Dr. Daniel 55 – Einst ein Star - und jetzt vergessen

Dr. Daniel –55–

Einst ein Star - und jetzt vergessen

Roman von Marie-Francoise

  Svenja Birkert war voll konzentriert. Ihr Körper glich einem gespannten Bogen, der nur darauf wartete, losschnellen zu dürfen. Sie hob sich auf die Fußspitzen und wartete auf die Kommandos der Ballettmeisterin.

  »Cambré… und passé… und fouetté… und révoltade… Eine Feder mußt du sein! Der Hauch eines Windes muß dich hochheben! Jetzt die capriole…«

  So leicht wie eine Feder im Wind schwebte Svenja über die Bühne. Ihre Fußspitzen schienen den Boden überhaupt nicht mehr zu berühren. Doch dann der Fehler… ein häßliches Knirschen im Fußgelenk… der Sturz…

  »Nein!«

  Svenja erwachte von ihrem eigenen Schrei. Das Nachthemd klebte an ihrem schweißnassen Körper, die Haare hingen in langen, feuchten Strähnen herab. Sie bebte wie im Schüttelfrost, dann fühlte sie den Druck in der Kehle. Ihre Hände fuhren in Panik an den Hals.

  In diesem Moment stürzte ihre Mutter herein.

  »Svenja, um Himmels willen, schon wieder…«, stieß sie hervor.

  »Ich ersticke! Mama, ich… ersticke…«

  Mathilde Birkert machte auf dem Absatz kehrt, rannte zum Telefon und alarmierte den Notarzt. Das gehörte für sie seit mehr als zehn Jahren zur Routine.

  Beim notärztlichen Dienst war sie ebenfalls schon bekannt.

  »Es ist also wieder mal soweit«, erklärte der junge Sanitäter, der mit seinem Kollegen die fahrbare Trage hereinbrachte. Mit geübten Griffen legte er Svenja eine Sauerstoffmaske an, dann wurde die Dreißigjährige auf die Trage gelegt und zum Krankenwagen gebracht…

*

  Wenige Minuten später bog dieser in die Einfahrt des Kreiskrankenhauses, während das Martinshorn mit einem letzten Aufjaulen verstummte. Die Hecktüren wurden aufgerissen und die fahrbare Trage herausgezogen. Mit einem stählernen Rasseln klappten die Räder nach unten, dann schoben die Sanitäter Svenja in die Notaufnahme hinein. Der diensthabende Arzt kam sofort herbeigeeilt und warf einen Blick auf die junge Frau, deren Hände trotz der Sauerstoffmaske immer wieder ängstlich an den Hals fuhren.

  »Was ist?« fragte er knapp.

  »Sie leidet unter Atemnot«, gab der Sanitäter Auskunft, dann betrachtete er den Arzt, den er hier noch nie gesehen hatte. »Sie können gleich den Chefarzt benachrichtigen. Er kennt Frau Birkert seit Jahren.«

  Der Arzt war sichtlich erstaunt.

  »Aber die Erstversorgung…«, begann er, doch der Sanitäter unterbrach ihn.

  »Ist hier nicht nötig.« Er dämpfte die Stimme. »Die Frau ist kerngesund. Blutdruck hundertzwanzig zu siebzig, Puls achtzig. Herz- und Lungengeräusche unauffällig. Benachrichtigen Sie den Chefarzt. Er weiß Bescheid.«

  Der Arzt wandte sich der nun ebenfalls herbeieilenden Schwester zu. »Informieren Sie bitte den Chef.« Er warf einen Blick auf die Karte, die von den Sanitätern angelegt worden war und auf dem Kopfteil der Trage lag. »Svenja Birkert…«

  Die Schwester seufzte leise und flüsterte: »Schon wieder. Da wird sich der Chef freuen.«

  Währenddessen brachte der junge Arzt die Patientin persönlich in eines der Untersuchungszimmer. Es dauerte nicht lan-

ge, bis Chefarzt Dr. Breuer erschien.

  »Na, Frau Birkert, haben

Sie wieder Atembeschwerden?« fragte er, während er ihr die Sauerstoffmaske abnahm.

  »Ja, Herr Chefarzt«, keuchte sie. »Ich hatte wieder den Traum, und diesmal… diesmal hatte ich wirklich Angst zu ersticken.« Dabei griff sie erneut an ihren Hals. »Was ist das nur?«

  »Nichts Schlimmes, Frau Birkert«, beruhigte der Chefarzt sie. »Gleich wird es Ihnen bessergehen.« Er ließ von der Schwester eine Spritze vorbereiten und injizierte sie rasch und geschickt. »So, Frau Birkert, nun werden Sie bald wieder leichter atmen können.«

  Svenjas Züge entspannten sich, sogar ein Lächeln erschien auf ihrem aparten Gesicht.

  »Ja, Herr Chefarzt, jetzt fühlte ich mich schon viel besser.«

  Dr. Breuer lächelte und tätschelte ihren Arm. »Schwester Ingrid wird Sie auf die Station bringen, und ich sehe dann in einer halben Stunde nach Ihnen.«

  Svenja erschrak. »In einer halben Stunde erst? Aber wenn ich wieder keine Luft bekomme?«

  »Ich habe Ihnen doch gerade die Spritze gegeben, Frau Birkert. Da kann jetzt überhaupt nichts passieren.«

  Svenja atmete erleichtert auf.

  »Wir sehen uns gleich«, versprach Dr. Breuer noch einmal, dann gab er der Schwester ein Zeichen, daß sie die Patientin nach oben bringen könne.

  »Was haben Sie ihr da für ein Wundermittel gespritzt?« wollte der Arzt wissen, der die Behandlung des Chefarztes staunend verfolgt hatte.

  »Ein harmloses Vitaminpräparat«, antwortete Dr. Breuer, dann strich er mit einer bedächtigen Handbewegung über seinen Kopf. »Frau Birkert wird regelmäßig hier in der Klinik eingeliefert. Meistens mit Atemnot, gelegentlich auch mit einem drohenden Herzanfall, unerträglichen Kopf- oder Magenschmerzen. Sie haben das nur noch nicht mitbekommen, weil Sie ziemlich neu hier sind.«

  »Also eine eingebildete Kranke«, schloß der Arzt.

  Dr. Breuer nickte. »Vor zehn oder zwölf Jahren soll sie eine bekannte Ballettänzerin gewesen sein. Sie muß eine vielversprechende Karriere vor sich gehabt haben, doch ein komplizierter Beinbruch hat diesen Traum dann zunichte gemacht. Seitdem redet sie sich ständig irgendwelche Krankheiten ein.« Er seufzte. »Allerdings kann ich ihr da im Grunde nicht viel helfen. Nach einer solchen Geschichte kann ich sie höchstens eine Woche zur Beobachtung hierbehalten. Dabei weiß ich jedesmal bereits an ihrem Entlassungstag, daß sie spätestens in einem Monat wieder hier sein wird.«

  »Aber das geht doch so nicht weiter«, entgegnete darauf der Arzt.

  Der Chefarzt seufzte. »Was soll ich tun? Sie müßte eine Therapie machen, aber die lehnt sie ab, weil sie sich ja psychisch völlig gesund fühlt. Sie ist überzeugt davon, körperlich krank zu sein. Ich habe unseren Psychiater Dr. Berg auf den Fall aufmerksam gemacht, aber er blieb leider erfolglos. Frau Birkert hat sich geweigert, überhaupt mit ihm zu sprechen.«

  »Ein schwieriger Fall«, urteilte der junge Arzt. »Was werden Sie jetzt tun, Herr Chefarzt?«

  Dr. Breuer zuckte die Schultern. »Das, was ich immer tue. Ich werde mich ein bißchen um sie kümmern und sie in einer Woche wieder aus der Klinik entlassen.«

  »Das ist aber keine Lösung für ihr Problem.«

  »Das weiß ich auch«, erklärte Dr. Breuer. »Allerdings habe ich keine andere Wahl. Mit Dr. Berg will sie nicht sprechen, und ich habe nicht die Zeit, um mich mit einer einzigen Patientin so intensiv zu beschäftigen. Das würde den Rahmen der Klinik sprengen. Wir sind hier ein Kreiskrankenhaus, kein Sanatorium.«

*

  Svenja Birkert fühlte sich erschöpft und niedergeschlagen. Die Einlieferung ins Kreiskrankenhaus hatte nicht viel gebracht. Schon wieder fühlte sie den Druck in ihrem Hals und begann hektischer zu atmen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach der Klingel.

  Es dauerte keine zwei Minuten, bis Schwester Ingrid hereinkam.

  »Was ist denn, Frau Birkert?« fragte sie mit einem freundlichen Lächeln.

  »Es geht wieder los«, keuch-te Svenja. »Ich bekomme keine Luft!«

  Mit geübten Griffen legte Schwester Ingrid ihr die Sauerstoffmaske an.

  »Ich hole den Chefarzt«, versprach sie dann.

  Svenja nickte dankbar.

  »Ja, was machen Sie denn für Sachen, Frau Birkert?« fragte Dr. Breuer, als er das Zimmer betrat. Er hatte die vorbereitete Spritze schon mitgebracht und injizierte das Vitaminpräparat, dann setzte er sich auf die Bettkante und nahm der jungen Frau die Sau-erstoffmaske ab. »Ist es so schlimm?«

  Svenja nickte. »Ich fühle mich überhaupt so schlecht. Ständig habe ich dieses Herzrasen und seit ein paar Tagen auch noch ganz schreckliche Unterleibsschmerzen. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich noch gehen und stehen soll.«

  »Dann wird es am besten sein, wenn wir Sie in die Gynäkologie verlegen, damit…« Er stockte, denn auf einmal kam ihm ein Gedanke, doch er sprach ihn noch nicht aus. Zuerst mußte er alles Nötige arrangieren.

  »Ich war schon bei Frau Dr. Steiger«, erklärte Svenja niedergeschlagen. »Aber sie hat gesagt, ich wäre eine Simulantin.«

  Dr. Breuer seufzte. Die Gynäkologin, die hier in der Kreisstadt tätig war, hatte im Umgang mit ihren Patientinnen leider nur sehr wenig Feingefühl.

  »Ich werde mir etwas überlegen«, meinte er. »Keine Sorge, Frau Birkert, wir werden für Sie die beste Lösung finden.«

  »Hoffentlich«, flüsterte Svenja. »Lange halte ich diese Schmerzen nämlich nicht mehr aus.«

  Dr. Breuer stand auf, tätschelte aufmunternd die Hand der jungen Frau, dann ging er eiligst in sein Büro.

  »Rufen Sie bitte in der Praxis von Dr. Daniel in Steinhausen an«, bat er seine Sekretärin, »und stellen Sie das Gespräch zu mir durch.«

  »In Ordnung, Herr Chefarzt«, versicherte sie, doch schon wenig später meldete sie sich über die Gegensprechanlage. »Dr. Daniel hält sich im Moment nicht in seiner Praxis auf, aber die Empfangsdame hat zugesagt, daß

er zurückrufen wird, sobald

er zur Nachmittagssprechstunde kommt.«

*

  Dr. Robert Daniel war erstaunt, als seine Empfangsdame Gabi Meindl ihm ausrichtete, er möge bitte unverzüglich den Chefarzt des Kreiskrankenhauses anrufen.

  »Guten Tag, Herr Kollege«, grüßte Dr. Daniel, als er Dr. Breuer am Apparat hatte. »Was gibt es denn so Dringendes?«

  »Ich habe ein Attentat auf Sie vor«, entgegnete Dr. Breuer.

  »Das hört sich ja äußerst gefährlich an«, meinte Dr. Daniel.

  »Gefährlich ist es sicher nicht, aber vermutlich wird es ziemlich zeitaufwendig«, prophezeite der Chefarzt. »Ich habe da eine Patientin – dreißig Jahre alt und hoffnunglos hypochondrisch. Durchschnittlich ein- bis zweimal pro Monat wird sie mit dem Krankenwagen hier eingeliefert, aber sie ist körperlich kerngesund. Die Palette ihrer vermeintlichen Krankheiten ist sehr lang, aber heute hat sie nun zum erstenmal über Unterleibsschmerzen geklagt…«

  »Und da haben Sie natürlich sofort an mich gedacht«, vollendete Dr. Daniel den angefangenen Satz.

  »Ja«, gab der Chefarzt zu. »Allerdings nicht nur an Sie als Gynäkologe, sondern vor allem auch als Direktor der Waldsee-Klinik. Sie wissen ja, wie es hier im Kreiskrankenhaus zugeht. Wir haben einfach nicht die Zeit, um uns eingehender mit den Patienten zu befassen. Das gefällt mir zwar nicht, aber Tatsache ist nun mal, daß wir hier einen regelrechten Massenbetrieb haben. In Ihrer Waldsee-Klinik ist das anders. Wobei ich natürlich nicht abstreiten will, daß Sie da auch eine Menge Arbeit haben«, fügte er rasch hinzu.

  »Keine Sorge, Herr Kollege, ich habe das schon richtig verstanden«, meinte Dr. Daniel. »Sie haben auch vollkommen recht. Die Waldsee-Klinik ist bei aller Technik, über die wir verfügen, klein genug, daß man jeden Patienten recht individuell betreuen kann.«

  Er schwieg einen Moment. »Sie können die Patientin nach Steinhausen bringen lassen, wann Sie wollen. Ich werde gleich veranlassen, daß ein schönes Zimmer für sie hergerichtet wird.«

  »Danke, Herr Kollege«, erklärte Dr. Breuer. »Damit tun Sie mir wirklich einen großen Gefallen. Vielleicht gelingt es Ihnen ja, der armen Frau zu helfen. Ich glaube, daß sie große Probleme hat.«

  »Ich werde mein Bestes tun«, versprach Dr. Daniel.

*

  »Sie wollen mich aus der Klinik werfen?« fragte Svenja entsetzt.

  »Um Himmels willen, nein, Frau Birkert«, wehrte Dr. Breuer energisch ab. »Von Hinauswerfen kann überhaupt nicht die Rede sein.« Er schwieg einen Moment, um sich seine Worte zurechtzulegen. »Ich habe mir seit Ihrer letzten Einlieferung ins Krankenhaus große Gedanken um Sie gemacht – nicht zuletzt, weil sie über Unterleibsbeschwerden geklagt haben. Es wäre sicher unsinnig, wenn Sie sich deswegen noch einmal an die Kollegin Steiger wenden würden – ganz davon abgesehen, daß ich Sie nur ungern jetzt schon entlassen möchte. Sie wissen ja, daß ich Sie nach Ihren Atembeschwerden immer eine Woche zur Beobachtung hierbehalte.«