Dr. Daniel 46 – Der Wunderheiler

Dr. Daniel –46–

Der Wunderheiler

Roman von Marie-Francoise

  Armin Götz war mit sich und der Welt zufrieden.

  »Zwanzigtausend Mark in knapp drei Wochen – das soll mir erst mal einer nachmachen«, murmelte er vor sich hin, während er die Geldscheine nahezu liebevoll sortierte und dann gewissenhaft in seiner Reisetasche verstaute.

  Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er sich beeilen mußte, wenn er seinen Zug noch erreichen wollte – und das wollte er nicht nur, sondern mußte er sogar! Es wurde nämlich höchste Zeit für ihn, diesem beschaulichen norddeutschen Städtchen den Rücken zu kehren. Ein einziges Mal hatte er den Fehler begangen und war zu lange in einem Ort geblieben, mit dem Ergebnis, daß er schließlich die Polizei am Hals gehabt hatte. Das würde ihm niemals wieder passieren, wie er sich geschworen hatte.

  Er sah sich in dem ärmlichen Raum um, in dem er die letzten drei Wochen verbracht hatte, doch er war sicher, daß er nichts vergessen hatte, dann ergriff er seine Reisetasche und verließ das schindelgedeckte, wie hingeduckt wirkende Häuschen.

  »Josias!«

  Die flehend klingende Frauenstimme ließ Armin mitten in der Bewegung innehalten.

  »Josias, Sie müssen mir helfen!«

  Mit betont langsamen Bewegungen drehte sich Armin um und zeigte der auf ihn zueilenden Frau ein gütiges Lächeln, das er in stundenlanger Arbeit vor dem Spiegel einstudiert hatte.

  »Inken, du kommst spät«, meinte er, und seine Stimme glich dabei einem sanftem Singsang.

  »Ich weiß«, stieß die knapp vierzigjährige Frau atemlos hervor. »Mein Mann… er war dagegen… aber die Rückenschmerzen… sie sind wiedergekommen. Bitte, Josias, helfen Sie mir.«

  Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des außergewöhnlich stattlich wirkenden Mannes, dessen hellblondes Haar in der Sonne schimmerte, als trüge er einen Heiligenschein. Daß er mit der Blondierung seiner Haare genau diesen Effekt beabsichtigt hatte, wußte niemand.

  »Du kommst spät, Inken«, wiederholte er bedauernd und verlieh seiner Stimme dabei erneut diesen leise singenden Klang. »Der Herr hat mich an einen anderen Ort berufen.«

  Da sank Inken Mathies vor ihm auf die Knie, ergriff den Saum seines weißen Mantels und drückte einen Kuß darauf, ehe sie mit flehendem Blick wieder zu ihm aufsah.

  »Es dauert doch nicht lange, Josias, ich bitte Sie inständig… helfen Sie mir!«

  Armin bebte innerlich vor Wut über diese Verzögerung. Wenn er sich jetzt nicht beeilte, dann würde er den Zug tatsächlich noch versäumen. Andererseits konnte er es nicht darauf ankommen lassen, daß Inken mit ihrem Flehen um Hilfe womöglich noch die Nachbarschaft aufmerksam machen würde.

  »Also schön, Inken«, stimmte er zu. »Ich werde versuchen, meine heilenden Kräfte noch einmal über dir zu verströmen.«

  Bevor Inken nun in wortreichem Dank ausbrechen konnte, drängte Armin sie ins Haus und in den kleinen Raum hinein, wo er in den vergangenen drei Wochen an Inken und anderen Gutgläubigen fürstlich verdient hatte.

  »Entkleide dich, Inken«, bat er, »dann werde ich sehen, was ich für dich tun kann.«

  Die Frau gehorchte und legte sich dann auf das schmale Sofa. Armin trat zu ihr und strich mit beiden Händen über ihren Rücken, dabei konnte er die harte Stelle direkt neben der Wirbelsäule ertasten.

  »Das Böse ist noch immer in dir«, erklärte er, und seine Stimme klang dabei vorwurfsvoll – so, als wäre Inken an ihrem Zustand selber schuld.

  Die Frau brach in Tränen aus. »Ich weiß, Josias. Deshalb bin ich ja hier. Wenn Sie mich davon nicht befreien können – wer dann?«

  »Du kannst es selbst, Inken«, erklärte er und warf dabei einen kurzen Blick auf die Uhr. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. »Du mußt genau das tun, was ich dir immer gesagt habe. Natürlich werde ich versuchen, dir noch Hilfe zuteil werden zu lassen. Ich werde das Böse in dir schmelzen lassen. Das wird dir jetzt und auch noch in den nächsten Tagen Schmerzen bereiten, aber wenn du Verzicht übst – so, wie ich es dir befohlen habe, dann wird dich das Böse verlassen und nie mehr Macht über dich gewinnen.«

  Inken nickte. »Ich werde nur den Tee trinken, den Sie mir gegeben haben, Josias, und trockenes Brot dazu essen.«

  »Das ist gut«, stimmte Armin ihr zu. »Die Sünden der Zivilisation haben dich krank werden lassen, aber wenn du deinen Körper in dieser Weise züchtigst, wird er sich auf die wahren Werte besinnen und alles Böse fahren lassen.«

  Dann beugte er sich über Inken und massierte die Geschwulst an ihrem Rücken, während er beschwörende Worte vor sich hin murmelte. Inkens schmerzvolles Stöhnen ignorierte er.

  »Geh jetzt nach Hause«, befahl er schließlich. »Und halte dich an meine Anweisungen. In ein paar Wochen wirst du wieder gesund sein.«

  Obwohl der Schmerz in ihrem Rücken schlimmer tobte denn je, blickte Inken voller Dankbarkeit zu ihm auf.

  »Niemals werde ich vergessen, was Sie für mich getan haben, Josias.«

*

  Dr. Robert Daniel erstarrte nahezu, als ihm der Brief zwischen die Finger geriet. Diese ausgesprochen eigenwillige Schrift hätte er noch unter Tausenden herausgekannt.

  »O nein, nicht schon wieder«, stöhnte er leise auf, dann legte er den Brief zur Seite, als könnte er sein Eintreffen damit ungeschehen machen.

  Abrupt erhob er sich und trat zum Fenster, doch immer wieder wanderte ein unwilliger Blick zu dem Brief auf seinem Schreibtisch hinüber. Auch wenn er es noch so sehr hinauszögerte – irgendwann mußte er ihn ja doch öffnen. Aber gerade als er sich dazu entschlossen hatte, klingelte es.

  »Laß nur, Irene, ich gehe schon!« rief er rasch, als seine Schwester, die ihm hier den Haushalt führte, nach unten eilen wollte. Diese Störung paßte ihm im Augenblick sogar ganz ausgezeichnet! Er eilte die Treppe hinunter und öffnete die Haustür.

  »Manon! Ist etwas passiert?« fragte er erschrocken, als er sich so unverhofft der Frau seines Herzens gegenübersah.

  Manon Carisi, die Allgemeinmedizinerin hier am Ort, lächelte nachsichtig. »Also hör mal, Robert, muß erst etwas Schlimmes passieren, damit ich zu dir kommen darf?«

  Zärtlich nahm er die attraktive Frau in den Arm. »Nein, Liebes, natürlich nicht. Aber wir waren für heute abend ja ohnehin verabredet.«

  »Genau deswegen komme ich auch«, entgegnete Manon mit bedauerndem Gesichtsausdruck.

  Dr. Daniel seufzte abgrundtief. »Ich ahne tatsächlich Schreckliches.«

  Liebevoll stupste Manon ihn an der Nase. »So schrecklich ist es nun auch wieder nicht. Der Kollege aus der Kreisstadt, der die Wochenendbereitschaft hätte, ist krank geworden und hat mich gebeten, für ihn einzuspringen.«

  Inzwischen hatten sie Dr. Daniels Wohnung im ersten Stockwerk betreten, und Manon wurde auch von Irene herzlich begrüßt.

  »Es tut mir sehr leid, Irene, aber ich fürchte, du mußt deinen Bruder heute selbst bekochen«, erklär-

te Manon. »Gelegentlich soll man zwar auch als Bereitschaftsarzt ein ruhiges Wochenende haben, aber ich persönlich bin leider noch nie in diesen Genuß gekommen.«

  »So tragisch ist das nicht«, meinte Irene lächelnd. »Für Stefan, Karina und mich hätte ich sowieso etwas zu essen machen müssen, und erfahrungsgemäß koche ich ja meistens für eine ganze Kompanie.« Sie warf ihrem Bruder einen neckischen Blick zu. »Allerdings wird dem armen Robert nun natürlich das Herz bluten.«

  »Ja, ja, macht euch nur lustig über mich«, erklärte Dr. Daniel, mußte dabei aber auch lächeln, dann strich er mit einem Finger zärtlich über Manons Wange. »Ich werde heute abend trotzdem mal hinüberkommen. Für ein Gläschen Wasser wird die Zeit schon reichen.«

  Manon lachte. »Wasser! Das ist ja wirklich sehr verlockend.«

  Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Wein ist für einen Bereitschaftsarzt nicht drin, und wenn du Verzicht üben mußt, dann leide ich selbstverständlich mit dir.«

  »Du Dummer«, urteilte Manon zärtlich, dann küßte sie ihn. »Ich muß jetzt nach Hause, falls ein Anruf kommt.«

  Dr. Daniel nickte. »Wir sehen uns dann.«

  Er begleitete Manon noch hinaus, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, wo der unheilverheißende Brief beinahe provozierend auf dem Tisch lag. Dr. Daniel seufzte, griff nach dem Umschlag und riß ihn beherzt auf. Ein dezent duftender Briefbogen fiel ihm in die Hände.

  Lieber Herr Dr. Daniel,  las er.  Ich freue mich außerordentlich, Ihnen mitteilen zu können, daß ich auch in diesem Jahr ein paar Wochen in Steinhausen verbringen kann. Gerade um diese Jahreszeit ist es in Ihrem idyllischen Dörfchen ja besonders reizvoll, und vielleicht läßt es Ihre Zeit zu, daß Sie mir ein paar verschwiegene Wanderwege zeigen. Ich freue mich jedenfalls schon jetzt auf unser Wiedersehen und verbleibe mit den herzlichsten Grüßen, Ihre Viola von Lilienthal.

  »Ich hab’s doch geahnt«, seufzte Dr. Daniel und legte den Brief zur Seite.

  »Was ist denn los, Papa?« wollte sein Sohn Stefan wissen, der in diesem Moment das Wohnzimmer betrat. »Du siehst aus, als hätte dir jemand die Butter vom Brot geklaut.«

  Dr. Daniel winkte ab. »Es ist nichts von Bedeutung.« Er zögerte kurz, und als er dann doch weitersprach, bemühte er sich um einen gleichgültigen Ton. »Frau von Lilienthal hat geschrieben, daß sie wieder für ein paar Wochen nach Steinhausen kommen wird.«

  Stefan grinste lausbubenhaft, und Dr. Daniel sah ihm an, daß er eine ironische Bemerkung auf der Zunge hatte.

  »Spar dir bitte jeglichen Kommentar, mein Sohn!« erklärte er streng.

  »Aber es wäre doch einiges zu sagen«, meinte Stefan noch immer grinsend. »Papa…«

  »Stefan, ich warne dich! Frau von Lilienthal ist nur eine von vielen, die gemerkt haben, wie gut man sich in Steinhausen erholen kann!«

  Jetzt lachte Stefan ungeniert. »Ach, Papa, das glaubst du doch selbst nicht! Die gute Viola von Lilienthal hat’s auf dich abgesehen – und zwar schon seit drei Jahren.« Er zwang sich zu einem nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Vielleicht würdest du mit ihr ja gar keine so schlechte Partie machen, Papa. Die Frau ist steinreich und würde dir bestimmt jeden Wunsch von den Augen ablesen.«

  »Das reicht jetzt wirklich, Stefan«, ermahnte Dr. Daniel ihn noch einmal, doch er spürte schon, daß seinem Sohn noch immer der Schalk im Nacken saß.

  »Soweit ich mich erinnere, ist diese Viola doch auch außerordentlich attraktiv. Da sollte es dir eigentlich nicht schwerfallen, dich wenigstens zu einem mehr oder weniger harmlosen Urlaubsabenteuer aufzuraffen. Immerhin…«

  »Stefan!«

  Der strenge Ton seines Vaters zeigte dem jungen Mann, daß der Spaß jetzt ein Ende gefunden hatte.

  »Komm, Papa, nimm das nicht so ernst«, bat er. »Du kennst mich doch.«

  Dr. Daniel seufzte, dann fuhr er sich durch das dichte blonde Haar. »Tut mir leid, mein Junge, aber…« Er zuckte die Schultern.

  Stefan lächelte. »Dann bist du mir nicht böse?«

  »Nein, Stefan, natürlich nicht.« Auch Dr. Daniel lächelte jetzt. »Aber manchmal kannst du trotz deiner sechsundzwanzig Jahre noch ein rechter Lausbub sein.«

  Jetzt grinste Stefan wieder. »Das magst du doch sonst so an mir.«

  Dr. Daniel mußte lachen. »Ja, es scheint fast so.« Dann schüttelte er den Kopf. »Aber diese Viola geht mir tatsächlich ein bißchen auf die Nerven. Und gerade jetzt…« Er zögerte. »Immerhin bin ich mit Manon so gut wie verlobt.«

  Da winkte Stefan ab. »Ach, Papa, da würde ich mir an deiner Stelle überhaupt keine Sorgen machen. Manon ist eine vernünftige Frau. Die dreht nicht gleich durch, wenn sich dir ein weibliches Wesen nähert – auch dann nicht, wenn dieses Wesen so gut aussieht wie diese Viola von Lilienthal. Und wer weiß? Wenn diese betuchte Dame Manon kennenlernt, sieht sie ja vielleicht endlich ein, daß sie bei dir keine Chancen hat.«

  Dr. Daniel nickte zwar, doch überzeugt war er davon leider keineswegs.

*

  Der Zug brauste durch die Nacht. Armin Götz hatte sich auf seinem Sitz zurückgelehnt. Er wirkte, als würde er schlafen, doch in Wirklichkeit dachte er scharf nach.  Er mußte sich irgendwie verändern, wenn er unerkannt bleiben woll-

te.

  Obwohl er kein Mediziner war, war nämlich auch ihm sonnenklar, daß Inken Mathies an einer schweren Krankheit litt. Sie selbst würde zwar niemals versuchen, Armin zu belangen, denn sie glaubte blind an seine wundersamen Heilkräfte. Bei ihrem Mann sah das allerdings anders aus. Jörg Mathies hatte ihm vom ersten Tag an mißtraut.

  Sicher, seinen wirklichen Namen kannte niemand in dem kleinen norddeutschen Städtchen, trotzdem wollte er lieber vorsichtig sein, und als der Zug in der Morgendämmerung im Münchner Hauptbahnhof anhielt, hatte Armin einen Entschluß gefaßt. Er verstaute seine Reisetasche in einem Schließfach, dann betrat er eine der kleinen Imbiß-Stuben, um zu frühstücken. Anschließend schlenderte er an den Geschäften vorbei, doch die Auslagen betrachtete er kaum. Er wartete nur ab, bis in dem Friseursalon mehr Betrieb herrschen würde.

  Erst als der Streß für die Friseuse seiner Meinung nach groß genug geworden war, trat er ein. In der herrschenden Hektik würde sich die junge Frau wohl kaum noch an ihn erinnern – sofern seine Spur überhaupt bis hierher verfolgt werden konnte.

  Eine gute Stunde später verließ Armin den Friseursalon, und niemand hätte in ihm den Mann wiedererkannt, der er bei seiner Ankunft in München gewesen war. Sein vorher hellblondes Haar war jetzt eisgrau, der wallende Bart gestutzt und ebenfalls grau gefärbt. Mit Hilfe spezieller Kontaktlinsen, die er sich schon vor zwei Jahren zugelegt hatte, waren seine Augen nun von einem intensiven Blau.

  In einem Bekleidungsfachgeschäft legte er sich einen langen, dunklen Mantel zu, ebenso einen Hut, der ihn wie einen Rabbi aussehen ließ. Prüfend betrachtete er sich in einem der mannshohen Spiegel und nickte sich dann zufrieden zu.

  »Josias«, murmelte er, dann schüttelte er den Kopf. Dieser Name paßte nicht mehr zu ihm, außerdem stellte er ein Verbindungsglied zu dem Heiler in Norddeutschland dar, der er gestern noch gewesen war.

  »Raphael«, beschloß er nach einigem Überlegen. »Ja, Raphael ist ein guter Name.«

*

  Der Montagmorgen bescherte Dr. Daniel wieder reichen Patientensegen, aber das war er im Grunde ja gar nicht anders gewohnt. Der Vormittag zog sich dann auch entsprechend in die Länge.