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Martina Hoblitz

Der verirrte Schwan


Worte der Autorin: Diese Geschichte widme ich allen Künstlern, die ständig unter Leistungsdruck stehen.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

DER VERIRRTE SCHWAN

 

 

von Martina Hoblitz

 

 

Kapitel 1

 

 

„Ich kann nicht mehr!“ stöhnte Astrid Jeversund und ließ sich in den Garderobenstuhl vor dem Spiegeltisch fallen.

 

Ihr weißes Trägertrikot klebte schweißdurchtränkt an ihrem Körper wie eine 2.Haut. Schnell befreite sie sich von den Spitzenschuhen und warf sie weit von sich. Sie war bleich wie der Tod. – Da ließ sich die Stimme ihrer Schwester Hildegard aus der Ecke vernehmen.

 

„Deine Pirouetten waren heute aber sehr unsauber!“ kritisierte sie. „Das müssen wir morgen beim Training noch mal besonders üben!“ – „Ich hatte heute eine anstrengende Vorstellung. Und morgen soll ich schon wieder stundenlang trainieren? Gönn mir doch mal einen freien Tag!“

 

Doch Hildegard ließ sich nicht erweichen. Und sie wusste, wovon sie sprach! –

 

Vor Jahren war sie selbst als Primaballerina auf dem Weg nach ganz oben gewesen, angetrieben von der ehrgeizigen Mutter, die leider nicht genug Talent gehabt hatte, um eine solche Karriere anzustreben. Doch Hildegards Aufstieg wurde jäh gestoppt, durch einen betrunkenen Autofahrer. – Seit der Zeit, das war nun 6 Jahre her, saß sie im Rollstuhl und haderte mit ihrem Schicksal. Obendrein waren ½ Jahr später die Eltern tödlich verunglückt, und so nahm sie sich ihrer 8 Jahre jüngeren Schwester an. Aus dem ehemals so fröhlichen Mädchen wurde nach und nach eine unzufriedene, mürrische Frau.

 

Als sich dann bei Astrid zeigte, dass auch in ihr ein tänzerisches Talent schlummerte, entwickelte sich Hildegard zum Sklaventreiber und drängte ihre Schwester unermüdlich, die Karriere anzustreben, die ihr selbst versagt geblieben war. – Anfangs hatte es Astrid ja noch Spaß gemacht, aber Hildegard setzte sie immer mehr unter Leistungsdruck. Aus 2x die Woche 2 Stunden Training wurden mit der Zeit täglich 5 Stunden, und das auch am Samstag und Sonntag!

 

Doch dann hatte sich endlich die harte Arbeit gelohnt, und Astrid war unheimlich stolz, als sie ihre 1.Hauptrolle tanzen durfte. – Nur Hildegard war nie zufrieden mit ihr. Immer wieder fand sie etwas zu kritisieren.

 

So wie heute! Astrid hatte sich so bemüht und als <Coppelia> vollkommen verausgabt. Sie war fix und fertig und glaubte, ihr Bestes gegeben zu haben, aber ihre Schwester hatte erneut etwas auszusetzen.

 

„Liebes Hildchen!“ sagte sie schmeichelnd. „Der Ballettmeister war begeistert. Das Publikum war begeistert. Und ich hab getanzt wie noch nie in meinem Leben! Sei gut und erlaub mir morgen wenigstens einen Tag Pause!“

 

Ihre Schwester fuhr mit dem Rollstuhl an den Kleiderschrank heran und förderte eine Flasche Cognac zutage. Sie nahm einen einfachen Pappbecher, goss ihn halb voll und brachte ihn Astrid.

 

„Trink das, damit du wieder Farbe kriegst!“ forderte sie. „Du siehst nämlich aus wie ein Gespenst!“

 

Gehorsam leerte Astrid den Becher in einem Zug. Dann bemerkte sie: „Ich glaub, wir werden zum Feiern erwartet.“ – „Und ich denke, du bist schon erschöpft genug!“

 

Astrid betrachtete sich im Spiegel und stimmte zu: „Du hast sicher Recht. Mir geht’s auch gar nicht gut. Ich hab ganz fürchterliche Kopfschmerzen.“ – „Dann nimm ´ne Tablette!“ meinte die Schwester trocken.

 

Schon längst befand sich Astrid in einem Teufelskreis, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie überstand keinen Tag ohne Alkohol, egal in welcher Form. War sie müde, nahm sie Aufputschmittel, war sie überdreht, nahm sie Beruhigungsmittel. So ging das schon seit Monaten. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis sich ihr Körper gegen diesen Raubbau wehren würde!

 

 

Am anderen Morgen bekam Astrid kaum die Augen auf. – Noch in der Nacht, als sie im Hotelzimmer angelangt war, trank sie eine ½ Frlasche Rotwein und schluckte 2 Schmerztabletten. Danach schlief sie wie eine Tote.

 

Irgendwas hatte sie nun geweckt. Es dauerte eine Weile, bis sie gewahr wurde, dass es heftig an die Tür klopfte. – Astrid rappelte sich auf, warf sich den Morgenmantel über und wankte zur Tür, um aufzuschließen. Hildegard rollte herein und überschüttete sie sogleich mit Vorwürfen.

 

„Du hast verschlafen! Beeil dich jetzt wenigstens! Oder hast du vergessen, dass wir eine Verabredung mit der Presse haben?“ – „Das hab ich tatsächlich völlig vergessen!“ erwiderte Astrid kleinlaut und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. „Können wir nicht einfach absagen? Ich fühl mich überhaupt nicht in der Lage, irgendwelche Fragen zu beantworten. Und so wie ich ausseh, brauch mich auch keiner zu fotografieren!“ – „Jammere nicht!“ schnaubte Hildegard verächtlich. „Ist ja schlimm, wie du dich hängen lässt! Ich schick dir meine Agnes! Mit ihrer Hilfe bist du im Null-Komma-Nichts hergerichtet.“

 

Sie nahm den Telefonhörer auf und ließ sich mit ihrem Zimmer verbinden. In herrischem Befehlston sagte sie: „Agnes? Komm rüber und hilf Astrid beim Zurechtmachen!“

 

Dann legte sie auf und wandte sich an ihre Schwester: „Ich warte unten beim Frühstück. Beeil dich!“

 

Seufzend schloss Astrid die Tür hinter ihr und begab sich ins Bad.

 

Etwa eine ¾ Stunde später fand sie sich im Speisesaal des Hotels ein und sah Hildegard an einem Tisch, zusammen mit einem jungen Mann. Astrid bediente sich am Buffet und gesellte sich dann zu ihnen.

 

Der junge Mann stand höflich auf und stellte sich vor: „Mein Name ist Ingo Gottlieb, und ich komme vom Kulturjournal. Sie haben mir ein Exklusiv-Interview versprochen!“ – „Hab ich das? Ich kann mich gar nicht erinnern.“ erwiderte Astrid unsicher und setzte sich.

 

Ingo nahm ebenfalls wieder Platz und warf Hildegard einen erstaunten Blick zu. Diese meinte darauf: „Es stimmt, Sie haben mit mir verhandelt. Aber meine Schwester ist gewiss damit einverstanden.“

 

Sie sah Astrid Stirn runzelnd an, und diese bestätigte schnell: „Natürlich. Fragen Sie mich ruhig!“

 

Das Interview zog sich über eine ganze Stunde, und Astrid hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihren gut gefüllten Teller rührte sie kaum an. Ihr war schlecht, sie hatte Kopfschmerzen, und am liebsten hätte sie sich wieder hingelegt, um zu schlafen.

 

Endlich gab sich Ingo Gottlieb zufrieden, allerdings hatte er die meisten Informationen von Hildegard erhalten. Er merkte Astrid an, dass es ihr nicht gut ging, aber er wagte nicht, sie darauf anzusprechen. Nun ja, das Material für seinen Artikel hatte er wenigstens! Was kümmerte es ihn also, wie sich die Tänzerin fühlte?

 

Er stand auf und verabschiedete sich. – Kaum war er verschwunden, fuhr Hildegard ihre Schwester an: „Sag mal, kannst du dich nicht etwas am Riemen reißen? Ich glaub, du hast gar nicht mitgekriegt, wovon gesprochen wurde?!“

 

Nun wurde Astrid aber auch böse. „Na und? Du hattest doch die Unterhaltung voll im Griff! Du hast mich ja nicht einmal ausreden lassen. Und dann diese ganze Heuchelei! Freude über den Erfolg? Stolz und Dankbarkeit für die Anerkennung? Soll ich dir mal was sagen? Am liebsten würd ich aufhören! Nie mehr tanzen! Ich bin diese ewige Schufterei so leid!“

 

Unwillkürlich war Astrids Stimme immer lauter geworden, und von den Nebentischen wurden missbilligende Blicke herüber geworfen. Aber das störte sie nicht! Sie sprang auf und schrie ihre Schwester an: „Und wenn du dich auf den Kopf stellst. Ich trainiere heute nicht! Nicht einen Tanzschritt werd ich heute tun! Und ich werde den Tag allein verbringen. Ohne dich. Und alles das tun, wozu ich Lust hab.“

 

Damit wandte sie sich ab und lief hinaus. – Hildegard sah ihr verdutzt nach und seufzte für sich: „Sie wird sich schon wieder beruhigen. Vielleicht war’s in letzter Zeit wirklich ein bisschen viel für sie?“

 

 

Astrid lief durch die Straßen, ohne ihre Umgebung richtig wahrzunehmen. Ihre Augen waren Tränen feucht, und sie sah alles wie durch einen Schleier. Immer wieder sagte sie sich: ‚Ich mach Schluss mit dem Tanzen! Ich will nicht mehr!'

 

Sie gelangte in den Stadtpark und ließ sich auf die erstbeste freie Bank sinken. Still weinte sie vor sich hin.

 

Plötzlich fiel ein Schatten auf sie, und eine tiefe Männerstimme sagte: „Ist Ihnen nicht gut, mein Fräulein? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“

 

Astrid blickte hoch und versuchte, sich mit dem Handrücken die Tränen fortzuwischen. – Vor ihr stand ein junger Mann, groß, kräftig, mit dunklen, lockigen Haaren und einem 3-Tage-Bart. Er trug eine grüne Cordhose und ein rot kariertes Flanellhemd. – Seine braunen Augen blickten Astrid besorgt an. Zuvorkommend holte er ein schneeweißes Taschentuch hervor und bot es ihr an. Astrid nahm es und tupfte sich die Augen trocken. Mit gepresster Stimme sagte sie: „Ich danke Ihnen! Aber es geht schon wieder. Nur ein leichtes Unwohlsein.“

 

Sie wollte ihm das Taschentuch zurück geben, aber er lächelte: „Behalten sie’s ruhig! Ich hab noch mehr davon.“

 

Da lächelte Astrid auch und stand auf. Sie reichte ihm gerade bis zur Schulter und spürte auf einmal den Impuls sich anzulehnen. Ihr wurde ganz schwindelig, und sie sank unwillkürlich an seine Brust. Geistesgegenwärtig fing er sie auf, setzte sie vorsichtig wieder auf die Bank und ließ sich neben ihr nieder, seinen Arm wie schützend um ihre Schulter gelegt.

 

Benedikt von Thorgau hatte Astrid längst erkannt. Er war am Vorabend mit seinem Vater und seiner Tante im Ballett gewesen und hatte die junge, hübsche Primaballerina durch sein Opernglas betrachtet und bewundert. – Nun saß die so Verehrte hier neben ihm und ließ ihren Kopf an seiner Schulter ruhen. Benedikt konnte sein Glück kaum fassen!

 

Vom nahen Kirchturm erklangen 12 Glockenschläge - Mittagszeit! – Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte unsicher: „Darf ich mir erlauben, Sie zum Mittagessen einzuladen, mein Fräulein?“

 

Erstaunt sah sie ihn an und zögerte. „Aber Sie sind mir doch völlig fremd. Das geht doch nicht!“ – „Dann möchte ich mich Ihnen erstmal vorstellen. Mein Name ist Benedikt Thorgau.“

 

Er wusste selbst nicht, warum er das <von> wegließ.

 

„Und ich heiße Astrid Jeversund.“ – „Ich weiß. Sie sind die Primaballerina. Ich hab Sie gestern als Coppélia gesehn.“ – „Sie gehen ins Ballett?“ staunte Astrid und musterte seinen wenig eleganten Aufzug.

 

„Zufall. Ich war eingeladen.“ erklärte Benedikt schnell.

 

Entschlossen erhob sich Astrid. Sie hatte im Verlauf des Gesprächs wieder etwas Farbe bekommen und fühlte sich schon viel besser.

 

„Ich nehme Ihre Einladung zum Essen gern an!“

 

Erfreut sprang Benedikt auf und reichte ihr seinen Arm, in den sich Astrid ungeniert einhakte.

 

Sie gingen in eine gut bürgerliche Gaststube, denn in ein feines Restaurant wagte sich Benedikt nicht in seinem Räuberzivil. – Als er begann, Astrid mit Komplimenten zu überschütten und nur vom Ballett sprach, winkte sie ab und bat: „Lassen Sie uns bitte von was Andrem reden! Ich möchte einmal das Tanzen und alles was damit zusammen hängt, vergessen.“

 

Es fiel Benedikt aber gar nicht leicht, ein anderes Gesprächsthema zu finden. Astrid erkundigte sich nach seiner Tätigkeit, und er erzählte ihr, dass er auf einem großen Landgut arbeitete, verschwieg jedoch, dass dieser Gutshof seinem Vater gehörte.

 

„Es muss herrlich sein, auf dem Land zu leben!“ schwärmte sie. „Weitab von der Stadt mit ihrer Hektik und dem Lärm.“ – „Ja, es ist schon sehr beschaulich dort. Aber manchmal sehnt man sich doch nach etwas Trubel.“ – „Und dann fährt man in die Stadt und geht ins Ballett.“ lachte Astrid.

 

„Unter anderem.“ nickte Benedikt.

 

Nach dem einfachen, aber recht schmackhaften Essen bezahlte er, und sie erkundigte sich: „Was machen wir nun?“ – „Haben Sie denn keine Verpflichtungen?“ wunderte er sich.