Donata Rigg

Die Sprache der Fische

Ein Nachruf

Am Ende haben wir sie nur noch herumgehievt. Wir – meine Mutter bzw. meine Schwester bzw. meine Tante bzw. meine Cousine – haben sie vom Bett in der Stube auf den Stuhl gehoben, dass sie sich entleeren könne. Wir – mein Großvater bzw. mein Vater – haben uns belämmern lassen vom schlechten Rücken, den wir uns dabei zugezogen haben, und es war richtig so, denke ich im Nachhinein, dass wir – ich bzw. die Küche bzw. der See – uns da rausgehalten haben und sie unsere Anwesenheit aus der Distanz haben spüren lassen. Aber ich bzw. ich für meinen Teil bzw. ich als ihre Enkelin konnte nicht glauben, dass es dieses Mal, also dieses eine Mal, das es nur einmal gibt, nun wirklich so weit sein sollte. Ich hatte es ihr zugetraut, dass sie sogar ihrem eigenen Tod ein Schnippchen schlagen würde, so wie sie es die x-Male zuvor getan hatte.

Ich weiß bis heute nicht, wen sie gemeint hat an diesem Abend, als ich in der Küche ihres Hauses gesessen habe. Ganz eindeutig ist es ihr Haus gewesen und nur ihres, in dem ich da in der Küche gesessen habe, mit einem Handtuch um den Kopf, weil ich ganz notwendig noch hatte duschen wollen, während sich die anderen ins Bett verabschiedet hatten, und auf die Wanduhr mit den römischen Zahlen gestarrt habe, auf die Wanduhr, die viertel drei angezeigt hat, obwohl es erst fünf nach gewesen ist. Mein Lebtag ist diese Uhr zehn Minuten vorgegangen, denke ich jetzt, und: In dieser Nacht hat meine Großmutter um Viertel nach zwei nach einem Mann namens Vater gerufen. Ich bin aufgestanden, über den Flur gegangen und auf der Schwelle zur Stube, in der sie – wir bzw. die Familie bzw. der Pflegedienst – ihr das Bett gerichtet hatten, stehen geblieben.
Vater, hat sie gerufen, und ich habe dann ihre ausgestreckte Hand genommen und sie gefragt: »Was meinst du?« Seitdem ich weiß, woher ich komme, habe ich mich dagegen gewehrt, das Leben meiner Großmutter als eines von den wunschlos unglücklichen zu betrachten, als eines, das gelebt worden ist, weil man geboren ist, als eines, das gelebt worden ist, weil man eine Fischerstochter ist, das gelebt worden ist, weil der Krieg überstanden werden will, als eines, das gelebt worden ist, weil sich in den Besatzer verliebt werden muss, das gelebt worden ist, weil man die Liebe gehen lassen muss, einen anderen heiratet, von dem man glaubt, dass man ihn liebt, das gelebt worden ist, weil Kinder geboren werden wollen, das gelebt worden ist, weil Fische ausgenommen werden und die Töchter aufgezogen werden müssen, dem Mann Petri Heil gewünscht, der Pfarrer verflucht, die kleine Schwester versorgt und auf die CSU geschimpft werden muss.
Es ist nicht meine Sache, das zu beurteilen, denke ich im Nachhinein, aber ich weiß bis heute nicht, wen sie gemeint hat in dieser Nacht, als ich an ihrer Bettkante gesessen habe und sie mir das Handtuch vom Kopf geschnappt und gerufen hat: »Vater!« Ich habe sie gefragt: »Wen meinst du?«, und sie hat nicht geantwortet. Ich habe sie gefragt: »Meinst du deinen Vater?«, und sie hat mir ins Haar gegriffen. Ich habe gefragt: »Oder meinst du deinen Mann?«, und sie hat den Kopf geschüttelt. Ich habe gefragt: »Soll ich ihn wecken?«, aber sie hat mir fasziniert über die Armhaut gestrichen und gesagt: »Vater.«
Ich habe das Vorhaus aufgesperrt und bin zum See hinuntergegangen. Ich habe mich in unseren Kahn gesetzt und mir eine Zigarette angezündet, und als mir, wie ich so gesessen habe, die Fahrten auf den See einfielen, die ich früher erlebt hatte, habe ich gedacht: Sie meint ihren Vater. Sie liegt im Sterben und will ihren Vater sprechen. Sie möchte denjenigen sprechen, der ihr, seinerseits auf dem Totenbett, das Versprechen abgerungen hat, das hier alles fortzuführen. Deswegen stirbt sie in dem Haus, in dem sie geboren worden ist. Deswegen spüre ich, dass dieses Haus ihres ist. Eindeutig ihres.
Ich glaube nicht, dass sie vom Leben betrogen worden ist, denke ich jetzt, aber zu dem Zeitpunkt, als sie nur noch gehievt werden konnte und schon wie ein junger Vogel im Bett gelegen ist, hat sie nach einem Mann namens Vater gerufen, und es hätte in gleichem Maße ihr Ehemann, der Vater meiner Mutter oder mein Großvater gemeint sein können, wie es auch ihr eigener Vater bzw. der Mann, der ihr vom späten Eintritt in die NSDAP abgeraten hatte, oder der Großvater meiner Mutter hätte sein können. Zeit ihres Lebens hat sie zu meinem Großvater »Vater« gesagt, und ich erinnere mich, dass ich mir das habe erklären lassen müssen, als ich noch nicht wusste, woher ich komme, und noch jede Sommerferien in den Eimern mit Fischinnereien gewühlt habe, die Großmutter in der Fischküche gestanden und, bereits mit Rheumafingern, die Tiere geschuppt hat, von denen ich wusste, dass sie Renken geheißen haben. Noch in derselben Nacht habe ich eine andere Variante durchgespielt, nachdem ich beschlossen hatte, mich zurück in die Küche zu setzen und die Tür zu ihrer Stube geschlossen zu halten, weil mich ihr Mauserzustand, der keiner gewesen ist, beelendet hat: Sie zeigt mit ihrem Ausruf »Vater!« die Sehnsucht nach Trost, Geborgenheit, Heimat und Liebe an. Sie meint mit »Vater« keine konkrete Person, und wenn sie doch einen Menschen meinen sollte, dann ist es gewiss weder ihr Vater bzw. der Mann, der schon in den Dreißigerjahren viel gelesen hat, noch ihr Ehemann bzw. der ehemalige Polizist bzw. der Mann, der in den Fünfzigern Lex Barker ähnlich sah. Wenn sie doch an eine Person denken sollte, wenn sie »Vater« ruft, ist es diejenige, mit der sie das Stillen dieser Sehnsucht verbindet. Es muss Roy sein, der Amerikaner, bzw. der Mann vor meinem Großvater bzw. der Mann, der sie immerzu Country hat hören lassen, bzw. der Mann, der sie ihr Leben lang an den »guten Ami« hat glauben lassen, bzw. der Mann, dem sie im Sommer 1945 ein Ruderboot vermietet hat, nachdem ihr Bruder noch im Mai auf dem Balkan gefallen war.
Ich habe den Blick zur Wanduhr mit den römischen Zahlen gehoben und sie hat vier Uhr angezeigt, genauer gesagt, zehn vor vier, und ich habe gedacht: Geh schlafen. Und als ich gerade die Treppen in den ersten Stock hinaufsteige, kommt mir meine Mutter entgegen und sagt, sie habe was gehört, sie werde mal nachsehen.
Das ist eines der letzten Male gewesen, dass sie sie gehoben hat, glaube ich jetzt, von Bett zu Stuhl, damit sie sich entleeren könne, und meiner Mutter ist es für lange ins Knie geschossen. Warum ich mir Gedanken mache über ihren Ausruf, denke ich jetzt. Freilich, es ist das Letzte, was ich von ihr habe, denn dann ist sie bald gestorben, ein paar Tage darauf. Von einer Ratte hat sie noch geredet an ihrem letzten Abend, die wir bzw. diejenigen vor Ort dann auch gefunden haben, tot, in einer Holzkiste. Vielleicht hat sie schlicht den lieben Gott gemeint, gläubig ist sie ja gewesen, obwohl sie nicht in die Kirche gegangen ist. Aber als wir bzw. die anderen sie dann nicht mehr hieven mussten und ich mir nicht mehr aussuchen konnte, ob ich Distanz halte oder nicht, als ich zwar wusste, woher ich komme, doch jegliche Ahnung davon, die ich einmal gehabt hatte, wo dies alles hinführen könnte, zu einem nicht einmal blassen Schimmer entrückt ist, da bin ich wütend auf sie geworden, weil sie sich in dieser Nacht so unklar ausgedrückt hat, weil sie A gesagt und B gemeint hat. Sie hat das öfter gemacht, denke ich jetzt. Sie sagte: »Magst du etwas essen?«, und meinte »Bitte, iss!«; sie sagte: »Es gibt Ostwind.«, und meinte: »Der See ist kalt.«; sie sagte: »Ist dir kalt?«, und meinte: »Bitte mach den Ofen an.« Und ich erinnere mich, wie ich sie darauf angesprochen habe, ich habe gefragt, warum sie sich hinter den Worten verstecke. Aber ich habe mich immer dagegen gewehrt, dass sie betrogen worden sein könnte, und ich bekomme es mit der Angst zu tun, ob sie jemals in einer wirklichen Wirklichkeit gelebt hat oder nur in Paradoxa. Doch dann denke ich zugleich: Sie hat ein Handwerk ausgeübt, sie ist verheiratet gewesen mit einem guten Mann, sie hat zwei Töchter bekommen und die eine davon mich als Tochter, dann kann es ja so schlimm nicht gewesen sein. Sie hat sinnvoll gelebt, auch wenn sie oft A gesagt und B gemeint hat, auch wenn sie in dieser Nacht »Vater!« gerufen und mich zurückgelassen hat mit einem Geheimnis, das, wenn man ihr nichts unterstellen will, zu lüften unmöglich ist. Und dennoch werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Ausruf das Substrat ihres Lebens ist, dass in diesem Wort »Vater« die Quintessenz dessen steckt, was ich heute als das Zurückziehen hinter die Wörter bezeichne, was bestenfalls als fantasiereich gedeutet werden kann, im Normalfall doppeldeutig verstanden, wenn es schlecht läuft, als verlogen gesehen wird. Und ich glaube, dass meine Großmutter sich ein Leben lang auf diese Doppelbotschaften verlassen und selbst die Sätze der anderen in dieser Art übersetzt hat. Wenn man sagte: »Es liegt ein schönes Tuch auf dem Küchentisch.«, hat sie geantwortet: »Es ist nicht teuer gewesen.« Und wenn man sagte: »Ich habe Durst.«, hat sie geantwortet: »Die Wurst ist im Kühlschrank.« Dies hat schon früh dazu geführt, so denke ich jetzt, dass die Wanduhr mit den römischen Zahlen zehn Minuten vorgegangen ist – auch sie hat diese Verrückung gespürt, die meine Großmutter mit der Sprache veranstaltet hat, und als ich nun, ein gutes Jahr nach ihrem Tod, zu dem Schluss komme, dass sie also betrogen worden ist, meine Großmutter bzw. die Fischerin vom Ammersee bzw. die Mutter von zwei Töchtern bzw. die Frau, die mich schwer enttäuscht hat, indem sie schließlich doch gestorben ist, fällt es mir wieder ein: Es ist bei einem Frühstück gewesen in ihrem Haus, als ich, kein Kind mehr, sie gefragt habe, warum sie sich hinter den Worten verstecke, und sie hat mir geantwortet, ich bin mir sicher, das sie das gesagt hat: »Herzilein, dass ist die Sprache der Fische.«

Sibylle Sterzik

Gott, der Supermarktdetektiv

Ohne Gott wäre sie längst unter den Rädern. Wo man das Gras von unten wachsen hört. Sich nichts mehr denken muss, Schmerz sich wie Nichts anfühlt, keine Lügen mehr in den Ohren kratzen. Als ihr Mann im guten Anzug wegging und nachts wegblieb, um mit der blonden Frau aus dem Prenzlauer Berg fürs Examen zu büffeln, wie er vorgab, starb sie innerlich. Sie fiel und fiel. Halt fand sie nicht. Ab und zu trank sie ein Glas Wein, vergaß für Minuten, dass ihre Ehe im »freien Fall« schneller davonraste, als die neuen schicken Autos der früheren Trabi-Besitzer aus dem Osten auf dem Highway to West.
Irgendwas stoppte den Abwärtstrend. War es das Kind, das sie brauchte und vor dem Einschlafen im Kinderbett stand, an den Gitterstäben rüttelte, als könnte es so den Papa zurückholen? Trieb sie Pflichtgefühl, die Examensarbeit zu Ende zu schreiben? Eingebläut von Vater und Mutter, die nie Urlaub machten, nie die Zeit vergaßen, abends niemals eng umschlungen auf einer Gartenbank in der untergehenden Sonne saßen, so als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt, als den lauen Abendwind zu spüren und sich bei den Händen zu halten, auch wenn dieselben Hände am nächsten Morgen wieder in der Gartenerde wühlen mussten, damit die Nachbarn beim Vorbeigehen nichts am picobello großreinegemachten Pfarrgarten auszusetzen hatten. Was war es, das den freien Fall stoppte, wie eine Leitplanke, die verhindert, dass man in den Klauen des am Straßenrand Abgase schnüffelnden Wildschweines landet und dieses so erschreckt, dass es in Todesangst womöglich eine Kostprobe von dem angstschweißgebadeten Verkehrsteilnehmer aus dem gar nicht mehr so schicken Auto nimmt?
Sie nannte es später Gott. Er flüsterte nur. Keine Moralpredigt, kein Parteiauftrag, kein Sermon von den guten Werken. Ehrlich gesagt, hat sie keine Ahnung mehr, was er geflüstert hat. Etwas lauter hätte er schon sprechen können. Aber irgendwas ist doch passiert. Dass sie sich plötzlich sagte: Mach weiter. Lass die Flasche. Nimm dein Kind. Schreib die Arbeit. Guck dir den Sonnenuntergang an und lass den Garten liegen. Vergiss den Kerl.
Ohne Gott wäre sie längst unter den Rädern, sagte sie oft. Mehr zu sich als zu anderen. Die hätten nur den Kopf geschüttelt – und gedacht: Irgendeinen Schaden hat sie ja doch abgekriegt. Wieso soll das Gott gewesen sein? Den gibt es nicht. Das alles hat sie doch ganz allein geschafft. Sie wusste es besser. Aus welcher Rippe hätte sie sich die Steigeisen schneiden sollen, die sie jetzt aus der eiskalten Gletscherspalte wieder hinauf zu der fast frühlingshaften Bergwiese steigen ließen, auf der die Almkühe muhten, als hätte ihnen der Bauer ein Date mit den Bullen auf der Nachbaralm versprochen? Aber sie behielt es für sich. Und wie hätte sie es erklären sollen, dass es weder der gesunde Menschenverstand, weder die Lehren aus dem Kommunistischen Manifest noch Jörg Kachelmanns positive Wetterprognose waren, die sie auf den richtigen Trampelpfad lenkten, auf dem sie nun wie ein von der Bergwacht trainierter Rettungshund den Aufstieg suchte nach dem Steilflug in das Bodenlose? Schließlich hatte alles seine Vorgeschichte. Gott kannte sie schon etwas länger. Aus ihrem Kinderzimmer. Dort wohnte er. Manchmal auch in der Kirche. Aber nur sonntags, wenn Vater auf der Kanzel stand und so freundlich mit den Leuten sprach wie mit ihr nie, auch nicht mit ihren Geschwistern oder ihrer Mutter. Werktags schwebte Gott zwischen Zimmer- und Bettdecke. Was auch nicht stimmt, denn er hatte keinen Körper, nur eine Stimme. So als wäre das ganze Kinderzimmer sein Leib, aber nicht nur das, einfach alles, was da war, die Küche, das Schlafzimmer der Eltern, das zu betreten den Mädchen wie das Aufschließen eines verbotenen Schreins vorkam, das kleine Zimmer, in dem der Vater die Schläge verabreichte mit dem Riemen, den er immer von dem Haken an der Speisekammertür nahm, das Amtszimmer, in dem der Vater die Töchter nötigte, mit ihrem Körper eine Brücke zu formen, die er von Fotos junger Frauen in Illustrierten kannte und die mehr freigaben, als sie verbargen, das Pfarrhaus mit dem unheimlichen dunklen Flur, der große Garten mit Vaters Kirschbaum, den er gepflanzt hatte, mit den Beeten, auf die keiner treten durfte, weil es sonst was setzte, die kleine Dreieckswiese mit dem angeleinten Pferd, das sie stundenlang streicheln konnte, wenn sie sich traute, ihr Lieblingsplatz außerhalb des Pfarrgartens, auf dem sie sich in eine andere Welt träumte mit anderen Eltern und Pferden, die sie überallhin trugen, die Luft zum Atmen, das Abendrot, das Schlagen der Kirchturmuhr, das Lachen der Verliebten, das Stöhnen der Sterbenden, einfach alles, worin Menschen leben, war Gott.
Aber vor allem lebte er bei ihr im Kinderzimmer. Das ging natürlich gar nicht. Wie sollte er da reinpassen. Er ist doch größer als alles. Aber für sie war er da. Oben im Doppelstockbett, wo sie schlief, war sie ihm am nächsten. Die große Schwester im Doppelstockbett unten, Vaters Liebling, und die kleine im Bett gegenüber, Mutters Liebling, waren viel weiter weg von Gott als sie. So hatte sie, niemandes Liebling, wenigstens ihn. Und so ist es bis heute geblieben. Äußerlich natürlich. Es kann ja keiner einem ins Herz sehen. Sie ist Pastorin geworden. Die Schwestern gehen nur noch selten in die Kirche. Aber vielleicht lebt ja Gott in ihren Wohnzimmern. Denn in der Kirche scheint er auch nur noch selten zu sein. Und wer ist ihm dann eigentlich näher?
Sie führte im Doppelstockbett unzählige Gespräche mit ihm. Sie bat, sie flehte, sie versprach, sich zu bessern, sie weinte und handelte sogar mit ihm. So klein, wie sie war, gelobte sie, ins Kloster zu gehen, wenn niemand bemerken würde, dass sie, aus der Schublade im Lehrertisch einen Anstecker mit dem Emblem der X. Weltfestspiele in Berlin, Hauptstadt der DDR, genommen hatte. Aus dem Lehrertisch, dem Allerheiligsten der sozialistischen Polytechnischen Oberschule. Sie, die Klassenbeste. Sie, die Pfarrerstochter. Unglaublich. Du sollst doch nicht stehlen. Das nahm sie wörtlich. Wörtlicher als ihr Kinderzimmerkumpel von ganz oben. Der drückte nämlich einfach ein Auge zu. Niemand bemerkte die garstige Straftat, für die sie sich selbst mehr verurteilte, als jeder andere es getan hätte. Ausgenommen vielleicht ihr Vater. Heimlich zog sie die Schublade auf, legte den runden Plastikanstecker wieder zurück und schlich sich auf ihren Platz. Nie wieder, schwor sie sich.
Erst als sie vierzig war, löste sich der Bann. Sie klaute eine Illustrierte im Supermarkt. Um zu testen, ob sie sich traut oder ob sie noch immer glaubt, dass Gott nichts anderes zu tun hätte, als Detektiv zu spielen und Mädels im Supermarkt aufzulauern, die Zeitungen klauen. Wem war sie da eigentlich untertan – dem Gottesbild des Vaters oder dem, das sie dafür hielt, einem Gott, der sie mit großen strafenden Augen ständig unter Androhung von Strafe in Schach hielt, ihr aufzwang, auf Schritt und Fehltritt seine Hausordnung auf Erden rauf und runter zu zelebrieren, statt herauszufinden, wer sie selbst war und was sie wollte, statt auszuprobieren, wie viel Leben und welche Verrücktheiten sie in sich barg; Verrücktheiten, die herauswollten und sie hätten lebendig sein lassen wie das Pferd auf der Dreieckswiese, das, hätte es jemand von der Leine gelassen und es mit einem frechen Klaps ermutigt, auf und davon zu galoppieren, sich möglicherweise am Ortsausgangsschild beim Versuch, den Dorfnamen zu entziffern, den Kopf gestoßen, kurz gewiehert und geschnaubt hätte, aber dennoch glücklich davon gesprungen wäre. Oder war das ihr eigenes Gottesbild? Woher kam es? Sie erlaubte sich, so stolz auf den Zeitungsklau zu sein, als hätte sie gerade die Auszeichnung als bester Lehrling des Monats im sozialistischen Kollektiv erhalten. Und einen Präsentkorb mit dicken Filzstiften und Sekt mit Ananas noch dazu. Ganz ohne FDJ.
Sie fühlte sich Gott am nächsten. Dabei hatte sie keine Ahnung, was die Schwestern mit ihm aushandelten. Unter ihren Bettdecken. Es konnte ja sein, dass er auch mal nach unten stieg. Sozusagen, um Boden unter die Füße zu bekommen. Oder eher, damit sie, die Schwestern, wieder welchen gewannen. Denn Lieblingskind des Vaters zu sein, hatte nicht nur Vorteile. Das begriff sie erst später. Vater hatte die andere Schwester so lieb, dass er ihr Kleider kaufte. Ganz kurze, wo die Schultern und fast die ganzen Beine rausguckten. Und manchmal wollte er, dass sie die auszog. Dann machte er sozusagen einen Handel mit ihr, wie die andere Schwester mit Gott. Die Mutter schickte sie zum Vater. Ohne seine Erlaubnis ging fast gar nichts, außer heimlich. Schon gar nicht samstagabends tanzen gehen. Da war die Disco so weit weg wie der liebe Gott persönlich. Wenn du ins Nachbardorf zum Tanzen gehen willst mit deinem Freund, dann zieh jetzt dein Kleid aus oder deinen Pullover. Am liebsten machte er dann Fotos davon. Zu handeln verstanden in der Familie alle anscheinend ganz gut.
Aber im Doppelstockbett konnte sie glauben, Gott war ganz für sie da. Das hatte wirklich Vorteile: Sie hatte einen mächtigen Verbündeten, den mächtigsten überhaupt. Sogar ihr Vater, dem niemand in der Familie widersprechen durfte, der sonst niemanden über, neben und unter sich anerkannte, nahm ihn ernst. Zumindest am Altar. In seinem Bücherregal waren fast nur Bücher über ihren großen Verbündeten. Und noch was sprach dafür, dass Gott so bedeutsam war wie die Unantastbarkeit des Lehrertisches in der sozialistischen Oberschule: Vater kam immer pünktlich, wenn er Gottesdienst hielt, obwohl er es sonst mit der Zeit nicht so genau nahm. Das musste etwas heißen. Denn wenn Mutter ihn zum Essen rief, machte er sich nie was daraus. Und das war doch die Frau, mit der er das Schlafzimmer teilte, das den Kindern wie ein Heiligtum vorkam. Aber das mag daran gelegen haben, dass sie und ihre Schwestern nicht die leiseste Ahnung hatten, was Vater und Mutter, denen scheinbar ihre Eltern auch nicht beigebracht hatten, dass man geradewegs in den Himmel befördert wird, also gleich ins Nachbarzimmer von Gott, genau taten, wenn Mann und Frau sich küssen und vergessen, wer in welches Bett gehört – also die Schwestern konnten sich nicht vorstellen, dass ihre Eltern dort etwas anderes machten, als die Gläser Apfelgelee auf dem großen Wäscheschrank zu zählen, die am Wochenende die ganze Familie (außer Vater, versteht sich, der bereitete die Predigt vor, die er nachher aus dem Stegreif hielt) eingeweckt hatte, oder die mit den kleinen blauen Flecken auf dem goldenen Glibber auszusortieren.
Der mächtige Verbündete sah alles, schob und lenkte alles und war größer als ihr Vater. Er sah sie, wenn sie weinte oder lachte, nahm sich Zeit, hörte ihr zu und zog nicht den Riemen vom Haken oder drohte damit, wenn sie seine Spielregeln übertrat. Wieder und wieder drückte er ein Auge zu. Es musste ihm schon ganz wehgetan haben vor lauter Zukneifen. Sie merkte das daran, dass sie einfach immer leer ausging, wenn sie schwere Strafen erwartete.
Einmal hatte sie Hausarrest, ging aber trotzdem baden. Als hätte der liebe Gott wieder wie ein Detektiv hinter einem Baum gestanden, wer weiß, wie groß der gewesen sein muss, denn so ein Gott kann sich ja nicht hinter einer schmächtigen kleinen Birke verstecken, wo er mit den Kniekehlen gerade mal bis zur Krone reicht, und als hätte er ihr noch – gerechte Strafe muss sein – einen kleinen Schubs gegeben, ist sie mit der Ferse in die Scherbe hineingetreten. Das Blut quoll heraus und schon damals hat sie kein Blut sehen können und war einer Ohnmacht nahe. Aber dann hat es dem Gott anscheinend leid getan und sie fiel nicht um, landete nicht mit dem Kopf auf einem Stein, der da gerade aus der Erde guckte. Wenn das kein Zukneifen vom Feinsten ist. Er verriet sie nicht, auch nicht, als sie zu Hause das Humpeln verstecken und die blutigen Strümpfe beiseiteschaffen musste. Die Eltern bekamen nichts mit von dem verbotenen Badeausflug. Sie starb auch nicht an einer Blutvergiftung, wie sie befürchtete. Das stärkte ihren geheimen Bund. Sie hatte von nun an einen richtigen Freund – oder war es ein richtiger Vater? Er war immer irgendwie in der Nähe, auch wenn in ihrem Dorf die Bäume gar nicht so groß waren, aber er fand jedes Mal etwas zum Verstecken. Denn gesehen hat sie ihn nie. Das war aber auch nicht so wichtig. Hauptsache, sie spürte, dass er da war. Vermutlich daran, dass sie die Kerle vergaß, das Kind allein großzog und die Flasche immer wieder zustöpselte. Er war immer da, näher als ihr Vater. Gott lebte mit in ihrem Kinderzimmer. Vater nicht.
Das Kind wurde erwachsen, aber Scherben liegen immer noch genug herum, in die sie hineintreten kann. Doch er ist dann immer zur Stelle, so als hätte er nur diese eine Verbündete, der er die Scherben aus dem Weg räumen oder etwas einflüstern muss, das sich so anhört wie: Mach weiter. Lass die Flasche. Nimm dein Kind. Schreib die Examensarbeit. Guck dir den Sonnenuntergang an und lass den Garten liegen. Vergiss den Kerl.

Matthias Vernaldi

Spiegeleien

Mein derzeitiges Lieblingsbibelwort ist 1. Korinther 13, Vers 12: »Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich's stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.«
Auf einem Feld, wo es darum geht, ob religiöse Konzepte tragen und Gültigkeit besitzen, wird gern mit absoluten Wahrheiten gearbeitet. Wir Christen haben darin eine über Jahrhunderte geschulte bluttriefende Professionalität erworben. Auch in Zeiten der Demokratie, Toleranz und Multikulturalität fällt es den Frommen noch schwer zu gewärtigen, dass alles Mühen um Tugend und Gottgefälligkeit, auch alle Hingabe und Kontemplation, alle Opfer und Exerzitien lediglich ein dunkles Wort sein können, mit dem wir durch den Spiegel sehen. Wir Menschen spiegeln uns in Gott. Oder er sich in uns? Auch die letzte und höchste Erkenntnis wird lediglich Spiegelung sein: Ich erkenne, gleichwie ich erkannt bin. Es kommt also immer darauf an, wer in den Spiegel hineinschaut. Deshalb rede ich, auch wenn es im Folgenden um Konzepte von allgemeiner Tragweite geht, von mir.
Der eifernde, zornige Gott kam im Spiegel meiner Kindheit nur am Rande vor. Und auch dabei bezog ich Strafen und Verdammnis nicht auf mich. Ich durfte vielmehr überall seine freundliche Zuwendung sehen. Geboren wurde ich Ende der 50er-Jahre in der DDR. Meine Eltern waren gerade einmal 22 Jahre alt – junge entschiedene Christen inmitten einer atheistisch indoktrinierten Welt. Es stellte sich früh heraus, dass ich nie würde laufen können. Wir wohnten mit den Großeltern zusammen in einem winzigen Reihenhaus im Schatten der Rauchwolken eines Hüttenkombinates. Weder im Dorf noch im Betrieb kannte man das Wort »Behinderung«. Mit Beginn der Schulzeit musste ich in einem staatlichen Heim fern von zu Hause leben. Ich litt sehr unter dem Heimalltag einer Sonderschuleinrichtung der Ulbrichtära.
Die Ärzte, Schwestern und Krankengymnastinnen verfügten über meinen Körper. Er war krumm, schlaff und nahezu bewegungsunfähig, fügte sich nicht den Vorstellungen, wie ein Körper zu sein hatte. So fügte man mir Schmerzen zu. Die Beine wurden durchgedrückt, der Rücken jede Nacht auf hartem Gips gerade gebogen. Und täglich zwängten sie mir ihre Bewegungsmuster auf – beim Anziehen, Heben und Waschen. Wenn es wehtat, war ich zimperlich und ein Jammerlappen. Die Lehrer und Erzieher beanspruchten, mein Denken zu bestimmen. Ihre Vorgaben waren ganz anders als das, was ich bisher von meinen Eltern kannte. Es fühlte sich kalt und brutal an. Gott sollte es nicht geben. An ihn zu glauben, war für sie nicht nur lächerlich, sondern auch irgendwie zersetzend. Es sollte nur gelten, was man leistete. Wer den Anforderungen nicht genügte, musste üben und lernen oder war verloren. Die Hoffnung auf Wunder, auf Gnade oder Jenseitiges war unerwünscht. Solchen Trost sollte man nicht haben.
Dabei war nichts gewisser als Gottes Gegenwart! Meine Eltern konnten nicht bei mir sein. Doch ich wusste, dass Gott mich sah. Er hatte mein Leben in der Hand. Was geschah, kam von ihm. Der Schmerz und die Angst galten weniger als die Liebe. Er bedeutete für mich Annahme, Zuwendung und Geborgenheit. Ohne ihn wäre ich nicht ich.
So gesehen und auch weil ich später noch Theologie studiert habe, erfülle ich ein übliches Klischee. Es ist nichts anderes von mir zu erwarten, als dass ich mich für ein Leben in der Hinwendung zu Gott äußere. Wer hienieden einen trüben und entsagungsvollen Platz zugewiesen bekommt, tröstet sich gern mit Höherem. Ein gläubiger Behinderter mit DDR-Vergangenheit – das passt. So wäre hier dieser Text bereits an seinem Ende und durchweg erbaulich.
Es gibt aber auch Stellen in meiner Biografie, die mich geradezu davon ausschließen, im Chor der Frommen den Einen zu preisen: Ich habe viele Jahre in einer Landkommune gelebt, die alles andere als anständig und bürgerlich war. Später habe ich auf Mittelaltermärkten mit Tarotkarten wahrgesagt. Seit einigen Jahren bin ich dafür bekannt, dass ich Umgang mit Prostituierten pflege. Ein gottgefälliges Leben sieht anders aus. Was ich tue, stößt bei gläubigen Menschen häufig auf harsche Kritik. Besonders schwer haben es meine Eltern damit. Manchmal fürchte ich, sie zweifeln an der Gewissheit meines Heils. Und tatsächlich – den Weg der Gewissheiten habe ich verlassen.

Ich bin schwerbehindert. Meine Muskeln schwinden. So kann ich mich nicht bewegen und bin 24 Stunden am Tag auf Hilfe angewiesen. Einer wie ich lebt, wenn seine Angehörigen nicht in der Lage sind, das hohe Maß an Pflege zu erbringen, üblicherweise in einem Heim. Dort wird er satt und sauber gehalten. Je nach Standard der Einrichtung hat er gelegentlich die Möglichkeit, in die Stadt zu gehen oder Freunde zu besuchen. Beruf, Reisen, Sport, Kultur, Sex kommen in einem solchen Leben maximal in Form einer geschützten Werkstatt oder einer Sitzgymnastikgruppe vor. Wollte er in einer eigenen Wohnung leben, wäre eine Sozialstation für ihn zuständig, die ihm dann das Heim daheim bereitet. Die Dienstzeiten des Personals geben vor, wann er zu Bett gebracht wird, wann er isst, wann er auf die Toilette geht und wie lange seine Geburtstagsparty währt. Ich nutze ein anderes als das übliche Modell der Hilfeerbringung. Es nennt sich »Persönliche Assistenz«. Ich habe Assistenten, die ich selbst ausgesucht habe und die nach meinen Anweisungen arbeiten. Meine Erfordernisse strukturieren ihren Dienst. Zum Beispiel finden Dienstwechsel nur zu Zeiten statt, die in meinen Tagesablauf passen. So bin ich in die Lage versetzt, über Alltag und persönliche Belange in ähnlicher Weise zu verfügen wie meine nichtbehinderten Mitbürger.
Die emanzipatorische Behindertenbewegung der letzten 30 Jahre bezeichnet das als ein selbstbestimmtes Leben. Leute wie ich müssen keinen festen Platz mehr zugewiesen bekommen, den sie als Gezeichnete einzunehmen haben. Doch die Bedeutung, die das Wort »Selbstbestimmung« im Behindertenbereich bekommen hat, deckt sich nicht vollständig mit der allgemeinen. Selbstbestimmung im üblichen Sinne hat sich in der westlichen Gesellschaft als ein Grundsatz des modernen Lebens etabliert. Bisher galt lediglich die Bestimmung. Der Einzelne musste stimmig sein mit dem Ganzen. Das Leben war ihm gegeben, auch die einzelnen Ereignisse fielen ihm zu. Im Konzept der Selbstbestimmung ist alles offen. Wir schaffen uns selbst und sind auch für alles verantwortlich. Überließ man im Mittelalter noch Gott die Apokalypse, müssen wir sie heute mit Emissionen, Kontaminationen und Überbevölkerung selbst hinkriegen. Auf das Leben des Einzelnen bezogen bedeutet das, dass jeder Erfolg und jedes Scheitern bei ihm selbst liegen. Am Ende segnet er nicht das Zeitliche, sondern stirbt an einem Lungenkrebs, den er sich selbst angeraucht hat. Wenn er eine Patientenverfügung hat, schafft er vielleicht eine punktgenaue Landung ins Grab, bevor die Schmerzen, die Umnachtung und die Abhängigkeit von Geräten zu groß werden.
Selbstbestimmung ist eine Illusion, sozusagen eine Spiegelung im schönsten Lichte. Wir sehen durch einen Spiegel – und sehen uns selbst so, wie wir uns wünschen zu sein. Das Leben ist aber nicht identisch damit. Wer den Spiegel ein wenig dreht oder kippt, kann sehen, dass manchem der Cognac so gut schmeckt, dass sein Leben nur noch darauf abzielt, sich diese Substanz zuzuführen. Andere halten Diäten ein und absolvieren ausgedehnte Trainingsprogramme, um gesund zu bleiben. Trotzdem werden sie krank oder erleiden einen Unfall. Die meisten fahren in den Urlaub, weil sie ausspannen wollen, und erleben dabei mehr Stress als in ihrem Alltag. Die Geschichten vom wahren Glück – die große Liebe, der Lottogewinn oder die unverhoffte steile Karriere eines Quereinsteigers – funktionieren nur, weil die Ereignisse nicht geplant, also nicht selbstbestimmt sind. Der Spiegel kann beides zeigen: sowohl, dass alles an uns liegt, als auch, dass wir nichts in der Hand haben. Für mich liegt der Blick durch den »Spiegel in einem dunkeln Wort« auf Gott meist näher als der auf den Menschen, der sich als Herr seiner selbst illuminiert. Ich denke, es ist fast egal, ob wir vermeinen, da Gott zu sehen oder uns selbst. Letztlich können wohl Gott und das Ich nicht getrennt gespiegelt werden.
Ich halte ein Universum der totalen Selbstbestimmung für einen trostlosen Ort. Ohne Gott, den immer Anderen, den Überraschenden, den uns der Kontrolle Beraubenden, wäre es ziemlich kalt und vor allem langweilig. Wahrscheinlich ist er auf die Idee, sich in der Welt zu spiegeln, überhaupt nur gekommen, um dieser Langeweile zu entgehen.
Sich ihm zuzuwenden ist nur möglich im Blick durch den Spiegel. Feste moralische Grundsätze und vorgegebene Lebensmaximen sind Bruchstücke der Erkenntnis. Die Postulierung seiner bedingungslosen und bis in den Tod sich hingebenden Liebe ebenso. Nicht immer fügen sich beide Spiegelscherben zu einem Bild ohne Risse. Nicht immer kommen die, die ihr Leben in kontrollierten Bahnen verlaufen lassen möchten, an ihr Ziel – egal, ob sie sich dabei der Pränataldiagnostik und Patientenverfügung bedienen oder regelmäßiger Gebete und Meditationen; egal, ob sie sorgfältige Karriereplanung betreiben und sich die Brüste vergrößern lassen oder ob sie sich für Arme und Kranke engagieren und ihre Lüste zügeln, um nicht vom Blick auf das Eigentliche abgelenkt zu werden. Nicht immer finden die, die staunend vor der Schönheit der Welt stehen, die sich hingeben in Liebe und Leidenschaft, die rebellieren und sich berauschen, die ersehnte Erfüllung. Gott überrascht uns. Er ist gnädig.

Andreas Krenzke

Abenteuer im Jenseits

Andreas hatte sich den Tod ganz anders vorgestellt. Dass es ein Leben danach gibt, zum Beispiel, hatte er nie geglaubt. Er war ja Atheist. Er hatte erwartet, geruhsam im Grab zu vermodern. Stattdessen dann das: ein Tunnel, mit einem Licht am Ende. Wie im Klischee. Also wirklich! Der Tunnel war in den Siebzigerjahren das letzte Mal gekachelt worden, und zwar in scheußlichen Farben, wie Zahnstein. Außerdem war der Tunnel beschmiert. Obwohl, das war fast schon wieder schön. Riesige Graffitis, politische Parolen und die obligatorischen tags. Andreas musste schmunzeln, als er sich vorstellte, dass alle Hausmeister dieser Welt nach ihrem Tod durch diesen vollgesprayten Tunnel hindurchmussten. Moment mal, dachte er, deutete das nicht darauf hin, dass es der Tunnel zur Hölle war? Er drehte sich um. Am Eingang sah er noch immer, wenn auch unendlich weit entfernt, das viele Blaulicht. Er wusste, er würde es nicht mehr zurück schaffen. »Rückwärts nee – vorwärts okay!«, sagte er sich, und dann malte er das auch mit einem Edding an eine popelfarbene Kachel. Der Tunnel war viel zu ungemütlich, um sich hier lange aufzuhalten. Andreas schritt auf das Licht zu.

Das Licht kam aus einer Art Wartezimmer. Er betrat es durch ein Drehkreuz. Neonröhren unter der Decke, ein Tisch mit Illustrierten und Buntstiften, Stühle, ein Automat für Wartenummern. Außer dem Drehkreuz gab es nur eine Tür. An den Wänden hingen billige Poster von Sakralbauten und ungelenke Kinderzeichnungen. Und ein Rauchen-verboten-Schild. Wahrscheinlich war es wirklich das Wartezimmer zur Hölle. In diesem Moment trat eine Sachbearbeiterin mit Flügeln auf dem Rücken durch die Tür. »Ach, dann kann ich ja gleich Ihre Personalien aufnehmen. Ziehen Sie bitte auch eine Nummer. Es dauert heute bestimmt nicht lange.«
»Bin ich denn der Einzige? Ich meine, es müssen doch total viele gestorben sein. Das ganze Amt ist doch explodiert.« »Das ist doch nicht das einzige Wartezimmer«, sagte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. Sie hatte schlimme Akne. »Aber heute ist tatsächlich nicht viel los. Die Hartz-IV-Empfänger kommen nämlich neuerdings alle direkt in die Hölle. Ach, ich sehe, Sie hatten das auch beantragt; na, da können Sie mal sehen: gut, dass Ihre Akte verloren gegangen ist. Da haben Sie ja richtig Glück gehabt. Stellen Sie sich vor, Ihr Antrag wäre schon bearbeitet worden.«
Er war also nicht in der Hölle. Das war immerhin nur recht und billig, schließlich hatte er ja auch nicht an die Hölle geglaubt. An den Himmel allerdings auch nicht. »Spielt es eigentlich eine Rolle, dass ich Atheist bin?«, fragte er die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. Die seufzte.
»Sagen wir es mal so: Sie haben auch nie an die Lohnarbeit geglaubt und sind trotzdem auf dem Arbeitsamt gelandet. Also, ich rufe Sie dann auf. Bis später.«
Als sie ihn aufrief, blätterte er gerade in der vierten oder fünften Zeitschrift. Sie hieß 72 Virgins und war so eine Art Pin-up-Magazin. Fast alle Bilder waren herausgetrennt.
»Entweder sind es die islamistischen Selbstmordattentäter oder die Feministinnen, irgendeiner macht immer die Bilder raus«, erklärte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln und der Akne. Andreas war empört: »Wieso kommen Selbstmordattentäter in den Himmel?«
»So ist eben deren Religion, da kann man nichts machen.« Die Sachbearbeiterin zuckte mit den Flügeln. Dann schmunzelte sie plötzlich: »Dafür legen wir sie mit den Feministinnen zusammen. Aber kommen Sie, Gott ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.« Er hatte gehofft, wenigstens das würde ihm erspart bleiben. Erst das Jenseits, Himmel und Hölle, und nun auch noch Gott. Der eigene Atheismus, so gut und vernünftig er auch sein mag, ist doch irgendwie problematisch, wenn man Gott gegenübertreten soll.
»Muss das sein?«
»Ja natürlich, das große Gericht, die Abrechnung, das muss doch sein. Freuen Sie sich denn gar nicht darauf?«
Die Sachbearbeiterin mit den Flügeln grinste ihn an. Du Fotze, dachte Andreas. Sie schob ihn resolut durch die Tür. Sie gingen an einem riesigen Glaskasten vorbei, in dem Kleinkinder zwischen Unmengen bunter Plastebälle krabbelten.
»Das ist das Kinderparadies«, sagte die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. »Bei so kleinen Kindern macht ein Gericht ja keinen Sinn. Die kommen gleich hier rein. Natürlich nicht die Hartz-IV-Kinder.«
Andreas erschauderte. Wie mochte wohl die Hölle aussehen? Die Kinderhölle? Bald würde er es herausfinden. Aber das ist eine andere Geschichte.
»So, bitteschön!« Die Sachbearbeiterin öffnete eine hohe gepolsterte Tür und schob ihn hindurch. Da war tatsächlich ein Gerichtssaal. Er kannte Gerichtssäle aus dem Fernsehen. Jeden Nachmittag ein oder zwei Gerichtsshows. Andreas wäre gern Richter geworden. Aber bei der Jobagentur hatte man ihm in dieser Richtung keine Hoffnungen gemacht. Und nun so was! Er war auf einmal wahnsinnig aufgeregt. Alles verschwamm vor seinen Augen. Jemand stützte ihn, setzte ihn hin. Er bekam ein Glas Wasser. Sein Name wurde verlesen. Er trank einen Schluck. Langsam wurde sein Blick wieder klarer. Die Verhandlung war eröffnet.
Gott sah total gut aus. Muskulös, braun gebrannt, coole Sonnenbrille, angesagte Klamotten. Andreas fasste sofort Vertrauen. Auf den Zuschauerbänken, die nur mäßig gefüllt waren, hatten alle Flügel. Überhaupt hatten alle im Saal welche. Sein Anwalt auch. Sie fassten sich gut an.
»Wenn das hier vorbei ist, kriegen Sie auch welche«, raunte ihm sein Anwalt zu. Na gut, jetzt war es raus, er kam in den Himmel, so schlimm konnte es also nicht werden, mit dem Gericht. Warum auch? Er hatte sich doch nie etwas zuschulden kommen lassen. Die erste Zeugin wurde aufgerufen. Es war Frau Simmel, seine alte Lehrerin. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? Jetzt hatte sie Flügel. Gott befragte sie. Ja, Andreas war einmal sitzen geblieben. Ja, sie war immer dagegen gewesen, dass er Abitur machen durfte, weil er nicht drei Jahre zur Armee gehen wollte und seine Eltern nicht in der Partei waren. Gott verlas ein Strafmaß, irgendwas mit Fegefeuer, Andreas verstand vor Schreck nicht, wie lange das Fegefeuer dauern sollte, da sprach Gott ihn an. Er fragte: »Schuldig oder nicht schuldig?«
»Nicht schuldig!« Andreas schrie fast.
»Begnadigt!«, rief Gott.
Die alte Lehrerin begann zu jubeln und tanzte hinaus. Sie schien sich aufrichtig für ihn zu freuen. Dabei hatte sie ihn früher nie leiden können.
Der nächste Zeuge war sein Unteroffizier bei der Armee. Er sah albern aus, mit Flügeln. Er beschrieb Andreas als schlampig und faul. Gott sei Dank sei kein Krieg ausgebrochen, mit solchen Soldaten hätte man ihn kaum gewonnen. Wieder fragte Gott: »Schuldig oder nicht schuldig?«
»Nicht schuldig!«
»Begnadigt!«
Sein Anwalt raunte ihm zu: »Na, Sie sind ja ganz schön … wie sagt man … barmherzig.«
»Was meinen Sie?«
»Na, Sie begnadigen hier einen nach dem anderen.« »Wieso … ich … ich dachte, es geht darum, ob ich schuldig bin.« »Nein! Was? Hat man ihnen nicht die Prozessordnung gegeben? Ach, stimmt, Akne-Gabi, die hat einen Kopf wie ein Sieb.«

Es war nämlich so, dass zu Gericht gesessen wurde über alle Menschen, die Andreas während seines irdischen Daseins geplagt hatten. Es war eben darum gegangen, Frau Simmel zu verurteilen. Er war von Gott gefragt worden: »Schuldig oder nicht schuldig?« Damit war gar nicht er gemeint gewesen, sondern seine alte Lehrerin. Und er hatte sie begnadigt. Deshalb hatte sie sich so gefreut. Er hatte auch dieses Riesenarschloch von Unteroffizier begnadigt. Oh Mann!
Aber es gab ja noch andere Angeklagte. Immer neue wurden aufgerufen. In zufälliger Reihenfolge, wie es schien. Da war zum Beispiel seine Ex.
»Schuldig oder nicht schuldig?«
»Schuldig!«
Ab da sprach er alle schuldig. Alle. Selbst Reimo Hempel, obwohl er eigentlich schon längst vergessen hatte, dass der ihm im Schulhort zwei Spielzeugautos geklaut hatte.
Nachdem die Verhandlung geschlossen worden war, führte ihn Akne-Gabi, die Sachbearbeiterin, zur Flügelanprobe. Es war herrlich, wunderbar, unbeschreiblich, so mit den Flügeln. Er drehte ein paar Runden unter der Aufsicht von Akne-Gabi. Es war wahnsinnig geil. Zum ersten Mal seit seinem Tod war Andreas richtig glücklich. Allerdings … oh nein … ihm kam ein furchtbarer Gedanke. Ein wirklich schrecklicher Gedanke. »Und was ist mit mir?«, fragte er die Sachbearbeiterin mit den Flügeln. »Werden nicht andere kommen, andere Verstorbene, die mich gekannt haben, und werden die nicht mich zum Fegefeuer verurteilen? So wie ich Reimo Hempel?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Sie waren doch immer artig.«

Andreas atmete erleichtert auf. Sie hatte ja recht. Er war stets gehorsam gewesen, brav und lieb. Obwohl Lehrer und Vorgesetzte ihn getriezt hatten, war sein Leben die pure Ethik gewesen. Das war ihm gar nicht aufgefallen. Auch hatte er nie gewusst, wozu das eigentlich hatte gut sein sollen. Jetzt wusste er es. Ein Glück, dachte er erleichtert, dass ich immer lieb war. Was für ein Glück, dachte er, das habe ich wirklich gut gemacht.

Henryk M. Broder

Woran ich glaube

(Auszug aus der Dankesrede zur Verleihung des
Hildegard-von-Bingen-Preises 2008)

In meiner Jugend war ich ein bekennender Atheist. Ich las Voltaire, Panizza, Spinoza, Bertrand Russell, Karlheinz Deschner und überlegte, ob Giordano Bruno Broder nicht ein viel schönerer Name wäre als der, den mir meine Eltern gegeben hatten. Später wurde ich Agnostiker, aus Gründen der Logik: Wenn man nicht beweisen kann, dass es Gott gibt, kann man auch nicht beweisen, dass es ihn nicht gibt. Und heute, älter und reifer geworden, glaube ich an Gott. Ich bin überzeugt, dass es ihn gibt, mag er nun Christ, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu, Zarathustraner, Mann, Frau oder ein Alien sein. Ich glaube nur nicht an den gütigen, gerechten, allmächtigen Gott. Der Gott, an den ich glaube, ist ein Sadist und ein Zyniker, ein Witzbold und ein Chaot.

Vor Kurzem habe ich, während ich an einer roten Ampel hielt, eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren gesehen, die mit beiden Händen eine rote Rose festhielt. Offenbar wartete sie auf jemanden, mit dem sie sich zu einem Blind Date verabredet hatte, und die rote Rose war das Erkennungszeichen. Sie hätte dem Mann auch sagen können: Du erkennst mich daran, dass ich 120 Kilo wiege, aber dann wäre es zu keinem Blind Date gekommen, also wählte sie die Rose. Der Mann, nach dem sie Ausschau hielt, hatte ihr gesagt, er werde einen tiefergelegten Opel Corsa fahren. Weil das junge Mädchen aber von Autos keine Ahnung hatte, war ihr auch nicht ein Kleinwagen aufgefallen, der langsam an ihr vorbeirollte und, ohne anzuhalten, davonbrauste. »Mein Gott«, dachte ich, »warum tust du das dem Mädchen an? Reicht es nicht schon, dass sie 120 Kilo wiegt und auf der Schule von allen ausgelacht wurde?«

Gott auf Schadensersatz verklagen

Gelernte Gottesdiener, mögen sie auf einer theologischen Fakultät, einer Jeschiva oder einer Madrassa studiert haben, würden mir nun erklären, warum Gott dieses eine Mädchen ganz besonders gern hat und sie deswegen prüfen möchte. Und warum sie ihren Glauben und ihre Geduld nicht verlieren darf, denn eines Tages wird ein Auto neben ihr halten und sie zu einer Fahrt ins Glück einladen. Das will ich hoffen, nur würde ich nicht darauf wetten. Als meine Mutter in einem Viehwaggon saß, mit einem One-way-Ticket in der Hand, das sie geschenkt bekommen hatte, da hoffte sie auch, Gott möge ihr helfen. Der aber dachte nicht daran. Er schaute in aller Ruhe zu, wie die vollen Züge an der Endstation ankamen, wie die Reisenden entladen wurden und wie die Züge leer wieder wegfuhren. Er rührte auch keinen Finger, um den Passagieren der »Titanic«, der »Wilhelm Gustloff« oder der »Estonia« beizustehen. Und warum er in Srebrenica wegschaute, ebenso wie in Ruanda, Kambodscha und Darfur, das wird er eines Tages vor einem Internationalen Tribunal erklären müssen. An Gott zu glauben, ohne ihn für seine Taten und Unterlassungen haftbar zu machen, halte ich für unverantwortlich. Wer nicht an Gott glaubt, hat es einfacher. Ihm reicht es, wenn Radovan Karadziˇc der Prozess gemacht wird. Mir ist das nicht genug.
Solange ich Gott nicht auf Schadensersatz für meine verkorkste Kindheit verklagen kann, gebe ich mir Mühe, ihn wenigstens auszutricksen. Hielten zum Beispiel alle Juden einen Schabbat lang sämtliche Gebote ein, würde Gott sofort den Messias losschicken, das Ende aller Tage wäre da. Kein Jude, der täglich mit der Ankunft des Messias rechnet, und kein Christ, der sich nach der Wiederkehr des Erlösers sehnt, hat eine Ahnung, was das bedeuten würde. Die Bundesliga müsste mitten in der Saison eingestellt werden, die preisgünstigen Flachbildschirme bei Saturn blieben unverkauft liegen, die Benefiz-Gala »Cinema for Peace« bei den Berliner Filmfestspielen müsste ausfallen.

Gott ist ein Zyniker