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Franz Maciejewski
Ich, Bertha Pappenheim

Franz Maciejewski

ICH,
BERTHA PAPPENHEIM

Roman

Osburg Verlag

Erste Auflage 2016
© Osburg Verlag Hamburg 2016
www.osburgverlag.de
Alle Rechte vorbehalten,
insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
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Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg
Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg
Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste
ISBN 978-3-95510-117-6

Für Iris Berben

 

»Bevor ich, nach Mamas Wort, in die Chronologie eintrete, will ich Ihnen nur erzählen, dass der in Paris verstorbene Graf C. ein sehr reicher spaniolischer Jude von hier war, der … Hört sich das nicht wie eine Novelle an? Man könnte einmal in einer Mußestunde eine draus machen. Ich hoffe, Sie greifen mir nicht vor.«

Bertha Pappenheim

Konstantinopel, 14. April 1911

1.

Womit anfangen? Nein, nicht mit dem A und O eines medizinischen Falls, das mir wohlmeinende Ärzte überstülpten wie eine Zwangsjacke. Viel lieber mit der Maskerade, die ich mit mir selber anstellte: Ich, Bertha Pappenheim, in der Tracht der Glückel von Hameln. Eine kleine Verrücktheit, die ich mir Mitte der 20er Jahre leistete, unter besonderen Umständen.

Hannah war ein Jahr zuvor nach Frankfurt gekommen, um im Jüdischen Frauenbund mitzuarbeiten. Ihre Kompetenz und professionelle Einstellung überzeugten uns alle, vom ersten Tag an. Wie sie quasi aus dem Stand die Redaktion der gerade erst ins Leben gerufenen Blätter des Bundes betrieb, war einfach großartig. Aber das war es nicht, jedenfalls nicht allein. Nicht für mich. Mit Hannah kam ein neues Licht in unseren Kreis. Ein Licht, das aus ihren Augen sprang, das um ihren Mund spielte, wenn sie lachte. Es war ansteckend, dieses Lächeln, von einer überspringenden Lebendigkeit, die mich ergriffen und verjüngt hat. Ich wusste natürlich, dass es in den Zügen einer über Sechzigjährigen keinen Platz hatte. Aber eine Erinnerung half mir zu verstehen, was da mit mir vor sich ging.

Ich hatte diesen Gesichtsausdruck schon einmal gesehen. Gesehen, aber nicht erlebt. Vor langer Zeit, als ich in Wien die katholische Mädchenschule besuchte. Eine der Nonnen zeigte uns Kindern eines Tages Leonardos Anna Selbdritt, als »frommes Bild mütterlicher Liebe« (wie sie es nannte). Dieses innige Ineinander der Hl. Anna mit ihrer Tochter Maria auf dem Schoß und dem Jesusknaben zu ihren Füßen. Das berühmte Leonardo-Lächeln auf den Gesichtern der beiden Frauen – Frauen ohne Männer, deren Altersunterschied der Künstler seltsamerweise nicht gelten ließ –, das war es, was ich bei Hannah wiedergefunden habe. Und was mir die Erinnerung als ein Wunschbild zurückgab.

Ich habe Hannah geliebt für das starke Gefühl, in ihr eine Tochter an meiner Seite zu wissen, also eine Mutter sein zu dürfen, vereint in der Sorge um den weiteren Nachwuchs: die Kinder unseres Mädchenclubs, die Waisen und Zöglinge unseres Heims in Isenburg. Hannah kam mir nah wie keine. Sie half mir, daran zu glauben, dass ich meinen Platz gefunden hatte in der langen Reihe starker jüdischer Frauen. Und dann im Herbst diese verrückte Geschenkidee mit Blick auf meinen nächsten Geburtstag.

»Wir möchten Ihnen zum Festtag ein Bild schenken, aber kein gewöhnliches. Wir wollen ein Porträt von Ihnen anfertigen lassen, ein Ölgemälde. Was meinen Sie?«

Aus dem Mund von Hannah. Als hätte sie ihre Antwort auf meine geheime Bildphantasie gefunden. Sie, als Sprecherin, im Kreis der Mitarbeiterinnen. Ich, die Leiterin, von ihnen wie der zugehörige Mittelpunkt gleich weit entfernt. Ich war sprachlos und bat um Bedenkzeit. Der Stein war ins Wasser gefallen und zog unaufhaltsam seine Kreise. Ein wahrer Stein des Anstoßes, wie sich herausstellen sollte. Er zeigte mir Seiten, die ich glaubte, längst abgelegt zu haben. Die Vorstellung, in Öl gemalt zu werden, beflügelte nach und nach meine Phantasie. Ich ertappte mich, wie ich vor den Spiegel trat und mich nicht ohne Eitelkeit betrachtete. Wie ich das Modellsitzen probeweise durchspielte und mit mir selber ins Reden kam.

»Endlich: die schönste Spitze, die funkelndste Kette. – Schlohweißchen braucht ein Haarnetz, besser eine Haube. – Achte auf deine Hände, die Linke mit dem alten silbernen Ring muss gut getroffen werden. – Gibst du die kluge Autorin, die kämpferische Feministin oder die ehrliche Haut der Erzieherin?«

Ach! Ich kokettierte mit den sich anbietenden Posituren und Rollen, um unversehens an meinen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten zu verzweifeln. Wer war ich denn, die da verewigt werden sollte? Für wen um Himmels willen sollte ich posieren? Ich brauchte Wochen, bis ich mit mir ins Reine kam. Die Lösung des Dilemmas war ein Versteckspiel, bei dem sich der Wunsch, der Freude über das Geschenk nachzugeben, und die Angst, es könnte sich um ein vergiftetes Geschenk handeln, die Waage hielten. Aber dann stand mein Entschluss fest.

»Hannah, ich bin bereit, mich malen zu lassen, aber nur unter einer Bedingung. Ich komme zu den Sitzungen in den Gewändern der Glückel von Hameln – Sie wissen schon. Als Wiedergängerin dieser großen Frau, die mir so viel bedeutet.«

Ja, Hannah wusste, dass ich die Memoiren dieser Mutter Courage aus dem Jiddischen übersetzt hatte – und war von meiner Idee spontan begeistert. Keine Nachfrage, kein Kommentar. Ich war über die Maßen erleichtert. Dann erfuhr ich von ihr, dass die Mitarbeiterinnen ihrerseits die Zeit genutzt und einen namhaften Maler ausfindig gemacht hatten.

»Kennen Sie Leopold Pilichowski?«

Und ob ich diesen Mann kannte, den seine Freunde nur Pilich nannten. Vielleicht, weil er etliche seiner Bilder mit diesem Kürzel signierte. Hannah war noch nicht lange genug bei uns, um von dieser Freundschaft etwas mitbekommen zu haben. Es war einer dieser nervigen Frankfurter Journalisten, Katscher hieß er, den der liebenswerte Charles Hallgarten auf mich hetzte, um die Propaganda für unser geplantes Heim anzufeuern, dem ich die Bekanntschaft des Ehepaars Pilichowski verdankte. Von Pilich und Pillico, wie sich Leopolds Frau Lena nannte, auch sie Malerin. Nie werde ich den Augenblick vergessen, als ich den beiden als »Frl. Pappenheim« vorgestellt wurde. Und Pilich mit unnachahmlicher Nonchalance auf mich zutrat.

»Gnädige Frau, es freut mich außerordentlich, Sie kennenzulernen.«

Für die Gnädige Frau wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen, wo ich doch in meinen Kreisen bis an mein Lebensende das Fräulein blieb. Einige Jahre darauf haben wir uns dann in Lemberg wiedergesehen. Ich war unterwegs auf einer meiner ersten Inspektionsreisen in Sachen »Bekämpfung des Mädchenhandels«, dieser Sisyphos-Arbeit meines Lebens. Pilich hatte in seiner polnischen Heimat einige Porträts zu malen von einer Sorte Menschen, die es ganz begreiflich machten, dass er sich gern mit mir zum Mittagessen oder Nachtmahl verabredete. Verelendete Juden, wie er sie nur in Whitechapel wiedersah, nach seiner Emigration. Für mich war es nach den deprimierenden Besuchen in den Bordellen von St. Petersburg, dem Nachtasyl von Moskau, den Spitälern für venerisch kranke Prostituierte in Galizien eine Wohltat, mit einem Mann beisammen zu sein, der von all dem wenig wusste, aber dafür anderes. Und dieses andere so unterhaltsam mitzuteilen verstand.

Also Pilich sollte mich malen. Ja, wer denn sonst? Tatsächlich ging ihm mittlerweile, zumindest in jüdischen Kreisen, der Ruf voraus, ein ausgezeichneter Porträtmaler zu sein. So hatte er, selber ein bekennender Zionist, Größen wie Herzl, Nordau, Weizmann und Einstein gemalt. Und jetzt mich? Pah, Glückel von Hameln! Mein halbherziges Eingehen erwies sich in meinen Augen plötzlich als ein weiser Ratschluss. Die Vorstellung, von Pilich gemalt zu werden, aber zur Kenntlichkeit entstellt, fing an, mir Spaß zu machen. Ich begriff, dass das Geschenk nicht nur auf die Übergabe eines Gemäldes hinauslief. Es schloss die Geschichte seiner Entstehung und Herstellung mit ein. Eine Inszenierung ohnegleichen nahm ihren Lauf. Rückblickend hatte ich gerade die Ouvertüre glücklich überstanden. Nicht auszudenken, damals, wie die kapriziöse Geschichte zu Ende gehen mochte.

Die innere Unruhe, mit der ich auf die Aussicht, einem noch unbekannten Maler Porträt sitzen zu dürfen, zu sollen, zu müssen, reagiert hatte, war einer prickelnden Vorfreude gewichen. Ja, ich werde mich von Pilich malen lassen, als Glückel von Hameln. Aber wie weiter? Wäre ich in einem wirklichen Theater gewesen, ich hätte schnurstracks den Fundus aufgesucht und mich dort nach Kostümen umgesehen. Aus der Zeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts, aus der Gegend von Hamburg, Hannover, Hameln, also Niedersachsen und möglicherweise noch den angrenzenden Niederlanden. Aber nach welcher Vorlage hätte ich suchen sollen?

Es gab ja kein historisches Bildnis der Glückel. Ich hatte mich in Fragen der Übersetzung mit Fachleuten des Jiddischen und des Hebräischen beraten. Sie hielten die Memoiren unisono für eine Ausnahmeerscheinung in der jüdisch-deutschen Literatur. Einen Text aus der Feder einer Frau, viele Jahre vor Moses Mendelssohn. Aber ein Porträt der Autorin, einer verwitweten jüdischen Geschäftsfrau, tief verwurzelt im orthodoxen Milieu, war für sie undenkbar: jüdischerseits nicht koscher. Lass alle Hoffnung fahren, sagte ich mir. Du kannst nicht wirklich in die Haut der Glückel schlüpfen, der Tochter des Juda Löw, der Frau des Chaim von Hameln. Wie immer du dich verkleidest, es wird nicht stimmen. Kein Mensch wird dir die Verwandlung abnehmen. Am ehesten könnte noch dein Gesicht durchgehen. Immerhin bist du mit ihr entfernt verwandt, mütterlicherseits. Face is race, sagt man. Von ihr zu dir, das macht gerade einmal sieben Generationen auf der Goldschmidt-Linie.

Ich musste lachen. Aber halt, lag nicht der Umkehrschluss nahe: Weil niemand die Glückel kennt, wird am Ende alle Welt glauben, mein Bild sei das Original? Ich war verwirrt. Lief mein halb spaßig, halb ernst gemeinter Wunsch, mich als Glückel porträtieren zu lassen, geradewegs auf eine Fälschung hinaus? So viel stand fest: Wenn der Maler den Auftrag ausführt, wird er aller Wahrscheinlichkeit nach das erste Porträt von Glückel überhaupt geschaffen haben.

Der Maler! Erst jetzt schoss es mir durch den Kopf, dass ich die ganze Rechnung ohne Pilich gemacht hatte. Wird er den Auftrag noch ausführen wollen, wenn er erfährt, dass es sich bei Bertha Pappenheim, die ihm Modell sitzt, und Glückel von Hameln, der Frau, die durch seine Hand auf der Leinwand erscheinen soll, um zwei verschiedene Personen handelt? Wird er dieses Bäumchen-wechsledich-Spiel noch mitspielen wollen? Was ist, wenn er sagt: Sie oder die Glückel, entweder – oder? Ich fasste mich und spürte in mir eine feste Entschlossenheit. Ich als Glückel, wird er zu hören bekommen.

Ich hatte mich völlig umsonst gewappnet und die mir eigene Strenge, wohl nicht zum ersten Mal, voreilig auf einen anderen übertragen. Als Leopold Pilichowski in Frankfurt eintraf und mich in meiner Wohnung aufsuchte, stand mir ein Mann gegenüber, der die Liebenswürdigkeit in Person war. Er küsste mir galant die Hand und behandelte mich wie eine Grande Dame. Ich fiel von einer Verlegenheit in die andere. Beim Tee fragte er höflich, ob er rauchen dürfe, was ich ihm freistellte. Er öffnete ein elegantes Etui, das zu meiner Verblüffung nicht nur ein paar Zigaretten enthielt, sondern auch zwei Spitzen. Er nahm eine und bestückte sie. Wohl weil er merkte, dass ich irritiert war, schickte er schnell eine Erklärung hinterher.

»Ich rauche seit einigen Jahren nur noch Spitze, wissen Sie. Es ist gesünder. Ein kleines Handikap für die gefährlichen Substanzen, den Teer, das Nikotin.«

Dass Zigarettenspitzen in gewissen Kreisen sehr in Mode waren, aber gewiss nicht aus Vorsorge für die Gesundheit, wusste ich natürlich nur zu gut. Bei meinen Recherchen zum Mädchenhandel ist mir dieses Accessoires nicht entgangen. Aber gerade deswegen hielt ich es für Beiwerk der frivolen Halbwelt in den Händen verruchter Damen. Ein Dandy, der in einem verrauchten Jazzlokal Spitze raucht, passte dagegen ins Milieu einer Salon-Jüdin, aber nicht zu mir. Und nun Pilich bei mir auf dem Sofa. Das kann ja noch heiter werden, dachte ich. Keine übertriebene Erwartung, wie sich herausstellen sollte. Eine furchtbare Folie für mich – aber eben eine Folie.

»Ich bin auch Sammler«, hörte ich Pilichs Stimme, die mir nach ein paar kräftigen Zügen noch weicher vorkam. »Ich meine, ich sammle Spitzen, wo immer ich mich herumtreibe. Diese stammt übrigens aus Brody, der Geburtsstadt Joseph Roths, die für die Herstellung von Zigarettenspitzen und Zahnstochern berühmt ist. Ich werde auch Frankfurt kaum verlassen, ohne mich nach Spitzen umgesehen zu haben.«

»Wie interessant. Ich sammle auch Spitzen.«

Mein kecker Einwurf verblüffte ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde genoss ich Pilichs ungläubiges Staunen.

»Spitzen der anderen Art, versteht sich. Klöppelspitzen, Nähspitzen, Häkelspitzen aus Leinen und Seide. Ich liebe Spitzen über alles, diese unglaubliche Variation über ein einziges Thema, einen graden feinen Faden. Kein Ort, wo ich nicht nach ihnen müffle und meine Sammlung ergänze.«

Pilich lachte laut auf: »Gnädige Frau, ich ahnte es vom ersten Augenblick an. Wir sind beide Spitze!«

Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte. Ich suchte nach einer unverfänglichen Geste, die meinen Dank für das, was ich als Freundlichkeit empfand, hätte ausdrücken können. Ich war dergleichen nicht gewohnt. Schon wollte ich meinem Wohltäter nochmals Tee einschenken, aber ich war mir nicht sicher, ob ich mit Gießen hätte aufhören können. Da kam mir eine bessere Idee.

»Warten Sie«, rief ich. »Ich hab etwas für Sie.«

Ich ging in mein Arbeitszimmer und holte ein Exemplar der von mir übersetzten Memoiren der Glückel.

»Ein Buch von mir. Bitte.«

Pilich nahm es wägend in die Hand, blätterte darin. Ich klärte ihn unterdessen auf, dass es sich um die Aufzeichnungen einer jüdischen Kauffrau aus dem 17. Jahrhundert handele, einer gewissen Glückel von Hameln, welche nach dem Tod ihres Gatten die Familiengeschichte für ihre Kinder aufgeschrieben habe. Die täglichen Freuden, Leiden und Sorgen so gut wie die nicht alltäglichen Feste und Katastrophen. Die ganze Welt der Judenheit, wie in einer Nußschale. Eine Welt von gestern.

»Ich verstehe«, ließ sich Pilich nach einer Weile verlauten. »Sie wollen mit Ihrer Übersetzung erreichen, dass die Stimme dieser Frau auch von den heute lebenden Nachfahren noch vernommen wird. Durch die Stimme einer anderen jüdischen Frau weit vorne in dieser Reihe, einer Schwester im Geiste der Glückel. Ihrer Stimme. Ich gratuliere.«

Wie er alles sofort versteht, dachte ich, den ganzen komplizierten Zusammenhang. Und wie schön er reden kann. Ich drehte leicht meinem Kopf und schaute ihm direkt in die Augen. Fast unmerklich öffnete sich mein Mund.

»Leopold …«

»Nein, nein«, fiel er mir ins Wort. »Nicht den langen Namen, nicht für Sie. Bitte, würden Sie …«

»Ja.«

»Haben Sie auch einen zweiten Namen, einen shorty, wie man in England so sagt, etwas wie einen Spitz- oder gar Kosenamen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Das könnte bedeuten, dass es ihn immerhin gibt, dass er Ihnen aber momentan nicht zur Verfügung steht. Er ist unauffindbar, unaussprechlich geworden. Darf ich ihn erraten?«

»Versuchen Sie Ihr Glück.«

»Glikl.«

»Was sagen Sie da! Das ist der jiddische Name der …«

»Ja, und er bedeutet kleines Glück

»Das passt zu mir. Zu meinen Niederlagen im Großen, meinen Erfolgen im Kleinen.«

»Darf ich Sie so nennen, Frau Pappenheim?«

»Nennen und malen. Glikl von Pappenheim.«

»Ich ahne, dass Sie es genau so meinen.«

An dieser Stelle war unser Gespräch zu Ende, jedenfalls für mich. Pilich machte, schon halb im Gehen, wohl noch eine Bemerkung zum »Phänomen der durchscheinenden Bilder«. Aber ich hörte nicht mehr hin. Ich hatte etwas vernommen, von dem ich nicht einmal im Traum zu hoffen gewagt hätte, es könnte mir zu Ohren kommen. Er nannte mich standhaft Frau, wie beim ersten Mal. Gnädige Frau. Er schenkte mir einen Kosenamen, Glikl, den jiddischen Namen meiner großen Ahnin, den ich seit jenem Tag wie einen kostbaren Ring trage. Seine späteren Briefe (ich hüte sie wie einen Schatz) wird er an Mrs. Pappenheim adressieren, mich darin stets mit Dear Glikl anreden. Mein Freund Pilich. Dieser besonderbare Mensch, mit seinem umwerfenden Witz. Beim Abschied, schon halb auf der Straße, winkte er mit dem Buch, das ich ihm geschenkt hatte.

»Meine Gute-Nacht-Lektüre. Auf Morgen, Glikl, zum Tee, wie immer.«

Wie immer, zum ersten Mal. In dieser Nacht fand ich lange den Schlaf nicht. Die Begegnung mit Pilich war zu intensiv gewesen, hatte mich aufgewühlt. Ich, die ich seit Jahren mit und unter Frauen lebte, stand der Freundlichkeit dieses Mannes hilflos gegenüber. Ich spürte einen inneren Aufruhr in mir, aber ich hätte nicht sagen können, wer da gegen wen in meinem Seelenhaushalt aufbegehrte. Mir war, als stünde ich an der Grenze zu einem inneren Ausland, das ich nicht zu betreten in der Lage war. Ein aufgegebenes, ein nie betretenes Paradies? Ich weiß es nicht. Ich kann es erwähnen, kaum beschreiben. Ja, stünde an seinem Eingang ein Engel, ich würde mit ihm ringen wie Jakob, um ihm seinen Namen zu entlocken. Sein-mein Geheimnis. Aber da ist niemand. Ich bin allein. Warum? Was ist mit mir geschehen? Bin ich eine Frau ohne Eigenschaft? Eine fehlt mir ganz gewiss: Mir ward die Liebe nicht. In einem handgeschriebenen, wundgelesenen Gedicht hab ich diesen Schrecken, der sich anfühlt wie eine halbseitige Lähmung, mit diesen Worten benannt. Aber er ist nicht verschwunden. Das Schibboleth, ich habe es bis heute nicht gefunden, kann es nicht aussprechen, kenne nicht einmal die Sprache, in der es ausgesprochen werden müsste, um wirksam zu sein. Deutsch, Englisch, Jiddisch, Hebräisch? Warum hilft mir niemand, den Dämon aufzuspüren und zu vertreiben? Ach, Du unbegreifbarer Gott, lass die Rinnsale meiner Seele nicht gänzlich austrocknen. Vermassel mir nicht mein kleines Glück. Lass Männer wie Pilich um mich sein, der meine Seele mit seiner Lebendigkeit erquickt, dass ich die Welt mit Deinen Augen sehen und sagen kann: Ki tof – sie ist gut, wie sie ist.

2.

Pilich erschien »wie immer« zum Tee. Er hatte mein Buch in der Hand, so als hätte er es nie abgelegt. Ohne Umschweife kam er dieses Mal zur Sache.

»Nach unserem schönen warming up von gestern wollen wir heute Tacheles reden, nicht wahr. Schließlich haben wir beide noch etwas vor. Ein gutes Stück Arbeit wartet auf uns.«

»Pilich«, sagte ich (nicht ohne Anstrengung, den mir angebotenen Namen so formlos auszusprechen), »ich möchte mich noch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie …«

Er unterbrach mich mit einer abwehrenden Handbewegung. »Liebe Glikl, ich fühle mich geehrt, Sie malen zu dürfen – Sie und Ihre Doppelgängerin. Noch mehr, nachdem ich von Ihnen beiden gelesen habe.«

Er wedelte mit meinem Buch. Ich wollte nachfragen, was ihm an den Memoiren gefallen habe, aber er schloss die kleine Pforte, bevor ich hindurchschlüpfen konnte.

»Und jetzt lassen wir die Plauderei beiseite und machen uns an die Arbeit.«

Er hatte ja recht. Zudem schmeckte die Arbeit mit ihm so süß. Ein verführerischer Geschmack von der Leichtigkeit des Lebens, so weit weg von der Schwere des Alltags. Er schlug vor, beim nächsten Treffen zunächst eine Porträtskizze anzufertigen, mit der über die räumliche und perspektivische Komposition des Bildes entschieden werden sollte. Anordnung der Möbel (Sessel, Tisch?), Sitzund Blickrichtung, Haltung der Arme und Hände, Hintergrund. Die Frage der Kleidung sei hier noch ausgespart. Er würde Vorschläge machen – so plädiere er schon nach dem ersten Eindruck von gestern für ein Halbprofil nach rechts –, die Studie aber insgesamt mit mir durchsprechen. Hätten wir uns geeinigt, könne man für die fünf, sechs Sitzungen, die er für die Ausführung in Öl veranschlage, konkrete Termine vereinbaren.

»Aber dann«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln, »sind Sie ausschließlich mein Modell. Die verpuppte Larve, die sich, wenn ich recht verstanden habe, in Glückel von Hameln verwandeln soll.«

»Und Sie der Hexenmeister.«

»Ein heikles Wort, Glikl, denn wahr ist: Sich-ein-Bild-Machen ist nah am Götzendienst. Man schafft sich ein Idol. Ich darf Sie also auf keinen Fall anbeten. Sie müssen stumm bleiben, ich kalt und herzlos.«

»Das klingt ja nach schlimmen Exerzitien.«

»Haben Sie nicht gewusst, auf was Sie sich einlassen? Die geistliche Übung ist ein Schutzmittel gegen die Versuchung. Denn das Abnehmen einer Maske – einer Porträtmaske, einer Komplexmaske, einer Totenmaske – ist immer ein sehr intimer Akt, wissen Sie. Ein Akt der Entlarvung eben.«

»Lieber Pilich, Sie fangen an, mir Angst zu machen.«

»Liebe Glikl, Sie werden sich wohler fühlen, wenn Sie sich erst einmal verkleidet haben.«

Verkleidung – ich griff das Stichwort auf wie einen rettenden Strohhalm, der mir nach dem Durchqueren gefährlicher Untiefen wie ein fester Halt erschien.

»Das ist genau mein Problem, dass ich nicht weiß, wie die gute Glückel ausgesehen, was sie getragen hat.«

Pilich nickte. »Das habe ich mir schon gedacht. Aber vielleicht kann ich helfen, dass aus dem Mummenschanz kein Mumpitz wird. Habe ich Ihnen schon gesagt, dass ich von England über Holland nach Deutschland gekommen bin?«

Nein, hatte er nicht. Und was er jetzt nachholte und erzählte, war eine ganz eigene Geschichte. Wie um ihr Raum zu geben, machte er sich’s auf dem Sofa bequem. Er legte das Buch aus der Hand, lehnte sich zurück und bat um eine weitere Tasse Tee. Dann nahm er ein Stückchen von dem Gebäck, das ich serviert hatte, und zermahlte es bei sorgsam verschlossenem Mund minutenlang mit seinen Zähnen. Sand für ein Stundenglas, dachte ich – und sah wie im Lidschatten das Gegenbild meines Vaters, der oft so heftig in eine Matze biss, dass der halbe Fladen als Krümelregen niederging.

»Also, ich muss ein bisschen ausholen, damit ein Bogen daraus wird. Vor einigen Monaten bekam ich Post aus Jerusalem, von einem gewissen Judah Leon Magnes, einem amerikanischen Rebbe, der seit vielen Jahren im Mandatsgebiet Palästina lebt und dort zu einem der führenden Zionisten aufgestiegen ist. Er teilte mir zunächst mit, dass für das kommende Jahr, Anfang April, um genau zu sein, die Eröffnung der Hebräischen Universität Jerusalem geplant sei. Und fragte mich im Namen der verantwortlichen Kommission, ob ich mir vorstellen könne, die Feier in einem Bild festzuhalten. Einem Monumentalgemälde, das später in der Eingangshalle seinen Platz finden sollte. Was für ein Auftrag, nicht wahr. Man wird nicht allzu oft in seinem Leben dazu eingeladen, bei einem historischen Ereignis dabei zu sein, in wichtiger Mission, an einem Ort, der einem so viel bedeutet.

Wie Sie wissen, stehe ich der zionistischen Bewegung nahe. Über die Jahre hin schlage ich mich mit dem Gedanken herum, Palästina zu besuchen, meinen Fuß auf diesen wiederentdeckten Streifen alter Muttererde zu setzen. Die Aussicht, dass mein Traum durch die Teilnahme an der Gründungsfeier schon bald Wirklichkeit werden könnte, erfüllt mich mit Stolz und großer Dankbarkeit. Ich zögerte keine Sekunde, den Auftrag anzunehmen. Nächstes Jahr in Jerusalem, kein Wunschtraum mehr, sondern konkrete Planung.

Doch schon bald (hört man es nicht?) fiel ein Schatten auf mein Glück. Mit jedem weiteren Tag fing ich an, das ganze Ausmaß des schönen Auftrags zu erfassen. Ich, der Porträtmaler, der mit dem Blick für das Einzelne, soll eine Versammlung von hundert, vielleicht zweihundert Menschen malen. Leute, die rund um den Mount Scopus zur Feier der Eröffnung der Hebräischen Universität erwartet werden. Wahrscheinlich dichtgedrängt und unübersehbar. Stellen Sie sich nur vor, ein Bild mit hundert und mehr Gesichtern, ebenso viel Nasen, Hüten, Schals, ein jedes mit dem Anspruch auf Individualität, darunter geschätzte zwanzig bedeutende Persönlichkeiten, unter ihnen Lord Balfour (um nur ihn zu nennen), allesamt very distinguished people, beseelt von der historischen Mission des Augenblicks, vereint im Anspruch auf eine heroische Darstellung – macht zusätzlich ebenso viele hochwertige Porträts en miniature.

Nie zuvor habe ich mich einer Aufgabe wie dieser gestellt, nie eine Massenversammlung dieser Art gemalt. Gewiss, große Gedanken verlangen oft nach großen Kompositionen; aber es war einfach nicht mein Metier. Es kam, wie es kommen musste. Schon bald, ja ich gestehe es, machte sich das lästige Gefühl der Überforderung breit. Aber nicht genug damit. Als ich begann, darüber nachzudenken, warum denn der Auftrag, in Kenntnis meiner wahren künstlerischen Handschrift, gerade an mich vergeben wurde, dämmerte es mir: Wahrscheinlich hast du die Einladung in erster Linie deiner zionistischen Gesinnung zu verdanken. Das war ernüchternd, glauben Sie mir, liebe Glikl. Aber natürlich, an Aufgabe war nicht zu denken. Einen so bedeutenden und ehrenvollen Auftrag gibt man nicht zurück wie eine Tüte verschimmelter Orangen. Du musst die verbleibende Zeit nutzen, sagte ich mir, und dich für diese außergewöhnliche Herausforderung fit machen. Du musst die Werke von Künstlern studieren, die dergleichen gemalt haben – und von ihnen lernen.

Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit fiel die Wahl auf die großen holländischen und flämischen Meister, allen voran die Malerfamilie der Brueghel. Keiner beherrscht wie sie die Komposition von großräumigen Szenen mit jeder Menge Volk. Und genau aus diesem Grund habe ich auf der Fahrt von England nach Deutschland einige Tage in Holland Station gemacht. Ich hatte in London einschlägige Kataloge studiert und eine Auswahl getroffen. Jetzt wollte ich die Originale sehen.

Was soll ich sagen, der Eindruck, den etwa ein Bild wie Aufstieg zum Kalvarienberg von Pieter Brueghel d. Ä. hinterlässt, ist so verwirrend wie überwältigend. Ein wie bunt zusammengewürfeltes und doch klug arrangiertes Ineinander von einzelnen Personen, Paaren, Gruppen und Haufen jeder Couleur zu einem thematisch geordneten Ganzen. Was hat den Künstler befähigt, fragte ich mich, eine so große Menschenmenge kompositorisch zu bewältigen, ohne die Liebe zum Detail preiszugeben? Am Beispiel anderer Gemälde spürte ich den Wegen und Übergängen nach, die der Maler von einem Einzelporträt zu einem Monumentalgemälde gegangen ist. Spuren einer Stufenleiter ins immer Größere, die ich versuchsweise zu erklimmen begann, um mich in dieser Kunst zu erproben. Einen ganzen Zeichenblock voller Studien und Skizzen habe ich aus Holland mitgebracht. Ob ich anhand der Vorbilder gewachsen bin? Ich weiß es nicht.

Sicher aber ist – um endlich den Bogen zu Ihnen zu schlagen, liebe Glikl –: auch für Ihre Suche nach Vorbildpersonen für die Ausstaffierung der Rolle der Glückel gibt es keinen besseren Fundus als die Werke der niederländischen Meister. Ich denke dabei nicht so sehr an die Brueghels, sondern an die Maler des nachfolgenden Goldenen Zeitalters. Allen voran Rembrandt und Frans Hals. Das ist der Sprung ins 17. Jahrhundert, also grad die Zeit der Glückel. Morgen fahre ich nach Hanau zu einem interessanten Händler, der Spitzen wegen. Sie verstehen. Er soll aber auch Kunstpostkarten in großer Stückzahl anbieten. Ich könnte mich also ein wenig umsehen, ob nicht eine holländische Schönheit zum Vorschein kommt, die Sie, liebe Glikl, als Vorlage für Ihre Kostümierung verwenden könnten.«

Was für eine Geschichte. Pilich, der große Porträtmaler, wie er den schmalen Pfad seiner Könnerschaft verlässt, sich als strammer Zionist in die Pflicht nehmen lässt, für die große Sache den Historienmaler zu geben. Jetzt ein Küken im Ei, das noch reifen muss in knapp bemessener Zeit, um als Künstler bestehen zu können, wenn die Frist abgelaufen ist. Der auf dieser Etappe in Holland Station macht, um sich von den alten niederländischen Meistern anregen zu lassen, seinen Blick und seine Fertigkeiten zu schulen. Für die Herkulesaufgabe eines Monumentalgemäldes. Der diese auf einige Monate geschrumpften Lehrjahre unterbricht und nach Frankfurt kommt, nun wieder ganz der Alte, um die Pappenheim alias Glückel zu malen, ein vertracktes Verwirrspiel um zwei jüdische Frauen, das er mit einer Petitesse aufzulösen verspricht, einem Mitbringsel sozusagen von seiner Wanderung im Ei: einer kleinen Kunstpostkarte.

Mein lieber Pilich, wie gebannt ich dir zuhörte, auch wenn ich deinen zionistischen Eifer nicht teilte. Ich selbst war ja schon in Palästina gewesen. Meine jüdische Seele hatte die Gelegenheit wahrgenommen, sich in greller Sonne und Hitze auszuleben, ohne jedoch am zionistischen Fieber zu erkranken wie so viele um mich herum. Aber wer weiß, vielleicht war ich einfach zu jekkisch. Ich erquickte mich auf andere Art am jüdischen Geist. So, als ich auf dem Weg nach Bethlehem das Grab Rahels aufsuchte und in den Raum hinter dem großen Stein trat. An der Wand entdeckte ich ein altes Stück Stoff oder eigentlich eine Stickerei, dessen Muster ich behutsam abzeichnete – nicht für Zwecke reiner Dokumentation, wie es ein Archäologe tut, der eine alte Felsinschrift entdeckt hat. Nein, um es daheim für meine neue Spitzentechnik verwenden zu können. Aber das ist eine andere Geschichte.

Deiner Geschichte, gerade der feinen Verknüpfung mit unserer Geschichte, war abzulauschen, wie sich die fließend-vergängliche Welt immer neu erfindet. Und du mitten drin im Strom der Zeit. Nicht als träg treibender Korken, sondern in kräftigen Zügen. Du warst aus einem Holz geschnitzt, das ich gut riechen konnte. Süßholz mit kleinen runden Kerben, in denen müde Finger ruhen konnten. Dein Fingerzeig in Richtung eines Kunstdrucks in Postkartenformat war für mich der beruhigende Beweis, dass zuweilen auch unzulängliche, ja kindische Mittel der Rettung dienen können. Und tatsächlich hast du nach einigen Tagen das Gewünschte gebracht.

Nie vergesse ich deinen Auftritt. Ganz gegen deine Gewohnheit hast du mehrmals an meiner Wohnungstür geklingelt. Nach unserer Begrüßung hast du vergessen, den Hut abzulegen, was praktisch nie vorkam. Und dann, beim Vorzeigen des Bildes, war da ein leichtes Schlenkern deiner Beine, etwas wie ein verhuschtes Tänzeln, auf das ich, vor dir verborgen, mit einem hüpfenden Herzen antwortete. Wenn die Dinge, Gesten, Kleider selbst erzählen könnten, sie würden von einem zerstreuten Körper berichten, der all die eingeübten Bewegungsabläufe vergaß, weil seine ganze Aufmerksamkeit darauf gerichtet war, ein kleines Glück zu stiften, das einer anderen Ordnung angehörte. Und dann brach es aus dir heraus.

»Ich hab sie gefunden, die Frau, die getragen hat, was Glückel von Hameln so oder ähnlich getragen haben könnte, und was Sie, Glikl, tragen sollten, wenn Sie mir Porträt sitzen.«

Typisch Pilich. Jetzt sind wir also glücklich zu dritt, dachte ich. Ich nahm die Karte in die Hand und betrachtete das Bildnis.

»Wer ist denn die Dame?«

»Eine gewisse Cornelia Claesdr Vooght, Gattin des Niclaes van der Meer, ein Braumeister aus Haarlem und damals Bürgermeister der Stadt. Frans Hals hat sie 1631 gemalt, nur 15 Jahre vor der Zeit der Glückel. Was sagen Sie?«

Erst einmal sagte ich nichts. Ich schaute in das selbstbewusste Gesicht einer Patrizierfrau über sechzig. Bekleidet mit einem weiten Pelzmantel, dessen Ärmel mit feinen Spitzenmanschetten abschlossen. Auf dem Kopf trug sie eine einfache weiße Haube, um ihren Hals eine plissierte Krause. Die stattliche Erscheinung einer Frau, die sich ihrer Stellung bewusst war und auf ihrem mit Messingknöpfen beschlagenen Stuhl eher thronte als saß. Ein wirklich eindrucksvolles Gemälde. Cornelia im vollen Putz, wie um den Wohlstand und die Selbstzufriedenheit einer ganzen Klasse zu verkörpern. Sie versteckt sich kein bisschen, sagte ich mir, das muss man ihr lassen. Glückel wird man sich im Vergleich dazu wohl etwas schlichter vorzustellen haben. Und mit meinem Gesicht noch mal eine Spur bescheidener. Es ist wie bei den russischen Matroschka-Puppen, die ineinander stecken: Sie sind sich ähnlich, aber nicht gleich groß.

»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«

Pilich, der immer noch auf eine Antwort von mir wartete, war einen kleinen Schritt zur Seite getreten und sah mich erwartungsvoll an.

»Nein, nein. Ich war wohl schon ganz in Gedanken, entschuldigen Sie. Das Porträt ist ausgezeichnet, ich meine für unseren Zweck. Sie haben wirklich ein gutes Händchen bewiesen, lieber Pilich. Aber irgendetwas sträubt sich in mir dagegen, eine saturierte Bürgermeistergattin als Vorlage für das Bild einer Ghetto-Jüdin zu akzeptieren. Vergessen Sie nicht: Glückel hat, wo immer sie lebte, in Hamburg, Hameln oder Metz, stets im Judenviertel gewohnt. Sie stand also immer auf der anderen Seite. Hat sie dann nicht auch anders in die Welt geschaut?«

»Aber ja. Ihren jüdischen Standpunkt, liebe Glikl, teile ich voll und ganz. Wir übernehmen von dieser Cornelia nichts als die Kleiderordnung. Vom jüdischen Geist, von der jüdischen Seele, vom jüdischen Körper lassen wir uns nichts abhandeln. Die Frau, die ich malen werde, soll als selbstbewusste jüdische Frau und Mutter den Betrachter anschauen. Es werden Ihre Augen sein, vergessen Sie das nicht.«

»Wie gut wir vorankommen.«

»Sehen Sie. Und jetzt sagen Sie mir, was sie am meisten stört.«

»Das ist zum einen die Haube und zum anderen die Haltung der Arme und Hände. Hier (ich tippte mit dem Finger auf die Stirn der Cornelia). Haube ist nicht gleich Haube. Wir wissen aus den Memoiren, dass Glückel eine trug, aber doch wohl eine echte Judenhaube.«

»Eine Kupka, wie man in Polen sagt.«

»Meinetwegen eine Kupka, jedenfalls eine von jenen Spitzenhauben, wie sie in jener Zeit von verheirateten Frauen getragen wurden.«

»Einverstanden. Also nicht so oder ähnlich wie bei Cornelia, sondern anders, jüdisch. Und weiter?«