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Anmerkungen

 

Vorbemerkung: Diese kleine Einführung in Werk und Leben Franz Kafkas ist eine in den Zitatbelegen und Literaturhinweisen aktualisierte und im Text leicht überarbeitete Fassung des in der Beck’schen Reihe Autorenbücher 1989 (2. Aufl. 1992) erschienenen Bandes «Franz Kafka». Ich wiederhole hier in etwas verkürzter Form gerne meinen damaligen Dank für schriftliche oder mündliche Anregungen von Peter Beicken, Hartmut Binder (und den Mitarbeitern seines immer noch unverzichtbaren «Kafka-Handbuchs»), Peter Demetz, Brigitte Haberer, Wolf Kittler, Christine Lubkoll, Walter Müller-Seidel, Gerhard Neumann, Marcel Reich-Ranicki, Peter Schünemann, Walter H. Sokel, Joseph Vogl und Klaus Wagenbach. Zu danken habe ich inzwischen vielen weiteren Kafka-Kennern, u.a. Peter-André Alt, Manfred Engel, Dieter Lamping und Rainer Stach.

 

Die in das Literaturverzeichnis aufgenommenen Titel sind in den folgenden Fußnoten nur in Kurzform angegeben.

 

  1 Susan Sontag: Gegen Interpretation. In: S. Sontag: Kunst und Antikunst. Frankfurt/M. 1982, 16.

  2 Politzer: Franz Kafka, der Künstler, 43.

  3 Adorno: Aufzeichnungen zu Kafka, 250.

  4 Deleuze/Guattari: Kafka, 7.

  5 Zum folgenden Kurt Neff in Binder: Kafka-Handbuch 2, 881 ff.

  6 Vgl. zu solchen Phänomenen Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt/M. 1982.

  7 Zitiert im Beitrag von Harry Jän in Binder: Kafka-Handbuch 2, 771.

  8 Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Frankfurt/M. 1988, 7 ff.

  9 Sören Kierkegaard: Abschließende Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Gesammelte Werke. Jena 1909 ff. Bd. VI, 155.

10 Kurt Hiller: Rede zur Eröffnung des Neopathetischen Cabarets. Abdruck in Thomas Anz/Michael Stark (Hgg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910 –1920. Stuttgart 1982, 441.

11 Zum folgenden Binder: Kafka-Handbuch 1, 309 ff.

12 Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Bd. 3. Hamburg, München 1960, 8.

13 Brod: Über Franz Kafka, Zitate 30, 41 f.

14 Ebd., 49.

15 Beicken: Franz Kafka, 18 f.

16 Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977.

17 Canetti: Der andere Prozeß, 76.

18 Zitat nach Anz/Stark (s. Anm. 10), 144.

19 Erich Mühsam: Schwabing. In: Ders.: Namen und Menschen. Berlin 1977, 117.

20 Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hg. von Kurt Kreiler. Frankfurt/M. 1980, 16.

21 Vgl. Christina Jung/Thomas Anz (Hg.): Der Fall Otto Gross. Eine Pressekampagne deutscher Intellektueller im Winter 1913/14. Marburg 2002.

22 Arnold Zweig: Zwischenrede über Otto Gross. In: Die Schaubühne 10, 1914, 235–238; hier 235 f.

23 Ebd., 237.

24 Gross (s. Anm. 20), 14.

25 Brod: Über Franz Kafka, 140.

26 Dazu Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen.

27 Abdruck in Anz/Stark (s. Anm. 10), 166 ff.

28 Hierzu Robertson: Kafka, 10 ff.

29 Binder: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, 23.

30 Alice Miller: Du sollst nicht merken. Frankfurt/M. 1983, 331.

31 Neumann: Franz Kafka, 106.

32 Der Anfang, Heft 1, Mai 1913, 4.

33 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M. 1971, 51.

34 Zitiert in Binder: Kafka-Handbuch 1, 298.

35 Sorge: Werke Bd. 2. Ohne Ort und Jahr, 84.

36 Johst: Der Einsame. München 1917, 48.

37 Erich Mühsam: Appell an den Geist. In: Kain 1, 1911, Nr. 2, 20.

38 Theodor Däubler: Der neue Standpunkt. Leipzig 1919, 100.

39 Franz Werfel: Aphorismus zu diesem Jahr. In: Die Aktion 4, 1914, 5. Dez., 903.

40 Hugo Ball: Kandinsky, Abdruck in Anz/Stark (s. Anm. 10), 124 f.

41 Vgl. das instruktive Kapitel «Soziale Ordnung und individuelle Autonomie» in Richard Münch: Theorie des Handelns. Frankfurt/M. 1982, 281– 426.

42 Vgl. Anz: Kafka, der Krieg und das größte Theater der Welt.

43 Der tschechisch geschriebene Brief ist hier nicht nach der Briefausgabe (BrO 88), sondern nach der pointierteren Übersetzung wiedergegeben, die White: Franz Kafka, 501 f., zitiert.

44 Canetti: Der andere Prozeß, 61.

45 Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, 198.

46 Vgl. die weitreichenden Entzifferungsversuche in Schirrmacher: Verteidigung der Schrift.

47 Zum Folgenden vgl. den ausgezeichneten einleitenden Essay von Klaus Hermsdorf. In Franz Kafka: Amtliche Schriften Berlin (Ost) 1984.

48 Brod: Über Franz Kafka, 102.

49 Zitiert nach Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen, 73.

50 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1976, 224–230.

51 Die neue Rundschau 21, 1910, 1321–1334.

52 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Frankfurt/M. 1978.

53 Vgl. Astrid Lange-Kirchheim: Franz Kafka: «In der Strafkolonie» und Alfred Weber: «Der Beamte». In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. Neue Folge. 27, 1977, 202–221.

54 Dazu ausführlich Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen, 50 ff.

55 Vgl. das Nachwort von Max Brod in Franz Kafka: Der Prozeß. Frankfurt/M. 1976, 224.

56 Vgl. das Nachwort von Max Brod in Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt/M. 1976, 347.

57 Brod: Über Franz Kafka, 185

58 Milena Jesenská: Alles ist Leben. Feuilletons und Reportagen 1919 – 1933. Hg. von Dorothea Rein. Frankfurt/M. 1984, 96.

Über den Autor

 

Thomas Anz ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Marburg.

Unter allen Dichtern ist Kafka
der größte Experte der Macht.
Er hat sie in jedem ihrer Aspekte
erlebt und gestaltet.
(Elias Canetti)

I. Wer war Franz Kafka?

 

1. Kafka und seine Interpreten

Wer war Franz Kafka? Geboren am 3. Juli 1883 in Prag, hat er knapp 41 Jahre lang gelebt. Seit dem 3. Juni 1924 ist er tot und daher endgültig abwesend. Gegenwärtig bleibt er uns nur noch in Form von Fotos und vor allem von Texten, Texten von ihm und über ihn, wobei die Masse dessen, was über ihn geschrieben wurde, die relativ kleine Menge dessen, was er selbst geschrieben hat, jedenfalls in quantitativer Hinsicht um ein Vielfaches überragt. Kafka, so befand schon vor geraumer Zeit die amerikanische Kritikerin Susan Sontag in ihrem bekannten Essay Against Interpretation, sei mittlerweile «zum Opfer einer Massenvergewaltigung» geworden, einer Vergewaltigung nämlich durch eine Armee von Interpreten.[1] Was seinerzeit, Mitte der sechziger Jahre, der Kafka-Forscher Heinz Politzer über die Interpreten Kafkas sagte, trifft noch heute weitgehend zu: «Kafkas Gleichnisse sind so vielschichtig wie die Parabeln der Bibel. Ungleich den biblischen Parabeln jedoch sind Kafkas Gleichnisse auch noch vieldeutig. Im Grunde werden sie ebenso viele Deutungen wie Leser finden. Die Offenheit ihrer Form erlaubt dem Leser eine totale Projektion seines eigenen Dilemmas auf die Seiten Franz Kafkas. Diese Parabeln sind ‹Rorschach-Tests› der Literatur und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers.»[2] Kafkas Schriften bleiben unveränderlich, die Meinungen über sie wechseln, und zwar nicht zuletzt mit dem Wechsel der intellektuellen Moden, denen die Nachgeborenen huldigen. «Er wird eingeordnet in eine etablierte Denkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was die Einordnung erschwert», kritisierte Adorno in seinen Aufzeichnungen zu Kafka.[3] Jede Zeit, jede Generation, jede Gruppierung im intellektuellen Kräftefeld hatte und hat ihren eigenen Kafka: einen, der wie Kierkegaard philosophiert, wie Heidegger denkt, wie der junge Marx die Entfremdung beschreibt, wie Freud den ödipalen Konflikt psychoanalysiert, wie Foucault die Mechanismen der Macht durchschaut oder wie Derrida die metaphysischen Sinngebungen zerstört. In den Jahren um und nach 2000 haben die medien- und kulturwissenschaftlich geprägten Interessen der Literaturwissenschaft auch in der Kafka-Forschung ihre Spuren hinterlassen.

Oft stehen die Autoritäten, auf die sich die Interpreten berufen, mit Kafka in einem geschichtlichen Zusammenhang, so dass die Berufungen auf sie historisch durchaus gerechtfertigt werden können. Kafka hat sich, wie so viele seiner Generation, mit Kierkegaard intensiv auseinandergesetzt; er hat in einer Epoche geschrieben, in die auch die Entstehung der Existenzphilosophie Heideggers fällt; er ist zusammen mit seinen expressionistischen Zeitgenossen von der Psychoanalyse angeregt worden; er war wie fast alle Autoren dieser Jahre mit den Schriften Nietzsches vertraut, die wiederum zu den Quellen sowohl von Michel Foucaults Machttheorie als auch von Jacques Derridas Dekonstruktionen abendländischer Metaphysik gehören.

Die Kafka-Forschung mag einem zuweilen lästig sein, weil sie den gleichsam naiven Zugang zum Werk versperrt; dennoch hat sie vielfach Nützliches, zum Teil Hervorragendes geleistet. Sie ist in ihren Bemühungen um diesen Autor in den letzten Jahrzehnten nicht bloß auf der Stelle getreten, sondern hat Zusammenhänge (oder auch Brüche) innerhalb von Kafkas Werk sowie zwischen diesem und diversen Kontexten aufgezeigt, von deren Kenntnis die Lektüre zweifellos profitieren kann.

2. Probleme des Verstehens

Dennoch sind über der Anerkennung des von der Forschung Geleisteten nicht die außerordentlichen Schwierigkeiten zu übersehen, die Kafkas Werk seinen Interpreten immer noch bereitet. Die Kafka-Forschung erreichte ein höheres Niveau, als sie begann, die eigenen Schwierigkeiten zu reflektieren und dabei die Bedingungen für das so häufig erfahrene Scheitern hermeneutischer Anstrengungen in charakteristischen Merkmalen von Kafkas Werken zu suchen. In der Reflexion der eigenen Schwierigkeiten bei der Lektüre Kafkas illustriert man diese gern mit Ausschnitten aus seinen Texten. Auslegungs-, Verstehens- und Verständigungsprobleme werden in ihnen permanent thematisiert und in Szene gesetzt. Schon das Gespräch mit dem Beter in der 1903/4 entstandenen Beschreibung eines Kampfes wiederholt in immer neuen Variationen Wendungen wie «Ich bin froh, daß ich das, was Ihr sagtet, nicht verstanden habe» (N1 90); oder: «alles was sie sagen, ist langweilig und unverständlich» (N1 96); oder: «Ich verstehe das nicht». (N1 97) In der Erzählung Die Verwandlung bringt der zum Ungeziefer gewordene Gregor Samsa nur noch ein der Familie unverständliches Piepsen hervor. In Kafkas Amerika-Roman Der Verschollene muss sich Karl Roßmann in einer Sprache verständigen, die er noch kaum beherrscht. In dem Roman Der Prozess besteht die letzte berufliche Verpflichtung Joseph K.s darin, einem für die Bank wichtigen Geschäftsfreund Kunstdenkmäler der Stadt zu zeigen. Der Mann ist Italiener, und obwohl K. über Italienischkenntnisse verfügt, bemerkt er «mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur bruchstückweise verstand.» (Pr 274) Die Prozesse gestörter Verständigung zwischen den fiktiven Figuren, die Kafkas Texte immer wieder inszenieren, entsprechen den Verständnisschwierigkeiten, die man beim Lesen mit diesem Autor hat.

Noch deutlicher freilich finden Leser ihre Verstehensprobleme in Szenen illustriert, in denen ein schriftlicher Text ausgelegt wird. Es handelt sich zumeist um Texte einer abwesenden Autorität. Ein eher unscheinbares, aber typisches Beispiel dafür steht im Amerika-Roman. Der Protagonist erhält von seinem mächtigen Onkel einen Brief. Auf dem Umschlag steht: «An Karl Roßmann. Um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird». (V 121 f.) Etwas später streiten sich Adressat und Überbringer des Briefes lange darüber, wie diese Aufschrift angemessen zu verstehen sei. Das bekannteste Beispiel für derartige Auslegungsdebatten enthält der Prozess-Roman. Die Debatte schließt hier an die Legende Vor dem Gesetz an. «Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. ‹Es ist möglich›, sagt der Türhüter, ‹jetzt aber nicht.›« (Pr 292) Jahrelang wartet der Mann vom Lande vor der Tür auf die Erlaubnis zum Eintritt. Er bekommt sie nicht, erfährt jedoch im Sterben, dass dieser Eingang, der jetzt geschlossen wird, allein für ihn bestimmt war.

Im Roman wird die Legende von einem Geistlichen aus den «einleitenden Schriften zum Gesetz» zitiert. Sie ist jedoch Kafkas eigener Text. Er hat ihn separat veröffentlicht und sich mit ihm gleichsam selbst zitiert. Denn die Legende enthält in gedrängter Form eine Vielfalt der Themen, Motive und Stilmerkmale, die typisch für sein ganzes Werk sind. Sie spricht vom Gesetz, von Verboten und Verhören, von der Macht und ihren hierarchisch geordneten Instanzen, ihrem Glanz und ihrer lächerlichen Schäbigkeit, von den Größenunterschieden zwischen Herren und Abhängigen, von den labyrinthischen Raumordnungen und paradoxen Argumentationen, mit denen Herrschaftssysteme den Zugang zu sich verhindern. Und wenn der schon alt und kindisch gewordene Mann die Flöhe im Pelz des Türhüters bittet, ihm zu helfen, dann bekommt der Text etwas von jener grotesken Komik der Übertreibung, die vom verbissenen oder andächtigen Ernst vieler Kafka-Philologen gern übersehen wird.

Im Roman schließt sich an den Text eine lange Auslegungsdebatte zwischen dem Geistlichen und Josef K. an, die sich heute wie eine parodistische Imitation gelehrter und spitzfindiger Deutungskontroversen zwischen Literaturwissenschaftlern ausnimmt. Da werden Personen charakterisiert, scheinbare Widersprüche aufgelöst, die unterschiedlichen Meinungen anderer Interpreten wiedergegeben und deren Begründungen. Da insistiert man auf dem «Wortlaut der Schrift» oder fordert «Achtung» vor ihr, aber ein endgültiges Urteil findet man nicht. So wie in der Legende Vor dem Gesetz dem Mann vom Lande der Zutritt zum Gesetz verwehrt ist, so bleibt den Auslegern der Legende der Zugang zum verbindlichen Sinn eines Textes versperrt, der selbst wiederum nur zur Einleitung eines größeren Textes gehört.

Damit hat Kafka ein Phantasma ausgemalt, das sein Werk in immer neuen Variationen wiederholt. In der späten Erzählung Der Bau, die wie das meiste, was er geschrieben hat, Fragment blieb, entspricht der bewachten Tür vor dem Gesetz der getarnte Eingang in den unterirdischen Bau oder auch das offen sichtbare Loch, das nur einen Eingang vortäuscht und in Wirklichkeit in eine Sackgasse führt. Zusätzlich hat sich das im Bau hausende Tier mit der labyrinthischen Konstruktion von Gängen vor feindlichen Eindringlingen zu sichern versucht. Auch in der Legende Vor dem Gesetz ist die von außen sichtbare Tür nur das erste Hindernis für den, der Eintritt in das Gesetz sucht. Hinter der Eingangstür sind Säle mit neuen Türen und Türhütern. Der Bau enthält deutliche Hinweise, dass das hier beschriebene Verhältnis eines Tieres zu seinem Bau auch als Bild für die Beziehung des Autors zu seinem Werk gelesen werden kann. Und insofern ist es berechtigt, wenn Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihrer vielbeachteten Kafka-Studie von 1975 auf diese Erzählung zurückgreifen, um die Möglichkeiten des Zugangs zu Kafkas Werk zu reflektieren: «Wie findet man Zugang zu Kafkas Werk? Es ist ein Rhizom, ein Bau. Das Schloß hat ‹vielerlei Eingänge›, deren Benutzungs- und Distributionsgesetze man nicht genau kennt. Das Hotel in ‹Amerika› hat zahllose Pforten, Haupt- und Nebentüren, bewacht von ebenso vielen Pförtnern, ja sogar türlose Ein- und Ausgänge. Der Bau in der gleichnamigen Erzählung scheint zwar nur einen Eingang zu haben; allenfalls denkt das Tier an die Möglichkeit eines zweiten, bloß zur Überwachung. Aber das ist eine Falle, aufgestellt vom Tier und von Kafka selbst; die ganze Beschreibung des Baus dient nur zur Täuschung des Feindes. Also steigen wir einfach irgendwo ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht, auch wenn er eine Sackgasse, ein enger Schlauch, ein Flaschenhals ist. Wir müssen nur darauf achten, wohin er uns führt, über welche Verzweigungen und durch welche Gänge wir von einem Punkt zum nächsten gelangen, wie die Karte des Rhizoms aussieht und wie sie sich ändert, sobald man anderswo einsteigt. Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu ‹deuten› versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will.»[4]

Diese zunächst recht plausibel wirkende Passage ist aufschlussreich für literaturwissenschaftliche Positionen, die, etwa im Anschluss an Jacques Derrida, vom «disseminalen», d.h. bedeutungsmäßig unbezwingbaren, nicht festzulegenden Text sprechen. Der alte Hermeneut und Textinterpret erscheint in dieser Perspektive mit seinem Verlangen nach Sinnzusammenhang, in dem sich alle Teile zu einem geordneten Ganzen fügen, als ein Vergewaltiger des vieldeutigen Werkes, als Feind des Textes und seines Autors. Das gewaltsame Eindringen des Interpreten in den kunstvollen Bau zerstört diesen und bedroht die Integrität des Erbauers. Innerhalb der Bildlichkeit von Kafkas Der Bau scheint das durchaus einleuchtend. Der Autor hat demnach sein Werk so konstruiert, dass es den zudringlichen Gegner, den Interpreten, systematisch in die Irre führt. Doch auch das Lob der labyrinthischen Vieldeutigkeit literarischer Texte geht bei der Kafka-Lektüre in die Irre. Man bedenke nur, was die Erzählung Der Bau von einem Text wie Vor dem Gesetz bei allen Ähnlichkeiten grundlegend unterscheidet. In den meisten Varianten des von beiden Texten ausgemalten Phantasmas ist es der Protagonist, der draußen steht und in das Innere des begehrten, aber letztlich unzugänglichen Territoriums eindringen will, in das Territorium der Macht wohlgemerkt, repräsentiert durch den Vater, das Gesetz, das Gericht oder das Schloss. In Der Bau befindet sich der Protagonist – ein Tier, wie so oft bei Kafka – umgekehrt innen und verteidigt sich gegen die Gewalt von Eindringlingen. Kafkas Beschreibungen von Kämpfen um und gegen Macht können dazu anleiten, dem enthusiastischen Lob der Vieldeutigkeit, des Labyrinthischen, Dunklen, Unzugänglichen und Undurchschaubaren mit erheblicher Skepsis zu begegnen. Denn was da von Interpreten so häufig gepriesen wird, das sind in der Optik seines Werkes oft genug Techniken der Machterhaltung, mit denen die Autoritätsinstanzen eine fragwürdige Herrschaft ausüben und sich unangreifbar machen. Eine Prosaskizze aus Kafkas Nachlass spricht von den «verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten der Gesetze» und beginnt mit den Worten: «Unsere Gesetze sind leider nicht allgemein bekannt, sie sind Geheimnis der kleinen Adelsgruppe, welche uns beherrscht. Wir sind davon überzeugt, daß diese alten Gesetze genau eingehalten werden, aber es ist doch etwas äußerst Quälendes nach Gesetzen beherrscht zu werden, die man nicht kennt.» (N2 270) In der Erzählung Der Bau hat der Protagonist die Konstruktion seines Werkes zu einem Geheimnis gemacht, das niemand kennt; er hat damit Techniken der Machterhaltung zu seiner Verteidigung übernommen.

3. Kafka-Wirkungen

Wer ist Franz Kafka? «Franz Kafka», das ist für uns nicht nur ein Eigenname zur Identifikation einer bestimmten Person, sondern der Name eines bedeutenden Autors. Texte, die unter seinem Namen veröffentlicht sind, haben das Vorrecht, unendlich oft kommentiert und interpretiert zu werden. Der Name Kafka ist darüber hinaus zum allgemein verbreiteten Zeichen geworden, dessen Bedeutung sich von seiner Person längst losgelöst und gegenüber seinen Schriften verselbständigt hat. Man kennt Kafka sogar, ohne ihn je gelesen zu haben. Man weiß von Kafka aufgrund mehr oder weniger gelungener Aufbereitungen seiner Prosatexte für das Theater oder für den Film, aufgrund von Umdichtungen, Paraphrasen, Anspielungen, Zitaten und zahllosen Imitationen. Die literarische Phantasiewelt Kafkas hat unsere Weltdeutungen und Wahrnehmungsmuster wie das Werk kaum eines anderen Autors okkupiert und präformiert.

Die Zeichen der Kafkapopularität sind recht unterschiedlich. Eines davon, ein bemerkenswertes, ist der Begriff «kafkaesk».[5] Seit den siebziger Jahren wurde er für wörterbuchreif befunden. Der deutsche Rechtschreibeduden führt das Wort zum ersten Mal in seiner 17. Auflage von 1973 auf. Das von der Duden-Redaktion bearbeitete Große Wörterbuch der deutschen Sprache erläutert 1977 «kafkaesk» als bildungssprachlichen Ausdruck, der so viel bedeutet wie «in der Art der Schilderungen Kafkas; auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich».

Ursprünglich wurde das Wort «kafkaesk» in innerliterarischen Zusammenhängen gebraucht, und zwar zur Bezeichnung von literarischen Textmerkmalen, die sich der Ähnlichkeiten mit oder der Nachahmung von Kafka-Texten verdanken. Die eigentliche Karriere des Begriffes begann jedoch erst mit seiner Verwendung zur Bezeichnung außerliterarischer Sachverhalte. Dabei stand er für Situationen und diffuse Erfahrungen der Angst, Unsicherheit und Entfremdung, des Ausgeliefertseins an unbegreifliche, anonyme, bürokratisch organisierte Mächte, der Konfrontation mit Terror, Absurdität, Ausweg- oder Sinnlosigkeit, mit innerer Düsternis, Schuld und Verzweiflung. Mit dem Adjektiv «kafkaesk» ließen sich solche Erfahrungen literarisch autorisieren und nobilitieren, doch mit Kafka und seinem Werk hat die Bezeichnung «kafkaesk» nur noch entfernt etwas zu tun. Die mit ihr verbundenen Vorstellungen sind weitgehend festgelegt und gegenüber Korrekturen durch genauere, kenntnisreichere und methodisch versiertere Text- und Kontextlektüren kaum noch zu erschüttern.

Obwohl Kafka wenig veröffentlichte, war er schon zu Lebzeiten ein hochangesehener Autor. Aber sein Renommee beschränkte sich auf einen relativ kleinen Kreis Eingeweihter. Die Erzählungen erschienen zum größten Teil in den Verlagen und Zeitschriften des literarischen Expressionismus. Doch in der expressionistischen Literaturszene blieb er, verglichen mit seinen Prager Freunden Max Brod und vor allem Franz Werfel, eine Randfigur. Erst durch die posthume Publikation seiner fragmentarischen Romane Der Prozess (1925), Das Schloss (1926) und Amerika (1927) erreichte sein Werk eine größere Öffentlichkeit. Die Breitenwirkung im deutschen Sprachraum wurde freilich durch die nationalsozialistische Kulturpolitik verhindert oder doch zumindest lange verzögert. Zu Ruhm gelangte Kafka zunächst in England, Frankreich und vor allem in den USA, erst in den fünfziger Jahren auch in Deutschland, als der S. Fischer Verlag seine Gesammelten Werke herausbrachte.

Die Geschichte der Kafka-Rezeption ist die Geschichte eines Kampfes um Anerkennung in mehrfacher Hinsicht: ein Kampf, den der Autor selbst im Elternhaus zu führen begann und den er als Kampf um die Anerkennung seiner Identität und um die Selbstbehauptung als Schriftsteller immer wieder literarisch thematisierte; ein Kampf um Anerkennung in der literarischen Öffentlichkeit, der zunächst maßgeblich von seinem Freund und Förderer Max Brod bestritten wurde; ein Prestige- und Richtungskampf auch zwischen Kafkainterpreten und literaturwissenschaftlichen Schulen; ein Abgrenzungskampf zwischen sozialen Schichten und Gruppen, in dem Kafka-Kennerschaft zum sublimen Ausweis der Zugehörigkeit zu einer kulturellen Elite geworden ist.[6]

Vor allem aber hatte der Kampf um Kafka auch eine enorme (kultur)politische Brisanz und Symbolkraft. Das gilt besonders für die Rezeption im Osten Europas. Unter der Doktrin des Sozialistischen Realismus galt sein Werk als tabuisiertes Musterbeispiel bürgerlich-kapitalistischer Dekadenz. Bevor im Sommer 1968 die sowjetischen Panzer dem Prager Reformfrühling ein brachiales Ende bereiteten, waren tschechische Emanzipationsbewegung und Kafka-Kult ganz eng miteinander verknüpft. Mit dem einen wurde dann auch das andere unterbunden. Was man von dem «Kafkaismus» der tschechischen Reformer zu halten habe, formulierte der Vorsitzende des Verbandes tschechischer Schriftsteller im Juni 1972 in eben jener medizinisch-militanten Bildlichkeit, in der die nationalsozialistischen Kulturpolitiker ihre Attacken gegen die «entartete» Literatur der Moderne vorgebracht hatten: dieser Kafkaismus sei «eine ansteckende Krankheit, welche die Infektion in das Blut der sozialistischen Länder trägt und als Messer die Arterien der fortschrittlichen Traditionen durchschneidet.»[7]

4. Kafka und die Moderne

Die kulturpolitischen Kämpfe um Kafka sind wichtiger Bestandteil der Auseinandersetzungen um die Moderne. Ein Repräsentant der «Moderne» ist Kafka im Doppelsinn dieses Begriffs: als Autor der expressionistischen Generation wirkte er mit an der ästhetisch modernen Destruktion klassizistischer Kunstnormen, und zugleich reflektiert sein Werk die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse, die sich in jener Zeit rapide beschleunigten und vielfältige Krisenerfahrungen zur Folge hatten. Die ästhetische Moderne der nachnaturalistischen Generation, die um 1910 die literarische Szene zu prägen begann, zeigte ihre Modernität damit, dass sie, anders als Heimatkunstbewegung, Neoklassizismus oder Ästhetizismus um 1900, die zivilisatorischtechnischen Modernisierungsprozesse formal und thematisch in sich aufnahm. Sie begegnete diesen Prozessen jedoch gleichzeitig, anders als zum Teil noch der Naturalismus, mit einer abgrundtiefen Skepsis. Die psychischen Modernisierungsschäden, die im 20. Jahrhundert immer wieder als Erfahrungen einer fremd werdenden, versachlichten, kalten und undurchschaubaren Lebenswelt beschrieben wurden, sind durchgängige Motive in Kafkas Werk. Als Angestellter der Prager Arbeiter-Unfall-Versicherung war er mit den Folgelasten der modernisierten Arbeitswelt unmittelbar konfrontiert. Von der modernen Kolonialisierung des Kopfes und des Körpers durch Justiz, Bürokratie oder Erziehung handelt sein Werk ebenso wie von neuen Verkehrs- und Nachrichtentechniken.

Im Amerika-Roman bekommt Karl Roßmann einen kleinen Einblick in das moderne Speditionsgeschäft seines Onkels. Es war «ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfaßte und ganz genaue, unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen mit den Klienten unterhalten mußte. […] Im Saal der Telephone giengen wohin man schaute die Türen der Telephonzellen auf und zu und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man sogar, daß er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. […] Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm vorhergehenden an und sah auf den Boden auf dem er möglichst rasch vorankommen wollte oder fieng mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.» (V 66 f.) In dieser von modernen Kommunikationstechniken beherrschten Szenerie kann es keine menschliche Kommunikation mehr geben. Karl Roßmann kommentiert das bewundernd mit einem Satz, der vom Autor vollkommen ironisch eingesetzt ist: «Du hast es wirklich weit gebracht». Er sagt dies «auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden mußte, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.» (V 67)

Die Vertreibung des sechzehnjährigen Karl Roßmann aus der europäischen Heimat in die Fremde des modernen Amerika gleicht den Konfrontationen des Europäers mit den Modernisierungsprozessen im eigenen Land. Beides wird ihm fremd und undurchschaubar: die alten, ehemals Orientierung und Halt gebenden Traditionen ebenso wie die neue Welt, von der der Onkel in Amerika sagt: «Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich». Einer Form von Literatur und Literaturwissenschaft, die sich die Kompensation technisch-wissenschaftlicher Modernisierungsschäden zur Aufgabe macht, kommt dieses Werk nicht entgegen. Der Name Kafka steht vielmehr für ein ästhetisch modernes Konzept, das sich, in Opposition zu den ideologisierten Traditionen der klassisch-idealistischen Ästhetik, der In der Strafkolonie