen die Tür auf. Es ist niemand da – nur ein Mann, der Zeitung liest.

»Ich glaube, ich ruf ihn noch mal an«, sagt Inge.

»Frag ihn, warum er dich heut Morgen um fünf Uhr geweckt hat«, sagt Malcolm.

Sie lacht. »Ja«, sagt sie. »Wunderbar. Das werd ich machen.«

Das Telefon ist am anderen Ende der marmornen Theke, aber Nico redet mit ihm, und er kann nichts verstehen.

»Interessiert dich das nicht?«, fragt er.

»Nein«, sagt sie.

Inges Auto ist ein blauer Volkswagen, ein Blau wie das bestimmter Luftpostumschläge. Ein Kotflügel ist eingedellt.

»Du hast mein Auto ja noch nicht gesehen«, sagt sie. »Was hältst du davon? Meinst du, das war ein guter Kauf? Ich verstehe nichts von Autos. Das ist mein erstes. Ich hab es jemandem, den ich kenne, abgekauft, einem Maler, aber er hatte schon einen Unfall damit. Der Motor hat gebrannt.«

»Ich kann zwar fahren«, sagt sie. »Aber es ist besser, wenn jemand neben mir sitzt. Kannst du fahren?«

»Sicher«, sagt er.

Er setzt sich ans Steuer und lässt den Motor an. Nico sitzt hinten.

»Na, was meinst du?«, sagt Inge.

»Sag ich dir gleich.«

Obwohl es erst ein Jahr alt ist, wirkt das Auto ein wenig heruntergekommen. Der Stoff an der Decke ist ausgeblichen. Selbst das Lenkrad kommt ihm mitgenommen vor. Nachdem sie ein paar Häuserblocks gefahren sind, sagt Malcolm: »Scheint in Ordnung zu sein.«

»Ja?«

»Die Bremsen sind ein bisschen schwach.«

»Wirklich?«

»Ich glaube, sie brauchen neue Beläge.«

»Ich hab es erst kürzlich abschmieren lassen«, sagt sie.

Malcolm sieht sie an. Sie scheint es ernst zu meinen.

»Bieg hier nach links ab«, sagt sie.

Sie dirigiert ihn durch die Stadt. Mittlerweile gibt es ein wenig Verkehr, aber sie kommen gut durch. Viele Kreuzungen in Barcelona weiten sich zu großen achteckigen Plätzen. Es gibt nur wenige rote Ampeln. Sie fahren durch riesige Wohnviertel mit alten, hohen Häusern, vorbei an Fabriken, an den ersten leeren Feldern am Stadtrand. Inge dreht sich auf dem Vordersitz zu Nico um.

»Ich hab die Nase voll von hier«, sagt sie. »Ich würde gern nach Rom gehen.«

Sie kommen am Flughafen vorbei. Die Straße zum Meer ist überfüllt. Der ganze über die Stadt verteilte Verkehr läuft hier zusammen, Busse, Laster, unzählige Kleinwagen.

»Nicht mal fahren können sie«, sagt Inge. »Was machen die nur? Kannst du nicht überholen? – Na los«, sagt sie. Sie greift hinüber, um zu hupen.

»Das hat keinen Zweck«, sagt Malcolm.

Inge hupt erneut.

»Es geht nicht schneller.«

»Die machen mich wahnsinnig«, ruft sie.

Zwei Kinder im vorderen Auto haben sich umgedreht. Ihre Gesichter sind blass und durch die Heckscheibe verspiegelt.

»Warst du schon mal in Sitges?«, sagt Inge.

»In Cadaques.«

»Ah«, sagt sie. »Ja, schön da. Man muss aber jemanden mit einer Villa kennen.«

Die Sonne ist weiß. Das Land liegt strohfarben in ihrem Licht. Die Straße verläuft parallel zur Küste, entlang billiger Badestrände, vorbei an Campingplätzen, Häusern, Hotels. Zwischen der Straße und dem Meer liegen die Eisenbahngeleise mit kleinen Unterführungen für die Badegäste, um ans Meer zu kommen. Nach einer Weile verschwindet all das. Sie kommen an fast verlassenen Küstenstrecken vorbei.

»In Sitges«, sagt Inge, »versammeln sich sämtliche blonden Mädchen von Europa. Schweden, Deutschland, Holland. Ihr werdet sehen.«

Malcolm sieht auf die Straße.

»Die braunen Augen der Spanier haben es ihnen angetan«, sagt sie.

Sie greift hinüber, um zu hupen.

»Sieh sie dir an! Kriechen tun sie!«

»Sie kommen voller Hoffnungen hierher«, sagt Inge. »Sparen ihr Geld, kaufen sich Badeanzüge so groß wie ein Daumennagel, und was passiert? Vielleicht werden sie eine Nacht geliebt, das war’s. Die Spanier haben keine Ahnung, wie man Frauen behandelt.«

Nico sitzt still auf dem Rücksitz. Ihr Gesicht hat diesen ruhigen Ausdruck, der bedeutet, dass sie sich langweilt.

»Sie wissen nichts«, sagt Inge.

Sitges ist ein kleines Städtchen mit feuchten Hotels, den grünen Fensterläden und dem ausgedörrten Rasen eines Badeortes. Überall sind Autos geparkt. Die Straßen sind gesäumt von ihnen. Schließlich finden sie zwei Blocks vom Strand entfernt eine Parklücke.

»Schließ es gut ab«, sagt Inge.

»Den wird schon keiner klauen«, sagt Malcolm.

»Also gefällt er dir doch nicht so gut«, sagt sie.

Sie gehen über das Trottoir, dessen Oberfläche von der Hitze aufgeworfen scheint. Sie sind umgeben von den flachen, schmucklosen Fassaden zu dicht aneinandergebauter Häuser. Trotz der Autos ist der Ort merkwürdig verlassen. Es ist zwei Uhr. Alle sind beim Mittagessen.

Malcolm hat eine Badehose aus fester Baumwolle, die blaue glänzende Baumwolle der Tuareg. Vorne hat sie einen kleinen fingerbreiten Gürtel. Er fühlt sich stark, als er sie anzieht. Er hat den Körper eines Läufers, einen makellosen Körper, den Körper eines Märtyrers in einem flämischen Gemälde. Die Adern liegen wie Kordeln unter der Haut seiner Arme und Beine. Die Rückwände der Kabinen sind aus Beton, auf dem Boden liegen Bastmatten. Seine Kleider hängen formlos an einem Haken. Er tritt auf den Gang. Die Frauen ziehen sich noch um, er weiß nicht, hinter welcher Tür. An einem Nagel ist ein kleiner Spiegel angebracht. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar und wartet. Draußen ist die Sonne.

Im flachen Wasser liegen Kiesel, die so scharf wie Nägel sind. Malcolm geht als Erster hinein. Nico folgt ihm wortlos. Das Wasser ist kühl. Er spürt, wie es seine Beine hochklettert, den Rand seiner Badehose berührt und ihn dann mit einer Woge – er versucht, hoch genug zu springen – umschließt. Er springt kopfüber hinein. Er taucht lächelnd auf. Salzgeschmack ist auf seinen Lippen. Nico ist auch untergetaucht. Sie kommt ganz in seiner Nähe hoch, langsam, und streicht sich ihr nasses Haar mit einer Hand aus dem Gesicht. Sie steht mit halb geschlossenen Lidern da, ohne genau zu wissen, wo sie ist. Er legt einen Arm um ihre Taille. Sie lächelt. Sie hat einen bestimmten untrüglichen Instinkt dafür, wann sie am schönsten ist. Einen Moment lang stehen sie weich aneinandergelehnt da. Er hebt sie auf die Arme und trägt sie, unterstützt von den Wellen, ins tiefere Wasser. Ihr Kopf lehnt an seiner Schulter. Inge liegt in ihrem Bikini am Strand und liest den Stern.

»Stimmt was nicht mit Inge?«, sagt er.

»Alles.«

»Nein, ich meine, will sie nicht reinkommen?«

»Sie hat ihre Tage«, sagt Nico.

Sie legen sich auf ihre Badetücher neben sie. Sie ist, wie Malcolm bemerkt, sehr braun. Nico wird nie so dunkel, egal wie lange sie in der Sonne bleibt. Es ist fast eine Art Starrsinn, als böte er ihr die Sonne an und sie nähme sie nicht.

Sie sei an einem einzigen Tag so braun geworden, erzählt Inge. An einem einzigen Tag! Es scheint unglaublich. Sie sieht auf ihre Arme und Beine, wie zur Bestätigung. Ja, so war’s. Nackt auf den Felsen von Cadaques. Sie sieht hinunter auf ihren Bauch, und dabei entstehen mehrere mädchenhafte Speckröllchen.

»Du wirst dick«, sagt Nico.

Inge lacht. »Das sind meine Ersparnisse«, sagt sie.

So sehen sie aus, wie Gürtel, wie Teile eines Kostüms, das sie trägt. Wenn sie sich zurücklegt, sind sie verschwunden. Ihr Körper ist glatt. Ihr Bauch ist wie ihr übriger Körper mit einem zarten goldenen Flaum bedeckt. Zwei spanische Jugendliche schlendern unten am Wasser vorbei.

Sie spricht zum Himmel. Wenn sie nach Amerika geht, sagt sie, lohnt es sich dann, das Auto mitzunehmen? Schließlich hat sie es sehr günstig bekommen, sie könnte es wahrscheinlich verkaufen und sogar noch etwas Geld damit machen.

»In Amerika gibt es massenweise Volkswagen«, sagt Malcolm. »Es ist voller deutscher Autos. Jeder da hat eines.«

»Sie gefallen ihnen also«, sagt sie. »Der Mercedes ist ein guter Wagen.«

»Der wird sehr bewundert«, sagt Malcolm.

»So einen hätt ich gerne. Gleich mehrere. Wenn ich Geld habe, wird das mein Hobby sein«, sagt sie. »Ich würde gerne in Tanger leben.«

»Schöner Strand dort.«

»Ja? Ich würde schwarz wie ein Neger werden.«

»Da kannst du dich aber nicht nackt sonnen.«

Inge lächelt.

Nico scheint zu schlafen. Sie liegen schweigend da, die Füße zur Sonne gerichtet. Sie hat ihre Kraft verloren. Es gibt nur noch vorübergehende Momente von Wärme, wenn der Wind völlig erstirbt und die Sonne direkt auf ihre Körper fällt, schwach, aber flutend. Die Stunde der Melancholie nähert sich, die Stunde, wenn alles vorbei ist.

Um sechs Uhr setzt sich Nico auf. Ihr ist kalt.

»Komm«, sagt Inge. »Lass uns am Strand spazierengehen.«

Sie besteht darauf. Die Sonne ist noch nicht untergegangen. Sie wird ausgelassen.

»Komm«, sagt sie, »es ist der gute Teil, da stehen all die großen Villen. Wir gehen vorbei und beglücken die alten Männer.«

»Ich will niemanden beglücken«, sagt Nico und verschränkt die Arme.

»So einfach ist das gar nicht«, versichert ihr Inge.

Nico geht mürrisch mit. Sie umfasst ihre Ellbogen. Der Wind kommt vom Land. Auf dem Meer sind jetzt kleine Wellen, die sich still zu brechen scheinen. Das Geräusch ist weich, wie vergessen. Nico trägt einen grauen Badeanzug mit freiem Rücken, und während Inge vor den Häusern der Reichen herumturnt, blickt sie auf den Sand.

Inge geht ins Wasser. Komm, sagt sie, es ist warm. Sie lacht und ist glücklich, ihre Heiterkeit ist stärker als die Stunde, stärker als die Kälte. Malcolm folgt ihr langsam. Das Wasser ist warm. Es scheint auch klarer. Und niemand darin, in beiden Richtungen, so weit das Auge reicht. Sie baden allein. Die Wellen steigen und heben sie sanft in die Höhe. Das Wasser fließt über sie und wäscht ihre Seele.

Am Eingang der Kabinen stehen die jungen spanischen Burschen, um einen Blick zu erhaschen, falls die Duschkabinentür zu früh geöffnet wird. Sie tragen blaue Wollbadehosen. Auch schwarze. Ihre Füße scheinen sehr lange Zehen zu haben. Es gibt nur eine Dusche mit einem einzigen, weiß gestrichenen Duschhahn. Das Wasser ist kalt. Inge geht als Erste hinein. Ihr Bikini erscheint – zuerst ein kleines Teil, dann das andere –, sie hängt ihn über die Tür. Malcolm wartet. Er kann das weiche Klatschen und das Streichen ihrer Hände hören, das plötzliche Aufschlagen des Wassers auf dem Beton, als sie zur Seite tritt. Die Jungen an der Tür erheitern ihn. Er sieht nach draußen. Sie sprechen mit leisen Stimmen. Sie schubsen einander, feixen, tun so, als wäre es ein Spiel.

Die Straßen von Sitges haben sich verändert. Die Glocke, die den Abend ankündigt, hat geschlagen, und überall schlendern Gruppen von Menschen. Es ist schwer zusammenzubleiben. Malcolm hat um beide einen Arm gelegt. Sie reagieren auf seine Bewegungen wie Pferde. Inge lächelt. Die Leute werden denken, dass sie es zu dritt tun, sagt sie.

Sie gehen in ein Café. Kein gutes Café, beschwert sich Inge.

»Es ist das beste«, sagt Nico schlicht. Es ist eine ihrer Begabungen, dass sie, wo immer sie hingeht, auf einen Blick sagen kann, welches Café das richtige ist, welches Restaurant, welches Hotel.

»Nein«, sagt Inge beharrlich.

Nico scheint es nicht zu kümmern. Sie gehen jetzt getrennt, und Malcolm flüstert: »Was sucht sie denn?«

»Weißt du das nicht?«, sagt Nico.

»Siehst du diese Jungen?«, sagt Inge. Sie sitzen in einem anderen Café, einer Bar. Überall um sie herum – gebräunte Glieder, von langen, glühenden Nachmittagen geblichenes Haar – sitzen junge Männer, das süße Starren des Nichtstuns im Gesicht.

»Sie haben kein Geld«, sagt sie. »Keiner von ihnen könnte dich zum Essen einladen. Kein einziger. Sie haben nichts. Das ist Spanien«, sagt sie.

Nico wählt das Restaurant, in dem sie zu Abend essen. Sie hat das Gefühl, an diesem Tag zu einer unbedeutenderen Person geworden zu sein. Die Gegenwart dieser Freundin, dieses Mädchens, mit der sie in den Tagen, als sie beide versuchten, sich in der Stadt zurechtzufinden, kurz zusammengewohnt hatte – als sie noch niemanden kannte, nicht einmal die Straßennamen, und sie so krank wurde, dass sie gemeinsam ihrem Vater telegrafierten – sie hatten kein Telefon –, dieses plötzliche Erscheinen von Inge scheint ihrer Vergangenheit die Würde zu nehmen. Ganz plötzlich wird sie von der Gewissheit geplagt, dass Malcolm sie verachtet. Ihre Sicherheit, ohne die sie nichts ist, scheint verschwunden zu sein. Das Tischtuch wirkt weiß und blendend. Es scheint sie drei unerbittlich anzustrahlen. Die Messer und Gabeln sind wie chirurgische Instrumente ausgelegt. Die Teller stehen kalt vor ihnen. Sie ist nicht hungrig, aber sie wagt nicht, das Essen abzulehnen. Inge spricht von ihrem Freund.

»Er ist schrecklich«, sagt sie. »Er ist herzlos. Aber ich verstehe ihn. Ich weiß, was er will. Eine Frau kann sowieso nie hoffen, alles für einen Mann zu sein. Das wäre nicht natürlich. Ein Mann muss mehrere Frauen haben.«

»Du bist verrückt«, sagt Nico nüchtern.

»Aber es stimmt.«

Die Aussage reicht, um ihr alle Kraft zu nehmen. Malcolm untersucht sein Uhrarmband. Er ist so dumm, denkt sie. Dieses Mädchen kommt aus einfachen Verhältnissen, und er findet das interessant. Sie glaubt, weil die Männer mit ihr ins Bett gehen, würden sie sie heiraten. Natürlich nicht. Niemals. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein, denkt Nico, obwohl sie, während sie dies denkt, weiß, dass sie vielleicht unrecht hat.

Sie gehen für den Kaffee zu Chez Swann. Nico setzt sich nicht zu ihnen. Sie ist müde, sagt sie. Sie rollt sich auf einem Sofa zusammen und schläft ein. Sie ist erschöpft. Der Abend ist kühl geworden.

Eine Stimme weckt sie, Musik, eine wunderbare Stimme zwischen einzelnen Gitarrensätzen. Nico hört sie im Schlaf und setzt sich auf. Malcolm und Inge unterhalten sich. Das Lied ist wie etwas lang Ersehntes, etwas, nach dem sie gesucht hat. Sie rückt an ihn heran und berührt seinen Arm.

»Hör doch«, sagt sie.

»Was?«

»Das Lied«, sagt sie. »Maria Pradera.«

»Maria Pradera?«

»Der Text ist wunderschön«, sagt Nico.

Einfache Sätze. Sie wiederholt sie wie eine Litanei. Geheimnisvolle Wiederholungen: schwarzhaarige Mutter … schwarzhaariges Kind. Die Ausdruckskraft der Armen, glatt geschliffen und rein wie ein Kiesel.

Malcolm hört geduldig zu, aber er versteht nichts. Sie kann es sehen: Er hat sich verändert. Während sie geschlafen hat, ist er vergiftet worden, mit Geschichten über ein hässliches Spanien, nach und nach ist er damit gefüttert worden, bis sie in seinen Venen zirkulieren, ein Spanien aus der Vorstellung einer Frau, die weiß, dass sie niemals mehr als nur ein Teil von dem sein kann, was ein Mann braucht. Inge ist ruhig. Sie glaubt an sich. Sie glaubt an ihr Recht, zu leben, zu bestimmen.

Die Straße ist dunkel. Sie haben das Verdeck geöffnet, eine Nacht so dicht von Sternen, dass sie sich ins Auto zu ergießen scheinen. Nico, auf dem Rücksitz, hat Angst. Inge redet. Sie greift ins Steuer, um Autos anzuhupen, die zu langsam fahren. Malcolm lacht darüber. In Barcelona gibt es Zimmer, in denen Inge mit ihrem Geliebten an Winternachmittagen vor einem warmen, prasselnden Feuer saß. Es gibt Häuser, in denen sie auf Felldecken miteinander geschlafen haben. Natürlich, damals war er nett. In ihrer Vorstellung sah sie sich im Polo-Club, bei Dinnerpartys in den besten Häusern.

Die Straßen der Stadt sind fast verlassen. Es ist kurz vor Mitternacht, Sonntagmitternacht. Der Tag in der Sonne hat sie ermüdet, das Meer hat ihnen die Kraft genommen. Sie fahren zur Avenida General Mitre und sagen einander durch das Autofenster gute Nacht. Der Aufzug fährt sehr langsam hinauf. Schweigen hängt an ihnen. Sie sehen auf den Boden wie Spieler, die verloren haben.

Die Wohnung ist dunkel. Nico macht Licht und verschwindet dann. Malcolm wäscht sich die Hände. Er trocknet sie. Die Zimmer wirken sehr still. Er beginnt sie langsam zu durchwandern und findet Nico auf den Knien in der Tür zur Terrasse, als wäre sie gestürzt.

Malcolm sieht auf den Käfig. Kalil liegt auf dem Boden.

»Gib ihm ein bisschen Brandy. Auf einem Zipfel Taschentuch«, sagt er.

Sie hat die Käfigtür geöffnet.

»Er ist tot«, sagt sie.

»Lass mich mal sehen.«

Er ist steif. Die kleinen Füße sind zusammengerollt und trocken wie Zweige. Er wirkt irgendwie leichter. Der Atem hat seine Federn verlassen. Ein Herz, nicht größer als ein Orangenkern, hat aufgehört zu schlagen. Der Käfig steht leer im kalten Türeingang. Es scheint, als gäbe es nichts zu sagen. Malcolm schließt die Tür.

Später im Bett lauscht er ihrem Schluchzen. Er versucht, sie zu trösten, aber er kann es nicht. Sie kehrt ihm den Rücken zu. Sie antwortet nicht.

Sie hat kleine Brüste und große Brustwarzen. Außerdem, wie sie selber sagt, einen ziemlich dicken Hintern. Ihr Vater hat drei Sekretärinnen. Hamburg liegt nah am Meer.