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Fair für alle!

Sonja Eismann lebt in Berlin, ist Mitherausgeberin des Missy Magazine und arbeitet als freie Autorin. Sie war schon als Kind mit ihren Eltern auf Anti-Atomkraft-Demos, hat noch nie in ihrem Leben ein motorisiertes Fahrzeug besessen und träumt schon lange von der autofreien Stadt. Sie reist am liebsten mit dem Zug und ärgert sich, wenn Flüge billiger sind als Zugtickets. Ihre siebenjährige Tochter weist sie jetzt schon zurecht, wenn sie mal den Müll nicht richtig trennt.

Nina Lorkowski ist Technikhistorikerin und hat sich in ihrer Forschung vor allem mit der Geschichte der Energienutzung privater Haushalte beschäftigt. Zurzeit ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin und diskutiert mit Studierenden darüber, wie sich unsere Konsumgesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert hat und welche Folgen das für Mensch und Umwelt hatte. Dabei lernt sie selbst jede Menge dazu, z. B. wie viele Rohstoffe eigentlich in einem To-go-Becher stecken – und hat deshalb immer ihren eigenen Thermobecher dabei.

Liebe Leserin, lieber Leser,

gibt es eigentlich irgendein Produkt, das noch nicht mit dem Schlagwort »nachhaltig« beworben wurde? Nachhaltige Unterwäsche, nachhaltige Autos, nachhaltige Bildungsangebote – da kann man schnell den Überblick verlieren. Und vor allem den Glauben an die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs. Denn wenn auf einmal alles angeblich fair, öko und klimaneutral sein soll, warum sich dann noch selbst den Kopf darüber zerbrechen, wie man nachhaltiger leben und den nachkommenden Generationen eine einigermaßen intakte Welt überlassen kann? Für dieses Buch wollten wir uns jedoch genau von diesem »Hype« um ein Wort nicht abschrecken lassen. Stattdessen haben wir uns vorgenommen, ein wenig tiefer zu graben und herauszufinden, wie die verschiedenen Faktoren, die Nachhaltigkeit nach den meisten Definitionen ausmachen, miteinander in Beziehung stehen und wie sie sich in den verschiedensten Lebensbereichen konkret auswirken. Es ging uns dabei gerade nicht darum, unseren Leserinnen und Lesern vorzuschreiben, wie sie denn nun ganz »korrekt« leben sollen. Vielmehr wollten wir Zusammenhänge so darstellen, dass sich alle selbst ein Bild machen können. Dabei sind uns ziemlich viele erschreckende Fakten untergekommen und Dinge deutlich bewusst geworden, die wir sonst gern verdrängen. Andererseits haben wir aber auch mit tollen Leuten gesprochen, die uns angespornt haben, weiterhin kritisch zu bleiben – und trotzdem hoffnungsvoll.

Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen,

Sonja und Nina

Inhalt

Was ist »Nachhaltigkeit?«

Kapitel 1: Energie

Klimawandel und erschöpfte Ressourcen

Stromwirtschaft vs. Bürgerinteressen

Vom elektrischen Zigarrenanzünder zum Tablet

Atomstrom

Schornsteine zählen

Kapitel 2: Müll

Wir schwimmen im Müll

»Der Wandel zur Nachhaltigkeit wird die ganze Welt erfassen«

Plastiksuppe im Meer

Der am schnellsten wachsende Müllberg der Welt

Weniger ist weniger

Kapitel 3: Nahrung

Die Kuh und das Klima

Der hohe Preis von »billig«

Was jetzt: bio, fair, regional – oder alles zusammen?

Der unsichtbare Dauergast

Kann mein Teller die Welt retten?

Esst hässliches Gemüse!

Kapitel 4: Kleidung

Einkaufen, in den Schrank hängen – wegwerfen

13 Cent für ein T-Shirt

»Freiwillige Selbstverpflichtung ist nicht genug!«

Ein Kleidungsstück für ein ganzes Jahr

Kleider aus Plastikflaschen, Büchern und Milch

Kauf weniger, kauf besser

Kapitel 5: Mobilität

Jetzt bloß nicht stehen bleiben

Was uns antreibt

Die Zukunft der Automobilität

Freie Fahrt für alle!

Dinge auf Reisen

Fernreise oder Naherholungsgebiet?

Kapitel 6: Wohnen

Wie wir wohnen wollen

Luxusgut oder Grundrecht?

Wände, die sich bewegen und ihre Form ändern

Von Strohhäusern und Ökoeiern

Gemeinsam Wohnraum gestalten

Kapitel 7: Migration

Menschen in Bewegung

Über die Freiheit, sich weltweit bewegen zu können

Ohne menschliche Mobilität keine Entwicklung

Fern und doch so nah

»Mehr als eine Ausnahme«

Was ist »Nachhaltigkeit?«

Eine kleine Begriffsgeschichte

Hans Carl von Carlowitz war Vize-Berghauptmann im sächsischen Freiberg, wo man viel Holz für den Grubenausbau und als Brennmaterial für die Schmelzöfen benötigte. Als der Wald nicht mehr schnell genug nachwuchs und die »Holznot« ausgerufen wurde, veröffentlichte Carlowitz im Jahr 1713 seine Abhandlung »Sylvicultura oeconomica«. Hier wurde zum ersten Mal das Prinzip von Nachhaltigkeit als Grundsatz für den Umgang mit einer knappen Ressource formuliert. Es sollte nur so viel Holz geschlagen werden, wie nachwächst, um auch zukünftigen Generationen die Nutzung dieser Ressource möglich zu machen.

Heute wird Carlowitz’ Abhandlung als die erste grundlegende Definition von Nachhaltigkeit bezeichnet. Erst 1972 wurde der Begriff in einer Studie des Club of Rome wiederentdeckt und um eine globale Dimension erweitert: Wir haben nur diese eine Erde und wenn unsere stetig wachsende Weltbevölkerung so weitermacht wie bisher, droht der Kollaps. Eine neue Debatte über Umweltprobleme wurde entfacht und es wuchs ein Bewusstsein dafür, dass Eingriffe in die Umwelt nicht vor lokalen Grenzen haltmachen: dass z. B. Giftstoffe auf unseren Feldern von Vögeln in andere Erdteile getragen werden und die Abholzung des Regenwaldes unser Klima beeinflusst. Es wurde klar, dass die Auswirkungen von Rohstoffnutzung und Schadstoffemissionen verantwortlich für Hunger, Armut oder mangelhafte hygienische Bedingungen in den sogenannten Entwicklungsländern sind. In der Studie des Club of Rome wurde deutlich formuliert, dass es die Industriestaaten sind, also etwa 20 % der Weltbevölkerung, die maßgeblich diese Probleme auf den restlichen Erdteilen zu verantworten haben. Im 1997 verabschiedeten Kyoto-Protokoll wurde von den Vereinten Nationen das Ziel festgelegt, die Emission von Treibhausgasen so weit zu reduzieren, dass ein menschengemachter Klimawandel verhindert werden könne. Im Jahr 2000 legten die Vereinten Nationen Millenniumsziele vor, bei denen Armutsbekämpfung, Zugang aller Kinder zu Bildungseinrichtungen, Gleichstellung von Mann und Frau, Prävention von Krankheiten, Schuldenabbau, Entwicklungshilfe sowie Umweltschutzmaßnahmen zum Erhalt der Lebensgrundlagen der Menschen im Zentrum standen. 2015 wurden diese Ziele in der Agenda 2030 noch einmal aufgegriffen und erweitert. Auch wenn die tatsächliche Umsetzung dieser Ziele bisher eher bescheiden ist, so haben die internationalen Konferenzen den Begriff Nachhaltigkeit auf entscheidende Weise geprägt: Ökologische, soziale und ökonomische Aspekte müssen stets gemeinsam und mit gleichem Stellenwert berücksichtigt werden.

Unter diesen drei Aspekten lassen sich auch die Themen Energie, Müll, Nahrung, Kleidung, Mobilität, Wohnen und Migration betrachten: Unter welchen Voraussetzungen wird auch in Zukunft unser stetig wachsender Energiebedarf gedeckt werden können? Welche Auswirkungen haben unser Konsumverhalten und unsere ressourcenintensive Lebensweise global gesehen? Wie tragen wir dazu bei, dass Menschen in entfernten Ländern ihre Heimat verlassen müssen? In den einzelnen Kapiteln wird deutlich, dass unser Handeln in weltweiten Zusammenhängen steht und Folgen für Mensch und Umwelt hat. Um auch die Zusammenhänge zwischen diesen Themen zu verdeutlichen, befinden sich in jedem Kapitel Icons, die auf ein jeweils anderes Kapitel verweisen:

Am Ende stellt sich heraus, dass jeder von uns im Sinne von Nachhaltigkeit etwas tun kann, sei es beim bewussten Einkauf, auf dem täglichen Weg zu Schule und Arbeit oder indem wir an den richtigen Stellen mitreden und uns einbringen.

Kapitel 1: Energie

> Energiehunger und Klimawandel

> Energiewende und soziale Gerechtigkeit

> Atomstrom

> mit neuen Technologien in die Zukunft

Klimawandel und erschöpfte Ressourcen

Die Energiewende steht an

Beleuchtung, Transport, Güterproduktion – moderne Gesellschaften verbrauchen jede Menge Energie. Verbrauchen? Besagt nicht der Erste Hauptsatz der Thermodynamik, dass Energie nur umgewandelt, aber nicht verbraucht werden kann?

Das stimmt zwar, dennoch können wir von Energieverbrauch sprechen. Denn jede Umwandlung von Energie, z. B. die Verbrennung von Kohle zur Stromerzeugung und die Umwandlung der elektrischen Energie zum Antrieb eines Motors, ist jedes Mal mit Energieverlusten verbunden. Diese Energie verschwindet nicht, verpufft aber als nicht nutzbare Wärmeenergie.

Vor allem die Freisetzung von Treibhausgasen (insbesondere Kohlendioxid, aber auch Methan, Lachgas oder FCKW) stellt dabei ein großes Problem dar. Durch die erhöhte Konzentration von Treibhausgasen kann die Atmosphäre viel mehr Sonnenenergie aufnehmen, das heißt, sie heizt sich auf, genauso wie ein Gewächshaus – deshalb wird dieses Phänomen auch »Treibhauseffekt« genannt. Durch den Einfluss der Menschen hat sich dieser Treibhauseffekt so sehr verstärkt, dass sich das Klima verändert. Die globale Durchschnittstemperatur hat sich in Bodennähe mittlerweile um 0,74 °C erhöht und es wird ein rapider Anstieg in den nächsten 100 Jahren erwartet.

Diese Erwärmung des Klimas hätte katastrophale Folgen: Durch den Anstieg der Meeresspiegel würden Menschen ihre Heimat verlieren, infolge von Dürreperioden oder heftigem Niederschlag würden landwirtschaftliche Erträge vernichtet werden – um nur einige Beispiel zu nennen. Regionen, die für diese Veränderungen nicht die Hauptverantwortung tragen, wären am schlimmsten betroffen.

Die »Energiewende« soll diesen Prozess aufhalten. Gemeint ist damit der Übergang von einem Energiesystem, das auf fossilen Energieträgern wie Kohle, Öl und Gas basiert, hin zu einer Energieversorgung durch erneuerbare Energien wie Wind, Sonne oder Biomasse. Mit der Umsetzung der Energiewende kommen große Herausforderungen auf uns zu. Zum einen technische, z. B. muss das Stromnetz stabil bleiben, auch wenn Wind und Sonne nur unregelmäßig verfügbar sind. Zum anderen ökologische Probleme, wenn beispielsweise Landschaften in riesige Felder zur Anpflanzung von Biomasse umgewandelt werden. Auch wirtschaftliche und soziale Faktoren spielen eine Rolle: Die Energiewende schafft nicht nur neue Arbeitsplätze, sie bedeutet für einige auch den Jobverlust.

Doch die Tatsache, dass das nicht die erste Energiewende in der Geschichte ist, die gemeistert werden muss, sollte uns optimistisch stimmen. Die gesamte Menschheitsgeschichte ließe sich als Geschichte der Energienutzung und Energietransformationen beschreiben. Angefangen bei der Biomasse, also der Abholzung von Wäldern, um Holz als Brennmaterial nutzen zu können, und der Landwirtschaft, um Zugtiere zu ernähren und zu züchten. Mit der Kohle standen neue Energiereserven bereit und sie bedeutete einen großen Sprung in das industrielle Zeitalter. Dampfmaschine, Eisenbahn, Stromversorgung – diese Technologien prägen unser Leben bis heute. Es ist eine Geschichte des intensiven Ressourcenverbrauchs und der Erzeugung von Emissionen. Seit Beginn der Industrialisierung bis heute erhöhte sich der Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre von 280 auf 377 ppmv (Millionstel Volumenanteile). Es besteht deshalb heute kein Zweifel daran, dass der Klimawandel durch den Menschen beeinflusst wurde.

Bisher basiert der weltweit wachsende Energiehunger noch auf fossilen Ressourcen wie Kohle, Öl und Erdgas. Diese Energiequellen sind nicht nur ungleich auf der Erde verteilt, sie gehen auch zur Neige. Deshalb und um das Klima zu schützen, muss die Energieversorgung umgestellt werden.

Zukünftig sollen Sonne, Wind oder nachwachsende Biomasse Energie produzieren. Länder wie Dänemark, Deutschland und Schweden haben hier schon viel erreicht. In Deutschland beträgt der Anteil der erneuerbaren Energien bei der Stromerzeugung zurzeit etwa 30 %. 14 % werden von Kernkraftwerken erzeugt, 24 % stammen aus Braunkohlewerken, 18,2 % werden aus Steinkohle gewonnen. Diese Entwicklung ist grundsätzlich positiv zu bewerten, reicht jedoch nicht aus, um die für Deutschland verabschiedeten Klimaschutzziele zu erreichen. Das ist nur möglich durch eine Reduzierung des Energieverbrauchs.

Bis in die 1990er-Jahre hinein ging man davon aus, dass wirtschaftliches Wachstum und Energieverbrauch zwei sich gegenseitig bedingende Entwicklungen darstellen. Weil gesellschaftlicher Wohlstand mit hohem Energieverbrauch gleichgesetzt wurde, waren die Bemühungen der Industrieländer entsprechend gering, ihren Verbrauch zu reduzieren. Mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden. Wir wissen, dass wirtschaftliches Wachstum auch möglich ist, wenn der Energieverbrauch sinkt, dank neuer effizienter Technologien und des Bemühens, den Rohstoffverbrauch so weit wie möglich zu reduzieren.

Stromwirtschaft vs. Bürgerinteressen

Die Energiewende im Spannungsfeld

Interview mit Ann-Morla Meyer, Bürgerenergie Berlin

Frau Meyer, wie sähe Ihrer Meinung nach eine nachhaltigere Energieversorgung aus?

Wenn wir von der Zukunft der Energieversorgung sprechen, betrifft das eigentlich drei Bereiche: Zum einen gehört dazu die Frage, mit welchen Technologien die Energie, die wir brauchen, erzeugt wird. Zum anderen betrifft das aber auch die Netzwerke der Energieverteilung und schließlich auch die Frage danach, wie diese Technik organisiert und verwaltet wird.

Fangen wir mal mit der Energieerzeugung an …

Zurzeit basiert unsere Energieversorgung größtenteils noch auf fossilen Energieträgern, also Kohle, Kernenergie, Erdöl oder Erdgas. Nachhaltiger sind regenerative Energien, also diejenigen Energieformen, die sich nicht erschöpfen, das heißt, die entweder z. B. durch die Umwandlung von Windkraft oder Sonnenstrahlen verfügbar sind oder auf nachwachsenden Rohstoffen basieren, wie das bei einer Biogasanlage der Fall ist. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Energieversorgung in Deutschland beträgt zurzeit 30 % – und diesen Anteil gilt es weiter auszubauen.

Darauf haben die Verbraucherinnen und Verbraucher ja selbst großen Einfluss, indem sie sich bei der Wahl des Stromanbieters für Ökostrom entscheiden, oder?

Auf jeden Fall! Aber man sollte beachten, dass unter den vielen Anbietern nur einige wenige sind, die das Geld meiner Stromrechnung auch wirklich in den Ausbau erneuerbarer Energien stecken.

Nur mit dem Kauf von Ökostrom ist es leider noch nicht getan. Es ist unrealistisch, anzunehmen, dass wir die große Menge Energie, die wir heute verbrauchen, in wirtschaftlicher Weise allein mit regenerativen Energien decken können. Deshalb müssen wir das Augenmerk auch auf die Reduzierung des Energieverbrauchs legen – und die erreichen wir nicht allein, indem wir Geräte effizienter gestalten, sondern wir müssen lernen, mit Energie sparsamer umzugehen.

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Und was muss sich in Bezug auf die Verteilungsnetzwerke ändern?

Historisch betrachtet ist die Phase, in der die Energieversorgung der Menschen auf fossilen Energieträgern basierte, ziemlich kurz: Sie beginnt mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der Durchsetzung von Kohle als Energieträger. Logisch, dass sich die Menschen damals dort ansiedelten, wo diese neue Energie auch verfügbar war. Auf diese Weise entstanden urbane Ballungszentren. Mit dem Beginn eines neuen Energiezeitalters, das auf regenerativen Energiequellen basiert, verändern sich die Standorte der Energieerzeugung. Deshalb brauchen wir ein Netz, das die Energie gerecht verteilt und dahin transportiert, wo die Leute wohnen, die sie brauchen. Also z. B. von den großen Offshorewindparks nach Bayern, wo nicht so viel Strom durch Wind erzeugt werden kann. Dafür brauchen wir große Stromtrassen mit leistungsstarken Verteilernetzen.

Aber die bedeuten doch einen massiven ökologischen Eingriff! Ist das die einzige Möglichkeit?

Ja, das ist tatsächlich ein Problem, für das noch eine Lösung gefunden werden muss – aber bei der Erneuerung des Energieversorgungssystems gibt es nicht nur den Trend der Vergrößerung und des überregionalen oder sogar internationalen Ausbaus der Versorgungsnetzwerke, sondern gleichzeitig finden auch Prozesse statt, bei denen alles lokaler wird. Durch die Digitalisierung wird eine stärkere Direktvermarktung von Strom möglich. Ich wäre dann nicht einfach Kundin oder Kunde eines großen Stromanbieters, sondern nutze zunächst die lokal verfügbare Energie, z. B. die, die meine Nachbarn mit ihrer Solaranlage ins Netz gespeist haben.

Das heißt, die großen Energiekonzerne werden überflüssig?

Es gibt in der Tat einen Konflikt zwischen den Interessen eines großen Energieversorgungsunternehmens und dem Ziel einer nachhaltigen Energieversorgung. Ein großer Konzern will zunächst einmal Geld verdienen und Gewinne erwirtschaften. Umweltauflagen wird ein solches Unternehmen nur nachkommen, wenn es sich wirtschaftlich für das Unternehmen rechnet oder wenn es vonseiten der Politik dazu gezwungen wird.

Aus diesem Grund ist es in Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Energieversorgung auch wichtig, die Organisation und Verwaltung des Netzwerks zu beachten.

Was meinen Sie genau damit?

Hierbei geht es um die Festlegung von Eigentumsverhältnissen bzw. wer über Veränderungen entscheidet und wer in welcher Weise davon profitiert. Gesetzgebungen spielen dabei eine entscheidende Rolle, wie zum Beispiel das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das 2014 verabschiedet wurde.

Worum geht es bei diesem Gesetz?

Die Umstellung auf erneuerbare Energien kostet Geld. Dieses Geld wird auf alle Verbraucherinnen und Verbraucher umgelegt, unabhängig davon, ob man viel oder wenig verdient. Für eine Familie, die von Sozialleistungen lebt, ist die dadurch entstehende Verteuerung der Energiekosten eine Menge Geld, für Besserverdienende fällt die EEG-Umlage dagegen weniger ins Gewicht. Gleichzeitig fördert die Bundesregierung über das EEG auch Investitionen in erneuerbare Energien, indem sie allen Leuten, die Strom aus erneuerbaren Energien ins Netz speisen, einen Vergütungssatz von 8 Cent pro Kilowattstunde zahlt. Das heißt, alle Menschen, die sich eine Solaranlage aufs Dach bauen oder ein Windrad auf ihrem Grundstück errichten lassen, profitieren auch gleichzeitig finanziell von der Energiewende.

Das bedeutet doch, dass zwar alle die gleiche EEG-Umlage zahlen, aber eigentlich nur Leute, die ein eigenes Haus haben oder ein großes Privatgrundstück sowie Kapitalvermögen, um z. B. eine Solaranlage zu bauen, auch die Möglichkeit haben, finanziell von der Energiewende zu profitieren.

Ganz genau! Gerade für einkommensschwache Haushalte wird die Energiewende auf diese Weise teuer, während andere damit Geld verdienen können. Ein Nachteil des EEG ist auch, dass die Bürgerinnen und Bürger für die Mehrkosten aufkommen, doch umgekehrt im Fall von Überproduktion sinkende Preise nicht an die Bürgerinnen und Bürger weitergereicht werden. Sie sehen also, bei der Neuausrichtung der Energieversorgung geht es nicht nur um ökologische, sondern auch soziale und ökonomische Nachhaltigkeit!

Was macht eine Genossenschaft wie die Berliner Bürgerenergie, in der Sie ja aktives Mitglied sind, anders?

Die Idee der Berliner Bürgerenergie entstand eigentlich aus dem Ziel heraus, das Berliner Stromnetz zu kaufen und dieses genossenschaftlich zu reorganisieren. Die Möglichkeit bestand, weil die Konzession für das Netz auslief. In dieser Hinsicht sind die Verhandlungen mit dem Senat der Stadt Berlin zurzeit aber leider wenig erfolgversprechend.

Eine Genossenschaft ist eine besondere Form der Unternehmensführung. Jede Person kann Mitglied werden und alle Mitglieder treffen Entscheidungen gemeinsam. Auch mit einem kleinen Beitrag kann man Mitglied werden. Das Wichtigste ist, dass alle mit anpacken und sich einbringen. In der lokalen Anbindung liegt ein wichtiger Vorteil einer Genossenschaft. Weil die Leute einen konkreten Bezug dazu haben, sind sie eher bereit, sich auf Veränderungen einzulassen, gleichzeitig werden Projekte gefördert, die vor der eigenen Haustür umsetzbar sind. Es geht nicht darum, Geld zu verdienen, sondern darum, die eigene Lebenssituation zu verbessern und die der Kinder und Enkelkinder.

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Was wäre das zum Beispiel?

Wir verfolgen beispielsweise die Idee eines Metastromprojekts, bei dem Solaranlagen auf den Dächern von Mietshaussiedlungen installiert werden. Auf diese Weise können sich auch Menschen, die kein eigenes Hausdach haben, an der Energiewende beteiligen.

Sehen Sie in solch bürgernahen Pilotprojekten einen Trend für die Zukunft?

Das ist schwer zu sagen. In den letzten 15 Jahren konnten sich nachhaltige Energieprojekte aus Bürgerhand gut entwickeln. Nun gibt es ein neues Gesetz, das es kleinen Projekten schwer macht. Die Bundesregierung hat seit 2016 eine Ausschreibungspflicht für Projekte im Bereich erneuerbarer Energien festgelegt. Eine Bürgerinitiative kann jetzt nicht mehr einfach ein Projekt, z. B. eine Fotovoltaikanlage auf einer Brachfläche, für ein bestimmtes Gebiet vorschlagen, sondern die Planungsstelle der Gemeinde macht eine offizielle Ausschreibung für das Projekt. Dann gibt es einen Wettbewerb darüber, wer ein Projekt umsetzen darf. Da hier eine genossenschaftliche Initiative mit großen Unternehmen konkurrieren muss, verringern sich deren Einflussmöglichkeiten.

Es ist deshalb wichtig, auch bei der Gesetzgebung darauf zu achten, dass Initiativen, die bisher eine positive Entwicklung gefördert haben, weiter aktiv sein können!

Ann-Morla Meyer hat erneuerbare Energien und Technikgeschichte an der TU Berlin studiert, arbeitet am Deutschen Institut für Normung (DIN) und ist aktives Mitglied in der Berliner Energiegenossenschaft »Bürgerenergie«.

Vom elektrischen Zigarrenanzünder zum Tablet

Stromverbrauch gestern, heute und morgen

Ohne Strom geht gar nichts: Wir hätten kein Toastbrot, kein Smartphone und auch kein warmes Wasser – denn selbst die Gastherme braucht ein bisschen Strom – und wir hätten natürlich auch kein Licht. Strom ist im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Alltags geworden. Angefangen hat alles zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit der elektrischen Glühbirne, die sauberer und sicherer war als das Gaslicht.

Bereits um 1900 gab es kleine elektrische Geräte, wie z. B. elektrische Zigarrenanzünder, Eierkocher oder Ventilatoren. Diese wurden genutzt von Leuten, die es sich leisten konnten und die zeigen wollten, wie modern und fortschrittlich sie sind. Es handelte sich dabei um Statussymbole, vergleichbar mit den heutigen Smartphones oder Tablets. Vielerorts arbeiteten Städte und Elektrizitätswerke eng zusammen, sodass in den 1920er-Jahren große städtische Versorgungsnetzwerke entstanden. Der Alltag der Menschen wurde nach und nach immer weiter elektrifiziert: Strom trieb die Maschinen in den Fabriken an, die Arbeiterinnen und Arbeiter fuhren mit der elektrischen Straßenbahn zu den Betrieben, und auch zu Hause kamen immer mehr Leute in den Genuss einer elektrischen Beleuchtungsanlage. Der »Stromhunger« wuchs. Um ihn zu decken, wurden an den Stadträndern große Kohlekraftwerke gebaut und die Leitungsnetze ausgebaut.