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Paul Lascaux

Schokoladenhölle

Müllers sechster Fall

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Sven Hoppe Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4102-8

»Spielen ist Selbstzweck. Am zufriedensten ist nicht der Angler, der die meisten Fische fängt, sondern der, der das Angeln am meisten zu genießen weiß. Es ist das Wesen des Spiels, dass es sich nicht auf ein außerhalb seiner selbst liegendes Ziel richtet.«

 

John Gray: »Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus«

Am Schluss dieses Textes finden Sie ein Personenverzeichnis sowie eine Übersicht über Müllers erste fünf Fälle.

Mittwoch, 14.9.2011

 

Er war vom harten Schlag auf seinen Hinterkopf völlig überrascht. In stets weiterer Ferne hörte er die letzten Takte von ›She Needs Some Loving‹, ein klassischer Gitarrenblues mit Piano-Begleitung. 1969. Otis Spann mit Fleetwood Mac.

Dann nichts mehr.

Als er das Bewusstsein wiedererlangte, gab es über ihm keinen Himmel mehr. Es war dunkel und kalt. Vor Kurzem noch hatte er einen stechenden Schmerz verspürt. Nun war alles sinnlos und leer. Um ihn herum Stille. Selbst der Blues war verstummt. Nicht einmal sein Blut pochte in den Ohren.

Er nahm zwei dunkle Pupillen wahr, die sich seinem Gesicht näherten. Im letzten Augenblick erkannte er die vollen Lippen, die einzelne Worte formten, die er nicht mehr verstand. Das Lächeln eines bittersüßen Erfolgs blieb als Letztes haften.

Dann schlug das Nichts über Dionys Brand zusammen.

Donnerstag, 15.9.2011

 

Es war ein Septembermorgen, wie es sich für einen Septembermorgen gehörte: Über dem Aaretal lagen Nebelschleier, die Berner Altstadt wandte sich der Sonne entgegen, nur die Brücken hoch über dem Fluss konnten sich nicht entscheiden, ob sie zur hellen oder zur dunklen Seite gehören wollten.

Im Nebel saß die Kühle der Nacht, es war feucht und düster. Man erkannte schemenhaft dunkle Gestalten, deren Tätigkeit auf einen unvoreingenommenen Beobachter nicht sehr koordiniert wirkten. Männer kämpften in der leichten Bise mit umgestülpten Rockschößen, die Brillen beschlugen im hektischen Atem, das Rauschen des Flusses übertönte den Straßenlärm. Man gewahrte uniformierte Polizeibeamte, die den Weg vor den Außengehegen des Tierparks Dählhölzli gegen die Aare hin vor neugierigen Blicken absperrten.

Es sah beinahe so aus, als beschützten sie die Wildschweine vor den lästigen Besuchermassen. Aber es wäre keine Erklärung dafür gewesen, weshalb alle Tiere von den Zoowärtern in den linken Teil des Doppelgeheges getrieben worden waren. Normalerweise ließ man einen Durchgang in der dazwischen liegenden Bretterwand frei. Möglich, dass die Sauen getrennt wurden, weil die Bachen Junge bekommen hatten. Heute staubten die Schweine aufgeregt zwischen Wassertümpeln und Steinhaufen hin und her, drängten immer wieder auf die Tür zur rechten Einfriedung und konnten nur mit Mühe zurückgehalten werden, sodass sogar die Wärter aufgaben, sich zurückzogen und das Loch mit Brettern verbarrikadierten.

Ein neutraler Beobachter hätte das Verhalten der Wildschweine damit erklärt, dass man ihnen das Futter weggenommen hatte. Ein weniger neutraler wie Bernhard Spring, Störfahnder der Police Bern, der mit seiner Truppe das Gehege übernommen hatte und gerade etwas einer Wildsau ähnelte, jedenfalls was die Sauberkeit seiner Kleidung betraf, ein derartiger Beobachter identifizierte das Schweinefutter als Überreste eines Menschen. Er erkannte einen Mann, eher an der Kleidung und an den Haaren als an dem, was die hungrigen Sauen übrig gelassen hatten. Wilde Tiere begannen, nachdem sie die Bauchhöhle geöffnet hatten, mit der Leber, jedenfalls so lange sie noch warm war, und fraßen die restlichen Innereien, bevor sie sich über das Muskelfleisch hermachten.

Wenn man davon ausging, dass das Leittier zuerst gefressen hatte und den Platz frei machte, als es gesättigt war, dann hatte eben die Übergabe des Kadavers an die Jungtiere stattgefunden. Das Gesicht des Opfers war zwar schon massiv angenagt, die Augäpfel fehlten, aber die Extremitäten waren dank der Kleidung noch verschont geblieben.

Bernhard Spring watete durch die Schlammpfütze neben dem gedeckten, aber auf den Seiten offenen Stall, in dem die Leiche lag. Über den Körper beugte sich der Rechtsmediziner, den der Störfahnder nicht kannte. Keine CSI-Prinzessin auf High Heels, sondern ein altbackener junger Mann ohne Eigenschaften.

»Dr. Augsburger«, stellte er sich vor. »Mein erster Fall. Ich habe mir einen sanfteren Einstieg in den Berufsalltag vorgestellt.«

»Was darf’s denn sein?«, fragte Spring. »Ein Brückenspringer? Eine Leiche, die seit drei Monaten in ihrer Wohnung liegt? Jemand, der an einem heftigen Stromstoß gestorben ist? Oder einer aus einer Jauchegrube?«

»Einen ganz normalen Herzinfarkt hätten Sie nicht anzubieten?«

»Wir sind bei der Abteilung ›Leib und Leben‹, wir kümmern uns ausschließlich um unkonventionelle finale Lebensgestaltungen«, brummte der Störfahnder.

»Ist ja gut«, seufzte der Arzt. »Zwei, drei Stunden später hätten wir nur noch blank polierte Knochen gefunden. Gerade noch rechtzeitig vor Ort, könnte man sagen.«

»Unter ›rechtzeitig‹ stelle ich mir einen Augenblick vor dem unnatürlichen Tod vor.«

»Selbstverständlich«, entgegnete Augsburger. »Ich meine nur, dass wir den Mann noch identifizieren können.«

»An die Presse geht ein Foto dieses Gesichts nicht mehr!«, verlangte Spring.

»Nein, aber in seinem Jackett steckt eine Brieftasche. Falls wir Ausweispapiere finden, können wir sie mit den Überresten vergleichen.«

»Ist er hier gestorben?«

»Schwierig zu sagen. Er ist wohl nicht freiwillig ins Wildschweingehege gestiegen, um sich auffressen zu lassen. Das wäre zwar ein origineller Selbstmord, stimmt nur leider nicht mit der Fundsituation überein.«

»Todeszeitpunkt?«, fragte Spring laut, und innerlich stöhnte er auf, weil er es mit einem Komiker zu tun hatte.

»Das eben ist nicht so einfach, weil neben Leber und Niere auch das Herz fehlt. Kommen Sie bitte mit.«

Augsburger trat aus dem niedrigen Stall und stakste über morsches Holz und glitschige Steine, bis er kurz vor der Brüstung, die mit einem Elektrozaun gesichert war, stehen blieb. »Hier haben wir die erste Spur. Sehen Sie die Blutflecken? Zum Glück kein Regen, sonst wären sie weggewaschen. Der Mann hat einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, vielleicht ist er auf einen Stein gefallen. Ob er einen Schädelbruch erlitten hat, weiß ich erst nach der Obduktion. Allerdings erkennt man einen Bluterguss, der nicht nur lagebedingt ist. Er hat also noch eine Zeit lang gelebt. Das war vor etwa sechs bis acht Stunden.«

»Jetzt ist es sieben Uhr morgens.« Spring fröstelte. »Das heißt, er ist um Mitternacht gestorben?«

»Ungefähr.«

»Dann haben sich die Schweine viel Zeit gelassen.«

Der Rechtsmediziner erschrak. »Das ist richtig. Wenn die Tiere nicht erst gegen sechs Uhr in diese Hälfte des Pferchs gelassen wurden, hat man das Opfer hierher gebracht.«

»Falls er auf einen Stein gefallen ist und sich am Hinterkopf verletzt hat, hätte er von der schmalen Mauer rücklings in den Graben stürzen müssen.«

»Von jemandem gestoßen?«, fragte Augsburger.

»Und wenn er sich über die Mauer gebeugt hat? Vielleicht hat er etwas gesucht, und jemand hat ihn von hinten am Kopf getroffen, sodass er nach vorn gestürzt ist.«

Spring rief seine Kollegin Pascale Meyer zu sich und gab ihr in Auftrag, den Morast gründlich abzusuchen. »Auch nach kleinen Stücken wie Schmuck, Ohrringe oder so.«

»Soll ich einen Goldwäscher holen, damit er den Schlick säubert?«, maulte sie.

»Mach, was du willst«, entgegnete der Störfahnder, »aber bring mir Ergebnisse!« Dann wandte er sich wieder dem Arzt zu.

»Wenn jemand mit einem Stein zugeschlagen und ihn dann ins Gehege geworfen hat, haben wir ein Problem«, sagte Augsburger.

Der Nebel hatte sich inzwischen so weit gesenkt, dass man die darüber liegende Sonne bereits ahnte. Dafür war er dermaßen gesättigt, dass Springs Haare nass waren wie nach einem kurzen Regenguss.

»Es gibt zwar viele Trampelspuren der aufgeregten Tiere«, fuhr der Rechtsmediziner fort. »Man erkennt aber immer noch den Beginn einer Schleifspur.«

»Nur keine Schuhabdrücke«, sagte der Polizist.

»Das bedeutet, die Schweine haben den Mann in den Stall gezerrt, um ihn dort zu fressen?«, fragte Pascale.

»Intelligente Tiere«, erläuterte der Arzt. »Dort macht ihnen keiner die Beute streitig. An den stärker werdenden Blutspuren erkennt man die Richtung, in die das Opfer bewegt worden ist.«

»Er hat also noch gelebt«, stellte Bernhard Spring fest.

»Ja, aber nicht mehr lange«, sagte Augsburger.

»Das bringt die Theorie eines Todes um Mitternacht ins Wanken«, meinte der Fahnder. »Wodurch könnte der Fehler entstanden sein?«

»Wenn es denn ein Fehler war. Wir müssen den Wärter fragen. Falls der Keiler allein auf dieser Seite des Zauns nächtigt, könnte er das Opfer in den Stall geschleppt, es zerbissen und somit endgültig getötet haben.«

»Dann schlingt er, bis er genug hat«, ergänzte Pascale. »Und die Jungtiere kommen erst am Morgen ans Futter.«

»Kann ja sein, dass sie das Fressen in der Nacht nicht gewohnt sind.« Spring zuckte die Schultern. »Brauchen Sie die Organe, welche die Schweine verschlungen haben?«

»Für die Autopsie bedeutungslos«, erwiderte der Arzt. »Lassen Sie die Tiere leben.«

»Kommt mir nicht in den Sinn, einen Zoo zu dezimieren, weil einer ins Gehege gefallen ist«, ärgerte sich Spring. »Ich dachte eher an einen natürlichen Vorgang.«

Augsburger musterte ihn erstaunt. »Noch etwas«, sagte er dann. »In der Bauchdecke konnte ich Anfang und Ende eines tiefen Schnitts feststellen. Ein scharfes Messer!«

»Wie tief?«, fragte Spring misstrauisch.

»Er hat die Aorta durchtrennt. Vielleicht hat jemand versucht, das Herz rauszuschneiden.«

»Ist es gelungen?«, fragte Pascale.

»Kann ich nicht sagen«, bedauerte der Rechtsmediziner. »Es fehlt. Es befindet sich entweder in einem Schweinemagen oder beim Mörder.«

»Das kann aber erst nach dem Schlag auf den Kopf und dem Sturz in den Graben erfolgt sein. Eben haben wir festgestellt, dass der Mann geblutet, also noch gelebt hat. Außerdem fehlen Schuhspuren.«

»Falls der Täter barfuß oder nicht allzu schwer war und sich hauptsächlich auf den Steinen bewegt hat, haben wir keine Chance, welche zu finden«, erklärte Augsburger. »Es ist nicht dasselbe, wenn der Mörder das Opfer in den Stall gezerrt hat. Dann hätte er das doppelte Gewicht ziehen müssen, und die Abdrücke wären tiefer in den Kies eingedrungen.«

»Etwas gefunden?«, fragte Spring, als ein Kollege der Spurensicherung auf ihn zutrat.

»Wie man’s nimmt«, antwortete dieser und streckte ihm ein Stückchen Karton entgegen, mit einem Edelweiß drauf. »Sieht aus wie eine Schokoladenverpackung. Ich komme bloß nicht drauf, welche es ist.«

Der Störfahnder packte es zu den andern Beweismitteln und meinte: »Das kann irgendein Tourist runtergeworfen haben, um die Wildscheine zu ärgern.«

»Es hat in der Jackentasche gesteckt, als ob unser Opfer ein Stück davon abgerissen hätte, als er eine Tafel herauszog. Es erinnert mich an meine Kindheit. Ich weiß gar nicht, ob es die Sorte noch gibt.«

»Nimm es mit ins Labor«, seufzte Spring.

Ein erster Sonnenstrahl warf sein diesiges Licht auf die Stätte des Grauens. Die Szene mit den Frauen und Männern in Schwarz erinnerte an einen Film noir aus den späten Fünfzigern.

Freitag, 16.9.2011

 

Baron Biber rekelte sich an einem sonnigen Plätzchen im Garten, unter einer wild gewachsenen Palme, die den kalten Winter wundersamerweise überstanden hatte. Der Schattenwurf eines Fächers glitt mit der Sonnenbahn über den Kater, der in seinem 15. Lebensjahr in Erinnerungen schwelgte, mit halb geschlossenen Augen regelmäßig aufseufzte und sich nur kurz streckte, wenn sich Mathilda anschickte, ihn aus ihrem Versteck heraus anzuspringen.

Momo, ein fluffiger Jungkater mit Babybonus, hauptsächlich damit beschäftigt, sein schwarz-grau getigertes Langhaarfell wachsen zu lassen und die älteren Katzen zu ärgern, schlich zwischen den beiden zur Treppe der Veranda. Er fände in der Küche bestimmt etwas zu fressen, was ihm besser schmeckte als das Trockenfutter im eigenen Heim. Denn so eine quirlige Katze ist für vieles verantwortlich in einem Haus, zum Beispiel für das Überprüfen der statischen Eigenschaften der Wohnungseinrichtung. Und das macht hungrig.

 

Während die Katzen ihre Reviere im Garten eifersüchtig überwachten, tummelten sich Heinrich Müller und Louise Wyss in einem andern abgesteckten Gelände. F.K. Swiss begleitete sie auf einem Rundgang durch eine Märchenwelt, die er mit seinen Freunden in wochenlanger Arbeit im Theatersaal des Restaurants Jardin geschaffen hatte.

Ätherisches Licht blaute den üblicherweise nüchternen Saal ein, Farbe aus dem Innern einer Eishöhle. Es kam von nirgendwo und überall, nur von der Empore herunter leuchtete ein zunehmend helleres Gelb wie das der aufgehenden Sonne am Morgenhimmel.

»Steigen wir zuerst hoch«, sagte Swiss, nachdem er seinen bei der Begrüßung gelüfteten Zylinder wieder auf dem Kopf festgemacht hatte. »Verschaffen wir uns einen Überblick.«

›I fall down on my knees, every Sunday, at Zerelda Lee’s candy store‹, quäkte wie ein Marktschreier aus versteckten Lautsprechern Tom Waits durch ein abgedämpftes Megafon. ›Well it’s got to be a chocolate Jesus!‹ Und er krächzte hinterher: ›The immaculate confection

Oben fanden die drei, umlaufend auf der Galerie, eine Ausstellung einiger auf den ersten Blick filigraner Bilder, jedes einzelne von einem Oberlicht bestrahlt. Beim Nähertreten erkannten sie eine Sammlung edelster Schokoladenverpackungen, von eleganten Kunstwerken neuesten Designs in der Zeit rückwärts bis zu silbergrauen Einwickelpapieren aus den Anfängen. Daneben hingen Sammelbildchen, bunt eingefärbt, mit den verschiedensten Motiven. Beliebt waren die briefmarkenähnlichen Sujets der Firmen Cailler, Kohler, Peter und Nestlé: exotische Tiere, Schiffe, Trachten, Hunderassen, Vogelnester oder gar Pilze.

»In der Frühzeit des 20. Jahrhunderts wurde Schokolade oft über Automaten vertrieben und an Bahnhöfen und anderen stark frequentierten Orten verkauft. Da dienten die Sammelbildchen der Kundenbindung«, erklärte Swiss. »Denn die Verpackung war mitentscheidend für den Erfolg einer Marke, genau wie die Plakate, die wir unten aufgehängt haben.«

»Wieso das?«, erkundigte sich Louise, die nicht verstehen konnte, dass man sich Mühe geben musste, um diese Köstlichkeiten unter die Leute zu bringen.

»Schokolade war das erste Nahrungsmittel, das der Mensch nicht zum Überleben, sondern ausschließlich zu seinem Genuss verzehrte. Deshalb musste dafür ein Markt geschaffen werden. Insofern war die Schokolade nicht nur ein Produkt der Lebensmittelkunst, sondern hat auch einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Grafik- und Werbeindustrie in ihren Pionierjahren.«

Louise war besonders fasziniert von den pastellfarbenen Zeichnungen auf dem Einwickelpapier der Swiss Chocolatiers, hinter denen sich die Emmentaler Backwaren aus Biglen verbargen. Auf dem elfenbeinernen Grund deutete nur ein dunkelbrauner Ausriss auf Schokolade hin. Das Zentrum der Botschaft beanspruchten die Inhaltstoffe, Malven-, Linden- und Hibiskusblüten, Zimtstangen, eine aufgeschnittene Orange, Hagebutten oder Sonnenblumen.

Während die drei wieder nach unten stiegen, immer voran der hüpfende Zylinder auf F. K. Swiss’ Kopf, wechselte das Licht, als ob die Sonnenscheibe stündlich einen Tagesgang zurücklegen würde. Sie standen vor einer Anzahl Sperrholzboxen, jeweils containergroß, außen bemalt wie eine angebissene Reihe Tafelschokolade. Als Orientierungshilfe diente eine rote Leuchtspur auf dem Boden. Die Ausstellung begann in der ersten Box mit Videosequenzen über Anbau, Veredelung und Handel von Kakao, gedreht im Auftrag der Blackbox-Filmproduktion von Sabina Schneiter, die sich eben erst vom Fiasko der Neuverfilmung der Burgunderkriege erholt hatte.

In der zweiten Schachtel hingen Schokoladenplätzchen und -tafeln in allen möglichen Formen an Silberschnüren von der Decke. Louise begeisterte sich für eine Platte mit Löchern in der Form eines Emmentaler Käses.

»Das ist der Inhalt der Verpackung, die dir bereits dort oben aufgefallen ist«, sagte Swiss.

»Schmeckt sie auch so gut, wie sie aussieht?«, wollte die neue Leiterin von Bauch & Kopf wissen, der Bar, Galerie und Weinhandlung, die in den Räumlichkeiten von Heinrich Müller auch die Detektei Müller & Himmel beherbergte.

»Ich mag die zarten Düfte«, sagte der Künstler, »am liebsten die von der Milchschokolade.«

»Geht mir genauso«, seufzte Louise.

Dann folgte eine Installation von Liliane Zurbuchen, die für einmal die zarte Seite ihres Wesens wirken ließ. In frei im Raum schwebenden Seifenblasenstrukturen erzählte sie die Geschichte der Schokolade. Darauf lernte man die Geheimnisse ihrer Herstellung hinter den Türchen eines herbstlichen, verfrühten Adventskalenders kennen.

Ganz aus der Reihe tanzte unter einem matterhornförmigen Gebilde der Pavillon, in dem über Aufstieg und Niedergang der Schokoladenindustrie in Bern berichtet wurde. Er ahmte die Toblerone nach, die bekannteste und die letzte in der Stadt produzierte Spezialität. 1868 gründete ein Appenzeller namens Johann Jakob Tobler in Bern sein erstes Süßwarengeschäft, dem 1898 die ›Fabrique de Chocolat Berne, Tobler & Cie.‹ folgte. 1908 wurde die Toblerone entwickelt, die Honig-Mandel-Nougat-Milchschokolade, deren süßlicher Geruch Müllers Studentenjahre prägte, denn er wohnte jahrelang in der Nähe der Fabrik.

Rodolphe Lindt wiederum war in Bern geboren und gründete seine Manufaktur 1879 im Mattequartier an der Aare. Im Dezember desselben Jahres gelang ihm mit der Erfindung der Conchiermaschine eine deutliche Qualitätsverbesserung der Milchschokolade. 20Jahre später allerdings wechselten Firma und Patente an die Chocolat Sprüngli, und die Berner Fabrik wurde 1905 liquidiert.

Camille Bloch, ein weiterer Berner, ließ sich von der Chocolat Tobler zum Schokoladehändler ausbilden und gründete 1929 in Bern seine eigene Fabrik, die allerdings bereits 1935 ins bernjurassische Courtelary abwanderte, wo 1942 in Zeiten des Kakaomangels eine Spezialität mit Haselnussmasse erfunden wurde: der Schokoriegel namens ›Ragusa‹. Und schließlich gab es noch die Wander AG, Erfinderin der Ovomaltine, ebenfalls im Markt mit Trinkschokolade, die nach Neuenegg ausgelagert worden war. Seit 1931 existiert eine Confiserie Gysi, die sich in Bern-Bümpliz zu einem Spezialitätenschokohersteller mauserte und Pralinen und Likörstängeli produzierte. Und die Confiserie Tschirren war mit ihren Anlagen nach Belp gezogen und brillierte mit feinen Truffes.

Endlich begann der Teil, auf den sie alle ungeduldig gewartet hatten: die Degustation. Drei hintereinandergekoppelte Boxen waren dazu ausersehen. Man begab sich in einen Käfig hinein, war hinter Maschendrahtzaun eingesperrt wie eine Ratte im Tierversuchslabor. Auf Augenhöhe waren mehrere Tasten in die Wand eingepasst. Über der Taste wartete ein Bildschirm auf seinen Einsatz. Je nachdem, welchen Knopf man drückte, welche Reihenfolge man erwischte, öffnete sich ein Fensterchen, spie ein Täfelchen Schokolade aus, verströmte einen mehr oder weniger betörenden Duft, gab eine Kapsel mit Aroma frei oder warf ein zusammengeknülltes Stanniolpapier auf den Betrachter. Das galt als Ende des Abenteuers. Wer das eine oder andere Stück der Köstlichkeit erwischt hatte, durfte sich glücklich schätzen. Ansonsten ging das Spiel in der nächsten Kabine von vorn los.

Auf der Bühne im vorderen Teil des Lokals verdeckte ein halb zugezogener Vorhang ein stählernes Ungetüm.

»Meine Conchiermaschine«, sagte F. K. Swiss stolz und zeigte auf das Gerät aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Von unten sah man nur den muschelförmigen Unterbau, in dem früher die Masse aus Kakaobutter, Zucker und Milchpulver bis zu drei Tage lang von einer mühlsteingroßen Walze erwärmt und in immer feinere Teilchen zertrümmert worden war.

»Erst durch diesen Vorgang, das Conchieren, erhält die Schokolade den einzigartigen Schmelz.«

»Ich wünsche mir so eine Maschine zu Weihnachten«, bettelte Louise.

Inzwischen waren sie zum Gerät hochgestiegen. Louise­ zeigte verdattert auf die Reibe. Innen rotierte keine Walze, sondern acht an einer Achse befestigte Schuhe stampften rhythmisch durch den Trog. In einer Schale neben dem Apparat lagen Murmeln, von denen Swiss einige in die Hand nahm. Er gab Heinrich und Louise je eine davon. Aufgemalt waren die Köpfe bekannter Politiker.

Swiss warf die Murmeln in den Bottich. Fasziniert beobachteten die drei, wie die Bilder der Promis langsam von den sich drehenden Schuhen zerstampft und endlich sorgfältig zermahlen wurden, bis sie zu glitzerndem Staub zerfielen, der sich mit dem vielen Staub mischte, der bereits den Boden bedeckte.

»Eine Politikerreibe«, staunte Louise.

»Hier werden die Gedanken pulverisiert und vermischt. Am Ende der Ausstellung gießen wir sie in Plastiksprengstoff ein und bringen sie auf dem Bundesplatz zur Explosion.«

»Sprengstoff vor dem Bundeshaus? Wie viele Jahre stehen darauf?«, wunderte sich Heinrich Müller.

In diese Fragestellung hinein quäkte das Handy des Detektivs.

»Stell den Frosch ab«, reagierte Louise unwirsch.

Heinrich jedoch lauschte dem Redefluss, den er nur selten unterbrach. »Ob ich mich mit Wildschweinen auskenne?« Er zwinkerte Louise zu. Dann wurde er bleich. Seine Augenbrauen zuckten. Die Lippen wurden schmal.

»Was ist denn los?«, wollte Louise wissen.

»Ein Toter im Tierpark«, sagte Müller, nachdem er das Handy zugeklappt hatte.

»Mord?«, fragte F. K. Swiss.

»Sieht danach aus.«