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Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2312: Die Menschheit hat Teile des Sonnensystems bevölkert, hat Habitate auf Asteroiden errichtet, hat auf dem Merkur eine bewegliche Stadt gebaut. Und sie hat auf all diesen neuen Welten neue Gesellschaftsformen ausprobiert, die miteinander im Konflikt stehen. Es ist das Jahr 2312, und die menschliche Zivilisation steht vor ihrer größten Herausforderung – denn soweit sich die Mensch heit auch entwickelt hat, so tief kann auch ihr Sturz sein. Ein Mord auf dem Merkur ist erst der Anfang eines planetenumspannenden Komplotts, das nur auf eines abzielt: die Zerstörung aller Welten.

Der Autor

Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur und promovierte mit einem Essay über die Romane von Philip K. Dick. Er veröffentlichte zahlreiche Science-Fiction-Kurzgeschichten und -Romane und wurde mehrfach preisgekrönt. Weltbekannt wurde er mit seiner Mars-Trilogie. Kim Stanley Robinson lebt und arbeitet in Kalifornien.

KIM STANLEY ROBINSON

2312

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Jakob Schmidt

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
2312

Das Zitat I folgt der Übersetzung von Annemarie Schimmel in: dies., Rumi. Ich bin Wind und du bist Feuer, Diederichs 1978.
[Ich starb als Stein und sprosst’ als Pflanze auf …]

Das Zitat II folgt der Übersetzung von Gunhild Kübler in: Emily Dickinson, Gedichte. Englisch und Deutsch. Carl Hanser Verlag 2006.
[Für immer Ihm zur Seit zu gehen …]

Deutsche Erstausgabe 04/2013
Redaktion: Birgit Herden
Copyright © 2012 by Kim Stanley Robinson
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-09458-4
www.heyne-magische-bestseller.de

INHALT

Prolog

Swan und Alex

LISTEN (1)

Ibsen und Imhotep; Maher, Matisse

Swan und Wahram

TERMINATOR

Swan und Alex

AUSZÜGE (1)

Man nehme einen Asteroiden mit einem Durchmesser von mindestens dreißig Kilometern auf der Längsachse

Wahram und Swan

LISTEN (2)

Nackt unter einer Hitzelampe auf einem Eisblock liegen

Swan und eine Raubkatze

IO

Swan und Wang

AUSZÜGE (2)

die Geschichte zu vereinfachen bedeutet, die Wirklichkeit zu verzerren

LISTEN (3)

Alkohol, Fasten, Dürsten, Schwitzhütten, Selbstverstümmelung

Swan im Dunkeln

AUSZÜGE (3)

Homo sapiens hat sich bei irdischer Schwerkraft entwickelt

Swan und Zasha

AUSZÜGE (4)

Am Ende des Zeitraums der Planetenbildung

Kiran und Swan

AUSZÜGE (5)

Man nehme die Venus im Rohzustand

Kiran und Shukra

AUSZÜGE (6)

Das Wirtschaftsmodell der Raumsiedlungen hat sich zum Teil aus ihren Ursprüngen

Wahram und Swan

LISTEN (4)

sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch, melancholisch

Inspektor Jean Genette

LISTEN (5)

Die Vesta-Zone, eine Wolke von Terrarien

Swan und Mqaret

AUSZÜGE (7)

Die verlängerte Lebensspanne im Zusammenhang mit bisexuellen Therapien

Kiran auf der Venus

LISTEN (6)

Borealer Nadelwald; Laub- und Mischwälder der gemäßigten Zonen

Swan und der Inspektor

LISTEN (7)

unachtsames Fracking – fehlerhafte Versiegelung – defekte Luftschleuse

AUSZÜGE (8)

Charlotte Shortbacks Einteilung der Epochen war in vieler Hinsicht richtungsweisend

IAPETUS

Wahram daheim

LISTEN (8)

Prometheus, Pandora, Janus, Epimetheus und Mimas

AUSZÜGE (9)

Eine Frage zur Berechenbarkeit: Kann das Problem

Wahram und Swan und Genette

Swan und die Ringe des Saturn

LISTEN (9)

Eine Startrakete, mit der man einen Planeten verlassen will, insbesondere die Erde

Kiran und Lakshmi

AUSZÜGE (10)

Man nehme etwas Kohlendioxid

Quantum-Walk (1)

eine Straße draußen auf einer Straße beweg dich ganz natürlich sei wachsam

Swan und der Inspektor

ERDE, PLANET DER TRAUER

Swan auf der Erde

LISTEN (10)

Es ist zu schwer, es fehlt die Zeit, jemand könnte lachen

PLUTO, CHARON, NIX UND HYDRA

Pauline über Revolutionen

AUSZÜGE (11)

Fehler, die im Überschwang des Accelerando begangen wurden, hinterließen

Swan daheim

AUSZÜGE (12)

Isomorphien tauchen in unserem gesamten Begriffssystem auf

Swan bei den Vulkanoiden

LISTEN (11)

Annie-Oakley-Krater, Dorothy-Sayers-Krater

Wahram auf der Venus

AUSZÜGE (13)

durch die diversen Stoffwechselvorgänge kommt es zu Beschädigungen

Kiran in Vinmara

AUSZÜGE (14)

Das Weltraumprojekt nahm an Fahrt auf, als deutlich wurde

Wahram auf der Erde

AUSZÜGE (15)

das Gehirn ist labil, und erwiesenermaßen ist es mit Maschinen kompatibel

LISTEN (12)

Langeweile, Taedium Vitae, die Weisheit der Mayas

Swan in Afrika

LISTEN (13)

Fledermäuse. Faultiere. Koboldäffchen und Tapire. Elefanten

Swan und die Wölfe

AUSZÜGE (16)

Es handelte sich dabei nie um die offizielle Politik irgendeiner Einheit

Wahram und Swan

LISTEN (14)

Eine runde Erhebung aus großen, unregelmäßigen Felsbrocken

Swan und Wahram

AUSZÜGE (17)

Da viele Menschen ihr Leben lang beträchtliche Mengen an männlichen und weiblichen Hormonen produzieren

Swan im Chateau Garden

Quantum-Walk (2)

leicht, den Moment zu bemerken, in dem die Schwerkraft der Venus überschritten wird

Inspektor Genette und Swan

TITAN

Swan und Genette und Wahram

LISTEN (15)

Gesundheit, Sozialleben, Arbeit, Haus, Partner

MOBILE EIDGENÖSSISCHE TECHNISCHE HOCHSCHULE

Swan und Pauline und Wahram und Genette

Kiran auf Eis

Swan und Kiran

Wahram und Genette

Quantum-Walk (3)

am Rande des Sumpfes quaken die Frösche

Wahram

Swan

AUSZÜGE (18)

einen Satz zu bilden bedeutet, zahlreiche einander überlagernde Wellenfunktionen

Epilog

DANKSAGUNG

Prolog

Es ist immer kurz vor Sonnenaufgang. Der Merkur dreht sich so langsam, dass man der Dämmerung voraus bleiben kann, wenn man schnell genug über die steinige Oberfläche geht. Und viele tun genau das. Viele haben es zu ihrer Lebensweise gemacht. Sie gehen in grob westlicher Richtung, immer vor dem überwältigenden Tagesanbruch her. Manche hasten von Ort zu Ort, um die angesammelten Gold-, Wolfram- oder Uranrückstände aus Felsspalten zu kratzen, in denen sie zuvor Biolauge absondernde Metallophyten ausgebracht haben. Doch die meisten sind dort draußen, um einen Blick auf die Sonne zu erhaschen.

Das uralte Gesicht Merkurs ist derart ramponiert und zerklüftet, dass der Terminator des Planeten, der Bereich der Dämmerung, wie ein breites, schwarz-weißes Schattengemälde wirkt – kohlschwarze Furchen und Senken, aus denen hier und dort weiße Glanzflecken hervorstechen, die immer größer werden, bis das Land schließlich hell wie geschmolzenes Glas glänzt und der lange Tag beginnt. Dieser Bereich, in dem sich Sonne und Schatten mischen, ist oft bis zu dreißig Kilometer breit, obwohl der Horizont auf einer flachen Ebene nur ein paar Kilometer entfernt liegen würde. Aber auf dem Merkur gibt es praktisch keine flachen Ebenen. All die alten Krater sind noch da, auch einige langgezogene Klippen, die noch aus der Abkühl- und Schrumpfungsphase des Planeten stammen. In einer derart zerklüfteten Landschaft kann das Licht mitunter weit über den östlichen Horizont hinaus nach Westen fallen, wenn es dort auf eine emporragende Landmarke trifft. Jeder, der diese Welt bereist, muss darauf gefasst sein, muss wissen, wann und wo das Sonnenlicht seine Finger am weitesten streckt – und wo man Schatten suchen kann, wenn es einen im Freien erwischt.

Oder wenn man absichtlich auf die Sonne wartet. Denn viele Wanderer auf dem Merkur halten bei bestimmten Klippen und Kraterrändern inne, an Stellen, die von Stupas, Steinmalen, Petroglyphen, Inuksuit, Spiegeln, Mauern und Goldsworthys markiert werden. Neben diesen Wegmarken stellen die Sonnenläufer sich mit dem Gesicht nach Westen auf und warten.

Der Horizont, den sie betrachten, besteht aus schwarzem Raum über schwarzem Fels. Die extrem dünne Neon-Argon-Atmosphäre, die vom auf den Fels knallenden Sonnenlicht erzeugt wird, fängt nur einen ganz leisen Vorschein der Dämmerung ein. Doch die Sonnenläufer kennen den richtigen Zeitpunkt, also warten sie und schauen zu … bis …

… ein orangefarbenes Flackern wie ein Delfin über den Horizont springt und das Blut in ihren Adern schneller fließt. Dann flattern weitere bunte Banner, lecken empor, bilden Bögen und Schleifen, lösen sich von der Oberfläche und schweben frei in den Himmel empor. Gleich, oh, gleich wird der Stern über sie hereinbrechen! Ihre Visiere haben sich bereits verdunkelt und polarisiert, um ihre Augen zu schützen.

Immer mehr der orangefarbenen Banner leuchten auf, als würde ein Feuer am Horizont sich nach Norden und Süden ausbreiten. Dann erscheint ein Stück der Photosphäre, die eigentliche Oberfläche der Sonne, zunächst zögerlich flackernd, wird dann breiter und rinnt nord- und südwärts. Je nachdem, welche Filter man für sein Helmvisier benutzt, kann das Gestirn wie ein blauer Mahlstrom, wie eine orangefarbene, pulsierende Masse oder auch einfach nur wie ein weißer Kreis aussehen. Immer weiter verbreitert sich die Sonne, über jedes normale Maß hinaus, bis einem sehr deutlich wird, dass man ganz nahe bei einem Stern auf einem winzigen Kieselstein steht.

Zeit, sich umzudrehen und zu laufen! Wenn es den Sonnenläufern schließlich gelingt, sich loszureißen, taumeln sie benommen, stolpern und stürzen, nur um wieder aufzustehen und in ungekannter Panik nach Westen davonzurennen.

Aber vorher – ein letzter Blick auf den Sonnenaufgang des Merkur. Im Ultraviolettbereich sieht er aus wie ein anhaltendes, immer heißer werdendes blaues Fauchen. Blendet man die Scheibe der Photosphäre aus, tritt das fantastische Wirbeln der Korona deutlich hervor, all die magnetisch geladenen Lichtbögen und Entladungen, die Massen brennenden Wasserstoffs, die in die Nacht herausgeschleudert werden.

Andererseits kann man auch die Korona abdunkeln und nur die Photosphäre der Sonne betrachten. Man kann sie sogar vergrößern, bis man in der wabernden Glut die Gipfel der Tausenden von Konvektionszellen erkennt, jede einzelne eine feurig tosende Gewitterwolke. Zusammen verbrennen sie fünf Millionen Tonnen Wasserstoff pro Sekunde – womit der Stern noch weitere vier Milliarden Jahre zu leben hat. All diese langen Flammenspitzen umtanzen in kreisförmigen Mustern die kleinen schwarzen Pfützen, bei denen es sich um Sonnenflecken handelt – bewegliche Strudel im Feuersturm. In Massen strömen die Flammenspitzen zusammen, wie Seetang, der von den Meeresströmungen aufgehäuft wird. Es gibt nicht-biologische Erklärungen für diese verschlungenen Bewegungsprozesse – aber trotzdem sieht es lebendig aus, sehr viel lebendiger als manches, was wirklich lebt. Wenn man den apokalyptischen Sonnenaufgang auf dem Merkur betrachtet, ist es praktisch unmöglich, sich vorzustellen, dass es sich nicht um Zeichen von Leben handelt. Der Stern lässt einem die Ohren klingen, er spricht zu einem.

Die meisten Sonnenläufer probieren nach und nach all die verschiedenen Filter aus und entscheiden sich schließlich für den, der ihnen am besten gefällt. Bestimmte Filter oder Folgen von Filtern werden zu Formen der Anbetung, persönlichen oder gemeinsamen Ritualen. Man kann über diesen Ritualen sehr leicht die Zeit vergessen. Es ist nichts Ungewöhnliches, wenn ein Sonnenläufer an seinem Aussichtspunkt durch etwas in diesem Spektakel in den Bann geschlagen wird – durch ein nie zuvor gesehenes Muster, durch das Strömen und Pulsieren, das den Verstand umgarnt. Mit einem Mal kann man das Knistern der feurigen Ausläufer hören, es schwillt zu einem wilden Tosen an – das ist das Blut, das einem durch die Ohren rauscht, aber es klingt wie die brennende Sonne. So kommt es, dass manche zu lange bleiben. Manche verbrennen sich die Netzhaut; manche erblinden; andere sterben sofort, wenn ihr überlasteter Raumanzug sie im Stich lässt. Manche werden in Gruppen von einem Dutzend oder mehr bei lebendigem Leib gekocht.

Hältst du diese Leute für Dummköpfe? Meinst du, dass dir selbst niemals ein solcher Fehler unterlaufen würde? Sei dir da nicht so sicher. Du machst dir nämlich überhaupt keine Vorstellung davon. Es ist mit nichts vergleichbar, was du je gesehen hast. Kultiviert und gebildet, wie du bist, glaubst du vielleicht, du seist gegenüber derartigen Eindrücken unempfänglich, dass nichts außer der Welt des Geistes dich noch interessieren könnte. Aber das wäre ein Irrtum. Du bist ein Geschöpf der Sonne. Ihre Schönheit und ihr Schrecken, aus solcher Nähe gesehen, kann jeden Verstand leerfegen, jeden Menschen in Trance versetzen. Es ist, als würde man Gottes Antlitz schauen, sagen manche Leute, und die Sonne versorgt ja tatsächlich alle Lebewesen im Sonnensystem mit Energie; in diesem Sinne ist sie unser Gott. Ihr Anblick vermag jeden Gedanken im Kopf eines Menschen auszuradieren. Genau deshalb halten die Leute nach ihr Ausschau.

Es gibt also gute Gründe, sich Sorgen um Swan Er Hong zu machen, die mehr als die meisten Menschen dazu neigt, Dinge einfach nur um eines Anblicks willen auszuprobieren. Sie geht oft Sonnenlaufen, wobei sie sich immer am Rande der Gefahr bewegt und manchmal zu lange im Licht bleibt. Die gewaltige Himmelsleiter, das körnige Pochen, der Strom der Flammenspitzen … sie hat sich in die Sonne verliebt. Sie betet sie an; in ihrem Zimmer hat sie einen Schrein für Sol Invictus errichtet und führt jeden Morgen, wenn sie in der Stadt aufwacht, zur Begrüßung der Sonne die Pratahsamdhya-Zeremonie durch. Ein Großteil ihrer Landschafts- und Performancekunst ist der Sonne gewidmet, und dieser Tage verbringt sie ihre Zeit hauptsächlich damit, Goldsworthys und Abramovics draußen auf dem Land und auf ihrem Körper anzufertigen. Die Sonne ist also Teil ihrer Kunst.

Und jetzt ist sie auch das, was ihr Trost spendet, denn Swan Er Hong ist zum Trauern draußen. Von der Promenade auf der großen Dämmerungsmauer der Stadt Terminator aus könnte man sie im Süden stehen sehen, dicht am Horizont. Sie muss sich beeilen. Die Stadt gleitet auf ihren Schienen durch die Talsohle einer riesigen Delle zwischen Hesiod und Kurasawa, und bald wird sich eine Flut von Sonnenlicht bis weit nach Westen ergießen. Swan muss es in die Stadt schaffen, bevor es so weit ist, und trotzdem steht sie dort. Von der Dämmerungsmauer aus sieht sie aus wie eine kleine silberne Puppe. Ihr Raumanzug hat einen großen, runden, durchsichtigen Helm. Ihre Stiefel sehen riesig aus und sind schwarz von Staub. Eine kleine Silberameise in Stiefeln, die dort steht und trauert, obwohl sie doch eigentlich zum Bahnsteig westlich der Stadt eilen sollte. Eben das tun die anderen Sonnenläufer. Manche ziehen kleine Karren oder Stangenschleifen auf Rädern mit ihren Vorräten oder sogar Schlafgefährten darauf hinter sich her. Sie haben den Rückweg knapp kalkuliert, da die Stadt ausgesprochen zuverlässig ist. Sie kann gar nicht von ihrem Zeitplan abweichen. Durch die Hitze des anbrechenden Tages dehnen sich die Schienen aus, und der Trägerschlitten der Stadt gleitet passgenau über sie hinweg. So treibt das Sonnenlicht die Stadt auf ihrem Weg nach Westen an.

Die heimkehrenden Sonnenläufer versammeln sich auf dem Bahnsteig, während die Stadt näher kommt. Manche von ihnen sind seit Wochen draußen, manche sogar seit Monaten, lange genug, um den ganzen Planeten einmal zu umwandern. Wenn die Stadt an ihnen vorbeigleitet, öffnen sich die Tore, sodass sie eintreten können.

Bald ist es so weit, und eigentlich sollte auch Swan mit dabei sein. Doch sie steht noch immer auf ihrem Felsvorsprung. Mehr als einmal hat sie ihre Netzhaut wiederherstellen lassen müssen, und oft war sie gezwungen, wie ein Hase zu laufen, um nicht umzukommen. Das wird sie gleich wieder tun müssen. Sie befindet sich unmittelbar südlich der Stadt und steht mitten im Licht der horizontalen Strahlen, wie eine silbrige Trübung der Sicht. Man möchte sie anschreien für ihren Leichtsinn, auch wenn es nichts bringen würde. Swan, du Trottel! Alex ist tot – daran lässt sich nichts ändern! Lauf um dein Leben!

Und dann tut sie es. Das Leben – der Drang zu leben – gewinnt die Oberhand; sie dreht sich um und rennt. Merkurs Schwerkraft, die fast genau der des Mars entspricht, wird oft als perfekter G-Wert für schnelles Laufen bezeichnet, weil Menschen, die daran gewöhnt sind, in gewaltigen Sätzen durch die Landschaft jagen können, dabei mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Und so springt und rudert Swan – einmal verfängt sie sich mit einem Stiefel und schlägt lang hin, kommt aber sogleich wieder auf die Beine und rennt weiter. Sie muss den Bahnsteig erreichen, solange die Stadt sich noch daneben befindet. Die nächste ist erst zehn Kilometer weiter westlich.

Sie erreicht die Treppe, die zu dem Bahnsteig emporführt, packt das Geländer und schwingt sich hoch. Von der äußersten Kante des Bahnsteigs springt sie durch die sich bereits schließende Luftschleuse.

Swan und Alex

Alex’ Trauerfeier hatte bereits begonnen, als Swan sich Terminators große Haupttreppe empormühte. Die Einwohner der Stadt waren auf die Straßen und Plätze hinausgetreten und standen schweigend da. Auch eine große Anzahl auswärtiger Besucher war anwesend; eigentlich hätte gerade eine Konferenz beginnen sollen, zu der Alex eingeladen hatte. Am Freitag hatte sie die Besucher begrüßt. Jetzt, am Freitag darauf, hielt man ihr Begräbnis ab. Ein plötzlicher Zusammenbruch, und es war nicht gelungen, sie wiederzubeleben. So trauerten sie: die Einwohner der Stadt, die diplomatischen Gesandten, Alex’ Angehörige.

Auf halbem Weg die Dämmerungsmauer hinauf hielt Swan inne. Sie konnte nicht weiter. Unter ihr Dächer, Terrassen, Veranden, Balkone. Zitronenbäume in riesigen Tonkübeln. Ein sanfter Abhang, wie ein kleines Marseille, mit vierstöckigen weißen Mietshäusern, Balkonen mit schwarzen Eisengeländern, breiten Straßen und schmalen Gassen, am Fuße eine Promenade, von der aus man freie Sicht auf den Park hatte. Alles voller Menschen, die sich vor ihren Augen ausdifferenzierten, jedes Gesicht einzigartig und gleichzeitig einem Typus zugehörig – olmekische Kugelform, Beil, Schaufel. An einem Geländer standen drei Kleine, jeder etwa einen Meter groß, alle in Schwarz. Tief unten am Fuß der Treppe hatten sich die soeben eingetroffenen Sonnenläufer versammelt. Sie sahen verbrannt und staubig aus. Ihr Anblick versetzte Swan einen Stich – selbst die Sonnenläufer waren zu diesem Anlass erschienen.

Sie machte kehrt und stieg die Treppe wieder hinunter. Als die Nachricht sie erreicht hatte, war sie sofort aus der Stadt gerannt, getrieben vom Bedürfnis nach Einsamkeit. Auch jetzt ertrug sie es nicht, in dem Moment, in dem man Alex’ Asche verstreute, von anderen gesehen zu werden, und genauso wenig wollte sie ihrerseits Mqaret sehen, Alex’ Lebenspartner. Hinaus in den Park also, um sich dort unter die Menge zu mischen. Die Leute standen alle reglos da und blickten nach oben, die Bestürzung war ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie hielten einander fest. So viele Menschen hatten sich auf Alex verlassen. Die Seele des Systems. Diejenige, die einem half, die einen beschützte.

Manche der Anwesenden erkannten Swan, aber sie ließen sie in Frieden. Das rührte sie mehr als jede Beileidsbekundung, und mehrmals wischte sie sich mit den Fingern übers tränennasse Gesicht. Dann hielt jemand sie an. »Sie sind Swan Er Hong? Alex war Ihre Großmutter?«

»Sie war mein Ein und Alles.« Swan wandte sich ab und ging. Da sie hoffte, dass es auf der Farm leerer sein würde, verließ sie den Park und ließ sich durch die Bäume weitertreiben. Aus den Lautsprechern der Stadt tönte ein Trauermarsch. Unter einem Busch schnoberte ein Reh in dem heruntergefallenen Laub.

Sie hatte die Farm noch nicht erreicht, als die großen Tore der Dämmerungsmauer sich öffneten und das Sonnenlicht in die Kuppel fiel, wie üblich in Form von zwei horizontalen, gelb schimmernden Balken. Swan starrte auf die Wirbel in den Lichtbalken, auf das Talkumpuder, das man in die Luft geworfen hatte, als die Tore geöffnet wurden. Die gefärbten Staubteilchen stiegen mit den Aufwinden empor und verflüchtigten sich. Dann schwebte ein Luftballon von einer der höher gelegenen Terrassen aus nach Westen. Unter ihm baumelte ein kleines Körbchen: Alex; unvorstellbar, dass sie das war. Mit einem Mal steigerten die Bässe der Musik sich zu einem trotzigen Aufwallen. Als der Luftballon einen der gelben Lichtbalken erreichte, zerplatzte der Korb, und Alex’ Asche sank herunter, heraus aus dem Licht und in die Luft über der Stadt. Auf ihrem Weg nach unten scheint sie sich aufzulösen, wie Nebelschwaden in der Wüste. Im Park brandete tosender Applaus auf. Für einen kurzen Moment riefen ein paar junge Männer irgendwo »A-lex! A-lex!« Der Applaus wurde zu einem steten Rhythmus, der mehrere Minuten lang anhielt. Die Leute wollten nicht aufhören. Irgendwie würde es damit zu Ende sein. Im selben Moment, in dem sie aufhörten, würden sie sie verlieren. Schließlich gaben sie doch auf und traten in die Phase ihres Lebens ein, die auf Alex folgte.

Sie musste hinauf und sich zu Alex’ anderen Angehörigen hinzugesellen. Bei dem Gedanken daran stöhnte sie laut auf und irrte weiter durch die Farm. Schließlich ging sie zur Großen Treppe, steif und ohne etwas um sich herum wahrzunehmen. Einmal hielt sie inne und sagte eine Weile immer wieder »Nein, nein, nein.« Aber das war sinnlos. Mit einem Mal begriff sie es: Alles, was sie von nun an tat, war sinnlos. Sie fragte sich, wie lange dieses Gefühl anhalten würde – es kam ihr vor, als würde es nie wieder weggehen, und mit einem Mal durchfuhr sie Angst. Was musste sich ändern, damit sich dieses Gefühl änderte?

Schließlich riss sie sich zusammen und stieg zur Familiengedenkfeier auf der Dämmerungsmauer empor. Sie musste all die Leute begrüßen, die Alex am nächsten gestanden hatten, Mqaret kurz umarmen und den Ausdruck in seinem Gesicht ertragen. Man sah, dass bei ihm eigentlich niemand zu Hause war. Das sah ihm gar nicht ähnlich, aber sie konnte voll und ganz nachvollziehen, dass er sich verabschiedet hatte. Tatsächlich war sie darüber sogar erleichtert. Wenn man bedachte, wie schlecht es ihr selbst ging, dass Mqaret Alex noch weit näher gestanden und viel mehr Zeit mit ihr verbracht hatte – wie lange die beiden ein Paar gewesen waren –, konnte sie sich keine Vorstellung davon machen, wie er sich fühlte. Oder vielleicht doch. Da stand Mqaret also und starrte in eine andere Wirklichkeit, aus einer anderen Wirklichkeit – als erwiese er ihr eine Höflichkeit. Damit sie ihn umarmen und ihm versprechen konnte, ihn später zu besuchen, um sich anschließend unter die übrigen Anwesenden auf der höchsten Terrasse der Dämmerungsmauer zu mischen und später an ein Geländer zu treten und auf die Stadt hinabzuschauen, durch die transparente Blase um sie herum auf die schwarze Landschaft außerhalb. Sie fuhren gerade durch den Kuiper-Quadranten, und zur Rechten sah sie den Hiroshige-Krater. Vor langer Zeit einmal war sie mit Alex dort hinaus bis zu den Hiroshige-Ausläufern gegangen, damit sie ihr bei einem ihrer Goldsworthys half, einer Steinwelle, die sich auf eines der berühmtesten Bilder des Japaners bezog.

Sie hatten eine ganze Reihe erfolgloser Versuche unternommen, den Stein auszubalancieren, der den Kamm der brechenden Welle bildete, und wie so oft, wenn sie mit Alex zusammen war, hatte Swan lachen müssen, bis sie Bauchschmerzen bekam. Heute konnte sie die Steinwelle ausmachen. Sie war noch immer dort draußen – von der Stadt aus gerade so zu sehen. Doch die Steine, die den Wellenkamm gebildet hatten, waren verschwunden. Vielleicht hatten die Vibrationen der vorbeifahrenden Stadt sie zu Fall gebracht oder einfach nur der Ansturm des Sonnenlichts. Oder sie waren heruntergefallen, als sie die Nachricht gehört hatten.

Ein paar Tage später besuchte sie Mqaret in seinem Labor. Er war im Sonnensystem führend auf dem Gebiet der synthetischen Biologie, und sein Labor war voller Geräte, Inkubatoren, Glaskolben und Bildschirme, auf denen knotige, bunte Diagramme erblühten – das Leben in all seiner wuchernden Vielfalt, Basenpaar für Basenpaar zusammengesetzt. Hier drin hatten sie das Leben von Grund auf neu entworfen und viele der Bakterien erschaffen, die nun die Venus, Titan und Triton verwandelten – all die neuen Welten.

Nichts von alledem spielte nun eine Rolle. Mqaret war in seinem Büro, saß auf einem Stuhl und starrte durch die Wand ins Leere.

Er erhob sich und schaute sie an. »Ach Swan – schön, dich zu sehen. Danke, dass du vorbeikommst.«

»Kein Problem. Wie geht es dir?«

»Nicht so gut. Und dir?«

»Scheußlich«, gestand Swan, obwohl sie sich dabei schuldig fühlte. Mqaret noch zusätzlich zu belasten war das Letzte, was sie wollte. Aber in Zeiten wie diesen hatte es keinen Sinn zu lügen. Mqaret nickte ohnehin nur, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Es war offensichtlich, dass er so gut wie gar nicht anwesend war. Die Würfel auf seinem Schreibtisch enthielten Darstellungen von Proteinen, die bunten Falschfarben ohne jede Hoffnung auf Entwirrung ineinander verstrickt. Er hatte versucht zu arbeiten.

»Das Arbeiten fällt dir sicher schwer«, sagte Swan.

»Tja, schon.«

Nach kurzem, ausdruckslosem Schweigen fragte sie: »Weißt du, was ihr zugestoßen ist?«

Er schüttelte knapp den Kopf, als käme es darauf überhaupt nicht an. »Sie war hunderteinundneunzig.«

»Ich weiß, aber trotzdem …«

»Was trotzdem? Wir halten nicht ewig, Swan. Früher oder später ist der Punkt erreicht, an dem wir zerbrechen.«

»Ich habe mich bloß gefragt, warum.«

»Nein. Es gibt kein Warum.«

»Dann eben wie …«

Erneut schüttelte er den Kopf. »Es kann alles Mögliche sein. In diesem Fall handelte es sich um ein Aneurysma in einer lebenswichtigen Hirnregion. Aber es kann auf so viele Arten geschehen. Das Erstaunliche ist, dass wir überhaupt für eine Weile am Leben bleiben.«

Swan setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ich weiß. Aber … was hast du jetzt vor?«

»Arbeiten.«

»Aber du hast doch gerade gesagt …«

Er blickte sie aus seinem Loch heraus an. »Ich habe nicht behauptet, dass es zu nichts gut wäre. Das wäre nicht richtig. Zuerst einmal haben Alex und ich siebzig gemeinsame Jahre gehabt. Und wir haben uns kennengelernt, als ich hundertdreißig war. Das ist das eine. Und außerdem interessiert mich die Arbeit auch, einfach als zu lösendes Problem. Und es ist ein ziemlich großes Problem. Genau genommen zu groß.« Er hielt inne und brachte für eine Weile kein weiteres Wort heraus. Swan legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Swan blieb neben ihm sitzen und hielt den Mund. Er rieb sich fest die Augen und nahm ihre Hand.

»Man wird den Tod nicht besiegen«, sagte er schließlich. »Er ist zu stark. Zu sehr im natürlichen Lauf der Dinge verankert. Im Prinzip handelt es sich um das zweite Gesetz der Thermodynamik. Die einzige Hoffnung, die wir uns machen können, ist, ihn aufzuschieben. Ihn zurückzudrängen. Damit sollten wir eigentlich zufrieden sein. Ich weiß nicht, warum wir es nicht sind.«

»Weil es alles nur noch schlimmer macht!«, klagte Swan. »Je länger man lebt, desto schlimmer wird es!«

Er schüttelte den Kopf und wischte sich erneut durch die Augen. »Nein, das glaube ich nicht.« Er atmete gedehnt aus. »Es ist immer schlimm. Aber es sind die noch Lebenden, die es zu spüren bekommen, und deshalb …« Er zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, was du meinst, ist, dass es einem heutzutage wie eine Art Fehler vorkommt. Wenn jemand stirbt, fragen wir warum. Ob man das nicht hätte verhindern können. Und manchmal hätte man es wirklich verhindern können. Aber …«

»Es ist auch ein Fehler!«, erklärte Swan und streckte erneut die Hand nach seiner Schulter aus. »Die Wirklichkeit hat einen Fehler gemacht, und du bringst sie jetzt in Ordnung!« Sie deutete auf die Bildschirme und Würfel: »Stimmt’s?«

Er lachte und weinte zugleich. »Klar!« Schniefend rieb er sich durchs Gesicht. »Das ist doch blöd. Diese Hybris. Die Wirklichkeit reparieren zu wollen, meine ich.«

»Aber es ist gut«, erwiderte Swan. »Du weißt, dass es gut ist. Es hat dir siebzig Jahre mit Alex verschafft. Und es gibt dir etwas zu tun.«

»Das ist wahr.« Er seufzte schwer und blickte zu ihr auf. »Aber … ohne sie wird es nicht dasselbe sein.«

Diese Wahrheit erfüllte Swan mit einem Gefühl der Trostlosigkeit. Alex war ihre Freundin gewesen, ihre Beschützerin, ihre Lehrerin, ihre Stief-Großmutter, ihre Ersatzmutter, all das – aber auch eine Art zu lachen. Ein Quell der Freude. Ihre Abwesenheit erzeugte eine innere Kälte, tötete Swans Gefühle ab und hinterließ nichts als eine öde Leere. Pures, dumpfes Bewusstsein. Ich bin da. Das hier ist die Wirklichkeit. Niemand entkommt ihr. Geht nicht weiter, muss weitergehen; hier blieben sie immer stecken.

Also ging es weiter.

Es klopfte an der Tür zum Labor. »Herein«, rief Mqaret etwas harsch.

Die Tür öffnete sich, und im Durchgang stand ein Kleines. Sehr gut aussehend, auf diese besondere Art, die man bei Kleinen oft sieht – schon älter, schlank, in einer lässigen blauen Jacke, der ordentliche blonde Pferdeschwanz wippte auf Höhe von Swans Hüfte, die Augen blickten wie die eines Langurs oder Seidenäffchens zu ihnen auf.

»Hallo Jean«, sagte Mqaret. »Swan, das ist Jean Genette aus den Asteroiden, ursprünglich wegen der Konferenz hier. Jean war eng mit Alex befreundet und ermittelt dort draußen für die Liga. Ich denke, Jean hat einige Fragen an uns. Ich hatte bereits erwähnt, dass du vielleicht hier vorbeikommen würdest.«

Jean legte die Hand aufs Herz und nickte Swan zu. »Mein aufrichtiges Beileid zu Ihrem Verlust. Ich bin allerdings nicht nur hier, um das zu sagen, sondern auch, weil nicht wenige von uns besorgt sind. Alex hat bei vielen unserer wichtigsten Projekte eine zentrale Rolle gespielt, und ihr Tod kam unerwartet. Wir möchten sicherstellen, dass diese Projekte weiterlaufen, und ehrlich gesagt wollen einige von uns sich auch dringend Gewissheit darüber verschaffen, ob sie eines natürlichen Todes gestorben ist.«

»Ich habe Jean bereits versichert, dass dem so ist«, teilte Mqaret Swan mit, als er ihren Gesichtsausdruck sah.

Genette wirkte nicht gänzlich überzeugt von dieser Beteuerung. »Hat Alex Ihnen gegenüber jemals Feindschaften oder Drohungen erwähnt – Gefahren irgendwelcher Art?« Die Frage war an Swan gerichtet.

»Nein.« Swan überlegte. »So jemand war sie nicht. Ich meine, sie war immer sehr positiv eingestellt. Sie hat darauf vertraut, dass alles gut gehen würde.«

»Ich weiß. Sie haben ja so recht. Aber gerade deshalb würden Sie sich vielleicht daran erinnern, wenn Alex einmal etwas gesagt hätte, das nicht ihrem gewöhnlichen Optimismus entsprach.«

»Nein. An etwas Derartiges kann ich mich nicht erinnern.«

»Hat sie ein Testament hinterlassen, oder einen Trust? Oder eine Nachricht, die im Falle ihres Todes geöffnet werden sollte?«

»Nein.«

»Einen Nachlass-Trust hatten wir«, sagte Mqaret kopfschüttelnd. »Aber der enthält nichts Besonderes.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich mal in ihrem Arbeitszimmer umsehe?«

Alex hatte ihr Büro in einem Zimmer gegenüber von Mqarets Labor eingerichtet, und Mqaret nickte nun und führte den kleinen Inspektor über den Korridor. Swan hängte sich an sie dran. Sie war überrascht, dass Genette von Alex’ Arbeitszimmer wusste und dass Mqaret es so bereitwillig zeigte; und sie war überrascht und verstört von der Vorstellung, dass Alex Feinde gehabt haben könnte, von dem Ausdruck »natürliche Todesursache« und seinem implizierten Gegenteil. Alex’ Tod wurde von einer Art Polizeibehörde untersucht? Sie konnte es nicht fassen.

Während sie in der Tür saß und versuchte, die Bedeutung von all dem zu begreifen, damit fertigzuwerden, durchsuchte Genette sorgfältig Alex’ Büro, zog Schubladen auf, lud Dateien herunter und strich mit einem dicken Stab über alle Oberflächen und Gegenstände. Mqaret schaute die ganze Zeit ungerührt zu.

Schließlich war Genette fertig, baute sich vor Swan auf und musterte sie neugierig. Da Swan auf dem Boden saß, befanden sie sich etwa auf Augenhöhe. Anscheinend wollte der Inspektor ihr noch eine Frage stellen, überlegte es sich dann jedoch anders. Schließlich sagte Genette nur: »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, was mir weiterhelfen könnte, wäre ich dankbar, wenn Sie es mir sagen.«

»Natürlich«, antwortete Swan voll Unbehagen.

Darauf bedankte sich der Inspektor und ging.

»Was sollte denn das?«, fragte Swan Mqaret.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mqaret. Swan sah ihm an, dass er ebenfalls verstört war. »Ich weiß, dass Alex bei einer Menge Dinge ihre Finger mit im Spiel hatte. Sie hat von Anfang an zu den führenden Persönlichkeiten im Mondragon-Bund gehört, der eine Menge Feinde da draußen hat. Ich weiß, dass sie sich wegen gewisser Probleme im System Sorgen gemacht hat, aber Einzelheiten hat sie mir nicht erzählt.« Er deutete Richtung Labor. »Sie wusste, dass mich das nicht besonders interessieren würde.« Grimmig verzog er das Gesicht. »Dass ich meine eigenen Probleme hatte. Wir haben nicht besonders viel über unsere Arbeit gesprochen.«

»Aber …«, setzte Swan an und wusste nicht, wie sie fortfahren sollte. »Ich meine … Feinde? Alex?«

Mqaret seufzte. »Ich weiß nicht. Man könnte durchaus sagen, dass bei einigen dieser Angelegenheiten viel auf dem Spiel stand. Du weißt doch, dass es Kräfte gibt, die gegen den Mondragon sind.«

»Trotzdem.«

»Ich weiß.« Er hielt kurz inne. »Hat sie dir etwas hinterlassen?«

»Nein! Warum sollte sie das getan haben? Ich meine, sie hat ja nicht damit gerechnet zu sterben.«

»Wer tut das schon? Aber wenn es ihr um Geheimhaltung ging oder um die Sicherheit gewisser Informationen, dann kann ich mir vorstellen, dass sie dich als jemanden betrachtet hätte, zu dem sie Zuflucht nehmen konnte.«

»Wie meinst du das?«

»Tja … kann es nicht sein, dass sie etwas in deinem Qube hinterlassen hat, ohne es dir zu sagen?«

»Nein. Pauline ist ein geschlossenes System.« Swan tippte sich hinter das rechte Ohr. »Derzeit lasse ich sie meistens abgeschaltet. Außerdem würde Alex so etwas ohnehin nie tun. Sie würde nicht mit Pauline reden, ohne mich vorher zu fragen, da bin ich mir sicher.«

Erneut seufzte Mqaret schwer. »Tja, wie dem auch sei. Soweit ich weiß, hat sie mir auch nichts hinterlassen. Ich meine nur, dass es zu Alex passen würde, irgendwo etwas zu verstecken, ohne uns davon zu erzählen. Aber es ist nichts aufgetaucht. Ich bin mir einfach nicht sicher.«

Swan sagte: »Bei der Autopsie ist also nichts Ungewöhnliches ans Licht gekommen?«

»Nein!«, antwortete Mqaret. Trotzdem dachte er noch einmal darüber nach. »Ein zerebrales Aneurysma ist geplatzt, wahrscheinlich erblich bedingt. Es gab eine intraparenchymale Blutung. So was kommt vor.«

»Wenn jemand eine … eine solche Blutung gezielt ausgelöst hätte, würdest du es auf jeden Fall erkennen?«

Mqaret runzelte die Stirn.

Dann hörten sie es erneut an der Labortür klopfen. Sie schauten einander an und erschauerten beide für einen kurzen Moment. Mqaret zuckte mit den Schultern. Er erwartete niemanden.

»Herein!«, rief er einmal mehr.

Die Tür ging auf und gab den Blick auf eine Gestalt frei, die in etwa das Gegenteil von Genette war: ein sehr großer Mann. Prognathisch, kallipygisch, Exophthalmus – Kröte, Molch, Frosch –, selbst die Worte klangen hässlich. Kurz ging es Swan durch den Kopf, dass lautmalerische Begriffe vielleicht häufiger vorkamen, als einem bewusst war, dass die Sprachen der Menschen ein Echo der Welt waren, wie Vogelstimmen. Swan hatte selbst einen kleinen Spaßvogel im Kopf. Kröte. Einmal hatte sie in Amazonien eine Kröte an einem Teich sitzen sehen, mit feuchter, warziger, bronzegoldener Haut. Der Anblick hatte ihr gefallen.

»Ah«, sagte Mqaret. »Wahram. Willkommen in unserm Labor. Swan, das ist Fitz Wahram vom Titan. Er gehörte zu Alex’ engsten Mitarbeitern, und sie hat ihn geschätzt wie kaum jemanden sonst.«

Swan, die ein wenig überrascht von dem Gedanken war, dass so jemand ohne ihr Wissen Teil von Alex’ Leben hatte sein können, runzelte die Stirn.

Wahram neigte den Kopf zu einer autistischen Verbeugung. Er legte die Hand aufs Herz. »Es tut mir so leid«, sagte er mit einer Stimme wie Froschquaken. »Alex hat mir viel bedeutet, und nicht nur mir. Ich habe sie geliebt, und bei unserer gemeinsamen Arbeit war sie diejenige, auf die es ankam, die Anführerin. Ich weiß nicht, wie wir ohne sie zurechtkommen sollen. Wenn ich daran denke, wie ich mich fühle, kann ich mir kaum ausmalen, wie es Ihnen gehen muss.«

»Danke«, sagte Mqaret. Die Leute redeten bei solchen Gelegenheiten immer so seltsames Zeug. Swan brachte nichts dergleichen heraus.

Jemand, den Alex gemocht hatte. Swan tippte sich unterhalb des rechten Ohrs an den Kopf, um ihren Qube zu aktivieren. Sie hatte ihn zur Bestrafung abgeschaltet. Pauline würde sie als leise Stimme in Swans rechtem Ohr auf den neuesten Stand bringen. Swan hatte sich in letzter Zeit sehr über Pauline geärgert, aber jetzt wollte sie Informationen.

Mqaret sagte: »Also, was wird nun aus der Konferenz?«

»Man ist sich einig, dass wir sie aufschieben und einen neuen Termin vereinbaren sollten. Im Moment sind alle zu entmutigt. Wir gehen unserer Wege und kommen zu einem späteren Zeitpunkt zusammen, wahrscheinlich auf Vesta.«

Ah ja: Ohne Alex kam der Merkur nicht länger als Versammlungsort infrage. Nicht besonders überrascht nickte Mqaret. »Also kehren Sie zum Saturn zurück.«

»Ja. Aber bevor ich aufbreche, wüsste ich gerne, ob Alex etwas für mich hinterlassen hat. Irgendwelche Informationen oder Daten, in welcher Form auch immer.«

Mqaret und Swan wechselten einen Blick. »Nein«, sagten sie gleichzeitig. Mqaret hob hilflos die Hände. »Inspektor Genette hat uns gerade das Gleiche gefragt.«

»Ah.« Der Krötenmensch sah sie aus seinen Glupschaugen an. Dann betrat einer von Mqarets Assistenten das Zimmer, er brauchte Mqarets Hilfe. Der entschuldigte sich, und mit einem Mal war Swan alleine mit dem Besucher und seinen Fragen.

Wirklich massig, dieser Krötenmensch: massige Schultern, massiger Brustkorb, massiger Bauch. Kurze Beine. Menschen waren schon seltsam. Er schüttelte den Kopf und sagte mit tiefer, rauer Stimme – eine schöne Stimme, das musste sie zugeben, zwar irgendwie froschartig, aber entspannt und volltönend wie ein Fagott oder ein Basssaxofon: »Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie gerade jetzt belästige. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt. Ich bewundere Ihre Landschaftsinstallationen. Als ich gehört habe, dass Sie mit Alex verwandt sind, habe ich sie gefragt, ob sie uns vielleicht miteinander bekannt machen könnte. Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mir Ihr Werk am Rilke-Krater gefällt. Es ist wirklich außerordentlich schön.«

Swan fühlte sich überrumpelt. Sie hatte am Rilke-Krater einen Kreis aus Göbekli-T-Steinen errichtet, die sehr zeitgenössisch wirkten, obwohl ihre Form auf etwas zurückging, was vor über zehntausend Jahren erschaffen worden war. »Danke«, sagte sie. Anscheinend handelte es sich um eine kulturell bewanderte Kröte. »Sagen Sie, wie kommen Sie darauf, dass Alex Ihnen eine Nachricht hinterlassen haben könnte?«

»Wir haben gemeinsam an einer Reihe von Sachen gearbeitet«, antwortete er ausweichend. Sein glasiger Blick wanderte weiter. Man sah, dass er nicht darüber reden wollte. Und trotzdem war er hergekommen, um danach zu fragen. »Und, tja, sie hat immer in den höchsten Tönen von Ihnen gesprochen. Es war klar, dass Sie beide einander nahegestanden haben. Nun … sie hat ihre Sachen ungern in der Cloud abgelegt oder in digitale Form gebracht – eigentlich hat sie nur ungern überhaupt Aufzeichnungen über unsere Projekte aufbewahrt. Sie bevorzugte es, Informationen im Gespräch weiterzugeben.«

»Ich weiß.« Swan verspürte einen Stich. Sie konnte den Klang von Alex’ Stimme hören: Wir müssen reden! Es ist eine Welt der Gesichter! Mit ihren leuchtend blauen Augen, ihrem Lachen. Alles weg.

Der massige Mann sah, wie sich ihre Miene veränderte, und streckte eine Hand aus. »Es tut mir so leid«, sagte er einmal mehr.

»Ich weiß«, sagte Swan und fügte hinzu: »Danke.«

Sie setzte sich auf einen von Mqarets Stühlen und versuchte, an etwas anderes zu denken.

Nach einer Weile sagte der Mann sanft brummend: »Was haben Sie jetzt vor?«

Swan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich werde wohl wieder an die Oberfläche gehen. Das ist der Ort, an dem ich … mich wieder auf die Reihe kriege.«

»Zeigen Sie es mir?«

»Was?«, fragte Swan.

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich nach draußen mitnehmen. Vielleicht könnten Sie mir eine Ihrer Installationen zeigen. Oder, wenn es Ihnen nichts ausmacht – mir ist aufgefallen, dass die Stadt sich dem Tintoretto-Krater nähert. Meine Fähre legt erst in ein paar Tagen ab, und ich würde wahnsinnig gerne das dortige Museum sehen. Ich habe einige Fragen, die sich auf der Erde nicht beantworten lassen.«

»Fragen über Tintoretto?«

»Ja.«

»Tja …« Swan zögerte unsicher.

»So könnten Sie die Zeit rumbringen«, gab der Mann zu bedenken.

»Ja.« Sie war ein wenig verärgert über seinen anmaßenden Ton, aber andererseits war sie tatsächlich auf der Suche nach einer Ablenkung, nach etwas, was sie nun, da alles vorbei war, tun konnte, und bislang war ihr nichts eingefallen. »Tja, das stimmt wohl.«

»Tausend Dank.«

LISTEN (1)

Ibsen und Imhotep; Maher, Matisse; Murasaki, Milton, Mark Twain;

Homer und Holbein, berühren sich an den Rändern;

Ovid ein Sprenkel am Rand des sehr viel größeren Puschkin;

Goya überlappt sich mit Sophokles.

Van Gogh berührt Cervantes, direkt neben Dickens. Strawinski und Vyasa. Lysipus. Equiano, ein westafrikanischer Sklave und Schriftsteller, nicht in Äquatornähe.

Chopin und Wagner direkt nebeneinander, gleich groß.

Tschechow und Michelangelo, beides Doppelkrater.

Shakespeare und Beethoven, riesige Becken.

Al-Dschahiz, Al-Achtal. Aristoxenos, Ashvagosha. Kurosawa, Lu Xun, Ma Zhiyuan, Proust und Purcell. Thoreau und Li Bai, Rumi und Shelley, Snorri und Pigalle. Valmiki, Whitman. Bruegel und Ives. Hawthorne und Melville.

Es heißt, die Mitglieder des namensgebenden Komitees der Internationalen Astronomischen Union hätten sich eines Abends bei ihrer Jahresversammlung hemmungslos betrunken, ein kurz zuvor eingetroffenes Mosaik der ersten Fotos vom Merkur herausgeholt und es als Dartscheibe missbraucht. Dabei hätten sie einander die Namen berühmter Maler, Bildhauer, Komponisten und Schriftsteller zugerufen, die Dartpfeile beschriftet und auf die Karte geworfen.

Es gibt eine Abbruchkante namens Pourquoi Pas.