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Martina Hoblitz

Wie ein Fels in der Brandung


Worte der Autorin: Diesen Roman widme ich der Insel Norderney. 2x war ich dort. Und nach jedem Besuch entstand ein Roman. Dieser ist der Zweite. Der Erste heißt KÜSTENNEBEL.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

WIE EIN FELS IN DER BRANDUNG

 

 

 

von Martina Hoblitz

 

 

 

Kapitel 1

 

 

 

„Ist es nicht herrlich hier? Und diese wunderbare Seeluft! Ich fühl mich gleich viel besser.“

 

Elvira Siebner geriet richtig ins Schwärmen, als sie aus dem weit geöffneten Fenster auf die belebte Strandpromenade hinunter blickte. Eine leichte Brise wehte vom Wasser herüber, und sie atmete tief die etwas salzhaltige Luft ein. Elvira war eine immer noch attraktive Dame Mitte 50, und sie befand sich zur Kur auf der Nordseeinsel Norderney, die als Heilbad für Atemwegserkrankungen einen guten Ruf hatte. Bei Elviras Leiden handelte es sich um eine nicht ganz ausgeheilte schwere Bronchitis. Die ehemals bekannte Theaterdiva hatte schon immer viel Last mit ihren Atemorganen. Aus diesem Grund zog sie sich auch vor Jahren von der Bühne zurück, denn jede kleinste Erkältung artete bei ihr sogleich in eine schwere Bronchitis oder gar Lungenentzündung aus. Zum Glück legte sie in ihren Erfolgszeiten ihren Verdienst gut und Zins bringend an, damit sie später keine finanziellen Sorgen plagten. Hierzu bediente sie sich des fachmännischen Rates von Konstantin Weber, einem ausgezeichneten Juristen.

 

Der Mann war Witwer mit einer halbwüchsigen Tochter und wurde bald zum ständigen Begleiter der Schauspielerin. Allerdings hegte sie für den Anwalt rein freundschaftliche Gefühle, obwohl er wohl etwas mehr erhoffte. Und obgleich Elvira tatsächlich Konstantins Heiratsantrag ablehnte, blieben sie über all die Jahre gute Freunde, nachdem er seine verständliche Enttäuschung überwunden hatte.

 

Seine Tochter Laura entwickelte sich in der Zeit zu einem hübschen, liebenswerten Teenager und sah in Elvira so eine Art Mutterersatz.

 

Als das Mädchen dann die Schule absolvierte und sich zur Sekretärin ausbilden ließ, kam die Zeit, dass Elvira sich von der Bühne zurückzog. Doch die Vollblutschauspielerin wollte auch weiter mit dem Theater verbunden bleiben und hatte plötzlich die Idee, selber Stücke zu schreiben. Und nachdem Laura ihre Ausbildung beendet hatte, holte Elvira sie zu sich, damit sie für sie die Schreibarbeiten, bei Angebot eines ansehnlichen Gehaltes, erledigte.

 

Allerdings spielte dabei auch eine gehörige Portion Egoismus von Elviras Seite eine Rolle; hatte sie doch auf diese Weise das Mädchen, das sie inzwischen liebte wie eine eigene Tochter, ständig um sich.

 

Im Laufe der nächsten Jahre wurde Elvira Siebner als Autorin fast so berühmt wie als Schauspielerin.

 

Nun war Laura 21 Jahre alt und ein sehr hübsches Mädchen, mit schulterlangen, kastanienbraunen Naturlocken und warmen, rehbraunen Augen in einem ebenmäßigen Gesicht.

 

Elvira, die nicht für einen Tag von ihr getrennt sein wollte, hatte darauf bestanden, dass Laura sie auch in die Kur begleitete. Zwar konnte sie nicht mit ihr zusammen in der Klinik wohnen, aber die Diva setzte alle Hebel in Bewegung, damit das Mädchen ein Zimmer in einer möglichst nahegelegenen Pension bezog. Über die Strandpromenade betrug die Entfernung nur wenige 100 Meter.

 

Laura hatte sich in ihrem Zimmer bereits eingerichtet und besuchte nun ihre mütterliche Freundin, um sich nach deren Plänen zu erkundigen. Während Elvira so vor sich hin schwärmte und den Blick nicht vom regen Strandleben losreißen konnte, trat Laura neben sie und meinte zögernd: „Ehrlich gesagt, für mich herrscht hier ein bisschen viel Betrieb. Ich hätte es lieber etwas ruhiger. Wo nur die vielen Leute herkommen?“ - „Das werden Urlauber sein, mein Kind. Schließlich haben wir Sommer und Ferienzeit.“ gab Elvira zu bedenken.

 

„Naja, wer so was mag.“ erwiderte Laura Schulter zuckend und wandte sich wieder vom Fenster ab. „Was ist denn für den heutigen Tag geplant?“

 

Mit einem Seufzer antwortete Elvira: „Ich muss einige Anwendungen über mich ergehen lassen und kann nicht voraus sehn, wie ich mich danach fühle, und ob wir noch gemeinsam was unternehmen werden. Wie wär’s, wenn du allein die Insel aufs Korn nimmst?“ - „Ich werd’s mir überlegen. – Hast du nichts für mich zum abtippen? Ich hab die Schreibmaschine dabei.“ - „Aber Kind! Das sollte doch ein Urlaub für dich sein!“ staunte die Ältere. „Natürlich brauchst du nichts für mich arbeiten! Genieß deine Freiheit und unternimm, was dir Spaß macht!“

 

Mit diesen Worten schob sie das Mädchen energisch zur Tür hinaus.

 

Ein Weilchen später bummelte Laura ziemlich lustlos die Strandpromenade entlang und überlegte ernsthaft, was sie denn unternehmen könnte. Sie war ein Mensch, der Ruhe und Beschaulichkeit mochte. Reges Treiben und viele Leute fand sie unbequem. Schon der Weg über die Promenade zu ihrem Quartier war für sie der reinste Spießrutenlauf. In ihrem Zimmer angekommen, öffnete sie das Fenster, um die frische Seeluft herein zu lassen, und setzte sich dann mit einem Buch an den kleinen Tisch. Doch sie konnte sich nicht aufs Lesen konzentrieren, denn die laute Geräuschkulisse störte sie. Aufseufzend klappte sie das Buch wieder zu, trat ans Fenster und sah hinaus.

 

„Es muss doch auf dieser großen Insel irgendwo ein stilles, menschenleeres Plätzchen für mich geben!“ überlegte sie laut.

 

Eilig packte sie ihre Strandtasche und machte sich auf die Suche nach ihrem Paradies

 

 

Eugen Raabe genoss den Betrieb am Strand. Und er genoss die bewundernden Blicke der Frauen jeden Alters. Er war der Typ Traumprinz, groß und muskulös, mit halblangen, honigblonden Haaren und himmelblauen Augen in einem sehr männlichen Gesicht. In kleidsamen beigen Shorts und mit bloßem braungebrannten Oberkörper schlenderte er barfuss durch den Sand, ohne den Wellen auszuweichen, die seine wohlgeformten Beine umspülten. Ausnahmsweise hatte er seine Malutensilien nicht dabei. Sein Hauptmotiv für Bilder bestand in beschaulichen, menschenleeren Landschaften, und diese fand er zurzeit beim besten Willen nicht. Also genoss er die Tage in seligem Nichtstun und mit harmlosen Flirts mit Urlauberinnen.

 

Bei seinen Spaziergängen beobachtete er seine Umgebung immer sehr aufmerksam, auf der Suche nach einem geeigneten Objekt für eine flüchtige Liebelei. So entdeckte er Laura unter all den vielen Menschen auf der Strandpromenade und hielt verblüfft im Gehen inne, um sie ausgiebig zu betrachten. Das Mädchen trug ein maisgelbes, ärmelloses Bauwollkleid, und ihre bloßen Füße steckten in zierlichen, braunen Riemchensandalen. Gegen die starke Sonneneinstrahlung trug sie einen breitkrempigen Strohhut. Worauf sich Eugens Malerauge aber vor allem konzentrierte, war das vornehm blasse Antlitz. Sie fiel richtig auf unter all den braungebrannten Urlaubern. Tief beeindruckt dachte Eugen: ‚Sie hat das Gesicht einer Madonna! So was müsste man malen können!’

Unsanft wurde er aus seinen Betrachtungen gerissen, als ein Ball direkt vor seine Füße rollte. Der Absender war ein aufreizendes Fräulein in knallrotem Bikini, das auf diese Weise Eugens Aufmerksamkeit erregen wollte. Der junge Mann grinste breit in ihre Richtung und kickte den Ball wortlos zurück. Dann wandte er seinen Blick wieder zur Promenade, doch Laura war verschwunden. Eine Weile schaute Eugen noch suchend den Strand auf und ab. Schließlich meinte er achselzuckend zu sich selbst: „Pech gehabt, alter Junge!“ und schlenderte auf die ihm entgegen lächelnde Bikinischönheit zu.

 

 

 

Laura, der am Strand zuviel Betrieb war, bummelte durch das Städtchen. Aber auch hier herrschte reges Treiben. Sämtliche Cafés hatten Stühle, Tische und Sonnenschirme hinaus gestellt, und alle Plätze waren besetzt. So schlenderte Laura weiter und gelangte schließlich zum Kurhaus. Wie sie sich aus Prospekten informiert hatte, befand sich in dem Gebäude ein Theatersaal, ein Leseraum und die Spielbank. Da Laura die Hitze draußen langsam unerträglich wurde, ging sie über die große Freitreppe hinein.

 

Linkerhand befand sich der Lesesaal, das heißt, es waren 2 Räume, für Raucher und Nichtraucher. Im Rauchersaal saß nur ein einzelner alter Herr mit Pfeife und einem Stapel Zeitungen vor sich, was Laura mit einem Blick durch die Glastür feststellen konnte. Der Raum für Nichtraucher war sogar ganz leer. Nun, wer setzte sich auch bei diesem herrlichen Wetter hinein um zu lesen?

 

Laura jedenfalls hatte endlich den Ort für ihre Bedürfnisse gefunden. Aufatmend ließ sie sich in einen der gemütlichen Sessel sinken, holte ihr Buch aus der Tasche und war nach kurzer Zeit völlig in die Handlung des Romans vertieft.

 

 

Elvira machte in der Zwischenzeit eine Inhalier-Therapie. Viel lieber wäre sie am Strand gewesen, um das Getümmel dort von einem bequemen Strandkorb aus zu genießen. Aber sie sagte sich mit einem Anflug von Vernunft, dass sie schließlich nicht auf Urlaub war, sondern kurte, um wieder gesund zu werden.

 

Dann beschäftigten sich ihre Gedanken mit Laura. Das Mädchen hatte so gar keinen Unternehmungsgeist und war schrecklich verschlossen anderen Menschen gegenüber. Ob es wohl daran lag, dass sie immer nur mit Älteren zusammen war? Entweder mit ihr oder dem Vater? Es schien Elvira nicht normal, dass Laura kaum junge Leute kannte, mit denen sie ausging. In diesem Moment nahm sie sich vor, Laura mal richtig in das Nachtleben der Insel einzuführen; Klinik hin, Klinik her! Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein junges hübsches Mädchen keinen Gefallen an Geselligkeit finden würde!

 

 

Eugen brauchte noch nicht einmal seinen ganzen Charme versprühen, um das Bikinimädchen in den <Inselkeller>, die bekannte Tanzbar, einzuladen. Er wollte sie aber nicht von ihrem Quartier abholen, sondern schlug vor, man sollte sich am Abend gleich vor Ort treffen.

 

Der junge Maler hauste in einer windschiefen Bretterbude mitten in den Dünen an einer Stelle der Insel, wohin sich so gut wie nie ein Mensch verirrte. Eugen liebte sein Einsiedlerdasein. Niemand redete ihm drein; er konnte tun und lassen, was er wollte. Allerdings lebte er von seiner Kunst mehr schlecht als recht. Seine Nahrungsmittelvorräte beschränkten sich momentan auf eine Packung trockener Kekse und eine Kiste Bier. Er existierte nach dem Motto: Das bisschen was ich esse, kann ich auch trinken. Aber er würde keinesfalls zugeben, dass er schon leichte Anzeichen eines Alkoholikers zeigte! An manchen Tagen begann er schon früh morgens mit dem Trinken; und andere Tage verbrachte er wiederum völlig nüchtern.

 

Im Hinblick auf seine vielversprechende Verabredung am Abend gönnte er sich nun eine Flasche Bier. Nicht dass er sich in irgendeiner Weise Mut antrinken musste! Das hatte er wirklich nicht nötig! Doch er dachte, dass ein leichter Promillepegel der Stimmung auf alle Fälle zuträglicher war. Auch warf er sich nicht besonders in Schale, denn feine Kleidung wäre bei der Fülle, die gewöhnlich in dem Tanzschuppen herrschte, geradezu eine Sünde. So vertauschte er die Shorts lediglich durch dunkle verwaschene Jeans. Kurz entschlossen ließ er die Badehose drunter. Vielleicht ergab sich ja bei angemessener Laune die Gelegenheit zu einem nächtlichen Bad in den Wellen?

 

Dann zog er noch ein schrillbuntes Hawaiihemd an, das er fast bis zum Bauchnabel offen ließ, damit seine mäßig behaarte Brust gut zur Geltung kam. Zuletzt schlüpfte er mit nackten Füßen in braune Leinenslipper, fuhr sich in Ermangelung eines Kamms mit den Fingern durchs Haar und machte sich auf den Weg.

 

 

Ungestört, Raum und Zeit vergessend, las Laura den Roman von vorne bis hinten in eins durch. Als sie schließlich das Buch zuklappte und auf die große Wanduhr blickte, erschrak sie doch sehr; es ging schon auf den Abend zu. Dann verspürte sie ein leichtes Hungergefühl und verließ eilig den Lesesaal und das Kurhaus, um ein Restaurant aufzusuchen.

 

In einer Seitengasse fand sie ein Lokal, das den vielversprechenden Namen <Neptun> trug, und da sie Appetit auf Fisch hatte, ging sie hinein. Enttäuscht musste sie feststellen, dass der Gastraum zum Bersten gefüllt war. Sie wollte sich schon wieder zum Gehen wenden, da sprach sie eine fröhliche Männerstimme mit rheinischem Dialekt an: „Na, Fräulein? Wenn Sie allein sind und einen Platz suchen, setzen Sie sich doch einfach zu uns!“

 

Laura betrachtete den Sprecher eingehend und fand keinen Grund zum Misstrauen. Er war ein wohlbeleibter junger Mann mit Brille und Schnauzbart. Bei ihm am Tisch saßen eine freundlich lächelnde, rundliche junge Frau und ein lebhaftes, pummeliges Kind, ein Junge im Schulalter. Der Platz gegenüber der Frau war noch frei, und weil Laura nun wirklich großen Hunger verspürte, nahm sie das Angebot des Mannes dankbar an und ließ sich im Kreis der wohlgenährten Familie nieder. Das hatte sie aber nicht besser gewusst! Von 3 Seiten wurde nun eifrig auf sie eingeredet. Und das Mädchen konnte nur staunen, wie die Leute neben der unablässigen Unterhaltung noch Berge von Speisen in sich hinein stopfen konnten. Nur auf direkte Fragen gab Laura höflich aber knapp Antwort, ansonsten hörte sie lediglich dem munteren Geplauder der Familie zu. Dabei aß sie ein sehr schmackhaftes Fischgericht.

 

Beinah gleichzeitig beendeten sie die Mahlzeit. Um der Gefahr einer Einladung für den weiteren Verlauf des Abends auszuweichen, verabschiedete Laura sich hastig, nachdem sie bezahlt hatte. Draußen auf der Straße atmete sie zunächst einmal tief durch und machte sich dann auf den Weg zum Strand in der Hoffnung, dass mit langsam einbrechender Dunkelheit der Betrieb dort etwas nachgelassen hatte. Und tatsächlich traf sie nur noch auf einzelne Spaziergänger. Es war Abendbrotzeit, und alle suchten die Lokalitäten auf, um ihren Hunger zu stillen.

 

Laura schlenderte über die Strandpromenade und genoss die jetzt eingekehrte Ruhe. An einer Uferstelle, die mehr Steine als Sand aufwies, kletterte sie vorsichtig hinunter und setzte sich auf einen großen, von Wellen leicht umspülten Felsen. Mit staunenden Augen beobachtete sie einen herrlichen Sonnenuntergang in all seiner Farbenpracht.

 

 

Nur wenige Augenblicke später passierte Eugen die Stelle, an der Laura sich nieder gelassen hatte. Der rote Sonnenball berührte den Horizont und ließ die Wasseroberfläche in Flammen erglühen. Es war ein fantastischer Anblick, den der junge Künstler völlig bewegungslos und mit glänzenden Augen genoss.

 

Plötzlich entdeckte er das Mädchen, das auf dem Stein hockte. Inzwischen hatte sich die See, unbemerkt von Laura, die geistesabwesend vor sich hin träumte, bis zur Promenadenmauer vorgearbeitet. Es war Flut, und Lauras Sitzplatz wurde ganz von Wasser umgeben, sodass sie das Ufer nicht mehr trockenen Fußes erreichen würde. Eugen erkannt die brenzlige Situation und rief: „Sie sollten besser hier herüber kommen, ehe das Wasser höher steigt! Noch reicht es Ihnen nur bis zum Knie.“

 

Laura schreckte hoch und blickte zu dem jungen Mann hinüber, der sie so unvermittelt angesprochen hatte. Dann bemerkte auch sie, dass ihr Rückweg fast abgeschnitten war. Entschlossen zog sie ihre Sandaletten aus und glitt vorsichtig von dem Stein herunter. Langsam und tastend watete sie auf die abgeschrägte Ufermauer zu. Dort angekommen streckte Eugen ihr hilfreich seine Hände entgegen und zog sie zu sich herauf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde lag sie in seinen Armen. Erst jetzt erkannte er im Licht einer Laterne das Mädchen, das ihn schon am Vormittag so beeindruckt hatte. Laura blickte verschüchtert zu ihm auf, er war einen ganzen Kopf größer als sie, und stammelte unsicher: „Danke, dass Sie mich gewarnt haben!“

 

Doch Eugen winkte ab: „Nicht der Rede wert! So hoch, dass der ganze Stein bedeckt ist, steigt das Wasser sowieso nicht.“

 

Wie um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen, sagte Laura leise: „Ich war so vertieft in den Anblick des Sonnenuntergangs, dass ich alles um mich herum vergessen hab.“ - „Das kann ich gut verstehn.“ nickte Eugen und ließ seinen musternden Blick nicht von ihr.

 

Eine Weile wusste keiner der beiden etwas zu sagen. Schließlich meinte Eugen: „Soll ich Sie nach Hause begleiten? Womöglich verlaufen Sie sich sonst noch. Wo wohnen Sie denn?“

 

Aber da erwachte in Laura ein unerklärliches Misstrauen, und sie lehnte ab: „Das ist nicht nötig! Ich hab’s nicht weit.“

 

Hastig wandte sie sich um und wollte gehen, aber er hielt sie kurzerhand am Arm fest. „Einen Moment noch! Wie heißen Sie eigentlich? Ich hab Sie schon heut Morgen auf der Promenade gesehn. Sind Sie im Urlaub oder auf Kur? Ich möcht Sie gern morgen wieder treffen!“

 

Laura war empört über seine Aufdringlichkeit und schüttelte energisch seine Hand ab. „Ich möchte Sie aber nicht wieder sehn! Guten Abend!“

 

Dann lief sie davon. Eugen sah ihr verdutzt nach und überlegte einen Moment, ob er ihr folgen sollte. Doch dann dachte er an seine Verabredung im <Inselkeller> und machte sich ohne weitere Verzögerung auf den Weg dorthin.

 

 

Natürlich fand Laura ohne Schwierigkeiten zu ihrer Pension, zumal sie einen guten Orientierungssinn besaß. In ihrem Zimmer angekommen, schleuderte sie Tasche und Hut in eine Ecke, ließ sich aufs Bett plumpsen und schüttelte immer noch ungläubig über das Benehmen des jungen Mannes den Kopf. Sie dachte bei sich: ‚So ein Flegel! Was bildet der sich eigentlich ein? Hält sich wohl für unwiderstehlich? – Naja, zugegeben, er sah wirklich gut aus.’

 

Und im Gedenken seine herrlichen himmelblauen Augen, die im Licht der Laterne wie 2 Edelsteine gefunkelt hatten, lief ihr ein unerklärlicher Schauer über den Rücken. Seufzend erhob sie sich, sammelte Tasche und Hut wieder auf und legte sie ordentlich in den Schrank. Dann zog sie das Kleid aus und ein Nachthemd an und legte sich ins Bett. Aber die blauen Augen von Eugen konnte sie einfach nicht vergessen.

 

 

Am anderen Morgen erwachte Laura schon recht zeitig; zu zeitig, um schon zu frühstücken. So duschte sie, zog sich an und machte sich auf den Weg zum Strand, der zu dieser frühen Morgenstunde noch menschenleer war. Ihr Weg führte sie ganz automatisch zu dem Ort, an dem sie am Abend zuvor auf dem Felsen gesessen hatte. Als sie die Stelle erreichte, sah sie jemanden auf eben diesem Stein hocken und erkannte in ihm den aufdringlichen jungen Mann, der fasziniert den herrlichen Sonnenaufgang beobachtete. Sie wagte nicht, einen Laut von sich zu geben, um ihn nur ja nicht auf sich aufmerksam zu machen. Wortlos wollte sie über die Promenade davon laufen, da brachte es der Zufall, dass Eugen sich plötzlich umwandte sie gewahrte und in Windeseile vor ihr stand. Mit breitem Grinsen sagte er: „Hallo, da sind Sie ja wieder, meine schöne Unbekannte!“

 

Vor lauter Verblüffung konnte Laura weder etwas erwidern, noch sich von der Stelle rühren. Ihr Blick versank in Eugens himmelblauen Augen. Und niemand wusste wie es geschah. Wie magnetisch angezogen lagen die beiden sich plötzlich in den Armen und küssten sich heiß und leidenschaftlich. Es schien fast, als wollten sie nie mehr voneinander lassen.

 

Als Laura wieder zu Atem kam, rief sie erschrocken, ihn energisch von sich schiebend: „Oh Gott! Was ist nur in mich gefahren? Nein, das darf doch nicht wahr sein!“

 

Sie wandte sich hastig ab und lief davon. Doch dieses Mal folgte Eugen ihr, holte sie ein und riss sie erneut in seine Arme, um sie wieder zu küssen. Laura schien völlig wehrlos und gab sich seinen leidenschaftlichen Liebkosungen einfach hin. Erst als er anfing, an ihrem Kleid herum zu zerren, gewann ihre Vernunft wieder die Oberhand. Sie befreite sich aus seiner Umklammerung und schimpfte: „Wie komm ich denn dazu? Ich weiß noch nicht mal deinen Namen.“ - „Ich deinen doch auch nicht. Namen sind nur Schall und Rauch.“ lachte Eugen und begann erneut, sie zu küssen und zu streicheln.

 

„Nein, lass das!“ wehrte sie sich nun energischer.

 

Und ehe Eugen sie noch festhalten konnte, rannte sie davon wie von Furien gehetzt.

 

„Wann seh ich dich wieder?“ rief er ihr noch nach, doch Laura reagierte nicht.

 

Achselzuckend wandte er sich um und ging langsam, innerlich sehr aufgewühlt, in Richtung seiner Behausung. –

 

Atemlos und völlig durcheinander erreichte Laura ihr Zimmer und erschrak beim Blick in den Spiegel. Ihre Wangen waren feuerrot, und ein seltsames Glitzern stand in ihren Augen.

 

‚Was ist nur los mit mir?’ dachte sie. ‚Wie kann ich mich nur von einem wildfremden Mann derart küssen und berühren lassen?’

 

Und doch überlief sie ein wohliger Schauer in Erinnerung an Eugens Zärtlichkeiten.

 

„Du bist ja verrückt!“ schleuderte sie laut und böse ihrem Spiegelbild entgegen.

 

Dann kühlte sie ihr erhitztes Gesicht am Waschbecken und ging hinunter zum Frühstück. Gleich anschließend begab sie sich zu Elvira. Den kurzen Weg über die Strandpromenade zur Klinik legte sie im Laufschritt zurück und beobachtete ängstlich ihre Umgebung, ob nicht irgendwo Eugen wieder auftauchen würde. Sie kam sich vor wie ein gehetztes Wild und erreichte Elviras Zimmer außer Atem, aber ungehindert.

 

Nun war ihre mütterliche Freundin gar nicht da. Es dauerte jedoch nur wenige Augenblicke und sie erschien in einem kleidsamen Trainingsanzug. Erfreut rief sie, als sie Laura sah: „Da bist du ja, mein Kind! Wie hast du denn den gestrigen Tag verbracht?“

 

Laura musste schlucken, um ihrer Gefühle Herr zu werden. Dann zählte sie möglichst gleichgültig auf: „Von hier aus bin ich über die Promenade gebummelt. Dann durch die Stadt zum Kurhaus. Dort hab ich mich in den Lesesaal gesetzt, wo ich endlich die gesuchte Ruhe fand. Danach bin ich Abendbrotessen gegangen. Und zum Abschluss noch mal am Strand entlang spaziert. Und da hab ich einen herrlichen Sonnenuntergang gesehn.“

 

Elvira schaute das Mädchen verblüfft an und meinte ungläubig: „Du hast dich bei diesem fabelhaften Wetter drin aufgehalten und gelesen? Das kann doch nicht wahr sein! Ein so junger Mensch wie du gehört mitten in den Trubel. Hast du denn kein Badezeug dabei?“ - „Doch schon. Aber der Strand ist mir einfach zu voll. Solche Menschenmassen verursachen mir Unbehagen.“ - „Dann such dir doch eine weniger belebte Stelle! So was muss es doch auf dieser Insel auch geben. Sicher gibt es außer dir noch einige andre ruhebedürftige Leute. – Ich kann dich zwar überhaupt nicht verstehn, aber du sollst deinen Urlaub verbringen, wie’s dir am liebsten ist. – Übrigens hab ich schon ein paar nette Mitpatienten kennengelernt. Heut Morgen beim Frühstück. Wir wollen uns heut Nachmittag zu einem Stadtbummel treffen und dann irgendwo in einem Strandcafé gemütlich beisammen sitzen. Willst du nicht mitkommen?“

 

Laura schüttelte verneinend den Kopf und entgegnete: „Schön für dich, dass du schon Anschluss gefunden hast! Aber ich bleib lieber allein. Ich werd heut ein paar Ansichtskarten besorgen und Grüße nach Hause schicken.“ - „Tu das! Und grüß auch in meinem Namen! Ich bin zu faul zum Schreiben. – Apropos Schreiben. Ich hab ´ne Idee für ein neues Theaterstück und werd mir ein paar Stichwortnotizen machen. Wenn wir wieder zuhaus sind, können wir’s ja gemeinsam ausarbeiten.“ - „In Ordnung. Ich werd dann mal wieder gehen. Du hast ja deinen Tag für heut schon verplant.“

 

Worauf Elvira nochmals anbot: „Du kannst dich uns wirklich anschließen. Die Andern haben sicher nix dagegen. Es sind auch junge Leute dabei.“ - „Nein danke! Hab keine Angst, ich werd mich allein schon nicht langweilen. Also, mach’s gut! Ich meld mich morgen früh wieder um dieselbe Zeit.“

 

Laura umarmte Elvira und verließ sie eilig. Die Ältere sah ihr verdutzt nach. Irgendwas bewegte das Mädchen; das hatte sie deutlich gespürt. Nun, es blieb ihr nichts übrig als abzuwarten, bis Laura sich ihr anvertrauen würde.