image
Image

Der Autor:

Dr. phil. Ralf Lisch (* 1951) studierte Soziologie mit Schwerpunkt Organisations- und Personalwesen sowie Statistik und Sozialforschung in Deutschland und den USA. Nach einer Karriere in akademischer und angewandter Forschung war er mehrere Jahrzehnte in leitenden Positionen im In- und Ausland tätig und kennt sich im Management bestens aus. Heute ist er in Singapur zu Hause, wo er als freier Autor und Consultant tätig ist. Ralf Lisch hat zahlreiche Bücher und Zeitschriftenartikel zu wissenschaftlichen wie populären Themen veröffentlicht.

Das Buch: Spätestens seit der TV-Serie Stromberg ahnt auch das gemeine Volk, dass es sich bei der glorreichen Welt des Managements um eine Mogelpackung handelt. Denn wenn sich Manager auf rationale Entscheidungen berufen und auf Betriebswirtschaftslehre oder gar Logik verweisen, folgt das Geschehen in Wahrheit meist den Regeln von Psychologie und Soziologie. Wenn man aber erst einmal realisiert hat, dass manches, was Manager als Kompetenz verkaufen, ein Mythos ist und eher Status, Karrieredenken oder Eitelkeit die treibenden Motivationen sind, dann können Geschichten aus dem Management recht unterhaltsam sein. Der Autor hat die besten aufgezeichnet. Das Ergebnis ist eine ironische Breitseite gegen Überheblichkeit und Standesdünkel im Management.

RALF LISCH

INKOMPETENZ- KOMPENSATIONS- KOMPETENZ

WIE MANAGER WIRKLICH TICKEN

GESCHICHTEN

Image
Image

1. Guido Eckert: Zickensklaven. Wenn Männer zu sehr lieben Solibro 2009; ISBN 978-3-932927-43-0; (eBook:) 978-3-932927-59-1

2. Peter Wiesmeier: Ich war Günther Jauchs Punching-Ball! Ein Quizshow-Tourist packt aus. Solibro 2010 (vgl. Nr. 7)

3. Guido Eckert: Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft. Wie Sie garantiert weise werden. Solibro 2010 ISBN 978-3-932927-47-8 (Druck) 978-3-932927-60-7 (eBook)

4. Maternus Millett: Das Schlechte am Guten. Weshalb die politische Korrektheit scheitern muss. Solibro 2011 ISBN 978-3-932927-46-1 (Druck) 978-3-932927-61-4 (eBook)

5. Frank Jöricke: Jäger des verlorenen Zeitgeists. Frank Jöricke erklärt die Welt. Solibro 2013 ISBN 978-3-932927-55-3 (Druck) 978-3-932927-62-1 (eBook)

6. Burkhard Voß: Deutschland auf dem Weg in die Anstalt. Wie wir uns kaputtpsychologisieren. Solibro 2015 ISBN 978-3-932927-90-4 (Druck) 978-3-932927-91-1 (eBook)

7. Peter Wiesmeier: Steh bei Jauch nicht auf dem Schlauch! Survival-Tipps eines Quizshow-Touristen Solibro 2016 (überarb. Aufl. des Reihentitels Nr. 2) ISBN 978-3-932927-09-6 (Druck) 978-3-932927-99-7 (eBook)

8. Ralf Lisch: Inkompetenzkompensationskompetenz Wie Manager wirklich ticken. Geschichten. Solibro 2016 ISBN 978-3-96079-013-6 (Druck) 978-3-96079-014-3 (eBook)

ISBN 978-3-96079-014-3

1. Auflage 2016 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2016
Alle Rechte vorbehalten.

Covergestaltung: Michael Rühle, Wolfgang Neumann

Titelbild: © Depositphotos.com/liukov; © Depositphotos.com/normalfx; Autorenfoto S. 2: privat

verlegt. gefunden. gelesen. www.solibro.de

Jeder sieht, was du zu sein scheinst;
Wenige merken, wie du beschaffen bist.

Niccolò Machiavelli

Alle Erzählungen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Unternehmen oder Begebenheiten sind nicht beabsichtigt und sollte es sie dennoch geben, so sind sie rein zufällig. Allerdings beweisen Ähnlichkeiten mit der Managementrealität die Relevanz der Erzählungen.

Inhalt

Executive Summary

Fokussierung

Hoffnungsträger

Planungssicherheit

Reorganisation

Wind im Gehirn

Vielflieger

Offene Worte

Q wie Qualität

Heldengedenkfeier

Denkmal

Epilog

Statt eines Vorworts:

Executive Summary

Erich Sixt, erfolgreicher Studienabbrecher der Betriebswirtschaftslehre und Vorstandsvorsitzender der Sixt SE, hat es einst auf den Punkt gebracht:

Die ganze Betriebswirtschaft basiert doch auf einem einzigen Axiom: dass der Mensch rational handelt. Aber er tut es nicht. Und deshalb können Sie das alles vergessen. 1

Wenn demnach der Kunde kein homo oeconomicus ist, so sollten es doch zumindest die sein, die für den Umgang mit den Kunden ausgebildet und gut bezahlt werden: die Führungspersönlichkeiten der Unternehmen. Doch dort sieht es keineswegs besser aus. Manager predigen zwar Vernunft, doch wenn es nicht so läuft wie erwartet, dann bezichtigen sie gerne andere der Unvernunft. Sie berufen sich auf sachliche Entscheidungen und verweisen auf Betriebswirtschaftslehre oder gar Logik, doch in Wahrheit folgt das Geschehen meist den Regeln von Psychologie und Soziologie. Tatsächlich sind es eher Status, Macht, Karriere, Eitelkeit und andere durchaus menschliche Motive und Eigenschaften, mit denen sich Managementprozesse treffend beschreiben und vorhersagen lassen.

Manager agieren also durchaus rational, nur ist die zugrunde liegende Ratio zumeist eine andere als die, die Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensinteresse vorgeben. Es geht um die elementare Kompetenz, die eigene Inkompetenz zu kompensieren.

Inkompetenzkompensationskompetenz – dieses Wortungetüm hat Odo Marquard einst anlässlich einer kritischen Würdigung des gegenwärtigen Standes der Philosophie geprägt.2 Da befinden sich Manager in guter Gesellschaft, denn mit diesem Begriff kann mindestens ebenso treffend die Situation im Management beschrieben werden.

Inkompetenzkompensationskompetenz ist die konsequente Fortsetzung des Peter-Prinzips, das besagt, dass in einer Hierarchie jeder Beschäftigte dazu tendiert, bis zur Stufe der eigenen Unfähigkeit aufzusteigen.3 Und dorthin gelangt nur und dort überlebt auch nur, wer die diskreten Regeln des Managements beherrscht und die Kompetenz besitzt, die eigene Inkompetenz und die der Kollegen systemkonform zu kompensieren.

Wenn man aber erst einmal realisiert hat, dass vieles, was Manager als Kompetenz verkaufen, ein Mythos ist (Stromberg lässt grüßen), dann können Geschichten aus dieser Welt äußerst unterhaltsam sein.

Wer selbst Managementerfahrung hat, dem wird in den folgenden zehn Erzählungen so manches bekannt vorkommen – auch wenn man es nur hinter vorgehaltener Hand zugeben mag. Und wer sich darin nicht selbst erkennt, der wird zumindest Kollegen oder Vorgesetzte wiedererkennen. Nur wer (noch) nicht zum Kreis der vermeintlich Auserwählten gehört, mag Zweifel hegen, ob die Erzählungen in diesem Buch eigentlich etwas mit der Realität zu tun haben. Zu sehr unterscheiden sie sich von dem Eindruck, den man bislang hatte.

Ein Manager, der sich ein Denkmal errichten möchte; ein Qualitätsmanagement mit messbaren, aber fragwürdigen Ergebnissen; eine Strategiediskussion, die sich im Kreis dreht; ein Budgetprozess mit zweifelhaften Erkenntnissen; pensionierte Manager, die noch einmal an den Ort ihrer Heldentaten zurückkehren – worüber die folgenden Geschichten berichten, klingt alles sehr vertraut und merkwürdig zugleich.

Das macht es erforderlich festzustellen, dass alle Erzählungen der Realität entsprechen – und doch frei erfunden sind. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten oder Unternehmen, lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und sollte es sie dennoch geben, so sind sie zufällig. Allerdings beweisen Ähnlichkeiten mit der Managementrealität die Relevanz der Erzählungen.

Nun sollte allerdings niemand versuchen, die Merkwürdigkeiten, die sich da auftun, ändern zu wollen. Es wäre vergebens und würde nur zu Enttäuschungen führen. Denn die Mechanismen, die hier beschrieben werden, sind systemimmanent. Man sollte sie jedoch kennen und verstehen, denn das eröffnet eine Perspektive, die es erlaubt darüber zu lachen. Genau dieses Lachen erleichtert ein Leben und Überleben im Management ganz ungemein.

1 Erich Sixt: „Maximale Aufmerksamkeit ist das Ziel“. In: Handelsblatt, 12.8.2008

2 Odo Marquard: „Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie“. Vortrag im Kolloquium „Philosophie – Gesellschaft – Planung“, Hermann Krings zum 60. Geburtstag, am 28.9.1973 in München. http://geb.unigiessen.de/ geb/volltexte/2013/9769

3 Laurence J. Peter, Raymond Hull: The Peter Principle: Why things always go wrong. New York 1969

Fokussierung

Einmal im Jahr schickte die Labora GmbH ihre Manager zum Managementtraining. Diese jährlichen Schulungen wurden allgemein als großer Erfolg betrachtet, denn sie boten allen Beteiligten erhebliche Vorteile. Die Labora hatte sich auf diesem Wege zu Recht den Ruf eines erfolgs- und zukunftsorientierten – kurz: eines modernen – Unternehmens erworben, das sich stets auf Augenhöhe mit den jüngsten Entwicklungen im Management befand.

Da von der Geschäftsführung der Labora stets nur ein Mitglied zum Training erschien, das dann aber nach einem Grußwort und einer Tasse Kaffee schon bald wieder ging, boten die Seminare die Gelegenheit, eindrucksvoll zu demonstrieren, dass die Unternehmensleitung ein derartiges Training nicht nötig hatte. Das war für alle Beteiligten durchaus nachvollziehbar, denn immerhin hatten diese Damen und Herren bereits die oberste Führungsebene erreicht, was jedoch kaum möglich gewesen wäre, wenn sie Schulungsbedarf gehabt hätten.

Genau diese grundlegende Erkenntnis bestärkte wiederum die Manager, die am jährlichen Training teilnahmen, in ihrer Überzeugung, dass sie dort etwas lernen, was ihnen auf dem weiteren Weg nach oben von Nutzen sein würde. So war es nur allzu verständlich, dass es inzwischen als Auszeichnung galt, zu diesen Seminaren eingeladen zu werden, und es wäre niemandem in den Sinn kommen, die Einladung abzulehnen, was allerdings ohnehin nicht vorgesehen war.

Das Human Resources Department und insbesondere Frau Schön als dessen Leiterin sahen wiederum in den Fortbildungsveranstaltungen eine willkommene Gelegenheit zu demonstrieren, dass ihre Abteilung keineswegs nur für Gehaltsabrechnungen, Personalstatistiken und Urlaubsanträge zuständig war. Nein, was da gemeinhin – und meistens eher despektierlich, wie Frau Schön gelegentlich bedauernd feststellte – als Personalabteilung bezeichnet wurde, war bei näherer Betrachtung die treibende Kraft hinter dem großen Erfolg der alljährlichen Managementtrainings. Davon war Frau Schön überzeugt und in dieser Überzeugung fühlte sie sich auch immer wieder durch die zahlreichen Managementtrainer bestärkt, die mit der Labora inzwischen in engem Kontakt standen und Frau Schöns Offenheit gegenüber neuen Entwicklungen im Management und entsprechenden Seminarthemen außerordentlich zu schätzen wussten.

So war das jährlich stattfindende Managementtraining bei der Labora GmbH zu einer guten Tradition geworden und man hätte gar von einer perfekten Win-win-Situation sprechen können, wenn da nicht die Mitarbeiter gewesen wären, die jedes Mal, wenn die Manager von ihrem Training zurückkehrten und spontan begannen, ihr neu erworbenes Managementwissen in die Praxis umzusetzen, unter einer gewissen Orientierungslosigkeit litten. Diese nach jedem Training wiederkehrende Herausforderung wurde noch dadurch verstärkt, dass die Themen der Seminare von Jahr zu Jahr wechselten.

Vor zwei Jahren hatte das Thema gelautet: Auf die Helikopterperspektive kommt es an. Der Blick des Managers für das große Ganze, war als Untertitel hinzugefügt worden. Es war ein durchaus erfolgreiches Training gewesen. Die Manager hatten das Gelernte nach ihrer Rückkehr schnell in die Praxis umgesetzt und kümmerten sich fortan nicht mehr um Kleinigkeiten. Ja, sie hatten verstanden, dass es im Management auf die große Linie ankommt. Davon konnte die Beschäftigung mit Details nur ablenken. Mitarbeiter, die sich trotzdem mit unbedeutenden Kleinigkeiten und sonstigen Feinheiten an ihre Manager wandten, wurden umgehend belehrt: auf das große Ganze kommt es an!

In der Folgezeit hatte es dann allerdings einige unerwartete und leider auch unerwünschte Entwicklungen gegeben, die die Leitung der Labora zunächst noch als Kollateralschäden eines neuen Managementbewusstseins abgetan hatte. Ein paar Kleinigkeiten waren übersehen worden. Nun ja, das konnte passieren. Man konnte nicht alles sehen, wenn man von da oben aus dem Hubschrauber schaute. Aber die große Linie stimmte natürlich trotzdem. Zumindest anfangs. Erst als sich kritische Fälle häuften, war es selbst aus dem noch höher fliegenden Hubschrauber der Geschäftsleitung nicht länger zu übersehen, dass es da Verwerfungen gab im großen Ganzen. Frau Schön wurde deshalb gebeten, dieser Situation bei der Auswahl des nächsten Seminars Rechnung zu tragen und ein Thema zu wählen, das der unerwünschten Entwicklung entgegensteuern würde.

So trafen sich die Manager der Labora im folgenden Jahr zu einem Seminar unter dem Titel: Details nicht aus den Augen verlieren. Zum besseren Verständnis hatte Frau Schön auch diesmal einen Untertitel hinzugefügt. Der Blick des Managers für Feinheiten, stand dort und versprach ein interessantes Seminar. Die Geschäftsleitung konnte sich gemeinsam mit Frau Schön auch diesmal darauf verlassen, dass das Seminar ein Erfolg würde. Ein Paradigmenwechsel war vorhersehbar. Nach zwei Tagen intensiver Vorträge, Rollenspiele und anderer Übungen war allen Teilnehmern klar geworden, dass ein Manager sich den Blick für Details bewahren musste, wenn er nicht plötzliche Überraschungen erleben wollte. Aber natürlich durfte er sich nicht mit zu vielen oder gar mit allen Kleinigkeiten beschäftigen, sondern nur mit den wichtigen. Eine Antwort auf die Frage, wie man als Manager eigentlich erkennt, welche Details wichtig und welche unwichtig sind, war nicht im Seminarpreis enthalten und blieb weitgehend unbeantwortet. In der abschließenden Befragung zur Beurteilung des Seminars führte dies zu leichten Punktabzügen beim praktischen Nutzen, wodurch sich das Gesamturteil geringfügig verschlechterte und nur sehr gut statt exzellent lautete.

Die Mitarbeiter stellten verwundert fest, für welche Kleinigkeiten sich die Manager nach der Rückkehr vom Seminar plötzlich interessierten. Es waren Dinge, die bisher in den Händen der Mitarbeiter bestens aufgehoben waren. Doch nun waren sie unerwarteten Managementeinflüssen ausgesetzt, obwohl da doch nach ihrer Ansicht gar kein Handlungsbedarf bestand. Wer allerdings schon länger bei der Labora beschäftigt war, war mit den Auswirkungen von Managementseminaren vertraut und nahm es gelassen hin. Da war es auch irgendwie naheliegend, dass die Manager nicht nur einfach verstehen wollten, wie all die Details abliefen und zusammenhingen. Details nicht aus den Augen verlieren, hatte das Seminar geheißen und deshalb wollten sie nun mitreden. Immerhin waren sie Manager. Da wollten die Mitarbeiter, in deren Händen die Details bisher bestens aufgehoben waren, nicht länger im Wege stehen und überließen Detailentscheidungen in Zukunft ihren Managern.

Die Manager kompensierten ihre immer noch begrenzte Detailkompetenz durch ihre grenzenlose Durchsetzungskraft und trafen zunehmend fragwürdige Entscheidungen, deren Auswirkungen allerdings lange Zeit verborgen blieben, weil sich niemand für das große Ganze interessierte. Erst als die zunehmende Schieflage der Labora nicht mehr zu übersehen war, bat die Geschäftsführung Frau Schön um die Organisation des nächsten Managementseminars, das doch bitte schon bald stattfinden sollte. Man würde einfach mal vom jährlichen Rhythmus abweichen. Die Sache sei dringend.

Da traf es sich gut, dass Frau Schön gerade ein passendes Angebot von Dr. Trinkaus auf dem Tisch hatte. Fokus hieß der Titel und darunter stand: Der Blick für das Wesentliche. Dieses Seminar würde sich weder um das große Ganze noch um Details kümmern. Vielmehr würde es auf das Wesentliche fokussieren, sagte Dr. Trinkaus, der Frau Schön dieses Seminar aus seinem reichhaltigen Katalog mit Seminarangeboten empfahl. Er könne allerdings auch ein sehr interessantes Seminar anbieten unter dem Titel: Auf das große Ganze kommt es an. Oder wie es vielleicht mit einem Seminar zum Thema Detailkompetenz wäre? Auf Wunsch könne er auch alle drei Themen im Paket als Seminarreihe anbieten – zum Sonderpreis, wie er noch hinzufügte. Das hätte Frau Schön gerne früher gewusst, aber nun ging es ja weder um das große Ganze noch um Details, sondern um den Blick auf das Wesentliche. Dr. Trinkaus würde das Seminar selbst leiten.

Dr. Trinkaus hatte einst ein Studium der Betriebswirtschaftslehre absolviert und entgegen allen Vorhersagen seine Promotion nach vielen Jahren schließlich doch noch abgeschlossen. Gerade so, wie einige Beobachter anmerkten, aber immerhin. In Anbetracht der gezeigten Leistungen hatte sein Professor ihm allerdings schon früh den wohlmeinenden Rat gegeben, sich vom praktischen Management fernzuhalten. Dr. Trinkaus hatte sich deshalb direkt nach seiner Promotion bei einer bedeutenden Unternehmensberatung beworben, die ihn gerne einstellte, weil promovierte Berater ein höheres Honorar rechtfertigten. Die Klienten, die Dr. Trinkaus übernahm, hatten ihn dann allerdings nach ersten Erfahrungen mit seiner Beratungstätigkeit in seiner Idee unterstützt, ein eigenes Beratungsunternehmen zu gründen. Dr. Trinkaus hatte die ermutigenden Worte zu schätzen gewusst und machte sich schon bald selbstständig. Seine Hoffnung, die Kunden, die er bislang beraten hatte, auch für sein eigenes Unternehmen zu gewinnen, erfüllte sich dann aber doch nicht. Das konnte das Geschäft jedoch nicht beeinträchtigen. Im Gegenteil. Mit seiner professionell positiven Grundeinstellung und seinem stets optimistischen und jovialen Wesen gewann er schnell neue Kunden, und es war keineswegs überraschend, dass er schließlich auch bei der Labora Interesse an seinen Seminaren wecken konnte.

Nun stand Dr. Trinkaus selbstbewusst und mit einem optimistischen Lächeln im Trainingsraum seiner noch recht jungen und doch erfolgreichen Dr. Trinkaus Management Akademie. Vor ihm saß das Management der Labora und sah ihn erwartungsvoll an. Herr Ernst als Vertreter der Geschäftsführung hatte bereits ein Grußwort überbracht und einige Minuten referiert. Sein Thema war groß auf der Leinwand hinter ihm zu sehen: Was tun? Was tun! Es war eine überzeugende Aufforderung, die Geschicke der Labora nicht nur aktiv, sondern proaktiv voranzutreiben und dabei den richtigen Fokus zu entwickeln. Denn darauf käme es an. Fokus! So hatte Herr Ernst zum Abschluss seiner Einführung in das diesjährige Managementtraining es noch einmal bedeutungsschwanger auf den Punkt gebracht, und es schien fast so, als würde das Wort in der Dr. Trinkaus Management Akademie widerhallen: Fokus! Fokus!

Nun würde wohl auch der letzte Teilnehmer verstanden haben, dass hier eine kleine Revolution bevorstand. Ein Paradigmenwechsel sozusagen. Ein Wendepunkt in der Geschichte der Labora GmbH. Herr Ernst nutzte die nachdenkliche Stille, die seine Worte hinterlassen hatten, und nahm noch einen Schluck Kaffee, obwohl der doch schon kalt war. Dann übergab er das Wort an Dr. Trinkaus und ging. Er wusste, dass das weitere Training in guten Händen sein würde.

Dr. Trinkaus stand auf, damit ihn jeder gut sehen konnte. Breite rote Hosenträger boten seinen Designerjeans den notwendigen Halt, den ein Gürtel an seinem Bauch nicht gefunden hätte. Er spannte die Hosenträger und ließ sie knallend zurückschnellen. Es war wie der Startschuss zu einem großen Ereignis. An diese roten Hosenträger würden sich alle Teilnehmer auch noch nach Jahren erinnern, sagte er. Sie würden vielleicht vergessen, was er hier vortrage, aber die Hosenträger würden sie für immer in Erinnerung behalten. Das sei ein Beispiel für Fokussierung.

Die Teilnehmer schwiegen beeindruckt. So hatten sie das ja noch gar nicht gesehen. Dr. Trinkaus war zufrieden mit sich und der Wirkung seiner Worte und setzte gleich noch einen drauf. Die Teilnehmer sollten sich ja gar nicht an seine Hosenträger erinnern, sondern an das, was er ihnen in diesem Seminar vermitteln würde. Gerade deshalb sei es so wichtig, richtig zu fokussieren. Man kenne das ja vom Fotoapparat. Das hätte ja sicherlich jeder schon mal erlebt, wenn er ein Bild von seiner Liebsten gemacht hat. Wenn man da nicht aufpasse, sei die Landschaft scharf und die Liebste völlig unscharf. Dr. Trinkaus wusste, wie sehr ein Lacher am Anfang zum Erfolg eines Seminars beitrug, selbst wenn danach nicht mehr viel kam. Frau Schön lachte am lautesten. Toll, wie der das Seminar gestaltete. Sie war zufrieden mit ihrer Entscheidung für diesen Trainer. Oder hatten die Teilnehmer etwa nur aus Höflichkeit gelacht? Womöglich so, wie sie es auch taten, wenn ihre Bosse versuchten, mal einen Witz zu machen?

Fokus, sagte Dr. Trinkaus und machte damit klar, dass es nun zur Sache gehen würde. Fokus, das komme aus dem Lateinischen und habe ursprünglich nichts anderes bedeutet als häuslicher Herd. Das sei also die Stelle, wo’s brenne. Und dafür müsse ein Manager einen Blick entwickeln, indem er seine Aufmerksamkeit auf Schwachpunkte und Verbesserungspotenziale fokussiere, damit da gar nicht erst etwas anbrenne. Wie man das mache, das würden die Damen und Herren Manager in diesem Training lernen. Ach ja, Training. Dazu fiel Dr. Trinkaus auch etwas ein. Training käme ebenfalls aus dem Lateinischen. Einst habe es bedeutet, dass man eine Pflanze dazu bringe, sich in der gewünschten Form zu entwickeln. Im Training wird man also zurechtgestutzt, fügte er hinzu und hatte sich damit einen weiteren Lacher gesichert. Frau Schön sah nacheinander in die Gesichter der Teilnehmer und war zufrieden. Ja, das Training entwickelte sich gut. Allerdings hätten die Teilnehmer nun doch gerne mal gewusst, was denn nun eigentlich so bemerkenswert am Fokus sei, dass man damit einen ganzen Tag füllen könne.

Fokus, begann Dr. Trinkaus noch einmal, Fokus sei ein Ausdruck von Aufmerksamkeit. Wer schlafe sei alles andere als aufmerksam. Nur wenn man wach sei, könne man aufmerksam sein. Dann stelle sich allerdings die Frage, worauf man seine Aufmerksamkeit fokussiere. Da könne man völlig entspannt vor sich hin träumen oder aber die Aufmerksamkeit ganz gezielt auf etwas richten. Das könnten Kleinigkeiten sein ebenso wie die große Linie. Das sei die hohe Kunst des Managements, die Aufmerksamkeit richtig zu fokussieren. Fokussieren wiederum bedeute, Ablenkungen auszublenden.

Woher man denn eigentlich wisse, worauf man am besten fokussiere, wollte einer der Teilnehmer wissen. Darauf hatte Dr. Trinkaus eigentlich erst später eingehen wollen, aber nachdem die Frage nun im Raum stand, wolle er sie doch schon einmal in den Fokus rücken. Was denn die anderen Teilnehmer dazu sagen würden? Man könne das ja mal diskutieren, denn das sei eine ganz entscheidende Frage.

Nun ja, meldete sich einer der Teilnehmer zu Wort, worauf man die Aufmerksamkeit richten müsse, würde letzten Endes von der Geschäftsleitung entschieden. Man müsse da allerdings aufpassen, dass man keinen Tunnelblick entwickelte, sagte ein anderer. Denn das sei eine große Gefahr. Aber deswegen hätte die Labora ja ein Mission Statement. Beste Qualität zum Wohle unseres Unternehmens, der Kunden und der Mitarbeiter zu bieten, darum ginge es. Das könne man im Internet nachlesen. Und darauf müsse man fokussieren. Frau Schön nickte, wollte den Beitrag aber noch ergänzen und verwies darauf, dass die Labora nicht nur ein Mission Statement, sondern auch ein Vision Statement habe. Das müsse man im Kontext sehen, denn die Vision sei vielleicht noch weitreichender als die Mission. Es sei die Vision der Labora, dass sie zum Marktführer bei Inspirationen und Innovationen werden wolle. Da könne man ja keinesfalls von Tunnelblick sprechen. Das sei ja eher – um mal in der optischen Terminologie zu bleiben – ein Weitwinkelobjektiv, das leicht zu fokussieren sei. Obwohl man auch da nicht die Gefahr unterschätzen dürfe, dass das Bild am Ende unscharf würde.

Dr. Trinkaus meinte, dass man dies vielleicht alles am besten erklären könne, wenn man sich einmal mit der Struktur des menschlichen Gehirns beschäftige. Denn worauf sich die Aufmerksamkeit richtete, worauf man also fokussiere, das sei das Ergebnis komplexer Gehirnfunktionen. Manche Dinge würden im Gehirn unbewusst ablaufen, andere hingegen würden bewusst gesteuert. Man müsse deshalb verstehen, wie das alles verdrahtet sei, sagte er und begann einen längeren Vortrag über das Gehirn. Er sprach von 100 Milliarden Neuronen und noch viel mehr Synapsen, die das alles miteinander verbinden. Er hatte ein paar Ansichten vom Gehirn mitgebracht – seitlich, von unten und auch halbiert – und verwies auf die einzelnen Bereiche und wofür sie zuständig seien. Begriffe wie Neokortex, Frontallappen, Ganglien oder Amygdala gingen ihm locker über die Lippen.

Dr. Trinkaus konnte ziemlich sicher sein, dass ihm bei seinem abenteuerlichen Ausflug in die Neuropsychologie niemand ernsthaft widersprechen würde. Er selbst hatte sich ein paar Dinge mühsam angelesen und einige Fachbegriffe auswendig gelernt. Warum sollten also seine Zuhörer mehr davon verstehen? Außerdem hatte er als Unternehmensberater frühzeitig gelernt, auch Dinge zu vermitteln, von denen er selbst nichts verstand. Hier ging es nicht um Wissen, hier ging es um Rhetorik. Und die Rhetorik ließ es in diesem Kreis kaum zu, dass Verständnisfragen gestellt würden. Nein, Dr. Trinkaus wusste nur zu gut, dass Manager nur dann Fragen stellten, wenn sie beweisen wollten, dass sie es selbst viel besser wussten.

Damit nun aber die Betrachtungen der Gehirnfunktionen nicht zu abstrakt blieben, hielt Dr. Trinkaus praktische Ratschläge bereit, wie man seinen Fokus schärfte. Er hatte lange überlegt, wie viele Ratschläge er in seiner Präsentation geben sollte, und sich schließlich für sieben entschieden. Die Sieben hatte die nötige Symbolkraft. Das kannte man ja von den sieben Zwergen, den sieben Weltwundern und den sieben Wochentagen. Sieben Dinge konnten sich die meisten Menschen gerade noch merken. Dazu gab es Studien, darauf konnte man bauen. Und deshalb hielt Dr. Trinkaus sieben Ratschläge bereit, die beim Fokussieren helfen sollten. Zwar hätte es sich bei einigen Ratschlägen angeboten, sie zusammenzufassen, aber dann wären es nicht sieben geworden, denn weitere Ideen waren ihm nicht gekommen. Immerhin hatte er schon mal ein Konzept für ein Buch entwickelt, das sich mit diesem Thema ausführlicher beschäftigen würde. Fokus – die sieben Geheimnisse, so würde er es nennen. Er hatte auch schon Kontakt zu einem Verlag aufgenommen.

Entscheide selbst, was du für wichtig hältst. So lautete seine erste Maxime. Und dann: Lass dich nicht ablenken. Das leuchtete ebenfalls ein und auch der dritte Ratschlag überzeugte: Iss regelmäßig, denn ein leerer Magen lenkt ab. Da lag der vierte Ratschlag nahe: Iss nicht zu viel, denn ein voller Magen macht müde. Bleib entspannt und höre auf Deine innere Stimme, lauteten die nächsten beiden Ratschläge. Und schließlich der siebte Rat: Durchsetzungskraft entwickeln. Das leuchtete ein. Allerdings wurde das auch bisher schon von jedem Manager erwartet.

Aus diesen praxisorientierten Ratschlägen entwickelte sich schnell eine lebhafte Diskussion. Dazu konnte jeder Teilnehmer ein paar Beispiele aus seinem eigenen Erfahrungsschatz beitragen. Dr. Trinkaus schrieb wichtige Stichwörter an die Tafel, malte Kreise darum und dokumentierte Zusammenhänge mit dicken Pfeilen. Besonders wichtige Beiträge markierte er mit rotem Stift und dickem Ausrufezeichen. Und über allem stand in großen Buchstaben: Fokus! Ja, es war nicht zu übersehen, dass er sein Handwerk verstand.