Über das Buch:
Kindersklaven, Flüchtlingswellen, Zwangsprostitution – die Nachrichten über die großen Probleme dieser Welt drängen sich in unser Leben. Sie erschüttern und machen betroffen. Doch gerade als Christen wollen wir dabei nicht stehen bleiben, sondern uns für Hoffnung, Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen. 20 erfahrene Expertinnen und Experten beschreiben in diesem Buch, wie das praktisch aussehen kann. Ausgehend von einem biblischen Menschenbild erläutern sie die komplexen Zusammenhänge von Armut und Gewalt und liefern konstruktive Lösungsvorschläge, wie wir als Christen und Gemeinden einen Unterschied machen können.

Kapitel 2 – Aus der Geschichte lernen

„Es ist ein großer Irrtum zu glauben, die Geschichte beeinflusse einen nicht, solange man sie nicht kennt.“

Prof. Dr. Arbogast Schmitt,

Fachbereich Klassische Philologie,

in seiner Abschiedsvorlesung an der

Philipps-Universität Marburg

Unser Denken und Handeln ist geprägt von unserer Biografie, von unserer ganz persönlichen Geschichte, von den Erfahrungen, die wir gemacht haben. All das tragen wir unsichtbar mit uns herum. Die uns prägende Kultur ist die Grammatik unseres Lebens, die uns in allen Situationen leitet. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns mit unserer Geschichte und Kultur auseinandersetzen. Das hilft uns dabei, unser gegenwärtiges Handeln zu reflektieren und wenn nötig auch zu verändern. In diesem Kapitel nehmen wir Entwicklungen und Errungenschaften in den Blick, die uns heute vielleicht selbstverständlich erscheinen. So nimmt Dietmar Roller das Ende des transatlantischen Sklavenhandels auf. Der Handel mit Menschen, Sklaven, war für Christen über Jahrhunderte Normalität und Alltag, bevor einige Christen um den britischen Politiker William Wilberforce im 19. Jahrhundert die Bibel neu interpretierten und damit für einen globalen Paradigmenwechsel in der westlichen Welt sorgten. Ein anderer, dessen Wirken bis heute einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, ist Albert Schweitzer. Klaus Meiß geht dem Arzt und Theologen nach und fragt, was wir heute noch von ihm lernen können. Uwe Heimowski zeigt dann eindrucksvoll auf, wie die Heilsarmee sich in die politische Debatte um die Herabsetzung des Mindestalters von Prostituierten einmischte. Im letzten Beitrag dieses Kapitels führt uns Judith Kühl am Beispiel der Geschichte eines jungen Mädchens aus Guatemala vor Augen, wie nötig der Einsatz für Gerechtigkeit nach wie vor ist – und dass wir heute damit beginnen können, die Unrechtsgeschichte der Gegenwart umzuschreiben.

Dietmar Roller – Die Sklavenbefreiungsbewegung um William Wilberforce

Über die Wurzeln der modernen NGOs

Zwischen Druckerpressen und Setzkästen fanden sich am 22. Mai 1787 in London zwölf Männer in der Phillipschen Druckerei zusammen. Der Grund ihres Treffens war das gemeinsame Ziel, die Sklaverei abzuschaffen. Sie überlegten, planten und legten den Grundstein für eine der am besten organisierten Bürgerrechtsbewegungen aller Zeiten. Geahnt hätte das niemand, zumal die meisten der zwölf als weltfremde und fromme Spinner galten, die einfältig und aus der Zeit gefallen schienen. Dazu war es menschlich gesehen nahezu aussichtslos, der Sklaverei in Großbritannien ein Ende zu setzen. Fast jeder Bürger sah die Sklaverei als etwas völlig Normales an und profitierte von der Ausbeutung anderer. Dank der Gewinne aus den westindischen Zuckerplantagen boomte die gesamte Wirtschaft im Land. Die Zuckersteuer war die wichtigste Steuereinnahme. Der Sklavenhandel sicherte den Lebensunterhalt Tausender Familien von Soldaten und Seeleuten sowie den Wohlstand großer Hafenstädte wie London und Bristol.

Die zwölf Männer hatten diese Realität zwar vor Augen, doch sie sahen es als ihre Berufung an, eine in der Geschichte beispiellose Kampagne gegen den Sklavenhandel mit dem Ziel der Abschaffung von Sklaverei zu beginnen. Deshalb gründeten sie am 22. Mai 1787 die „Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei“, die als Abolitionisten-Bewegung bekannt wurde. Mit dabei waren der anglikanische Diakon Thomas Clarkson, der Sklaverei-Gegner Ganville Sharps, der Druckereibesitzer James Phillips und einige nicht genannte Quäker.

Thomas Clarkson war der Jüngste in der Gruppe und hatte sein „Damaskuserlebnis“ auf dem Rückweg einer Reise. Diese war er angetreten, um an einem damals sehr berühmten Latein-Rhetorikwettbewerb teilzunehmen. Das Thema: Ist es rechtens, einen Menschen gegen seinen Willen zu versklaven? Zunächst hatte Clarkson den prestigeträchtigen Wettbewerb einfach nur gewinnen wollen. Doch je mehr er sich mit den Zahlen, Fakten und einzelnen Geschichten von Menschen in Sklaverei beschäftigte, desto mehr gingen ihm die Schicksale ans Herz. Er gewann den Wettbewerb. Doch auf dem Rückweg nach London musste Clarkson mehrmals vom Pferd steigen, weil ihn das Leid und das Unrecht der Sklaverei so sehr bedrückten. Die Vorstellung, zu akzeptieren, dass die Sklaverei in seinem Land unbeachtet weitergeht, machte ihm so schwer zu schaffen, dass er kaum vorankam.

Berufen zu befreien

In Sichtweite von Hertfordshire wurde ihm deutlich, dass „irgendein Mensch darum besorgt sein (sollte), diesem Schrecken ein Ende zu machen“, und dass dieser Mensch er selbst war. Für die nächsten 61 Jahres seines Lebens verschrieb sich Clarkson dieser Aufgabe ganz. Seine Berufung war der Anfang einer großen Menschenrechtsarbeit, wobei der Begriff der Menschenrechte damals so noch nicht bekannt war. Clarksons Wirken wurde auch zu einem Eckpfeiler auf dem noch langen Weg zur allgemeinen Menschenrechtskonvention von 1948.

Zu den zwölf Männern gesellten sich schnell weitere Gleichgesinnte, darunter auch der ehemalige Sklave Olaudah Equiano. In Vorträgen und später auch in einem Buch berichtete er anschaulich über seine Zeit als Sklave und bewegte damit Tausende Menschen, neu über das Phänomen nachzudenken. Um das Verbot der Sklaverei politisch durchzusetzen, nutzte Clarkson seine Beziehung zu William Wilberforce, einem jungen Parlamentarier des Unterhauses. Nach kurzem Zögern schloss sich Wilberforce der Bewegung an und wurde zu ihrem politischen Sprachrohr.

Wilberforce kam aus einer wohlhabenden Familie und studierte an den besten Universitäten seiner Zeit. Mit 21 Jahren wurde er 1780 ins Unterhaus gewählt. Bei einer längeren Bildungsreise durch Europa kam er 1784 durch einen Reisebegleiter zum Glauben und lebte fortan als pietistisch geprägter Protestant. In enger Abstimmung mit Clarkson und seiner Bewegung begann er 1789, sich im Parlament für die Abschaffung der Sklaverei einzusetzen. Unterstützung erhielt er von seinem Studienfreund William Pitt, dem jüngsten Premierminister in der Geschichte Großbritanniens.

Jahr um Jahr brachte Wilberforce von 1789 bis 1807 die Gesetzesvorlage zur Abschaffung der Sklaverei im Parlament ein. Als Christ sah er seine Berufung darin, diesen Weg unermüdlich weiterzugehen. „Mir erschien die Verderbtheit des Sklavenhandels so enorm, so furchtbar und nicht wiedergutzumachen, dass ich mich uneingeschränkt für die Abschaffung entschieden habe“, schrieb Wilberforce. „Mögen die Konsequenzen sein, wie sie wollen, ich habe für mich beschlossen, dass ich keine Ruhe geben werde, bis ich die Abschaffung des Sklavenhandels durchgesetzt habe.“

18 Jahre Beharrlichkeit zahlen sich aus

Während Clarkson unablässig Tausende von Kilometern auf dem Pferd landauf und landab unterwegs war, um das Unrecht der Sklaverei in der gesamten Gesellschaft bekannt zu machen und Verbündete zu gewinnen, schmiedete Wilberforce Koalitionen, um die politische Arbeit voranzubringen. Es dauerte 18 Jahren, bis sich all ihre Bemühungen bezahlt machten: Der „Slave Trade Act“ wurde nach einer zehnstündigen Debatte am 24. Februar 1807 um vier Uhr in der Früh mit einer überwältigenden Mehrheit von 283 zu 16 Stimmen im Parlament angenommen. Nur einen Monat später trat das Gesetz in Kraft und verbot den afrikanischen Sklavenhandel im gesamten britischen Machtbereich. Sklavenhändler wurden plötzlich wie Piraten verfolgt. Allerdings beinhaltete das Gesetz nicht die Abschaffung der Sklaverei, sondern nur den Handel mit Sklaven.

Erst am 26. Juni 1833 erklärte der „Slavery Abolition Act“ alle Sklaven der britischen Kronkolonie für frei. Es sollte noch Jahre dauern, bis der Sklavenhandel endgültig beseitigt war, Clarkson durfte das im hohen Alter noch erleben. Wilberforce starb am 29. Juni 1833, drei Tage nachdem die Sklaverei endgültig verboten worden war. Er wurde in der Westminster Abbey begraben.

Der Erfolg der Abolitionisten-Bewegung war von der Kreativität, Strategie und dem Wissen zahlreicher Männer und Frauen abhängig. Sie entdeckten und benutzten Maßnahmen, die nie zuvor in dieser Vielfalt zusammen für ein einziges Ziel angewendet worden waren. In ihrer Kommunikation nutzten sie sämtliche Kanäle, die zu ihrer Zeit Menschen erreichten: politische Balladen, Petitionen, Pamphlete, Bücher, Pressemitteilungen, Karikaturen und Reportagen. Sie schlossen dabei sämtliche Elemente von Werbung, Spenden beschaffen, Lobbying, Advocacy (Erklärung des Begriffs, s. Seite 54) und anderen öffentlichkeitswirksamen Werkzeugen ein, die wir heute in der modernen Menschenrechtsbewegung als selbstverständlich erkennen und nutzen.

Die Arbeit im Kampf gegen die Sklaverei von Clarkson, Wilberforce und vielen anderen Aktivisten ist ein wahres Lehrstück über zivilgesellschaftliches Engagement. Folgende Elemente zählen zu den Schlüsseln ihres Erfolgs:

Gute Strukturen und sorgfältige Organisation

Sämtliche Treffen der Bewegung wurden protokolliert. Man führte sorgfältig Listen mit Aufgaben sowie Zuständigkeiten und Zeitfenstern. Diese Listen wurden wöchentlich geprüft und unerledigte Aufgaben in die Liste für die kommende Woche übertragen. Diese gute Organisation brachten die Quäker mit ein, die als verfolgte Kaufmannskaste sehr effizient und geschäftstüchtig arbeiteten. Sie strukturierten die Bewegung so, dass die Organisationstruktur jederzeit dem Wachstum der Bewegung angepasst werden konnte und damit einerseits kein bürokratisches Hindernis darstellte und andererseits die nötigen Bedingungen für ein gesundes Wachstum der Organisation lieferte.

Lokal denken, global handeln

Von Anfang an war Clarkson und Wilberforce bewusst, dass sie zwar lokal in England handeln, ihre Advocacy-Kampagnen aber auch in Übersee in den Kolonien, in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika gehört werden mussten. Wie international sie dachten, zeigte sich darin, dass sie Pamphlete und Traktate in sämtliche Länder schickten, die Sklaverei legitimierten. Dazu übersetzten sie ihre Texte unter anderem ins Französische, Portugiesische, Dänische und Niederländische. In vielen Ländern fanden sie auf diese Weise Verbündete, mit denen sie im regen Austausch standen.

Spendengelder sammeln

Die Bewegung der Abolitionisten schrieb gezielt Spendenbriefe und bat Großspender direkt um einen Geldbeitrag. Ein Netzwerk von Botschaftern in über 39 Grafschaften sammelte neben Unterschriften für ihre Petitionen auch Spenden. In der Phillipschen Druckerei gab es eine Spenderkartei, in der weit über 2000 Spender registriert waren.

Die Gesellschaft informieren – öffentlichkeitswirksame Kampagnen

Josiah Wedgwood war ein begabter Designer und Unternehmer und für das Marketing der Bewegung zuständig. Er hatte in seiner Porzellanmanufaktur immer wieder Sondereditionen zu bestimmten Anlässen herausgebracht und sie erfolgreich vermarktet, sodass er als reicher Unternehmer in der Londoner High Society ein und aus ging. Er war als Geschäftsmann geschickt darin, seine neuesten Editionen als einzigartig zu vermarkten und die Nachfrage so zu steigern. Dieses Wissen brachte er ganz in die Bewegung ein.

Wedgwood hatte die Idee, ein Siegel zu entwerfen. Es zeigt einen knienden Afrikaner in Ketten, der seine Hand flehend zum Himmel ausstreckt und fragt: „Bin ich nicht ein Mensch und Bruder?“ Dieses Bild wurde zum Aushängeschild der gesamten Bewegung gegen Sklaverei. Nicht nur auf Briefen, sondern auch in Büchern, auf Manschettenknöpfen, Teetassen, Handtüchern, Ansteck- und Hutnadeln wurde das Siegel verwendet. Wedgwood hat damit wahrscheinlich das erste Logo für eine soziale und politische Kampagne überhaupt entworfen. Zusammen mit dem Slogan „Bin ich nicht ein Mensch und Bruder?“ verbreitete sich das Siegel schnell in ganz Großbritannien und in den Kolonien. Übersetzt in unsere Zeit könnte man von einer überaus erfolgreichen Social Media Kampagne sprechen. Überall sah man das Siegel, sprach über das Thema der Sklaverei und die Anzahl der Menschen, die sich öffentlich dagegen engagierten, wuchs. Im ganzen Land erkannte man die Notwendigkeit, die Sklaverei abzuschaffen.

Politiker um Gehör bitten – Petitionen

Eine von Clarkson in Manchester gegründete Abolitionistengruppe begann, Unterschriften für die Abschaffung der Sklaverei zu sammeln. Innerhalb von kürzester Zeit überbrachten sie dem Parlament 10.000 Unterschriften, zudem schickten sie einen Brief an den Bürgermeister von Manchester sowie an alle Bürgermeister und Stadträte der großen Städte in Großbritannien. In ihrem Schreiben legten sie ihre Gründe für die Abschaffung der Sklaverei dar und riefen die Städte auf, ebenfalls Petitionen nach London an das Parlament zu schicken. Diese Aktion wurde im Frühjahr 1788 von einer Pressekampagne begleitet, die nach heutigem Stand etwa 20.000 Euro kostete. Alle wichtigen Zeitungen sollten auf die Petition aufmerksam machen. Bis Ende des Jahres 1788 wurden 103 Petitionen zur Abschaffung der Sklaverei eingereicht. Insgesamt hatten über 100.000 Menschen unterschrieben.

Zeitgleich trat nach über 34-jährigem Schweigen auch John Newton an die Öffentlichkeit. Newton war ein ehemaliger Sklavenhändler und nach seiner Bekehrung zum christlichen Glauben anglikanischer Pastor geworden. Damals hatte er das bis heute weltberühmte Lied „Amazing Grace“ geschrieben. Newton kannte Wilberforce bereits seit dessen Kindheit und war ihm ein väterlicher Freund geworden. Zwar war er nicht selbst Teil der Bewegung um Wilberforce, hatte aber großen Einfluss auf sie. Als Erweckungsprediger und Pfarrer der High Society in London fanden sein Traktat gegen den Sklavenhandel und seine öffentliche Bitte um Vergebung für seine frühere Skrupellosigkeit als Sklavenhändler im ganzen britischen Reich Gehör. Sämtliche Abgeordneten redeten darüber.

Aktionstheater auf den Straßen

Benjamin Lay, ein Freund Clarksons, nahm das heute bekannte Aktionstheater vorweg, um auf die Dramatik der Lebensverhältnisse von Sklaven aufmerksam zu machen. Er zerschlug öffentlich Teetassen, in denen Tee mit Zucker aus Sklavenplantagen getrunken wurde, und lebte zeitweise als Veganer, anschließend als Vegetarier, weil er keinem Wesen etwas zuleide tun wollte. Einmal soll er sogar für kurze Zeit das Kind eines Sklavenhalters entführt haben. Damit wollte er ausdrücken, wie grausam es für Menschen in Sklaverei ist, wenn ihre Familien auseinandergerissen werden und die Kinder an andere Besitzer verkauft werden.

Bündnisse schließen und das Netzwerk erweitern

Clarkson erkannte schnell, dass er Bündnisse mit anderen eingehen musste, um eine erfolgreiche Bewegung zu schaffen. Das erste Bündnis im Kampf gegen die Sklaverei schloss er mit den Quäkern. Ihr Glaube an Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit war nicht zu erschüttern und sie waren landesweit und grenzüberschreitend gut organisiert. Ein Quäker, der sich einige Zeit in Pennsylvania ein eigenes Bild von der Sklaverei in Amerika gemacht hatte und als Lobbyist gegen die Sklaverei in New Jersey lebte, kam nach London zurück und unterstützte Clarkson bei seiner Arbeit.

Pressearbeit und Debattierklubs

Nicht umsonst fand die Gründungsversammlung der Abolitionisten-Bewegung in einer Druckerei statt. In der damaligen Zeit waren Zeitungen und Bücher die Hauptmedien schlechthin. Während 1787 in einflussreichen Magazinen und Zeitungen kaum Beiträge über Sklaverei zu finden waren, gab es 1788 über 68 Artikel. Dazu beigetragen haben auch die vielen Vorträge und Auftritte von Abolitionisten in den damals üblichen Debattierclubs. Die Themen waren meist auf Unterhaltung angelegt und die Veranstaltungen entsprechend gut besucht. Das Publikum war durchaus bereit, für Themen wie „Warum Frauen untreu werden“ einen Eintrittspreis zu bezahlen, der etwa die Hälfte eines Theaterbesuches betrug. Debattierklubs gab es praktisch überall und das Publikum deckte alle Stände der Gesellschaft ab. Ernsthafte Themen waren eher die Ausnahme. Im Jahre 1788 allerdings wurde in rund der Hälfte der Klubs in London die Abschaffung der Sklaverei zu dem Thema, das am meisten Leute anzog. Der erwünschte Nebeneffekt: die Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger.

Der Zuckerboykott

Heute ist Öl einer der wichtigsten geopolitischen Rohstoffe, doch im 18. Jahrhundert war Zucker der wertvollste Rohstoff. Durch Sklavenarbeit auf den Zuckerplantagen in der Karibik konnte das Süßungsmittel zu günstigen Preisen verkauft werden und wurde für die gesamte westliche Gesellschaft erschwinglich. Die karibischen Zuckerbarone galten als die reichsten und angesehensten Großgrundbesitzer Großbritanniens. Ihr Einfluss reichte weit ins Parlament in London, in dem sie bestens vertreten waren. Doch ihrem unermesslichen Reichtum standen Hunderttausende von Sklaven gegenüber, die für den Zucker buchstäblich verheizt wurden. Etwa 60 Prozent aller nach Süd- und Nordamerika gebrachten Sklaven kamen in das kleine Gebiet der Karibik, um unter unmenschlichen Bedingungen Zuckerfelder zu bestellen, zu ernten und mit dem gefährlich heißen Sud in den Zuckerfabriken zu hantieren. Viele starben mit schweren Verbrühungen oder durch Erschöpfung.

In dem Bemühen, den Menschen in Großbritannien das Problem der Sklaverei verständlich zu machen, wurde das bis heute wichtigste Element einer Bürgerbewegung entwickelt: der Boykott. Die Abolitionisten riefen dazu auf, Zucker aus der Karibik so lange zu meiden, bis die Sklaven befreit und andere Strukturen einen fairen Genuss des Zuckers erlauben würden. Landesweit schlossen sich über 300.000 Menschen dem Boykott an. Einige von ihnen nahmen aus Protest tatsächlich solange keinen Zucker zu sich, bis die Sklaverei abgeschafft war. Der Erfolg wurde schnell sichtbar, denn die geschädigten Zuckerbarone reichten im Parlament Beschwerden ein. Das führte erneut zu Diskussionen, die über die Zeitungen überall bekannt wurden. Der Zuckerboykott war eines der wichtigsten Elemente im Kampf gegen die Sklaverei. Bis heute ist dieses Instrument aus der Kampagnenbewegung nicht wegzudenken.

Wir haben der Abolitionisten-Bewegung viel zu verdanken. Ihren Anhängern gelang es auf einmalige Weise, ihren Glauben und ihr Handeln zu verknüpfen. Um ihr Anliegen voranzutreiben, nutzten sie innovative und professionelle Methoden, die bis heute Maßstab für eine gute Kampagnen- und Menschenrechtsarbeit sind. Sie waren überzeugt, dass politische Arbeit für Christen eine Berufung sein konnte, und sie hatten mit Willam Wilberforce einen mutigen Politiker an ihrer Seite.

Motivation und Auftrag

Für viele Initiativen kann es Motivation und Auftrag werden, von den Abolitionisten zu lernen. Sie haben etwas für damalige Verhältnisse schier Unmögliches geschafft: Per Gesetz wurde endlich allen Menschen Würde und Gottebenbildlichkeit zugesprochen, was jedem Einzelnen ein Leben in Freiheit garantieren sollte. Davon profitierten nicht nur die Sklaven jener Epoche. Letztlich befreite dieser Bewusstseinswandel auch jene von ihrem Irrglauben, die von der Sklaverei profitiert und sich schuldig gemacht hatten. Bei den Sklavenhaltern und ihren Geschäftspartnern der damaligen Zeit herrschte ein völliges Unrechtsbewusstsein, das auch in der Gesellschaft praktisch nicht hinterfragt wurde. Sklaven galten als niedrige Arbeitstiere, nicht als Menschen. Erst das Motto: „Bin ich nicht ein Mensch und Bruder?“ der Sklavenbefreiungsbewegung öffnete den Menschen die Augen dafür, dass Sklaven Menschen derselben Würde sind wie sie selbst. Das veränderte die gesamte damalige Gesellschaft. Die christliche Vorstellung, dass der Mensch ein Ebenbild Gottes ist, wurde nun auf alle Menschen übertragen, egal welcher Hautfarbe oder Ethnie sie angehörten. Aus diesen Gedanken entwickelten sich viele neue Initiativen, wie beispielsweise Granville Sharps Kampf gegen die Kinderarbeit in den schottischen Bergwerken.

Die Sklavenbefreiung erzeugte ein neues Gerechtigkeitsempfinden in der Gesellschaft, sodass erstmals Fragen gestellt wurden: Wenn Sklaven Rechte hatten, warum dann nicht auch alle Frauen? Warum mussten Kinder in den Bergwerken unter sklavenähnlichen Bedingungen schuften? Wie behandelte man eigentlich die eigenen Arbeiter in den Fabriken von Bristol, London und Manchester? Die Sklavenbefreiung bereitete den Weg für weitere Sozialreformen. Die soziale Gesetzgebung in Großbritannien und Europa und die Abschaffung der Kinderarbeit etwa 50 Jahre später waren nur durch die mutigen Schritte der Abolitionisten möglich.

Wozu sind wir heute berufen? Werden wir als Christen dieser Berufung gerecht? Vertreten wir die Rechte der Armen und Unterdrückten mutig und konsequent auch gegen den Mainstream unserer Gesellschaft?

Klaus Meiß – Von Vorbildern lernen: Albert Schweitzer

Täglich bringen uns die Nachrichten ein unvorstellbares Elend in unsere Wohnzimmer: Flüchtlinge aus aller Welt strömen nach Europa, nehmen Lebensgefahr auf sich, weil sie in ihrer Heimat nicht leben können, weil da bitterste Armut herrscht, weil da Mord und Totschlag regieren und ihr Leben und das ihrer Kinder nicht sicher sind, weil Lebensnotwendiges vorenthalten wird, weil man der Rechtlosigkeit entkommen will. Weil man leben will. Wir sehen Bilder von Gewalt gegen diese Flüchtlinge, von aufgebrachten Wutbürgern anderer Gesinnung, von verletzten Polizisten, von eingeschüchterten Fremden, von sprachlosen Politikerinnen. Keiner von uns kann hinterher sagen: Das habe ich nicht gewusst. Keiner kann sagen: Das geht mich nichts an. Ich möchte an einen Menschen erinnern, der hingesehen hat, der sein Herz anrühren ließ und sein Leben für die Nöte in seiner Zeit gab.

Ein Akteur zwischen den Welten

Schweitzer wird 1875 als Pfarrerssohn im kurz zuvor vom Deutschen Reich annektierten Elsass geboren, studiert in Straßburg Theologie, Philosophie und später Medizin. In seinem Elternhaus nimmt er den Impuls der Liebe zur Orgelmusik auf, aber auch den Grundton liberaler Theologie unter der Wirkung der Aufklärung. Er spielt das Instrument so brillant, dass ihn der berühmte Orgellehrer Charles Marie Widor in Paris als Schüler annimmt. Dort hält er sich während seiner wissenschaftlichen Studien auf, ein Zeichen seiner frankophilen Einstellung. Er hat sich auch bewusst bei der evangelischen Pariser Missionsgesellschaft beworben, der er den Vorzug vor einer deutschen Gesellschaft gibt. Dennoch bleibt er auch bewusst deutscher Staatsbürger, als man in Paris wünscht, dass er die französische Staatsbürgerschaft annehmen soll. So lebt er in der Spannung zwischen Frankreich und Deutschland, publiziert in beiden Sprachen, ausführlicher jedoch im Deutschen.

1899 promoviert er in Philosophie, 1900 in Theologie, 1902 folgt die theologische Habilitation. 1905 beginnt er dann mit 30 Jahren sein Medizinstudium, das er 1913 mit seiner medizinischen Promotion abschließt, um anschließend nach Afrika aufzubrechen. Dort baut er nach den örtlichen Gegebenheiten ein Urwaldkrankenhaus, organisiert seinen Betrieb nach den vorhandenen Möglichkeiten und sorgt für die Finanzierung durch Bücher, Vorträge und Orgelkonzerte in Europa und seit 1949 auch in Amerika. So bewegt er sich zwischen ganz unterschiedlichen Disziplinen. Mögen sich Theologie und Philosophie noch einigermaßen nahestehen, so gilt das für seine musikalischen Studien doch kaum. Völlig ungewöhnlich erscheint dann seine Karriere als Arzt, Organisator und Bauleiter in Afrika und Fundraiser in der Heimat. Schweitzer beherrscht den Spagat zwischen Theorie und Praxis.

Wirklich weltberühmt wird Schweitzer jedoch nicht als wissenschaftlicher Philosoph oder als liberaler Theologe, auch nicht als Orgelspieler und Bachinterpret, sondern vor allem als Urwalddoktor im Urwaldspital in Lambarene in Äquatorialafrika. Ein Theologe am Anfang einer großen wissenschaftlichen Karriere widmet sein Leben dem Dienst an Menschen, um die sich sonst keiner kümmert.

Initialzündung einer Lebenshingabe

Schweitzer selbst datiert seinen Wunsch, mit seinem Leben etwas für andere zu bewirken, etwas vom Empfangenen zurückzugeben, auf das Jahr 1896. Damals ist er 21 Jahre alt: Bis zum 30. Lebensjahr will er sein Leben genießen und der Wissenschaft und Kunst widmen, danach will er für andere da sein. Während er sein theologisches Hauptwerk über die Leben-Jesu-Forschung niederschreibt, beschließt er Anfang 1905, ein Medizinstudium zu beginnen, um Menschen unmittelbar dienen zu können.

Als prägendes Erlebnis seiner Studentenzeit bezeichnete Schweitzer im Rückblick auch die Begegnung mit Büchern Nietzsches und Tolstois. Bei Nietzsche fasziniert ihn dessen Kulturkritik, sein Kampf gegen die „Sklavenmoral“ des Christentums im Zeichen der „Herrenmoral“ und ihres „Willens zur Macht“. Vergeblich wartet er auf eine Entgegnung der Theologen seiner Zeit. Bei Tolstoi fasziniert ihn seine betont christliche Sicht vom wahren Menschentum. Später beginnt er die eigene Kultur zu untersuchen, die ihm zunehmend fremd wird. Mitten im 1. Weltkrieg arbeitet er dann seinen Neuansatz „Kultur und Ethik“ aus, dessen zentraler Gedanke die „Ehrfurcht vor dem Leben“ ist: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (Kulturphilosophie 308).

Als der 1. Weltkrieg das Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts erschüttert, stellt Schweitzer fest, dass die Wurzeln dieses Übels früher liegen. Während seiner Zeit in Lambarene sieht er klar, dass die europäische Zivilisation auf Inhumanität zusteuert. „Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon“ (Kulturphilosophie 15).

Während seine Entscheidung für ein Medizinstudium reift, stößt er nach eigenem Bekunden im Herbst 1904 auf eine Veröffentlichung der evangelischen Pariser Missionsgesellschaft, die Mitarbeitende für Arbeitsfelder im Kongogebiet sucht. Will er sich zunächst nur medizinische Grundkenntnisse aneignen, macht er sich dann doch an ein Medizinstudium und löst sich so nach und nach aus seiner Karriere als wissenschaftlicher Theologe. Als seine Beurlaubung von der Universität abgelehnt wird, gibt er seine akademische Karriere auf und bricht seine Zelte in Straßburg ab. „Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwaldes gelesen und durch Missionare davon gehört. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, dass wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern“ (Zwischen Wasser und Urwald 1). Am Beispiel des Gleichnisses vom reichen Mann und armen Lazarus illustriert er die Verantwortung der reichen und gebildeten Europäer für die „Farbigen“ in den „Kolonien“. Es müsse die Zeit kommen, in denen freiwillig Ärzte „hinausgehen und unter den Eingeborenen Gutes tun“ (ebd. 2). Nicht in erster Linie ein Verkündigungsdienst, sondern ein diakonischer Auftrag.

Schweitzer wird nach Einzelgesprächen mit den entscheidenden Personen als möglicher Tropenarzt von der evangelikalen Missionsgesellschaft akzeptiert, was angesichts seiner bekannten liberalen Position überrascht. Aber er verspricht, nur als Arzt tätig zu werden und nicht als Theologe (Oermann 2013:12f ff.). Das hindert ihn andererseits nicht, in Lambarene Gottesdienste zu halten und zu predigen. In seinem Missionsbericht schreibt er von seinem Wirken als Arzt unter den Schwarzen und deren überraschten und freudigen Äußerungen, dass sie nun schmerzfrei leben können. „Dann fange ich an, ihm und denen, die dabeisitzen, zu erzählen, dass es der Herr Jesus ist, der dem Doktor und seiner Frau geboten hat, hier an den (Fluss) Ogowe zu kommen, und dass weiße Menschen in Europa uns die Mittel geben, um hier für die Kranken zu leben. Nun muss ich auf die Fragen, wer jene Menschen sind, wo sie wohnen, woher sie wissen, dass die Eingeborenen so viel mehr Krankheiten erleiden, Antwort geben. Durch die Kaffeesträucher hindurch scheint die afrikanische Sonne in die dunkle Hütte. Wir aber, Schwarz und Weiß, sitzen untereinander und erleben es: ‚Ihr aber seid alle Brüder.‘ Ach, könnten die gebenden Freunde in Europa in einer solchen Stunde dabei sein!“ (Zwischen Wasser und Urwald 78f.).

Aspekte seines Wirkens

1913 begibt sich Schweitzer mit seiner Frau Helene auf den gefährlichen Weg nach Äquatorialafrika, wo seinerzeit 14 Prozent der Weißen im Jahr sterben! Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit beginnt er sein medizinisches Wirken zunächst in einem dafür hergerichteten Hühnerstall, dann muss Schweitzer als Bauleiter ein Hospital errichten, das Patienten wie medizinisches Personal vor Sonne und tropischen Regenfällen schützt und zudem gut belüftet ist. Von Anfang an ist der Zustrom von Kranken gewaltig, 2000 Patienten kann er in den ersten neun Monaten behandeln, viele Krankheiten kennt er aus Europa, manche gibt es nur in den Tropen. Zu den Herausforderungen der Urwaldmedizin gehört auch die Aufbewahrung der Medikamente und deren Verabreichung, da nicht ausreichend kleinere Behälter zur Verfügung stehen, die man den Kranken mitgeben kann. Besonders schwierig für Helene Schweitzer ist die Reinigung der Operationsbestecke, sodass nur wenige Operationen pro Woche möglich sind.

Schweitzer kommt als Europäer aus einer überlegenen Zivilisation nach Lambarene, lernt die Sprachen der Einheimischen nicht, sondern arbeitet mit einheimischen Dolmetschern. Seine engsten Mitarbeiter werden auch in Zukunft Europäer sein, Afrikaner übernehmen Hilfsdienste. Manche seiner Äußerungen über Afrikaner wirken heute rassistisch, wenn er etwa darüber schreibt, wie Afrikaner den Europäern Holz verkaufen: „Die Erfindungsgabe der Neger, um beim Holzhandel zu betrügen, grenzt ans Unglaubliche. Wehe dem Neuling!“ (Zwischen Wasser und Urwald 86). Ähnlich äußert er sich über ihre Arbeitsmoral: „Der Neger arbeitet unter Umständen also sehr gut … aber er arbeitet nur so viel, als die Umstände von ihm verlangen. Das Naturkind, und dies ist des Rätsels Lösung, ist immer nur Gelegenheitsarbeiter. […] Der Neger ist nicht faul, sondern er ist ein Freier. Darum ist er immer nur Gelegenheitsarbeiter, mit dem kein geordneter Betrieb möglich ist.“ (Zwischen Wasser und Urwald 95). Über die Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen prägt Schweizer das – zu seiner Zeit sicher herausfordernde – Wort: „Ich bin dein Bruder; aber dein älterer Bruder“ (Zwischen Wasser und Urwald 110).

In Lambarene schreibt er bei seinem ersten Aufenthalt seine Kulturkritik, die sich einreiht in die Arbeiten von Simmel, Nietzsche oder Spengler. Es folgt sein Werk „Kultur und Ethik“, in dem er zu einer neuen Kultur aufruft, welches schließlich in seiner Ethik „Ehrfurcht vor dem Leben“ mündet. Als Urwaldarzt in Lambarene lebt er jahrelang vor, was literarisch zu Beginn der 1920er-Jahre zum Ausdruck kommt.

Folgen

Die Wirkung Albert Schweitzers auf die Welt ist erstaunlich, sie beginnt in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg, als Schweitzer Europa bereist, Orgelkonzerte gibt und Vorträge über seine Arbeit in Afrika und seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben hält. Während des 2. Weltkriegs bleibt er in Afrika und bezieht klare Position für Humanität und gegen Nationalsozialismus und Rassenwahn. Nach dem Weltkrieg erhält er unzählige Einladungen, 1954 kann er den Friedensnobelpreis entgegennehmen (er wurde ihm rückwirkend für das Jahr 1952 verliehen). Der Universalgelehrte gilt in der Auseinandersetzung um die Atomwaffen quasi als moralische Autorität schlechthin, die sich aus Lambarene mit Radioansprachen in die Debatte einschaltet (1957 gegen Kernwaffenversuche, 1958 gegen die Atomgefahr).

Schweitzer ist als Meister der Selbstinszenierung ungeheuer modern, das macht ihn schon zu seinen Lebzeiten zum Mythos! Bis heute sind die Fotos und Zeichnungen seines prägnanten Gesichts weit verbreitet. Der Spiegel urteilte 1960, er sei sein „bester Denkmalspfleger“ (Spiegel 52 [1960] S. 61). Nach seinem ersten Aufenthalt in Lambarene veröffentlicht Schweitzer seinen Bericht „Zwischen Wasser und Urwald“, der sich weltweit verbreitet und das Bild vom Urwaldarzt formt. In seinen autobiografischen Berichten spürt man, dass er sich in dieser Rolle gefällt. „Wie meine Gefühle beschreiben, wenn solch ein Armer (Kranker) gebracht wird! Ich bin ja der einzige, der hier helfen kann, auf Hunderte von Kilometern. Weil ich hier bin, weil meine Freunde mir die Mittel geben, ist er (...) zu retten“ (Zwischen Wasser und Urwald 78).

Fazit

Schweitzer bricht aus seiner Zeit zu ganz neuen Ufern auf: Er verlässt die Universität und reist in eine lebensbedrohliche Arbeitsumgebung, um Menschen zu dienen. Nicht durch Bildung und Mission, sondern durch elementare medizinische Hilfeleistung wird Schweitzer wirksam – das hat Menschen schon zu seiner Zeit verwundert und fasziniert. Namentlich vor dem Hintergrund der furchtbaren Kriegsschäden zweier Weltkriege und des nationalsozialistischen Rassenwahns leuchtet Schweitzer wie eine Fackel in der Dunkelheit eines Jahrhunderts hervor. Als Theologe hat Schweitzer Jesus nicht als Gottes Sohn, sondern als Mensch mit den zu seiner Zeit unter Juden üblichen Endzeitvorstellungen verstanden. Aber der ethische Geist, der von Jesus ausgegangen sei, so Schweitzer, könne Menschen dazu bringen, die Welt zu verändern (Oermann 2013:50ff.). Jesus erscheint ihm also als ethisches Vorbild, dem er mit seinem Leben folgt.

Wo lassen wir uns von Menschen und ihrer Not anrühren? Lassen wir uns überhaupt anrühren? Und was machen wir, wenn wir mit den Notleidenden geweint haben, wenn wir unsere Sprachlosigkeit überwunden haben? Wo bringen wir uns ein?

Wir werden heute von vielen Hilfsorganisationen auf dieses Elend aufmerksam gemacht. Wir können spenden, wir können beten, wir können etwas tun. Vielleicht fragen wir einfach mal nach, welche Taten bei Hilfsorganisationen gebraucht werden, bei Brot für die Welt, Compassion, Kindernothilfe, Open Doors, International Justice Mission oder einer der anderen im Dienst für die Menschen dieser Erde. Vieles können wir hier in Deutschland als Botschafter tun, aber vielleicht werden wir wie Schweitzer auch herausgerufen aus unseren Sicherheiten. Nehmen wir uns die Zeit zum Hören? Haben wir den Mut, etwas zu tun?

Uwe Heimowski – „The Maiden Tribute of Modern Babylon“

1885: Die Heilsarmee im Kampf gegen Kinderprostitution

Die Überschrift der vielgelesenen Londoner Pall Mall Gazette an jenem Morgen des 6. Juli 1885 schlug ein wie eine Bombe: „The Maiden Tribute of Modern Babylon“ war da in fetten Lettern zu lesen – „Das Jungfrauenopfer im modernen Babylon“. Kein Geringerer als William T. Stead, der Herausgeber der Zeitung selbst, hatte die Beiträge verfasst. Sie erschienen als Fortsetzung an fünf Tagen hintereinander. Jeder Artikel war mit einem eigenen reißerischen Titel versehen, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen: „The Violation of Virgins“ („Die vergewaltigten Jungfrauen“) oder „Strapping Girls Down“ („Die gefesselten Mädchen“). Die Pall Mall Gazette wollte einen Skandal – und sie bekam ihn.

Worum ging es beim „Maiden Tribute“? Stead hatte schonungslos die Situation minderjähriger Prostituierter in England dargestellt. Vor allem „young under-privileged girls“, junge Mädchen aus sozialen Randgruppen und vom Land wurden von Menschenhändlern in Bordelle verkauft. Der Markt florierte vor allem in der Großstadt London und auf dem europäischen Festland.

Initiiert worden war die Artikelserie von der Heilsarmee. Catherine Booth, die Frau des Heilsarmeegründers William Booth, kämpfte für Frauenrechte und gegen jede Form von Unterdrückung. Als 1864 festgestellt wurde, dass ein Drittel der britischen Soldaten an Geschlechtskrankheiten litten, verabschiedete das Parlament ein „Gesetz gegen ansteckende Krankheiten“. Darin wurden einseitig die Prostituierten für die Epidemie verantwortlich gemacht. Für Catherine Booth ein völlig falscher Weg. Sie sah die Frauen als Opfer, die nicht auch noch zusätzlich kriminalisiert werden durften. Die Heilsarmee bekämpfe die Prostitution, aber nicht die Prostituierten, erklärte Catherine Booth. Sie beließ es nicht bei Worten. Für Aussteigerinnen aus dem Milieu wurden „rescue homes“ aufgebaut, eine Art Frauenhäuser, in denen die Frauen eine sichere Unterkunft fanden und einen Beruf erlernen konnten.

Parallel dazu stellte die Heilsarmee politische Forderungen: Das „age of consent“ (Alter der Mündigkeit) und damit das Mindestalter für „einvernehmlichen“ Geschlechtsverkehr sollte von 13 auf 16 Jahre erhöht werden. Regelmäßig schrieb Catherine Booth an Queen Victoria, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Die Zeit ist reif – Catherine Booth findet Unterstützung

Fast zwei Jahrzehnte lang blieben Catherine Booths Briefe ungehört. Doch sie ließ nicht locker. Anfang 1885 ermöglichten es dann verschiedene Umstände, eine große Kampagne zu starten. Josephine Butler, eine bekannte Frauenrechtlerin, schrieb einen Brief an Florence Booth, die Schwiegertochter des Heilsarmeegründers, in welchem sie die Zustände in den Bordellen und das Ausmaß der Kinderprostitution noch einmal nachdrücklich schilderte. Sie schlug der Heilsarmee vor, gemeinsam dagegen vorzugehen.

Florence Booth hatte in den Jahren zuvor Teams von jungen Frauen aufgebaut, die man heute Streetworkerinnen nennen würde. Die sogenannten „Halleluja Lassis“ besuchten die Prostituierten und boten ihnen Unterstützung an. Florence kannte die Situation und die Schicksale der Mädchen aus erster Hand. Viele von ihnen waren verkauft und mit Gewalt dazu gezwungen worden, ihren Körper zu verkaufen. Mit ihrem Mann Bramwell Booth überlegte sie, wie eine öffentliche Kampagne aussehen könnte. Bramwell wiederum war mit William T. Stead befreundet, den er als investigativen Journalisten kannte. Er bat ihn um Unterstützung.

Daraufhin aktivierte Stead seinen Recherche-Apparat. Anonym betritt er Kneipen und Bordelle, unterstützt von einem Angestellten der Pall Mall Gazette. Eine Offizierin der Heilsarmee und zwei weitere Frauen geben sich als Prostituierte aus, besuchen Bordelle und schildern Stead ihre Erlebnisse. Zur selben Zeit begleitet Josephine Butler ihren Sohn in Luxus-Apartments, wo ihm gegen Geld Mädchen in jeder Altersklasse auf sein Zimmer geschickt werden. Sie protokollieren ihre Erlebnisse. Außerdem führt Stead Dutzende von Interviews, um Informationen aus erster Hand zu bekommen: mit dem ehemaligen Chefermittler von Scotland Yard, mit Sozialarbeitern und Gefängnis-Seelsorgern, aber auch mit Bordell-Betreibern, Zuhältern, Menschenhändlern und Prostituierten. Er beabsichtigt diese Ergebnisse sehr detailliert zu veröffentlichen, doch ist er sich nicht sicher, ob das die Menschen wirklich aufrütteln wird. Es braucht einen handfesten Skandal.

In enger Abstimmung mit Bramwell Booth startet Stead einen „Selbstversuch“: Er beschließt, ein Kind zu kaufen und den Weg von seinem Zuhause bis in das Bordell zu protokollieren. Zuvor weiht Stead einige hochrangige Vertrauenspersonen ein: den Erzbischof von Canterbury, den römisch-katholischen Kardinal, den Bischof von London und den bekannten baptistischen Prediger Charles H. Spurgeon.

Gemeinsam mit der ehemaligen Zuhälterin Rebecca Jarrett, die bei der Heilsarmee zum Glauben gekommen und ausgestiegen ist, nimmt er Kontakt zu einer Menschenhändlerin auf. Diese vermittelt ihnen die 13-jährige Eliza Armstrong, die mit ihrer alkoholabhängigen Mutter in einem Dorf außerhalb Londons lebt. Die Käufer erklären unzweideutig, welche Zwecke sie mit dem Mädchen verfolgen. Die Mutter verkauft Stead das Mädchen für fünf Pfund, was ungefähr der heutigen Kaufkraft von 500 Euro entspricht. Ein Zertifikat über die Jungfräulichkeit Elizas wird von einem abgewrackten Gynäkologen, der sein Auskommen mit illegalen Abtreibungen bestreitet, mitgeliefert. Das Kind wird nach London gebracht, dort betäubt und nach Frankreich geschmuggelt, wo es in die Obhut der Heilsarmee übergeben wird.

Der Skandal wird öffentlich – Steads Artikel erscheint

Am 6. Juli erscheint der Artikel in der Pall Mall Gazette. Stead stellt fest: „London ... is the greatest market of human flesh in the whole world“, London sei der „größte Markt für Menschenfleisch auf der ganzen Welt.“

Er stellt fünf moralische und politische Forderungen:

Stead erreicht sein Ziel: Der Skandal ist in aller Munde. Zeitgenossen wie der Schriftsteller George Bernard Shaw und viele andere stellen sich öffentlich auf seine Seite.

Doch es werden auch massive Vorwürfe laut: Selbsternannte Moralapostel nennen Steads Beschreibungen voyeuristisch und reißerisch, ja pornografisch. Andere spielen die Sache herunter: Die Mädchen würden freiwillig zustimmen.

Der Höhepunkt dieser Anfeindungen: William Stead, Bramwell Booth und Rebecca Jarrett landen vor Gericht. Obwohl der Name Elizas im Artikel in Lily geändert und einige Details verfremdet wurden, erkennt die Mutter des Mädchens ihre Tochter darin. Sie geht zur Polizei: Das Kind sei gestohlen worden. Und tatsächlich kommt es zu einer Verurteilung wegen Menschenhandels. Jarrett wird zu sechs Monaten, Stead zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, nur der mitangeklagte Bramwell Booth erhält einen Freispruch.

Dennoch überwiegen in der öffentlichen Wahrnehmung die Unterstützer. Die Heilsarmee startet eine Kampagne, die sie „purity campaign“ nennt. Jeden Tag finden an bekannten Plätzen in London und anderen großen Städten Protestkundgebungen statt, William und Catherine Booth halten flammende Reden, um die Forderungen Steads zu unterstützen. Sie erstellen eine Petition mit zwei konkreten Gesetzesänderungen: die Heraufsetzung des „age of consent“ von 13 auf 16 Jahre, um damit den bezahlten Geschlechtsverkehr mit unter Achtjährigen als Missbrauch strafbar zu machen, sowie die Einführung der Zeugnisfähigkeit von unter Achtjährigen – hatten entsprechend junge Kinder bisher einen Missbrauch angezeigt, galten ihre Aussagen nicht. Verschiedene Frauenrechtlerinnen stellen sich auf die Seite der Heilsarmee. Binnen zwanzig Tagen gelingt es, die nie da gewesene Zahl von 393.000 Unterschriften zusammenzutragen.

Am 30. Juli 1885 wird die Übergabe der Petition öffentlichkeitswirksam inszeniert: In einem langen Zug, angeführt von einer 50 Mann starken Blaskapelle, berittenen Offizieren und marschierenden Soldaten der Heilsarmee, alle in neuen roten Uniformen mit weißen Helmen, wird die Petition zum Unterhaus gebracht und dort dem Parlament feierlich übergeben.

Der öffentliche Druck zeigt Erfolg: Am 14. August 1885 beschließt das britische Parlament „The Criminal Law Amendment Act“, ein Gesetz, in welchem die Forderungen der Petition umgesetzt werden.

Das Gesetz wird geändert – die Aufgabe bleibt

Der Kampf gegen die Ausbeutung von Kindern und gegen Zwangsprostitution hat sich auch im 21. Jahrhundert nicht erübrigt. Im Gegenteil. Neben der Heilsarmee engagieren sich viele NGOs und Initiativen in diesem Bereich, in Deutschland etwa in dem Bündnis „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, dessen Programm vier Punkte enthält: Öffentlichkeit, Gesetzgebung, Prävention und Opferhilfe. Diese scheinen im Rückblick wie eine Zusammenfassung des „Maiden Tribut“.

Durch den öffentlichen Skandal, welchen die Artikelreihe in der Pall Mall Gazette auslöste, kam 1885 Bewegung in das Thema Kinderprostitution – nach fast zwei Jahrzehnten, in denen Catherine Booth und andere bereits gekämpft hatten. „Awareness“ (Öffentlichkeitsarbeit / Bewusstseinsbildung) ist ein Kernelement gelingender gesellschaftlicher Veränderung. Mutige, unabhängige Journalisten müssen den Finger in die Wunden einer Gesellschaft legen, begleitende Kampagnen können das befördern. Nachhaltig hilft aber nicht Empörung, sondern eine kontinuierliche Arbeit und eine tragfähige gesetzliche Grundlage, damit Täter auch zur Rechenschaft gezogen und Opfer geschützt werden können.

Eine Verbesserung der Lebensbedingungen ist das wirksamste Instrument der Prävention. Darum legten William und Catherine Booth 1890 mit dem Buch „In darkest England and the way out“ nur fünf Jahre später einen umfassenden Sozialplan vor. Auch an dessen Abfassung wirkte William T. Stead mit.

Aus der Geschichte lernen, heißt mitunter, Fehler zu vermeiden. Manchmal aber heißt es auch: das Gute zu wiederholen und in die heutige Zeit zu übersetzen. Die Kampagne um den „Maiden Tribute“ ist ein denkwürdiges Beispiel dafür, wie der Kampf gegen Menschenhandel und Kinderprostitution auch heute geführt werden kann.

Judith Kühl – Aufwachsen am gefährlichsten Ort der Welt für Kinder

Griseldas langer Weg zum Recht

Es ist ein gewöhnlicher Sonntag. Wie jede Woche besucht die 13-jährige Griselda mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern den Gottesdienst der kleinen Kirche in einem Vorort der Stadt Guatemala in dem gleichnamigen Land. Nach dem Gottesdienst läuft die Familie zu Fuß zurück nach Hause.

Die Wohnsiedlung, in der sie leben, liegt an der großen Hauptstraße, die in die Stadt führt. Hier stehen die Hütten der ärmeren Bevölkerung ohne Vorgarten und ohne Wachpersonal. Griseldas Familie hat keine Ersparnisse und lebt von dem, was ihr Vater als Saisonarbeiter und ihre Mutter als Reinigungskraft in den wohlhabenderen Wohngegenden verdienen. Trotz der finanziellen Unsicherheiten erlebt das Mädchen eine glückliche Kindheit. Sie ist der ganze Stolz ihrer Mutter und tut nichts lieber als mit ihren Brüdern darum zu wetten, wer was am schnellsten oder besten kann.

Als die Familie an jenem Sonntag auf dem Weg nach Hause an der Hauptstraße entlanggeht, rasen Dutzende Autos an ihnen vorbei. Plötzlich stoppt ein blauer Lieferwagen neben Griselda, der Beifahrer reißt die Tür des Laderaums auf. Drei Männer ziehen das Mädchen in den Wagen und rasen davon. Ihre Mutter und ihre Brüder sehen hilflos zu, unfähig zu glauben, dass die letzten Sekunden Realität waren. 

Außer sich vor Panik schaltet die Mutter die Polizei ein. Nach einer weiträumigen Suche wird das Auto am Stadtrand entdeckt. An derselben Stelle wurde nur eine Woche zuvor ein Mädchen tot aufgefunden. Der Mutter stockt der Atem: nicht ihre Tochter! Als die Polizisten die Umgebung absuchen, finden sie Griselda. Sie lebt noch, ist aber schwer verletzt. Die drei Männer haben sie mehrmals brutal vergewaltigt. Sie hatten darum gewürfelt, wer von ihnen das Mädchen als Erster missbraucht.

Die extreme soziale Ungleichheit nährt die Gewalt

Guatemala zählt zu den gewalttätigsten Ländern der Welt. Extreme soziale Ungleichheiten führen zu einem permanenten Klima der Gewalt. Dies ist unter anderem auf den brutalen Bürgerkrieg von 1960 bis 1996 zurückzuführen. Angestachelt von den sozialen Ungleichheiten führte der Konflikt dazu, dass große ärmere Bevölkerungsgruppen zugunsten einer kleinen Oberschicht an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.