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Johannes Wilkes

 

Der Fall Rückert

 

Kriminalroman

 

 

 

ars vivendi

 

Die Handlung und die Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage März 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Johanna Cattus-Reif

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © owik2/photocase.de

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-705-6

 

Inhalt

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Der Autor

 

Montag

Ein Schrei. Ein Schrei, der einem durch Mark und Bein fuhr. Ein grausamer Schrei mitten in die friedliche Stille hinein. Karl-Dieter saß gerade mit Mütze am Frühstückstisch. Erschrocken blickte er zu Mickey hinüber. Der Wellensittich war in höchste Aufregung geraten, hüpfte panisch auf die Stange seiner Schaukel und begann dort, rasend schnell zu rotieren.

»Die Riesenwelle«, sagte Karl-Dieter atemlos, »weißt du noch, wann er sie das erste Mal gemacht hat? Am Tag, als der Torwart deines glorreichen BVB mit der Eckfahne gepfählt wurde!«

Mütze nickte. Klar erinnerte er sich. Zum Glück war es nur der Ersatztorwart gewesen. Den Mörder hatte er innerhalb von zwei Tagen hinter Schloss und Riegel gebracht, eine Eifersuchtsgeschichte um eine blondierte Spielerfrau. Mit nostalgischem Gesicht schenkte sich der Kommissar noch eine Tasse Kaffee ein. Ja, das gute alte Dortmund! Dort wurde noch gemordet. In Erlangen nichts außer Diebstählen von rostigen Fahrrädern. Da konnte Mickey noch so oft um seine Stange kreisen.

 

Doktor Kunzelmann war ein Gewohnheitsmensch. Wie jeden Morgen kaufte er sich einen Kaffee to go beim Beck am Hugenottenplatz und warf die zehn Cent Wechselgeld mit großzügiger Geste in die durchsichtige Spendenbox. Wie jeden Morgen machte er noch einen Schlenker durch den morgenfrischen Schlossgarten, auf dessen sorgfältig gepflegten Rabatten schon die Pfingstrosen zu blühen begannen. Er verließ den Park über einen Nebenausgang beim Kollegienhaus, überquerte die Universitätsstraße, indem er entschlossen eine Lücke im Strom der Radfahrer nutzte, und schloss dann die Tür zur Alten Universitätsbibliothek auf, zu seiner Bibliothek. Wie jeden Morgen wollte er in sein Büro, die Kaffeemaschine für die zweite Koffeinspritze anwerfen, als er einen Lichtschein bemerkte, der aus dem Kellergeschoss drang. Doktor Kunzelmann stutzte.

Ob der Sicherheitsdienst geschlampt hatte? War noch nie vorgekommen in all der Zeit, in der er die Direktion innehatte. Niemand anders als die Mitarbeiter und der Sicherheitsdienst hatten Zutritt zur Alten Universitätsbibliothek. Wer sollte jetzt, am frühen Montagmorgen, dort unten sein? Der Bibliotheksleiter nahm den letzten Schluck Kaffee, warf den Pappbecher in einen Eimer und ging dem Lichtschein nach.

Die Alte Universitätsbibliothek war ein ehrwürdiges Jugendstilgebäude, Jugendstil der wuchtigen, rustikalen Sorte. Weil Erlangen Lazarettstadt gewesen war, hatte der Krieg die Stadt verschont und so auch die Bibliothek mit ihren ungeheuren Schätzen. Mächtig stolz war Kunzelmann auf sein Haus, auf Bücher, die noch aus Wilhelmines Privatbesitz stammten, Wilhelmine von Preußen, die Lieblingsschwester Friedrichs des Großen, die es nach Bayreuth verschlagen hatte, einen armen Verwandten zu heiraten. Um etwas Glanz in dessen Fürstentum zu bringen, hatte Wilhelmine, kunstsinnig und den Wissenschaften zugetan, ihren Mann Friedrich zur Gründung einer Universität überredet und dieser zugleich ihren ganzen Bücherschrank vererbt, kostbar in Leder gebundene Bände. Das aber war nur ein kleiner Teil der Schätze, die hier lagerten. Auch von der renommierten Universität in Altdorf, auf der Promis wie Wallenstein und Leibniz die Bank gedrückt hatten, war die Büchersammlung übernommen worden, kostbar gestaltete Folianten und Inkunabeln, aufwendig geschmückte Bibeln von unschätzbarem Wert, Handschriften und Erstausgaben. Und er, Kunzelmann, war der Hüter dieses Schatzes, was ihn mit glühendem Stolz erfüllte.

Elastisch tänzelte der noch rüstige Endfünziger, dessen Bauch sich durch fleißigen Konsum des kräftigenden Erlanger Bieres hübsch gerundet hatte, die glänzenden Granitstufen hinunter, immer dem Schein des Lichtes folgend. Seltsam, die Türen im Keller standen gegen jede Vorschrift offen. Kunzelmann spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg. Unordnung war ihm aus tiefstem Herzen verhasst, wie jedem anständigen Bibliothekar. Bibliothekare waren die ordentlichsten Menschen der Welt. Jede Stadt reißt sich darum, die Jahrestagung der deutschen Bibliothekare auszurichten, kein gesitteteres Publikum lässt sich denken. Nie eine Beschwerde, nie ein Skandal, lauter hochzufriedene Hoteliers, welche die Zimmer ohne jeden Zimmerservice weitervermieten könnten, kein Gast würde merken, dass das Zimmer schon benutzt worden war. Wehe aber, der Bibliothekar wird mit Unordnung konfrontiert! Dann fängt sein Blut an zu wallen. Und so schwoll nun auch Kunzelmann der Kamm. Licht, das nicht brennen durfte, Türen, die gegen jede Regel offen standen, wie sollte man angesichts der ausbrechenden Anarchie ruhig bleiben?

Auch das, was da auf dem Boden lag, gehörte nicht dahin. Die Dame, die sich dort schlafen gelegt hatte. Oder schlief sie gar nicht? Kunzelmann trat näher heran, erstarrte – und wurde so bleich wie die gekalkten Kellerwände. Das war doch … das war doch Frau Apeldoorn! Seine beste Kraft! Kunzelmann sank mit entsetztem Blick auf einen der Resopalstühle nieder, welche die Regalwände bewachten. Frau Apeldoorn gab keinen Muckser mehr von sich. Frau Apeldoorn war nicht mehr.

 

»Familie?«

Doktor Kunzelmann schien nicht zu verstehen und starrte Mütze an, als hätte ihn der Kommissar nach einem Mondkalb gefragt.

»Doppelter Beinbruch«, sagte Mütze nur knapp. Er war es leid, seine Gesichtsmaske erklären zu müssen.

Doktor Kunzelmann glotzte noch ungläubiger.

»Jochbein und Nasenbein«, ergänzte Mütze eine Spur gnädiger.

Nie wieder Fußball! Nicht mit Amateuren. Dieses blödsinnige Fußballmatch gestern. Beim Benefizspiel Erlanger Prominenter gegen die Brucker Altherrenmannschaft hatte ihm der eigene Torwart das Gesicht zertrümmert. Mit dem Kopf. Ausgerechnet der Chefarzt der plastischen Chirurgie! Er ist es dann auch gewesen, der ihn eigenhändig in die Notaufnahme gefahren und verarztet hatte. Auch die schwarze Maske hatte er ihm verpasst. »Nur für vier Wochen«, hatte der Doc gemeint. Und Karl-Dieter? Nach dem ersten Schrecken hatte er laut gelacht. Mütze solle sich für die Rolle des Phantoms der Oper bewerben, worüber der Kommissar nur müde grinsen konnte. Hahaha, witzig-witzig!

»Herr Doktor Kunzelmann, ich will von Ihnen wissen, ob Frau Apeldoorn Familie hatte.«

Der Bibliothekar schien sich wieder etwas gefasst zu haben.

»Frau Apeldoorn? Familie? Wieso das? Sie lebte doch ausschließlich für unsere Bibliothek!«

»Auch am Wochenende?«

Doktor Kunzelmann schüttelte den Kopf.

»Am Wochenende nicht, üblicherweise nicht.«

»Was heißt üblicherweise?«, wollte Mütze wissen.

Doktor Kunzelmann nahm die Hornbrille ab und rieb sich die Augen.

»Überstunden dürfen nur gemacht werden, wenn sie angeordnet sind. Vorschrift der Universitätsverwaltung. Vor zwei Jahren haben wir eine Prachtausstellung durchgeführt, die edelsten, sonst streng verwahrten Bände in Vitrinen präsentiert. Da sind wir auch an den Wochenenden beschäftigt gewesen. Seitdem aber ist Wochenende wieder Wochenende und kein Mitarbeiter im Einsatz.«

»Warum war Frau Apeldoorn dann hier?«

Kunzelmann schnaufte erschöpft.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte er kraftlos, »die Gute hat kein Wort zu mir gesagt. Am Freitag ist sie wie immer ins Wochenende gegangen, kein Wort davon, dass sie noch was Dringendes zu arbeiten habe. Frau Apeldoorn ist ein Muster an Zuverlässigkeit, arbeitet seit dreißig Jahren im Hause, hat noch keinen einzigen Tag gefehlt, hat immer still und zuverlässig ihre Arbeit in der Katalogabteilung gemacht. Es ist ein Drama, ein unglaublicher Verlust! Frau Apeldoorn beherrschte noch die Preußischen Instruktionen, wer kann die heute noch? Heute nur noch RAK!«

»Preußische Instruktionen? RAK?« Mütze sah den Bibliotheksdirektor fragend an.

»RAK. Das Regelwerk für die alphabetische Katalogisierung. Hat die Preußischen Instruktionen vor vielen Jahren abgelöst. Nach welchem Regelwerk auch immer, stets hat Frau Apeldoorn die Katalogisierung still und zuverlässig ausgeführt.«

Als ihm zum erneuten Male die Worte »still und zuverlässig« über die wulstigen Lippen rutschten, biss sich Kunzelmann heftig in die Faust, und die Augen wurden ihm feucht. Den Tränen zum Trotz und wie um sich zu quälen, wiederholte er aber bebend: »Still und zuverlässig, so ist sie immer gewesen, jawohl, still und zuverlässig!«

Ein Mann von der Spurensicherung nahm Mütze zur Seite, zeigte ihm etwas und flüsterte dazu hastig ein paar Worte. Mütze nickte.

»Still und zuverlässig, sicher, sicher«, murmelte er. »Herr Doktor Kunzelmann, kann es dennoch sein, dass Frau Apeldoorn ein Doppelleben geführt hat?«

»Ein Doppelleben? Frau Apeldoorn? Niemals! Wie kommen Sie denn darauf?«

»Das hier haben wir in ihrer Handtasche gefunden!«

Mütze winkte den Mann von der Spurensicherung näher. Er öffnete den Frischhaltebeutel. In ihm schaukelte ein noch verschweißtes Kondom. Doktor Kunzelmann erbleichte aufs Neue.

 

Erlangen war ein hübsches Städtchen. Zumindest verglichen mit Dortmund. Das war das Schöne, wenn man in Dortmund aufgewachsen war: Überall anders erschien es einem paradiesisch. Nicht dass Mütze seine Heimatstadt nicht mochte. Aber schön konnte man Dortmund wirklich nicht nennen. Jedenfalls nicht im landläufigen Sinne. Die Bomben des Zweiten Weltkriegs hatten in Dortmund so gründliche Arbeit geleistet, dass man überlegt hatte, die Stadt an anderer Stelle aufzubauen. Man hatte sich dann doch dafür entschieden, die Stadt aus den Trümmern wieder zu errichten, entsprechend aber war das Ergebnis ausgefallen, ein städtebauliches Flickwerk ohne jeden Charme. Erlangen hingegen war propper und niedlich.

Trotzdem wäre Mütze nie im Leben nach Erlangen gegangen. Nur der Liebe zuliebe war er hier gelandet. Um keinen Ehekrach zu riskieren. Ehe im übertragenen Sinne, denn zu Karl-Dieters nicht geringem Kummer wollte Mütze den Weg zum Traualtar partout nicht gehen. Karl-Dieter hatte am Erlanger Theater seine Traumstelle bekommen, Leiter des technischen Dienstes. »Leitender Kulissenschieber«, frotzelte Mütze, wenn er seinen Freund aufziehen wollte. Er selbst nannte ihn niemals seinen Freund, sondern immer nur seinen Partner. Das klang einfach männlicher. Und ein Kommissar war nun mal männlich und Mütze erst recht. Knallharter Ermittler der alten Schule, ohne jeden Hang zu Sentimentalitäten.

Die Apfelsinenschale, wie man im Pott das Dortmunder Opernhaus wegen seines gebogenen Daches nannte, hatte Karl-Dieter vor die Tür setzen wollen. Von einem Tag auf den anderen. Kürzungsmaßnahmen, weil die Stadt pleite war. Dabei waren Karl-Dieter unglaubliche Bühnenbilder gelungen. Niemand verstand es, sich in die Seele eines Stückes so einzufühlen, das Bühnenbild danach zu gestalten. Nicht selten hatten Karl-Dieters Interpretationen die Regie beeinflusst. Unvergessen der Beginn des Nathan. Wie der junge Neonazi die junge Recha aus einem brennenden Asylantenheim rettet! Karl-Dieters Idee, aber die Lorbeeren hatte der Regisseur geerntet.

So war es gekommen, wie es kommen musste. Alle seine Kollegen hatten Familie, Karl-Dieter aber hatte nur Mütze und deshalb kein Bleiberecht. Trotz der vielen gemeinsamen Jahre. Wenn sie verheiratet wären, ja das wäre etwas anderes, hatte Karl-Dieter wieder vorwurfsvoll zu klagen begonnen. Aber Mütze wollte ja nicht. Immer noch nicht. Die Ehe sei was für Heteros und Spießer, war seine Rede. Zum gleichen Zeitpunkt, als die radikalen Kürzungsmaßnahmen des Dortmunder Theaters durchsickerten, war im Deutschen Bühnenblatt die Stelle in Erlangen angezeigt worden. Als dann noch die Erlanger Kripo einen Ersatz für einen ausscheidenden Kommissar gesucht hatte, war der Umzug beschlossene Sache gewesen. Nun lebten sie seit einem halben Jahr in Erlangen und hatten sich gut akklimatisiert, wenngleich sich Mütze in einer solch braven Stadt übel zu langweilen begonnen hatte. Immer nur Fahrraddiebstähle, allerhöchstens mal der Einbruch in ein verstaubtes Kellerabteil. Peanuts für einen mordgestählten Kommissar. Umso besser fühlte sich Mütze jetzt, hier im Keller der Alten Universitätsbibliothek. Zufrieden stellte er fest: Auch in Erlangen wird gemordet!

 

Zur selben Zeit, als Mütze sich über seiner Leiche unternehmungslustig die Hände rieb, schlenderte Karl-Dieter in aller Gemütsruhe über den Erlanger Marktplatz. Als neuer technischer Direktor hatte er im ersten halben Jahr so viele Überstunden eingefahren, dass er die nächsten Wochen etwas kürzertreten musste. Zwar war Karl-Dieter ebenso ein beruflicher Perfektionist wie Mütze, er hatte jedoch keine Probleme damit, in den Freizeitmodus zu schalten. Warum auch? Karl-Dieter war ein barocker Genussmensch und war es aus Überzeugung. »Systole und Diastole, einatmen und ausatmen«, auf diese Goethe-Maximen kam es an, das schützte vor dem Burnout. Wenn irgend möglich, genoss Karl-Dieter mit allen Sinnen, wie auch jetzt beim Gang über den Marktplatz, den er so sehr liebte. Was für ein lebendiges Treiben herrschte dort! All die zahlreichen Stände mit ihrem vielfältigen Angebot, das meiste frisch aus der Region von den Feldern des nahen Knoblauchslandes, dazu ein Käsestand, ein kleiner Metzgereiwagen. Herz, was begehrst du mehr?

Bei den Marktfrauen war Karl-Dieter bereits bekannt, bekam schon mal den einen oder anderen Tipp, welches Gemüse besonders frisch geliefert worden sei oder wann es wieder Bohnenkraut gebe. Gerne wäre Karl-Dieter mit Mütze zusammen einkaufen gegangen, aber der Herr Kommissar hatte ja für Einkäufe nichts übrig. Genauso wenig für bunten Blumenschmuck, den sich Karl-Dieter ebenfalls selbst besorgen musste.

Seit einiger Zeit war Karl-Dieter allerdings durchaus froh darüber, dass Mütze keinen Gedanken an Blumen verschwendete. Kam es tatsächlich einmal vor, dass der Freund ihn mit einem Strauß überraschte, bekam Karl-Dieter Herzrasen der übelsten Sorte. Für diese Reaktion gab es einen Grund, eine alte Geschichte, lange her. Karl-Dieter hatte sie schon erfolgreich verdrängt, nur in manchen Momenten noch kroch böse die Erinnerung wie eine giftige Schlange aus dem Dunkel, und es wurde ihm arg bang ums Herz. Speziell, wenn Mütze mit roten Rosen in der Tür stand.

Karl-Dieter kaufte ein Kilo Bamberger Hörnchen, eine höchst schmackhafte Kartoffelsorte mit Charakter. Mütze liebte es zwar nicht, die verwinkelten Knollen abzupellen, aber Karl-Dieter versicherte ihm, der Geschmack sei unvergleichlich. Mütze schüttelte darüber nur ungläubig den Kopf. Die höchste von allen Veredlungsformen der Kartoffel war und blieb für ihn die Verarbeitung zu Pommes frites. Diese allerdings gab es am heimischen Herd schon seit Langem nicht mehr. Karl-Dieter hatte den Umzug nach Erlangen dazu genutzt, um die Fritteuse zu entsorgen. Frittieren war ja so was von ungesund. Sie hatten jetzt beide ein Alter erreicht, in dem man auf pubertäre Speisen zugunsten gesunder und leichter Kost gerne verzichtete.

Karl-Dieter erstand noch einen saftigen Kopfsalat, den ihm ein einarmiger Bauer geschickt in Papier rollte, und wollte weiter zu dem mobilen Käsestand, als er hinter sich hörte, wie ein Stadtführer einer kleinen Studentengruppe ein historisches Haus erklärte. Das Haus sei eine Art ­Vorform eines Studentenwohnheims gewesen. Eine Erlanger Kaufmannswitwe habe Zimmer an Studenten vermietet, einer dieser Studenten sei ein junger, begabter Dichter gewesen, August Graf von Platen. Liebeskummer habe den gebürtigen Ansbacher von Würzburg vertrieben. Platen verliebte sich stets in junge Männer. Eines Tages habe er seinen ganzen Mut zusammengenommen und seinem Angebeteten seine Gefühle offenbart. Was für ein Fehler! Brüsk sei er zurückgewiesen worden, überstürzt habe er die Zelte in seinem geliebten Würzburg abbrechen müssen. Gelebte Homosexualität sei in jener Zeit ein Skandal gewesen, erklärte der Fremdenführer seiner interessierten Zuhörerschaft und drückte sich seinen Panamahut tiefer in die Stirn. Ja, Homosexualität sei sogar als Verbrechen gewertet worden, das man strafrechtlich verfolgte. So hatte Platen zeit seines Lebens ein unglücklicher Mensch bleiben müssen, einzig seinen Tagebüchern hatte er seine Neigungen anvertrauen können.

Karl-Dieter seufzte still. Tiefes Mitleid mit dem armen Dichter ergriff ihn. Ob Platen heute ein glücklicherer Mensch geworden wäre? Zumindest standen die Chancen im einundzwanzigsten Jahrhundert deutlich besser. Er blickte noch mal zu dem Haus empor und machte sich dann mit seinen Einkäufen auf den Weg. Das war der Vorteil, wenn man als Bühnentechniker arbeitete, man brauchte nicht so früh anzufangen und hatte die Stadt noch ganz für sich, die Stadt und das Fitnessstudio, wohin Karl-Dieters nächster Gang führte. Gleich nach der Ankunft in Erlangen hatte er sich dort angemeldet, war aber noch nicht sehr oft dazu gekommen, das Studio zu besuchen. Das wollte er jetzt nachholen, da er sein Überstundenkonto abfeiern sollte. Er war jetzt in ein Alter gekommen, in dem man etwas für seine Fitness tun musste. Und für seine Figur.

Eigentlich verabscheute Karl-Dieter diese muffigen Gerätehallen, das Klirren des Metalls, den Gestank nach Männerschweiß. Aber was nahm man nicht alles in Kauf, wenn es der Gesundheit diente. Außerdem hasste er es, wenn ihm Mütze abends beim gemeinsamen Fernsehgucken auf dem heimischen Sofa in die Speckfalten zwickte. Bestimmt war es liebevoll gemeint, und dennoch war es eine Art nonverbaler Spott, den Karl-Dieter nicht vertrug.

Sehr erfolgreich war sein Kampf gegen die Pfunde noch nicht gewesen, aber alle Ärzte rieten ja dazu, mit dem Abnehmen vorsichtig und behutsam zu beginnen. So gesehen war er auf dem richtigen Weg. Und außerdem belohnte er sich nach einer anstrengenden Viertelstunde an den Geräten durch einen Aufenthalt im Wellnessbereich. Besonders die Bio-Sauna hatte es ihm angetan. Das war Entspannung pur. Das Einzige, was Karl-Dieter bedauerte, war, dass er nicht den Lady-Spa-Bereich betreten durfte. Alles, was er von Erzählungen wusste, ließ ihm diese geheime Wellness­etage in traumhaften Farben erscheinen. Die angenehmen Gerüche, die ausgelegten Pflegeprodukte, der Teller mit dem frisch geschnittenen Obst, die gereichten Entschlackungstees! War doch eine Hundsgemeinheit, dass ihm als Mann eine solche Wohlfühloase vorenthalten blieb.

 

Beim Passieren des Schlossplatzes fuhr ein langer, offener Wagen vor Karl-Dieter her. Sechs muntere Kleinkinder saßen auf ihren Bänken und winkten Karl-Dieter fröhlich zu. Zwei junge Frauen zogen die Sechserbande Richtung Schlossgarten. Wohl der Ausflug einer Kinderkrippe, dachte Karl-Dieter, und sein Herz füllte sich mit leiser Wehmut. Wann würde er jemals das Glück verspüren dürfen, seinen eigenen kleinen Racker an die Brust zu drücken?

 

Zum Mittagessen trafen sich die Freunde in ihrer Wohnung in Kosbach. Nicht dass Karl-Dieter jeden Tag kochte, aber wenn es sich ermöglichen ließ, aßen sie am liebsten daheim. Zwar gab es in Erlangen jede Menge Möglichkeiten, gut und günstig zu Mittag zu essen, aber Kochen war nun mal Karl-Dieters Leidenschaft, und außerdem hatte er, wenn er selber kochte, die hundertprozentige Kalorienkontrolle. Während er den Tisch deckte, erzählte Mütze vom Stand der Ermittlungen.

Viel hatte er vom Bibliotheksdirektor nicht über das Leben der Toten erfahren. Frau Apeldoorn schien tatsächlich nur für die Bibliothek gelebt zu haben. Von ihrem Privatleben war nichts bekannt. Sie wohnte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Schuhstraße unweit des Zentrums und wurde außerhalb der Alten Universitätsbibliothek höchstens mal im Café Mengin gesehen, wo sie ein Stück Prinzregententorte verdrückte, einen Kamillentee trank und die Illustrierten durchblätterte. Sie war zweiundsechzig Jahre alt geworden, verreiste einmal im Jahr an die Ostsee und besuchte alle vierzehn Tage ihr altes Mütterchen in Buttenheim, das man noch nicht hatte erreichen können. Völlig zurückgezogen habe die Bibliothekarin gelebt. Niemals habe man sie mit einem Mann gesehen. Mützes Mund verzog sich bei der letzten Bemerkung spöttisch.

»Welche Frau aber läuft mit einem Kondom in der Tasche herum, wenn sie keinen Partner hat?«

Mütze nahm sich ein zweites Mal vom Kartoffelsalat mit Bauernspeck. Seitdem Karl-Dieter die Kochkurse beim Hausfrauenbund im Erlanger Altstadtmarkt besuchte, gab’s immer wieder neue, interessante Gerichte.

»Ich weiß nicht, was du willst. Schon in der Schule lernen heute die jungen Leute, auf jede Situation vorbereitet zu sein«, erwiderte Karl-Dieter und goss seinem Freund einen Schluck Storchenbier aus dem Bügelkrug nach. Ein ausgezeichnetes, frisches Bier, das es nur frisch abgezapft zu kaufen gab. Ein lebendiger Gerstensaft, ungespundet, hefeprickelnd.

»Vorbereitet, schön und gut«, erwiderte Mütze mampfend, »aber doch nicht mit zweiundsechzig Jahren!«

»Warum nicht? Die Libido der Frau soll sich im Alter noch steigern.«

»Red keinen Unsinn. Die Tote soll noch nie einen Mann gehabt haben.«

»Eben! Was meinst du, was sich bei der alles aufgestaut hat.«

Mütze sah den Freund belustigt an. Karl-Dieter hatte wohl heute seinen spaßigen Tag. Im Ernst, eine Frau mit zweiundsechzig, die noch nie einen Partner gehabt hatte, was sollte die mit einem Kondom?

»Ich hab auch einen Organspendeausweis in der Tasche, obwohl ich noch nie gestorben bin«, meinte Karl-Dieter grinsend.

 

Die Erlanger Pathologie lag nicht weit von der Alten Universitätsbibliothek entfernt, ein stattliches Gründerzeitgebäude, trutzig, respekteinflößend. Der Kellerraum aber war modern und zweckmäßig gestaltet, weiße Fliesen, die sich gut reinigen ließen, gleichmäßige Ausleuchtung durch gleißend helle Neonröhren. Auf dem Metalltisch lag Frau Apeldoorn. Der Leiter der Erlanger Rechtsmedizin war ein blitzgescheiter Mann, dessen Urteil Gewicht hatte. Klassischer Universitätsprofessor, Analytiker durch und durch, scharfsinnig, brillant. Mütze mochte ihn auf den ersten Blick. Professor Krautwurst hielt sich nicht mit Nebensächlichkeiten auf, sondern kam gleich zur Sache. Auch Mützes Maske schien ihn in keiner Weise zu irritieren.

»Todeszeitpunkt Sonntagabend zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Uhr. Ergeben die Temperaturdifferenzen, Irrtumswahrscheinlichkeit kleiner 0,5 %. Würgemale am Hals. Tod durch Ersticken. Fraktur des Zungenbeins, sonst keine inneren oder äußeren Verletzungszeichen, insbesondere keine Hinweise auf eine Vergewaltigung. Intaktes Hymen, Jungfrau also. Mageninhalt: Torte, wahrscheinlich vom Typ Prinzregent, Kamillentee und Sekt.«

Mütze trat näher und pfiff leise durch die Zähne, als sein Blick auf die Kleidung der Toten fiel, die auf einem benachbarten Tisch ausgebreitet war.

»Ungewöhnlich in diesem Alter«, sagte der Professor, der Mützes Gedanken zu erraten schien.

Schwarze Seidenunterwäsche mit Spitzen, raffiniertes Fischgrätmuster.

»Sekt, Reizwäsche, das Kondom. Die Tote scheint etwas vorgehabt zu haben«, sagte Mütze. »Kannten Sie sie?«

»Nein, die Alte Universitätsbibliothek ist was für unsere Geisteswissenschaftler.«

»Na, dann werde ich mal wieder bei Doktor Kunzelmann vorbeischauen.«

 

Kein Handy. Der Supergau für jeden Ermittler. Gab es das noch, einen Menschen ohne Mobilfunk? Keine SMS, keine Rufnummern, nicht mal ein Bewegungsprofil konnte man erstellen.

»Aber einen Computer wird sie doch benutzt haben?«

»Selbstverständlich«, sagte Doktor Kunzelmann etwas pikiert, »wir sind schließlich eine wissenschaftliche Einrichtung und keine Badeanstalt!«

Sie gingen zusammen zum kleinen Büro der Toten, Mütze erbrach das Siegel, das an einer Holztür mit schönen Schnitzereien angebracht war. Alles war säuberlichst geordnet, kein Foto auf dem Schreibtisch, kein privater Gegenstand. Ein alter Mac thronte auf der Tischplatte. Mütze zog sich einen Plastikhandschuh über und schaltete den Computer an.

»Wie komme ich an die E-Mails?«

Kunzelmann konnte ihm nicht weiterhelfen. Die E-Mails waren passwortgeschützt. Mütze zückte sein Handy und telefonierte mit Big-Chip. Eine Minuten später war er drinnen.

»Na also«, sagte er zufrieden, »was die NSA kann, können wir schon lange!«

Er scrollte und klickte, dann hatte er, was er suchte. Volltreffer! Es gab nur eine private E-Mail aus den letzten Wochen, eine Nachricht vom Mörder. Gesendet Samstag, dreizehn Uhr zweiunddreißig. Mütze zückte Stift und Notizbuch und schrieb sich den kurzen Dialog ab: Mörder: »Ich muss Sie wiedersehen! Geben Sie mir eine Chance.« Apeldoorn: »Wo sollen wir uns denn treffen?« Mörder: »Am liebsten bei Ihnen in der Bibliothek. Sonntagabend um zehn? Ich liebe den Geruch von Büchern!«

 

»Also diese Heteros«, sagte Karl-Dieter, als sie abends in ihrer gemütlichen Dachwohnung in Kosbach saßen. Kosbach gehörte offiziell zu Erlangen, war aber ein kleines Dorf ganz weit draußen geblieben. Fröhlich spiegelte es sich in den appetitlich gefüllten Karpfenteichen. Ein paar Bauernhöfe, dreieinhalb verschlafene Straßen mit Einfamilienhäusern, zwei Landgaststätten, in denen es sich vortrefflich speisen ließ, das war’s. In der Nacht sah man am Horizont ein futuristisches Bauwerk leuchten. Herzogenaurach, das Factory-Outlet von Adidas.

Kosbach war ein echtes Idyll. Angeblich wohnten hier die glücklichsten Erlanger, jedenfalls hatte dies eine ­Befragung ergeben. Das aber ist nicht der Grund gewesen, warum Mütze und Karl-Dieter hierher gezogen waren. Es war schlicht die einzige Wohnung, die der Makler ihnen hatte zeigen können. Sonst war nichts angeboten worden, Erlangen wurde von Studenten regelrecht abgemäht. Jeder dritte Erlanger war Student, das hielt die Stadt jung und lebendig, machte die Wohnungssuche aber zu einem Abenteuer. Den beiden Freunden hatte die Wohnung sofort gefallen. Ihr Schwulsein war kein Problem gewesen. Die Vermieterin hatte nicht mal mit der Wimper gezuckt, als sich die beiden Herren vorgestellt hatten, und sich allein für ihre letzten Bankauszüge interessiert. Alles andere war ihr egal. Sympathisch-tolerant schienen sie zu sein, die Erlanger. Und pragmatisch.

»Was gibt’s wieder über die Heteros zu meckern?«, fragte Mütze, genüsslich die Reste des Kartoffelsalats verputzend.

»Na hör mal!«

Karl-Dieter wunderte sich wieder einmal, wie Mütze manche Dinge entgehen konnten. Als Kommissar!

»Kein Schwuler würde sich doch zu einem ersten Rendezvous mit den Worten Ich liebe den Geruch von Büchern verabreden. Das ist das Erste, was nicht geht.«

»Und das Zweite?«, sagte Mütze mit schmerzhaftem Grinsen. Kam der Schmerz nun vom Jochbein oder vom Nasenbein?

»Dass man sich am Arbeitsplatz trifft. Das ist ja so was von unromantisch!«

»Ach ja?« Mützes Grinsen wurde trotz des Wundschmerzes noch breiter. »Und wie war das damals mit uns?«

Nun musste auch Karl-Dieter grinsen. Klassisches Eigentor! Dass er daran nicht gedacht hatte! Kennengelernt hatten sich die beiden so unterschiedlichen Männer durch den Mord an Fischer-Haselmann in der Dortmunder Oper, schon mehr als zwanzig Jahre her. Der bekannte Tenor hatte beim Aufzug des Vorhangs tot am Weltenbaum gehangen. Zum Glück hatte das Publikum geglaubt, das gehöre zu dem Stück, sodass keine Panik ausgebrochen war. Geistesgegenwärtig hatte Karl-Dieter den Vorhang wieder heruntergelassen. Mütze hatte die Ermittlungen übernommen. Es ist Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nachdem er Karl-Dieter als Zeugen vernommen hatte, sind sie sich in der Kulisse nähergekommen, genauer im Schwanenboot von Lohengrin. Aber das konnte man doch wirklich nicht mit einer staubigen Bibliothek vergleichen.

»Wenn er doch den Geruch von Büchern so sehr liebt!«, spottete Mütze.

Natürlich ist das ein Vorwand gewesen. Was aber hatte der Mörder in der Bibliothek tatsächlich gewollt? Um Liebe war es ihm nicht gegangen und auch nicht um Lust. Die Leiche hatte keinerlei Vergewaltigungszeichen gezeigt. Natürlich war nicht auszuschließen, dass der Täter zunächst die Absicht gehabt hatte, sie zu vergewaltigen, und dann panisch wurde. So etwas kam vor. Wahrscheinlicher aber war: Der Mörder hatte die Bibliothek zum Rendezvous auserkoren, um dort etwas mitgehen zu lassen. Er hatte die Flasche Sekt aufgemacht, der armen alten Jungfer ein Gläschen eingeschenkt und ihr dann das schmale Hälschen noch schmäler gemacht, um sich in Ruhe umsehen zu können. Kunzelmann hatte von wertvollsten Büchern gesprochen. Auf den ersten Blick schien zwar nichts entwendet worden zu sein, aber was hieß schon »auf den ersten Blick« bei einer Bibliothek mit Abertausenden von Bänden? Kunzelmann hatte ihm versprochen, sich mit allen verfügbaren Mitarbeitern sogleich auf die Suche zu machen und den Bestand auf Verluste hin zu durchforsten. Doch das konnte dauern.

Mütze ließ sich eine Welle Storchenbier über den Knorpel gleiten. Ah, wie das schmeckte! Dass in Dortmund von ehemals sieben Brauereien sechs den Zapfhahn zugedreht hatten, war ein tieftrauriges Kapitel Stadtgeschichte. Wie hatte Brecht noch mal gesagt? Wo man Brauereien schließt, da auch bald die Leberkliniken! Doch natürlich gab es eine Vorgeschichte. Erst waren die Zechen gestorben, dann die Stahlwerke, dann die Brauereien. Das einst aschegraue, aber quicklebendige Dortmund hatte sich von einer schmutzigen Malocherstadt zu einer hemdkragengestärkten Dienstleistungs- und Verwaltungsmetropole gewandelt. Und Verwaltung säuft halt nicht.

 

Als sie im Bett lagen, hörte Mütze Karl-Dieter noch einen tiefen Seufzer tun.

»Was ist?«, fragte er.

»Ich muss an die arme Tote denken. Das erste Rendezvous ihres Lebens. Wie wird sie sich darauf gefreut haben! Wie aufgeregt muss sie gewesen sein, so voller Hoffnung, so voller Leben. Vielleicht war sie zum ersten Mal überhaupt verliebt. Und dann das!«

»Muss ganz schnell gegangen sein, es gab keine Abwehrzeichen.«

»Resignation. Ganz einfach Resignation! Warum sollte sie sich noch wehren? Dieses traurige Leben ergab keinen Sinn mehr für sie. Alle ihre aufgesparten Hoffnungen, all ihre Liebesenergie hat sie auf diesen einen Moment gesetzt. Und wie grauenhaft wurde sie enttäuscht. Nein, da wehrt man sich nicht mehr, da will man nur noch eines: sterben.«

Mütze musste schnaufen. Karl-Dieter war und blieb ein Romantiker. Er unterschätzte den Lebenswillen, den auch zutiefst Enttäuschte angesichts des Todes entwickeln konnten. Erneut entfuhr Karl-Dieter ein Seufzer. Mütze verdrehte still die Augen. Wenn Karl-Dieter auf diese Weise seufzte, erwartete er, dass man ihn nach dem Seufzergrund fragte, sonst reagierte er mächtig eingeschnappt.

»Was ist denn noch?«, brummte Mütze pflichtschuldig.

»Ich muss mir vorstellen, wie die Arme in die Wäscheabteilung gegangen ist. Ist ihr bestimmt arg peinlich gewesen, sich schwarze Spitzenwäsche zu kaufen, zum ersten Mal im Leben. Aber in die Peinlichkeit hinein hat sich bestimmt zugleich eine heiße Freude gemischt, so ne richtig prickelnde Gänsehaut wird sie bekommen haben.«

Mütze verstand nicht, was Karl-Dieter wollte. Prickelnde Gänsehaut? Heiße Freude? Warum sollte man bei so etwas Langweiligem wie einem Kaufhausbesuch heiße Freude empfinden? Einkaufen war doch so was von lästig. Mütze ging nur in ein Geschäft, wenn im Kleiderschrank absoluter Notstand herrschte.

»Ach, das verstehst du nicht«, seufzte Karl-Dieter erneut, »du weißt nicht, was eine Frau empfindet, wenn sie solche Wäsche trägt.«

»Aber du weißt das.«

Karl-Dieter antwortete nichts darauf. Natürlich wusste er das! Was würde er darum geben, sich hin und wieder neue, schicke Wäsche zu kaufen. Einmal hatte er sich ein süßes schwarzes Spitzenhöschen angezogen. Mütze hatte ihn nur seltsam angesehen und gefragt: »Is was mit Oma?« Nein, es hatte keinen Sinn, mit Mütze über Kleiderfragen zu reden, ihm fehlte einfach das Gespür dafür.

Mütze hatte sich laut umgedreht und damit deutlich zu verstehen gegeben, dass er die nächtliche Unterhaltung für beendet ansah, als er Karl-Dieter erneut seufzen hörte.

»Was ist denn noch?«, knurrte Mütze.

»Die Sache mit dem Verhüterli. Bestimmt hat das Bibliotheksfräulein die Packung mit den Kondomen an der Kasse des Supermarkts verschämt unter einen Kopfsalat gelegt, damit die hinter ihr Stehenden nichts merken.«

»Hmmh.«

»Und daheim hat sie mit zittrigen Fingern eine Verpackung aufgerissen.«

»Wieso das?«

»Na, um zu üben. Sie hatte doch nicht die geringste Ahnung, wie man die Dinger benutzt.«

»Du meinst …?«

»Na klar. Mit ner Banane vielleicht oder einer dicken Möhre. Und dabei muss sie so etwas von aufgeregt gewesen sein, wie ein junges Mädchen vor seinem ersten Rendez-vous.«

Mütze musste lächeln. Karl-Dieter hatte echt Seele. Wie sehr er sich in das Gemüt der Toten einfühlen konnte.

»Gute Nacht, Knuffi!«

»Gute Nacht, Mütze!«

 

***

 

Eine Leselampe. Sehr hell, fast wie ein kleines Flutlicht. Im Kegel des Lichtes dünnes Papier, vergilbt, handbeschrieben. Schwer zu entziffern, eine merkwürdig altertümliche Schrift. Links Buchstaben in einer unbekannten, fremden Sprache, rechts daneben die deutsche Übersetzung. Selten Korrekturen, manchmal kleine Kommentare. Wenn dem Schreiber der Platz ausgegangen war, auch mal senkrecht den Rand entlang.

Hastig, ja fast gierig verschlang der nächtliche Leser seine Neuerwerbungen, unruhig flackerten seine Augen hin und her, ohne jedoch ein einziges Wörtchen zu überlesen. Kaffee oder einen anderen Muntermacher brauchte er nicht. Seine Aufmerksamkeit war auf das Höchste gespannt.

An das, was er heute erlebt hatte, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Nur kurz hatte er sich darüber gewundert, wie leicht es war, einen Hals zuzudrücken. Er hätte gar nicht so viel Kraft aufbringen müssen. Wesentlich schwieriger war es, diese Handschrift zu entziffern. Kein Mensch schrieb heute mehr so. Nicht dass die Schrift undeutlich oder gar schlampig war, ganz im Gegenteil, sie war fast gestochen scharf, aber klein, sehr, sehr klein und sehr, sehr eng.

Nicht, dass er scharf auf einen Mord gewesen wäre. Das sicher nicht. Er war doch kein Sadist. Wenn es irgendwie anders gegangen wäre, hätte er gerne darauf verzichtet, das Hälschen zuzudrücken. Aber wie hätte er sonst an seinen Lesestoff gelangen können? Er hatte keine andere Chance gehabt, als das alte Fräulein von seinem irdischen Dasein zu erlösen. War die Bibliothek doch selbst schuld daran! Was versperrte sie der interessierten Öffentlichkeit auch den Zugang zu ihren Schätzen?

Wieder blätterte der nächtliche Leser eine Seite um, wieder stürzte er sich auf eine neue. Er würde weitermachen, und wenn es bis morgen dauern sollte.

 

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