Während der New Yorker Fashion Week stürzt das deutsche Topmodel Anna Hansen aus ihrer Wohnung im siebten Stock eines Hauses in Manhattan in den Tod. Ist sie gefallen? Ist sie gesprungen? – Oder wurde sie gestoßen?

Ihr Tod und eine Serie mysteriöser Morde an Prominenten der Modebranche rufen den deutschen Reporter Mike Mammen auf den Plan.

Nach dem Thriller „Risse im Ruhm“ (Solibro 2005) recherchiert Mammen nun in der Glitzerwelt des internationalen Fashion Business und stößt dabei auf die tragische Liebesgeschichte eines Supermodels und verstörende Voodoo-Rituale.

Hans-Hermann Sprado, 1956 in Bassum geboren, volontierte beim Bremer Weser Kurier und arbeitete als Redakteur bei Bunte und als Chefreporter bei Bild. Er war Chefredakteur des P.M.-Magazin und von Marie Claire; heute ist er Herausgeber der „P.M.-Gruppe“. Seine Reisen führten ihn in mehr als 30 Länder. Hans-Hermann Sprado lebt mit seiner Familie in Ebersberg bei München. Sein erster Roman, „Risse im Ruhm“ (Solibro 2005), wird demnächst für das Fernsehen verfilmt.

1.  Sprado, Hans-Hermann:

Risse im Ruhm.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2005

ISBN 978-3-932927-26-5

eISBN 978-3-932927-67-6 (E-Book)

2.  Sprado, Hans-Hermann:

Tod auf der Fashion Week

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-39-3

eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

3.  Elke Schwab:

Mörderisches Puzzle

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-37-9

eISBN 978-3-932927-64-5 (E-Book)

4.  Elke Schwab:

Eisige Rache

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2013

ISBN 978-3-932927-54-6 (TB)

eISBN 978-3-932927-72-0 (E-Book)

eISBN 978-3-932927-68-3 (E-Book)

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2007

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Diddo Ramm/DRDCC, Hamburg

Coverfoto: Eryk Fitkau, Getty Images

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„Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens“

Johann Wolfgang von Goethe

Für Regina

ERSTER TAG

Mittwoch

1.

Sie fiel.

Es war der vierte Tag der New Yorker Fashion Week, ein warmer Abend im September. Der Geruch des nahenden Herbstes lag schon in der Luft. Einige Kilometer südlich der weißen Zelte im Bryant Park, in denen Designer aus aller Welt ihre Frühjahrs-Kollektionen präsentierten, stürzte das deutsche Model Anna Hansen aus ihrem Penthouse-Apartment im siebten Stock eines Brownstone-Hauses zwanzig Meter in die Tiefe, vorbei an roten Ziegelsteinen, schmiedeeisernen Feuertreppen, geschlossenen Jalousien und Blumen auf Fensterbänken.

Sie fiel lautlos und schnell.

Eine Sekunde später schlug ihr Körper auf den aufgeheizten Bürgersteig der Prince Street und blieb, halb nackt und seltsam verrenkt, neben einem zertretenen Starbuck-Kaffeebecher liegen.

Schnell bildete sich eine Blutlache neben ihrem Kopf. Das Blut lief über die Steine an ihrem hochgerutschten T-Shirt und den entblößten Brüsten zur Hüfte hinunter. Erst am Gürtelsaum der Jeans hielt das Rinnsal inne.

Ein letztes Mal war die Frau mit dem Fünf-Sterne-Lächeln den Blicken der Menschen preisgegeben. Von allen Seiten eilten sie heran und starrten in das ungeschminkte Gesicht mit den großen braunen Augen, die nun weit offenstanden.

Dem Gesetz der Schwerkraft folgend dreht sich ein Körper beim Fall aus großer Höhe mit dem Schwerpunkt nach unten. Wenn es sich dabei um einen menschlichen Körper handelt, prallt er zuerst mit dem Becken und dem Rücken auf den Boden, dann mit den Gliedmaßen. So geschah es, dass zwar der hintere Teil von Anna Hansens Schädel zertrümmert wurde. Aber ihr berühmtes Gesicht, das auf mehr als 3 000 Magazin-Cover in Frankreich, Italien, Deutschland, Japan, England und den USA zu sehen war, blieb unversehrt.

Hier kommen die empirischen Daten der Polizei ins Spiel, sie belegen eine zwingende Vermutung: Wer sich durch einen Sprung aus dem Fenster das Leben nehmen will, schlägt stets ein gutes Stück vom Haus entfernt auf – eben weil er gesprungen ist. Das Opfer eines Verbrechens dagegen landet immer nahe der Wand, weil es versucht haben wird, den Sturz zu verhindern.

Der Körper von Anna Hansen lag auf der imaginären Linie, die das Eine vom Anderen trennt.

2.

Das ist nicht gut, dachte Mammen, so wird das nichts. Er ruckelte in seinem Sitz herum, die Arme auf die Lehne gepresst. Im Ambassador Theater am Times Square schleppte sich das Musical „Chicago“ in die zweite Stunde. Mammen, der eigentlich nichts für Musicals übrig hatte, aber trotzdem hingegangen war, weil es im Kino keinen Film gab, der ihn interessierte, hatte sich bereits vor einer Weile ausgeblendet. Die Geschichte des Chormädchens Roxy Hart, das seinen Liebhaber umbringt und danach die große Karriere macht, langweilte ihn über die Maßen.

Müde blinzelte er einem jungen Mädchen im rosa Puffärmelkleid zu, das sich empört zu ihm umdrehte, denn wieder einmal hatte er zu laut gegähnt.

Mit mir nicht, dachte Mammen, in der Pause bin ich weg. Muss ich mir nicht antun, dachte er, wirklich nicht. Da geh ich mal lieber ein Bier trinken, und wenn das zwei werden, ist das auch in Ordnung nach diesem Tag, dachte er. Das habe ich mir verdient, auf jeden Fall.

Die letzte Nacht hatte sich Mammen auf einer schäbigen unbequemen Holzbank im Nachtgericht von Little Italy herumgedrückt. Wegen chronischer Überlastung der Tagessschicht werden hier jede Nacht ab 18 Uhr bis in die frühen Morgenstunden Kleinkriminelle im Schnellverfahren abgeurteilt. Ruck, zuck! geht das: 100 Dollar hier, 200 Dollar da. Zack! zwei Monate Sozialdienst. Tun Sie das nie wieder. Und jetzt ab nach Hause.

Eine kleine Puerto Ricanerin war da gewesen, die sich beim Klauen von zwei Bananen und einer Tüte Kartoffelchips erwischen ließ. Ein fröhlicher Junkie, der abgehauen war, als er das Taxi bezahlen sollte, mit dem er von Brooklyn bis irgendwo in die Neunziger der Upper Westside gefahren war. Und dann dieser Trottel, der einer Polizeistreife auffiel, wie er im Battery Park besoffen in die Büsche beim Fähranleger pinkelte.

Die Amerikaner verstehen keinen Spaß, dachte Mammen, da muss man höllisch aufpassen, sonst wird man zur Kasse gebeten. Oder es kommt noch schlimmer. Der Beamte bei der Einreise-Kontrolle am Flughafen fiel ihm ein, dessen knapp gebellte Fragen bei ihm den Eindruck erweckt hatten, als sei er, Mammen, in den Vereinigten Staaten von Amerika ungefähr so willkommen wie ein Container voll Antrax.

Mammen war in New York, um eine Reportage über das bizarre Justiz-Theater im Nachtgericht zu schreiben, für das Hamburger Wochenmagazin Arena, bei dem er fast sein ganzes Leben verbrachte hatte, jedenfalls kam ihm das so vor.

Seine Gedanken kehrten zurück ins Ambassador Theater, zu den Puffärmeln und zu Roxy Hart, und das stimmte ihn nicht fröhlicher. Er stand auf, schlich gebückt den Mittelgang hoch, blickte kurz zurück auf die Bühne und verließ das Theater durch eine Seitentür in der Lobby.

Minuten später schlenderte er über den Times Square, wo monströse Bildschirme ihre neongrellen Werbebotschaften in die Dunkelheit warfen. Mammen folgte seinem Schatten auf dem Pflaster und erinnerte sich an Washington Irving, der vor mehr als 150 Jahren über die Gegend des Times Square geschrieben hatte:

Ein liebliches, ländliches Tal, geschmückt mit vielen bunten Blumen und durchzogen von zahlreichen erquickenden Bächen. Hier und dort steht im Schutz eines Hügels ein schmuckes holländisches Bauernhaus, fast ganz verborgen unter den gewölbten Zweigen mächtiger Bäume.

Auf der 7th Avenue ging Mammen zielstrebig nach Norden, Richtung Central Park. Ein paar Blocks vor dem Park lag sein Hotel, das Sheraton, in dem er immer abstieg, wenn er in New York war. Menschen fluteten ihm entgegen, die seine Theorie zu bestätigen schienen, dass nur deshalb so viele Menschen in New York leben, weil sie nicht mehr hinausfinden.

Als er das Hotel betrat, summte die Lobby unter den lebhaften Gesprächen der Gäste. Auf dicken Orientteppichen durchquerte er die Halle und hielt auf die Hudson Bar zu. In der Bar war es kühl und leer und dunkel. Es roch nach Bier und Barbecue-Soße. Er setzte sich auf einen Hocker an den Tresen und bestellte ein Sam Adams. Die Barmusik hatte eine einschläfernde Wirkung auf ihn.

Auf den Bildschirmen, die in langer Reihe über der Bar angebracht waren, liefen Nachrichten und Sportsendungen ohne Ton. Baseball, Tennis und Krieg.

Er trank sein Glas Sam Adams aus, bestellte ein neues, ließ sich die Speisekarte geben und überflog das Angebot.

„Ich nehme die Chicken Wings“, sagte er zu der Bedienung, einer hübschen jungen Frau mit indischen Zügen. „Ohne Pommes, dafür drei Salzgurken und eine Extraportion Soße. Ist das zu machen?“

„Zwiebeln dazu?“

„Warum nicht.“

„Sonst noch was?“

Mammen, der auf einem der Bildschirme die aktuellen Nachrichten von CNN verfolgte, hielt plötzlich inne.

„Ja“, sagte er und zeigte auf den Fernseher. „Kann man das lauter stellen?“

„Muss ich erst den Chef fragen.“

„Nicht nötig“, sagte Mammen und schob ihr einen Fünf-Dollar-Schein zu, „der Chef ist einverstanden.“

Mammen starrte in das Gesicht von Anna Hansen, deren Foto soeben eingeblendet worden war. Ein Foto mit hundertprozentigem Wiedererkennungswert. Die Moderatorin schaltete weiter zu einer Reporterin, die, von Scheinwerfern angestrahlt, in einer schmalen baumbewachsenen Straße neben einem Polizeiwagen stand.

In diesem Moment wurde die Lautstärke aufgedreht, und Mammen hörte die Reporterin sagen: „... war sofort tot. Zur Stunde ist noch unklar, ob es sich um Selbstmord handelt oder ob Fremdeinwirkung im Spiel war. Die Staatsanwaltschaft hat für morgen Mittag um zwölf Uhr eine Pressekonferenz angesetzt, in der sie nähere Angaben über die Todesursache machen wird. Bis dahin bleibt alles Spekulation, was heute Abend hier in der Prince Street in SoHo geschehen ist.“

Es folgten eine Kurzbiografie von Anna Hansen und ein nichtssagendes Interview mit einem Police Officer.

Das ist nicht gut, dachte Mammen.

Er ahnte, was das bedeutete, bezahlte seine Rechnung und fuhr mit dem Fahrstuhl in den 17. Stock. In seinem Zimmer schaltete er den Fernseher ein, zappte zu CNN und rief die Privatnummer von Walter König, seinem Chefredakteur, an. In Hamburg war es bereits Donnerstag, vier Uhr morgens. Der Don, wie König von den Redakteuren genannt wurde, meldete sich schlaftrunken, war aber sofort hellwach, als Mammen ihm erzählte, was passiert war.

„Wo liegt SoHo?“, fragte König.

„Ist doch egal“, erwiderte Mammen.

„Erstens war ich noch nie in New York, zweitens bin ich kein Atlas. Also, wo ist das?“

Mammen erteilte seinem Chef eine kleine Geografie-Lektion.

„Der Staatsanwalt wird morgen Mittag eine Erklärung abgeben“, sagte Mammen.

„Bleib da und fahr hin. Egal, ob sie es selbst getan hat oder jemand ein bisschen nachgeholfen hat, auf jeden Fall klingt das nach einer ordentlichen Geschichte. Vielleicht können wir daraus den Titel für die nächste Ausgabe machen und legen später noch zwei Folgen nach. Was hältst du von der Idee, mein Junge?“

„Und wenn sie bloß besoffen aus dem Fenster gefallen ist?“

„Na und? Sie ist hinüber, und so verrückt, wie die war, ist das Ereignis allemal eine Story wert. Kümmere dich darum und gib mir Bescheid, wie die Sache sich entwickelt.“

„Wenn du eine Serie haben willst, brauche ich Futter aus Deutschland. Kindheit, Jugend, erste Liebe, du weißt schon, das ganze Zeug.“

„Ich schicke Vanessa von Samson los, die soll sich um Anna Hansens Familie und Freunde kümmern.“

Das ist gut, dachte Mammen, die ist bissig. Von der würde er bekommen, was er wollte, Vanessa von Samson hatte ihn noch nie enttäuscht.

„Die Mutter zuerst, dann den Mann. Soweit ich weiß, war Anna Hansen verheiratet“, sagte Mammen.

„Verlass dich drauf.“ König legte auf.

Mammen hatte wenig übrig für den Fashion-Zirkus, genau genommen war er modisch bei der Burlingtonsocke stehen geblieben. Aus diesem Grund war er nicht unbedingt erpicht darauf, sich auf dieses Metier einzulassen. Er zog seine drei Jahre alte braune Timberland-Jacke über und steckte das Handy und den Notizblock ein.

Der Taxifahrer war ein Sikh mit großem Turban. Auf dem Sitz neben sich entdeckte Mammen einen Stapel Papiere, die sorgfältig zusammengeheftet waren.

„Jemand hat hier was liegen lassen“, sagte er und hob den Stapel hoch. Der Tanz der Götter stand auf dem Deckblatt. Es handelte sich um ein Drehbuch.

„Das ist von mir“, sagte der Sikh stolz, der kein Schlagloch ausließ, wobei Turban und Wagendecke jedes Mal zusammenstießen.

„Sie sind nicht zufällig Produzent?“, fragte er. „Das Skript liegt immer da hinten, für alle Fälle, kann ja sein, dass ein Filmproduzent in mein Taxi steigt. Aber Sie sind kein Produzent.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der Sikh beobachtete Mammen im Rückspiegel.

„Nein.“

„Schade.“

„Ja“, sagte Mammen.

Unwillkürlich musste er an Strandhäuser in Malibu Beach denken, an dicke Bankkonten und elegante Frauen. Er hatte zwar davon gehört, dass in Los Angeles jeder Taxifahrer ein Drehbuchautor und jede Kellnerin eine Schauspielerin ist, dass aber dieses Berufsdiagramm inzwischen auch für New York galt, war ihm neu.

An der Subway-Station Spring Street stieg er aus und ging zu Fuß weiter. Der Tatort war weiträumig abgeriegelt, als Mammen in die Prince Street einbog. Er zeigte einem Polizisten seinen Presseausweis und durfte näher ran.

Die Leuchtbuchstaben der kleinen Geschäfte und der helle Nachthimmel über New York tauchten die Straße in schmeichelhaftes Licht. Eine Menge schwarzer Mülltüten lehnten in den Hauseingängen und glitzerten im Schein der Bogenlampen, die in weiten Abständen die Straße säumten. Neben der Tür des Café „Borgia“ saß ein weißer Obdachloser und machte aus seinen Absichten kein Hehl. Auf einem Pappfetzen, den er sich vor die Brust hielt, stand:

WARUM SOLL ICH LÜGEN? ICH BRAUCHE EINEN SCHUSS!

Die ganze Szene wirkte auf Mammen völlig irreal, so als gehörten die Straße und die Menschen, die es bis in die Nähe des Tatortes geschafft hatten, gar nicht hierher.

Eine ganze Horde Reporter war da. Neben einem Übertragungswagen von FOX 5, auf dessen Dach drei Satellitenschüsseln montiert waren, bezog Mammen Position und versuchte, ein paar Brocken von dem aufzuschnappen, was die FOX-Reporterin in ihr Mikrofon sprach. Sie wusste nicht mehr als er wusste, aber sie brauchte ungefähr fünf Minuten, um es loszuwerden.

Dicht an Mammen ging ein Pärchen vorüber.

„Ich glaube“, sagte die Frau, „es gehört eine Menge Leben dazu, um so zu sterben.“

Die beiden blieben stehen. Die Frau begann zu weinen und schmiegte sich in die Arme ihres Begleiters.

„Das Problem bei Tragödien ist, dass das Leben trotzdem weitergeht. Man kann nicht einfach eine Auszeit nehmen“, sagte er tröstend.

„Anna hat eine lange Auszeit genommen“, sagte die Frau, blinzelte ein paar Tränen fort und hob den Kopf. Jetzt konnte Mammen ihr Gesicht sehen. Die Frau war sehr groß, größer als ihr Begleiter und größer als Mammen, der sie neugierig betrachtete. Sie war nicht besonders elegant gekleidet, ihr lila Nagellack sah aus, als stürben die Finger gerade ab, aber er wusste, sie war es. Ein solches Gesicht war unvergesslich.

„Hallo Carole“, sagte Mammen und machte einen Schritt auf sie zu. „Erinnerst du dich?“

Sekundenschnell wurde aus Erstaunen vorsichtiges Erkennen.

„Mike? Du bist Mike, nicht?“, fragte sie zögernd.

Er nickte.

Vor zwei Jahren war er Carole Delrieux nach Kapstadt gefolgt, wo sie drei Wochen Urlaub machte. Ihre Agentur hatte eingewilligt, dass er sie einige Tage lang begleiten durfte. Mammen sollte ein Portrait über das französische Supermodel schreiben, von dem die Magazine schwärmten, sie habe die perfekteste Nase von allen. Damals war sie das teuerste Model der Welt, aber inzwischen hatte eine andere diesen Platz eingenommen, Clara Albee. Und vor Clara Albee war es Anna Hansen gewesen.

Während der gemeinsamen Zeit kamen Carole und Mammen sich näher. Irgendwann vertraute sie ihm sogar die privatesten Momente ihres Lebens an. Das war nicht allein auf den vielen Rotwein zurückzuführen, den sie beide abends tranken, sondern auf die Sympathie, die sie vom ersten Tag an füreinander empfanden. In seiner Geschichte über Carole Delrieux schrieb er:

Französische Frauen haben ein Geheimnis-Gen. Sie sind mysteriös, zurückhaltend und überdies auch noch chic. Käme Carole Delrieux nicht aus Paris, wäre sie wahrscheinlich wie eine dieser blonden Florida-Frauen, die nicht viel zu sagen haben, weil sie nicht viel wissen.

Mit einem schmeichelhaften Brief hatte sich Carole bei ihm für das positive Bild bedankt, das er in seinem Artikel von ihr gezeichnet hatte. Selbstverständlich wusste sie auch zu schätzen, dass er von den kompromittierenden Informationen, die ihr herausgerutscht waren, keinen Gebrauch gemacht hatte.

„Ich habe gehört, wie ihr über Anna Hansen gesprochen habt“, sagte Mammen.

Er sei hier, um über Anna und die Umstände ihres Todes zu berichten, sagte er, dafür sammle er so viele Informationen, wie er kriegen könne. Ob sie bereit wären, mit ihm zu reden?

„Ich weiß, dass du sie gut gekannt hast“, sagte er zu Carole. „Ein paar Worte von dir sind genau das, was ich brauche.“

„Kein Kommentar“, sagte ihr Begleiter mürrisch.

„Ach, lass doch, Nunn. Er ist in Ordnung. Mike hat eine wunderbare Geschichte über mich gemacht, vielleicht die beste, die es jemals gab. Wenn er gewollt hätte, wäre ich ziemlich schlecht dabei weggekommen, stimmt’s, Mike? Vielleicht wäre es gut, wenn wir über Anna reden, Nunn. Nicht nur wir beide miteinander, meine ich, sondern mit jemandem, der Anna nicht so gut kannte wie wir. Mir ist danach, über sie zu reden, aber wenn nur wir beide es tun, wäre es zu traurig. Du kennst uns doch.“

Der Mann, der Nunnally Johnson hieß und Modefotograf war, zögerte.

„Also gut, ehren wir unseren Stern mit ein paar netten Worten. Lassen wir Anna noch einmal auf die Bühne treten.“

Er wies auf die „Milaydy’s Bar“.

„Da drüben kriegen wir sicher kaltes Bier“, sagte er. Und nach einer Pause: „Eine Kleinigkeit noch. Wenn du etwas Mieses über Anna schreibst, werde ich dich finden und dir ein bisschen wehtun. Hab ich mich klar ausgedrückt?“

Nunnally Johnson war ein knochiger, breitschultriger New Yorker auf krummen Beinen. Vom andauernden Schleppen der schweren Fototasche hing seine linke Schulter, und seine Arme waren so lang, dass sie ihm bis zu den Knien reichten. Die weißen All-Stars-Turnschuhe, die Designer-Jeans und das graue T-Shirt, über dem eine schwere Silberkette mit einem Kreuz hing, gaben ihm ebenso ein jungenhaftes Aussehen wie die raspelkurzen Haare und sein schlaksiger Gang, doch die tiefen Furchen in seinem Gesicht und die melancholischen Augen verrieten sein wahres Alter.

In der „Milaydy’s Bar“ setzten sie sich an einen kleinen Tisch am Fenster und bestellten Bier und Whisky Sour. Eine Zeitlang sahen sie schweigend hinaus.

Die Kellnerin brachte die Drinks.

Mammen überlegte, ob es ratsam wäre, seinen Block herauszuholen. Er tat es nicht, weil er wusste, dass manche Menschen angesichts einer Kamera, eines Mikrofons oder eines Reporter-Blocks im unpassenden Moment furchtsam und zurückhaltend reagierten.

Der zweite Whisky Sour löste die Anspannung. Johnson und Carole Delrieux fingen an, über sie zu reden, über Anna, was sie ihnen bedeutete und was sie mit ihr erlebt hatten.

„In den ersten Jahren war Amerika für Anna das Land des Caramel-gesüßten Cappuccino“, sagte Nunnally Johnson lächelnd. „Sie liebte alles Amerikanische und entwickelte einen Heißhunger auf Cheesecake, Doughnuts und Burger in allen Variationen. Aß, was ihr schmeckte, und scherte sich einen Teufel um Diäten. Es dauerte nicht lange, und die Boulevardblätter fanden in ihr ein ergiebiges Opfer. Sie stürzten sich auf sie und erfanden jeden Tag neue Candlelight-Dinner mit Adligen und Möchtegern-Geiern. Anna schäumte jedes Mal, wenn sie etwas las, das mit ihrem Leben so wenig zu tun hatte wie Ralph Lauren mit einer Armenküche. Als News Of The World die Ente verbreitete, sie liege nach einem schweren Autounfall auf dem Riverside Drive mit einem Schädelbruch im Mount Sinai Krankenhaus, unterhielten wir uns am selben Abend quietschfidel beim Essen über das Leben nach dem Tod.“

„Was hat sie gesagt?“, fragte Mammen, der sich gern eine Zigarette angezündet hätte.

„Erstmal war ich dran. Ich schätze, ich sagte so was wie: Der Mensch ist immer gleich weit weg vom Tod, oder gleich nah dran. Und wenn es passiert, ist doch klar, wo wir alle landen, irgendwo in der Hölle landen wir, da gehören wir nämlich hin. Vielleicht wird es eine Handvoll von uns ein paar Stockwerke höher schaffen, vielleicht enden wir auch als Gemüse, aber genauso gut könnte es auch sein, dass einfach Abpfiff ist. Jemand drückt auf die Fernbedienung, und das war’s dann.“

„Glaubst du das immer noch?“, fragte Carole.

„Hört mal zu, wie sie die Sache sah:

– Nunn, du bist ein Dummkopf, sagte sie. – Es ist nämlich so: Vor 15 Milliarden Jahren gab es den Urknall, aus dem unsere Welt entstanden ist. Der Urknall war reine Energie und alles, was später daraus wurde, ist es auch. Reine Energie, verstehst du? Wenn der Mensch stirbt, wird er wieder Teil dieser Energie. Wo soll er denn sonst hin? Der Mensch löst sich auf im Alles und wird Alles.

Ich kann euch sagen, wenn man so was aus dem Mund einer Zwanzigjährigen hört, kommt man sich vor wie jemand, der im Wachkoma lag, als in der Schule Physik und Religion dran waren.“

„Klingt eher nach ihrer Mutter“, sagte Carole.

„Stimmt, ist sie nicht Physikerin? Zu ihr hätte das gepasst. Bei der Hölle, sage ich euch, weiß man wenigstens, woran man ist, aber dieser Energiescheiß macht einen doch fix und fertig. Etwa nicht?“

Johnson schaute Mammen und Carole fragend an.

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll“, erwiderte Carole nach einer Weile, „außer, dass Anna dort nicht sein sollte. Sie ist bestimmt woanders, und ich hoffe, es geht ihr gut, wo sie jetzt ist.“

„Wie habt ihr von dem Unglück erfahren?“, wollte Mammen wissen.

„Wir saßen bei ,Lindy’s‘ und besprachen ein Shooting für die Vogue“, sagte Johnson. „Ein Freund hat es im Fernsehen gesehen und mich angerufen. Es traf mich völlig unvorbereitet, denn die letzten Monate ließen mich glauben, Anna hätte ihre Dämonen endlich besiegt und sich aufgemacht, ein besseres Leben zu leben, eines, das ihr mehr Ruhe und Frieden bescheren würde als die schmerzvollen Jahre, die hinter ihr lagen. Sie hatte sich bereits darauf eingelassen und wollte mit der ihr eigenen Entschlossenheit dem Mode-Zirkus den Rücken kehren. Aber dann muss etwas geschehen sein, das ihr den Weg zurück verstellte, und bis jetzt habe ich keine Ahnung, was das gewesen sein könnte.“

Johnson räusperte sich und bestellte einen weiteren Drink.

„Du hast sie geliebt, nicht wahr?“, sagte Carole und streichelte seine Wange.

„Ja, auf meine Weise. Ich habe ihr viel zu verdanken, jeder in der Branche weiß das. Ich war beruflich und privat am Ende, als ich Anna begegnete. Ohne sie wäre ich tief in der Gosse gelandet, wahrscheinlich wäre ich längst tot. Sie sorgte dafür, dass ich meine Trinkerei in den Griff bekam, und verschaffte mir neue Jobs, die ich bitter nötig hatte, um wieder auf die Beine zu kommen.“

„Ich frage mich“, sagte Carole, „warum ihr beiden nie ein Paar geworden seid. Viele haben sich das gefragt. Okay, du hättest ihr Vater sein können, aber was zählt das schon? Wenn man euch zusammen sah, hatte man immer das Gefühl, dass euch eine stillschweigende Abmachung zusammenhielt, eine Seelenverwandtschaft ohne jede Körperlichkeit.“

„Nicht ganz“, sagte Nunnally, vor dem jetzt ein Bier stand, „nicht ganz.“

„Magst du darüber reden?“, fragte Carole.

„Lass mal gut sein, dafür bin ich noch nicht betrunken genug.“

Mammen bestellte eine neue Runde für alle. Es sah so aus, als könnte sich die Investition lohnen.

„Ist es in Ordnung, wenn ich mitschreibe?“, fragte er. „Mich würde interessieren, wie es in der Wohnung aussah, aus der sie gesprungen ist.“

„Ich begegnete Anna zum ersten Mal auf einer Stehparty im Guggenheim-Museum, wo der Chef einer großen Modemarke seinen neuen Designer vorstellte, ein kleines Frettchen mit spitzen Zähnen“, sagte Johnson. „Wie so oft, war die ganze Chose mal wieder als Charity-Gala getarnt. In dieser Stadt tut jeder etwas Gutes und möchte dabei gesehen und fotografiert werden, wenn er darüber redet. Anna war von ihrer Agentur hingeschickt worden, um Kontakte zu knüpfen. Sie hatte sich mächtig in Schale geworfen. Ein Diane-Fürstenberg-Kleid mit Spaghettiträgern so dünn wie Zahnseide und atemberaubend hohe Pumps. Ich beobachtete sie eine Zeit lang, dann ging ich zu ihr und sagte meinen Spruch auf.

– Ich glaube, ich kenne dich schon mein ganzes Leben lang.

Anna sah mich mit einem bezaubernden Lächeln an und erwiderte: – Oh nein, das ist nicht möglich. Mein Leben hat gerade erst begonnen.

Wir unterhielten uns den ganzen Abend. Irgendwie erinnerte sie mich an Dovina, ihr wisst schon, den Yves-Saint-Laurent-Star der 60er Jahre, als Model noch mit Doppel-l geschrieben wurde. Ich sagte ihr, das sei ein Kompliment, denn Dovina sei der erste wirkliche Laufsteg-Star der Welt gewesen. A-Minute-A-Dollar-Girl hat man sie genannt, weil sie pro Minute einen Dollar kassierte, und damals war der Dollar noch was wert.

Später ließ Anna sich von mir nach Hause bringen. Ich lieferte sie ohne Hintergedanken vor ihrer Tür ab. Sie fragte mich, ob ich Lust hätte, auf einen Schlummertrunk mit hinaufzukommen. Das Apartment war elegant und ruhig, einer der stillsten Plätze von ganz Manhattan, würde ich meinen. Du sitzt da oben am Fenster und schaust hinaus auf die stummen Straßen, und New York ist weiter weg als der Mond. Die Wohnung zieht sich über zwei Ebenen hin, die über drei Stufen miteinander verbunden sind. Zwei große Schlafzimmer mit eigenem Bad und Ankleideraum. Eine offene Küche mit einem Kirschholztisch von Crate & Barrel. An den Wänden warme Farben, mauve und hellbraun. Sie machen die Wohnung so gemütlich wie einen Coffeeshop.

In einer Ecke am Fenster steht ein alter Bistrotisch, von dem sie behauptete, er stamme aus einem Café vom linken Seine-Ufer. Zwei Thonetstühle und eine professionelle Espressomaschine.

Es ist so sehr eine Frauenwohnung, dass man sich nur schwerlich einen Mann darin vorstellen kann, es sei denn, er käme als Liebhaber und bliebe nur eine Nacht.“

„Langsam, langsam“, bat Mammen, der hastig mitschrieb, „das geht mir zu schnell.“

Johnson kümmerte sich nicht darum.

„Wir tranken ein Glas Sancerre und hörten Jazz-Klassiker von Stan Getz, Russel Malone und Monk Montgomery. Während sie eine Platte von Billie Holiday auflegte, sah ich den Fischen zu, die in zwei großen Aquarien ihre Bahnen zogen.

– Mein kleiner Ozean, sagte Anna, als sie meinem Blick begegnete. – Salzwasserfische. Fische, die im Salzwasser leben, sind schöner.

– Größer sind sie auch, sagte ich.

– Und ob. Die in dem großen Becken, das sind Engelfische, Riffbarsche und Anemonenfische. Ein paar Seesterne und Einsiedlerkrebse sind auch dabei, aber die verkriechen sich am liebsten unter den Korallen.

Ich deutete auf das andere Aquarium, in dem vier gedrungene, schuppenlose Fische mit großen Augen in respektvollem Abstand bedächtig ihre Runden drehten.

– Und die da?

– Ein paar unverträgliche Kauze, sagte sie. – Kugelfische, um genau zu sein. Man muss sie getrennt von den anderen Fischen halten. Sie sind sehr aggressiv und würden sofort über sie herfallen.

– Ich weiß Bescheid, sagte ich. – In Japan hab ich so einen Burschen gegessen. Der Spaß hat mich ein paar hundert Dollar gekostet. In dem Lokal, wo sie ihn servierten, machten sie ein großes Theater daraus. Nur spezialisierte Köche dürfen den Kugelfisch zerlegen, weil er so verflixt giftig ist.

– Und ob er das ist, sagte Anna. – Das Gift sitzt in den Keimdrüsen und den Eierstöcken. Wenn die mit dem Messer verletzt werden, gelangt das Gift ins essbare Muskelfleisch. Das kann schlimm ausgehen, jedenfalls für den, der davon isst.“

Mammens Füller flog über die Seiten. Es war mehr und besser, als er für den ersten Recherchetag erwartet hatte.

„Dann schenkte Anna uns ein zweites Glas Wein ein und zeigte mir ihre unglaubliche Sammlung von Briefbeschwerern. Dutzende davon standen auf einem Landhaustisch hinter dem Sofa. Fast alle Briefbeschwerer hatten eine Geschichte.

Sie griff ein wunderschönes Exemplar mit einem winzigen eingelegten Goldbarren heraus und sagte:

– Der ist von Peter Lindbergh; er ist echt. Von meiner Agentin bekam ich den Grünen dort, siehst du ihn, den mit der weißen Rohrmuschel? Und der da hinten ist von Matt Damon, er brachte ihn mir von Dreharbeiten am Kilimandscharo mit. Der Zahn stammt von einem weißen Löwen und soll Glück bringen, jedenfalls behaupten die Massai das.

Es galt als großer Beweis für Annas Freundschaft, wenn sie einen ihrer geliebten Briefbeschwerer verschenkte. Ich hatte Glück, zu meinem vierzigsten Geburtstag bekam ich einen Tropenschmetterling, der in graues Glas eingelassen war. Er hat bei mir zu Hause einen Ehrenplatz, gleich neben meiner ersten Hasselblad.

Anna konnte übrigens selbst sehr gut fotografieren. Zwei ihrer verstörend realistischen Schwarz-Weiß-Bilder hat sie auf 70 x 90 Zentimeter vergrößert und über ihr Bett gehängt. Sie hatte den Blick für das besondere Motiv. Vor ihrer Kamera wurde jeder zum Außenseiter.

Alle ihre Fotos wurden von der gleichen heftigen Bildsprache getragen, im Mittelpunkt Exzentriker, die mit dem Leben oder der Natur einandergeraten waren und nun hoffnungslos feststeckten.

– Das sind ja alles Freaks, sagte ich, als ich die Bilder zum ersten Mal sah. – Wieso sind da nur kaputte Typen auf deinen Bildern?

– Nunnally, du bist ein Freak, und ich bin auch ein Freak, jeder Mensch ist es auf seine Weise, und wer es nicht ist, dessen Ziel sollte es sein, soweit wie möglich der Freak zu sein, der ihm vorbestimmt ist.“

Am Tisch entstand eine Pause.

„So viel dazu“, sagte Johnson schließlich und hob sein Glas an die Lippen. „Auf Anna!“

„Hast du nicht was vergessen?“, fragte Carole.

„Das gehört nicht hierher.“ Er warf ihr einen grimmigen Blick zu.

„Irgendwann wird er es sowieso erfahren. In den letzten Jahren ist viel darüber geschrieben worden. Anna selbst hat nie ein Geheimnis daraus gemacht. Es war ein Teil ihres Lebens. Sie stand dazu.“

„Von mir hört ihr kein Wort darüber“, sagte Johnson und ließ sich gegen die Lehne seines Stuhls fallen, den Blick abgewandt.

„In der Wohnung“, erzählte Carole, die den Alkohol spürte und sich zusammenreißen musste, „stand ein kleiner Altar. Ein japanisches Sitzbänkchen, überzogen mit schwarzem Klavierlack. Darauf eine weiße Häkeldecke mit Blütenblättern. Zwischen den Blüten ragte ein braun gestrichenes Holzkreuz empor, von dem die Farbe blätterte. Zwei Kerzen rahmten das Kreuz ein. Neben dem Altar lag eine Puppe, drumherum afrikanische Skulpturen und polierte Holzschalen.“

Mammen nickt. „Ich habe von ihrem Faible für Voodoo gelesen.“

„Über dem Altar hing ein weißes Tuch an der Wand“, fuhr Carole fort. „Auf das Tuch hatte Anna ein rotes Symbol gemalt, zwei gleich große, senkrecht stehende und miteinander verbundene Schleifen. Ich fragte sie, was das Symbol bedeutet.

– Das ist eine Freya-Fackel, sagte Anna, – ein universelles Schutzsymbol der germanischen Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttin Freya. Sie wehrt negative Energien ab, zieht positive Energien an und schützt den Raum und die Menschen darin vor bösen Kräften.

– Ich hatte keine Ahnung, dass du auf diesen esoterischen Quatsch abfährst, sagte ich.

– Die Freya-Fackel kenne ich aus dem Voodoo. Christentum und Voodoo sind in einigen Gegenden der Welt eine symbiotische Beziehung eingegangen. Ich glaube an die Kraft des Einen und des Anderen. Bist du schockiert?

– Überrascht, würde ich sagen.

– Als die afrikanischen Ureinwohner in die Karibik und nach Amerika verschleppt wurden, brachten sie ihre Götter mit. Ihre Herren verboten ihnen jedoch, sie in der neuen Welt zu verehren. Also vermischten sie ihren Glauben mit dem Katholizismus, indem sie ihren Göttern die Namen von Heiligen gaben. So konnten sie unter dem Deckmantel der christlichen Lehre ihren verbotenen Kult ausüben, ohne behelligt zu werden. Auf Haiti, in New Orleans und Savannah und in anderen Gegenden der Südstaaten praktizieren die Nachkommen der Sklaven noch heute die alten Rituale.

– Du scheinst dich gut auszukennen, bemerkte ich.“

„Genug jetzt!“ Johnson unterbrach ihre Exkursion in die Sphären des Übernatürlichen. „Das gehört nicht in die Öffentlichkeit, Carole. Lass es sein.“

Doch Carole, die vollständig in das Thema eingetaucht war, nahm den Faden wieder auf.

„Ich deutete auf die kleine Reisstrohpuppe neben dem Altar, ein Torso nur, ohne Augen, ohne Nase, ohne Mund und Ohren.

– Wofür brauchst du diese Puppe?, fragte ich.

– Die Puppe ist meine stille Freundin. Vor vielen Jahren hat sie mir geholfen, dass mich eine Liebe fand, die ich begehrte, aber der Mann, der damals noch ein Junge war, brauchte ein wenig Nachhilfe, also habe ich es mit Voodoo probiert. Seither ist die Puppe mein Talisman. Mir gefällt die Vorstellung, dass es eine Parallelwelt zu unserer Welt gibt, eine heimliche Welt, in der Götter, Engel und Geister leben, eine Welt, in der man sogar den schlimmsten Dämonen mit Achtung begegnet und ihnen von Zeit zu Zeit ein Opfer bringt. Manchmal, wenn ich abends allein vor diesem Altar sitze, befällt mich ein seltsames Gefühl der Unwirklichkeit, so, als wäre mein ganzes Leben nicht wahr.“

„Das reicht jetzt“, sagte Johnson und kramte ein paar Dollar-Scheine aus seiner Hosentasche.

„Ich mach das schon“, sagte Mammen.

„Geh anständig mit diesen Informationen um“, ermahnte ihn Johnson, „häng diesen Voodoo-Scheiß bloß nicht an die große Glocke.“

Draußen war es kühl geworden. Die kleine Straße war jetzt menschenleer.

„Kann ich euch anrufen, wenn ich Fragen habe?“

„Meinetwegen“, sagte Johnson und fingerte umständlich seine Visitenkarte aus der Brieftasche. „Ich weiß ja nicht, was ihr jetzt vorhabt, aber ich geh in die Falle.“

Seine Wohnung lag nur vier Blocks entfernt, und er machte sich, nachdem er Carole geküsst hatte, zu Fuß auf den Weg.

„Ich will nicht nach Hause“, sagte Carole, „bin ich viel zu aufgewühlt.“

„Wohin dann?“

Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war beinahe Mitternacht.

„Wir könnten im Bryant Park Hotel vorbeischauen. Bestimmt sitzen die Modeleute noch in der Cellar Bar und zerreißen sich das Maul über Anna. Könnte interessant für dich sein.“

Sie hakte Mammen unter, der sich neben ihr klein und irgendwie unbehaglich fühlte, weil ihre Hüften sich ungefähr in der Höhe seines Bauchnabels befanden. An der Avenue of the Americas winkte er nach einem Taxi.

„Ich glaube, ich bin betrunken“, sagte Carole und sackte, als sie im Taxi saßen, leicht gegen seine Schulter.

„Weißt du, als wir beide nach New York kamen, ich aus Lyon und Anna aus Hamburg, wohnten wir mit ein paar anderen Mädchen zusammen in einem Apartment, das von unserer Agentur bezahlt wurde. Es lag in einer hübschen Gegend auf der Upper Westside, in der 84th Street, nicht weit von Harlem und vom Central Park. Das Apartment selbst war ein Loch mit Rattenlicht.

Anna mochte ich sofort, ihre natürliche Art, ihr langsames Vorwärtstasten in die neue Welt. Sie kam rein, sah das Chaos und fing an aufzuräumen, warf Unterwäsche auf einen Haufen, sammelte Kleenextücher, Pizza-Pappen und leere Wasserflaschen zusammen und stellte im Wohnzimmer die Möbel ordentlich hin. In allem, was sie tat, war sie imponierend konsequent, sogar beim Sport, der war ihr verhasst.

– Wenn ich mich klonen lassen könnte, sagte sie, hätte ich gern jemanden, der für mich ins Fitness-Studio geht. Ist es nicht Fitnesstraining genug, von einem Ende des Flughafens zum anderen zu laufen und in hochhackigen Schuhen über den Catwalk zu stöckeln?

In unserem Gewerbe, in dem fast alle Mädchen irgendwann ein negatives Körpergefühl entwickeln und sich unförmig fühlen, wenn sie nicht in Kleidergröße 34 passen, war das eine seltene Einstellung.“

Mammen legte einen Arm um Caroles Schulter und dachte: Was für eine Nacht!

„Erzähl mir mehr von Anna, wir haben Zeit“, sagte er.

„Ich weiß nicht. Vielleicht hat Nunnally Recht, und ich sollte besser den Mund halten.“

„Es ist in Ordnung, wenn du nicht willst.“

„Aber ich möchte ja. Je mehr ich über sie rede, desto klarer wird mir, wie sehr sie mir fehlen wird. Für ein junges Mädchen, das seine Karriere in dieser großen Stadt beginnt, weit weg von zu Hause, ist das ein Alptraum. Man ist froh, wenn man jemanden hat, dem es genauso geht. Wir liefen mit unseren Setcards jeden Tag durch die Stadt, zu Fotografen, Designern, Magazin-Redakteurinnen, Werbeagenturen. Dieser Tagesablauf geht an die Grenze des Erträglichen. Nur Models mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen überstehen diese Durststrecke. Trotzdem war Anna immer voll vibrierender Dynamik, hoffte jeden Tag auf das noch bessere Bild, auf die eine Chance zum Sprung nach ganz oben und verlor nie den Glauben, dass alle Schönheit noch vor ihr lag.

Neid war ihr vollkommen fremd, das machte sie umso liebenswerter, denn im Fashion Business ist man Tag und Nacht umgeben von hochgradig narzisstischen Persönlichkeiten, die einem jeden Schritt auf dem Runway missgönnen. Diese Talmiwelt kann dich in den Wahnsinn treiben.

Eines Tages musste ich mittags über den Washington Square laufen, nur mit einem Höschen bekleidet. Dreizehn Mal ließen die mich das machen, immer mit einem anderen Höschen. Tausend Augen, die einem folgen. Das ist ungewohnt, du schämst dich, aber du musst über deinen Schatten springen. Jedes Model erlebt irgendwann dieses erste Mal der Scham. Anna saß einen ganzen Tag auf einem Schminkstuhl in der Kosmetikabteilung bei Bloomingdales, mit nichts weiter bekleidet als einem durchsichtigen Top. Der Rest wurde durch einen Stofffetzen, der über ihren Knien lag, notdürftig verhüllt. Die Leute blieben stehen, schüttelten den Kopf, gingen weiter, manche kamen noch einmal zurück. Anna sagte, sie habe sich gefühlt wie am Pranger.

In den ersten Monaten entscheidet sich, ob es reicht oder nicht. Ludmilla, die Russin, die mit uns zusammen lebte, hielt den Druck nicht aus. Sie schaffte es einfach nicht, auf Torten zu verzichten, was dazu führte, dass sie innerhalb von fünf Monaten vier Kilo zulegte und nicht wieder runterbrachte. Eine Schwedin namens Britt wohnte im Zimmer zur Straße raus und klaute uns die Lippenstifte, Slips und Äpfel, einfach alles, was sie in die Finger bekam. Drei Wochen nach ihrer Ankunft schickte die Agentur sie wieder nach Hause.“

Zum ersten Mal lachte Carole.

„Es war eine unglaubliche Zeit. Helen Topher, unsere Agentin bei ,Model Mania‘ – mit ihr solltest du unbedingt reden –, war gnadenlos. Manchmal ließ sie uns schon morgens um halb acht zum Appell antreten, 20 Nachwuchsmädchen auf einmal, und gab den Tagesbefehl aus. Wenn wir am nächsten Tag einen Job hatten, sagte sie zum Schluss: Don’t make love tonight, denn morgen wird es anstrengend!

Abends spielten wir mit den anderen Mädchen Annas Lieblingsspiel, IDC – International Daisy Chain.“

„Was ist das für ein Spiel?“, fragte Mammen. Das Taxi bremste vor einer roten Ampel an der 14th Street.

„Man bildet eine Kette aus Namen, in der jede Person mit der nächsten Person durch eine Affäre oder Heirat verbunden ist. Nach ein paar Drinks war Anna einfach großartig, besser als jede Klatschkolumnistin, würde ich meinen. Eine Kette ging zum Beispiel so: Molly Ringwald – Tom Cruise – Penelope Cruz – Matthew McConaughey. Eine andere lautete: Anne Lesser – Woody Allen – Diane Keaton – Warren Beatty – Annette Benning. Die längste Kette, die wir bastelten, bestand aus 13 Namen. Liz Taylor kam auch darin vor.“

Das Bryant Park Hotel liegt hinter der New York Library am Bryant Park, wo im Frühjahr und im Herbst die Fashion Week Hof hält. Während der Defilees steigt dort die Modejournalje aus der ganzen Welt ab.

Aus der Cellar Bar drang House Musik und lautes Gelächter herauf. Als Mammen und Carole die Bar betraten, wandten sich ihnen augenblicklich alle Gesichter zu.

Die meisten Frauen, die sich nach einem hektischen Tag voller Stress, Terminen und Frust mit ein paar Absackern und belanglosem Geplauder ein paar Stunden Zerstreuung und Entspannung verschafften, kannten Carole Delrieux. Viele hatten schon mit ihr gearbeitet. Sogleich ging Carole auf einen Tisch neben dem Eingang zu, wo Jill Bright, die Moderedakteurin von Debbie, saß und ihr zuwinkte.

Jill Bright war nicht allein, außer ihr saßen eine Frau und ein Mann mit am Tisch. Mammen kannte die beiden. Der Mann war Tim Rosen, einer der angesagtesten Designer. Die Frau hieß Charlotte Stegemann und arbeitete als Stellvertretende Chefredakteurin bei Glow, dem Modemagazin des Verlages, in dem auch Arena erscheint. Ihr Büro befand sich drei Stockwerke unter dem Zimmer von Mammen. Im Verlag war es seit Monaten ein offenes Geheimnis, dass Charlotte Stegemann zum Jahreswechsel die langjährige Chefredakteurin von Glow ablösen würde, die sich in den Ruhestand verabschiedete. Ebenso wurde kolportiert, Charlotte hätte dieses Ziel mit eiskalter Präzision verfolgt.

Sieht immer noch verdammt gut aus, dachte Mammen.

Die blonden Haare, die sie mit ein paar Strähnchen aufgehübscht hatte, fielen weich über ihre Schultern. Der scharf geschnittene Pony bedeckte ihre Brauen und hing beinahe bis über die Augen. Ihre Mundwinkel umspielte ein spöttisches Lächeln. Beinahe arrogant. Die Arme waren ein bisschen zu dünn. Die Beine auch.

„Was für eine Überraschung“, sagte Charlotte Stegemann, als sie Mammen sah. „Was tust du in New York? Wo hast du denn deine hübsche Begleiterin aufgegabelt? Weißt du überhaupt, wen du dir da an Land gezogen hast?“, rief sie ihm durch den Lärm zu.

Mammen konnte sie kaum verstehen.

„Komm, setz dich zu uns, hier ist genug Platz für einen wie dich. Ich bin auch erst vor ein paar Minuten gekommen.“

Um Carole Delrieux musste er sich keine Sorgen machen. Sie war von einem sandgestrahlten Anzugträger aufgehalten worden, der ihr einen Cocktail reichte, groß wie eine Kloschüssel. Während Mammen sich setzte, fiel sein Blick auf Charlottes linkes Bein und die Narbe, die von der Wade bis hoch zum Rock lief und darunter verschwand.

Wie erwartet drehte sich das Gespräch um Anna Hansens plötzlichen Tod. Es schien, als habe das deutsche Supermodel eine Million Erinnerungen hinterlassen, und nicht alle waren gut. Anekdoten machten die Runde, jeder wusste eine Geschichte über sie zu erzählen.

„Du hast sie doch auch gekannt“, sagte Tim Rosen schließlich zu Charlotte. „Was mich betrifft, so war mir sofort klar, dass sie gesprungen ist. Warum hätte jemand sie umbringen sollen? Das war ein beinahe logischer Schlussstrich unter ein Leben, das aus den Fugen geraten ist. Hab ich nicht Recht?“

„Ja“, sagte Charlotte. „Wir sind zusammen aufgewachsen. Verliebten uns in dieselben Jungs, stritten und versöhnten uns und taten all die richtigen und die falschen Dinge, die das Leben in der Jugend so lebenswert machen, bis jeder begann, seiner eigenen Wege zu gehen. Wir fanden schon früh Gefallen daran, uns zu verkleiden und vor dem Spiegel zu posieren. Als wir acht Jahre alt waren, bastelten wir aus den alten Kleidern unserer Mütter Phantasiekleider und zeigten sie auf improvisierten Modenschauen unseren Eltern und Geschwistern. Sie mussten fünfzig Pfennig Eintritt zahlen. Einmal nahmen wir zwölf Mark ein. Nun stellt euch vor, was Anna danach gesagt hat:

– Eines Tages werden wir berühmt sein, Charlotte. Wir haben eine Welt gefunden, die wir mögen, und eines Tages wird diese Welt auch uns mögen.

Nach den ersten Monaten in New York fragte ich sie, ob sie glaube, dass sie sich verändert habe. Anna antwortete, sie glaube nicht, es seien nur die Menschen, die sich ihr gegenüber anders verhielten. Sie werde nie normal behandelt, ständig begegne sie Menschen, die mehr über sie wüssten als sie selbst. Das sei unangenehm, man könne leicht paranoid werden. Sie habe den Eindruck, jedes Mädchen in New York wolle Anna Hansen sein, und das Komische daran sei, es gehe ihr genauso. Und dann ...“

Plötzlich hielt Charlotte inne und rief der Bedienung zu, sie wolle zahlen.

„Wie lange bleibst du in New York?“, fragte sie Mammen, während sie aufstand und ihr schwarzes Chanel-Jäckchen überstreifte.

„Noch eine Weile. Warum gehst du schon?“

„Wenn du Lust hast, kannst du morgen Abend mit zu einer Party bei Anna Sui kommen.“

„Warum nicht.“

„Treffen wir uns doch um 21 Uhr auf einen Aperitif im Pastis.“

„Okay.“

Außer Charlotte Stegemann wusste niemand am Tisch, dass Mammen ein Reporter war, der über Anna Hansen schreiben wollte. Er hielt es für eine gute Idee, es nicht zu erwähnen. Stattdessen hörte er bloß zu.

Charlottes Platz nahm Caitlin Falco ein, die Art Directorin von Lilian’s Place, die mit einem Glas Champagner von der Bar herüberkam. Sie war klein und ein wenig pummelig, ihre schwarzen Haare klemmten hinter den Ohren.

„Ist es nicht furchtbar?“, sagte Jill Bright zu ihr.

„Wie man’s nimmt“, erwiderte Caitlin Falco. Als sie sprach, war es, als würde ein Fingernagel über eine Schiefertafel schrammen.

„Tut bloß nicht so, als würdet ihr aus allen Wolken fallen. Ich hab schon viel früher damit gerechnet.“

„Dass sie sich umbringt?“, fragte Rosen.

„Du glaubst, sie hat er selbst getan?“, fragte Jill Bright.

„Natürlich“, sagte Caitlin Falco, „so fertig wie sie war.“

„Es könnte auch einen anderen Grund geben“, wandte Rosen ein. „Die Beauty-Industrie hat ihr jedenfalls die Pest an den Hals gewünscht, nach dem, was Anna über sie verbreitet hat. Die einstige Ikone der Schönheit und der Reinheit war über Nacht zu einem Risiko geworden, einer Paria. Man ließ es sie spüren. Sobald sie ein Restaurant betrat, standen einstmals gute Bekannte auf und verließen das Lokal, als hätte sie mit ihrem Erscheinen gefährliche Virenkulturen eingeschleppt. In den Vorstandsetagen der Schönheitsunternehmen fand eine Krisensitzung nach der anderen statt, immerhin standen milliardenteure Produktinszenierungen auf dem Spiel. Unter uns, mich würde nicht wundern, wenn jemand dafür gesorgt hat, dass ein bisschen nachgeholfen wurde, damit sie die Klappe hält.“

„Quatsch!“, fuhr Caitlin Falco dazwischen. „Meiner Meinung nach wurde Anna Hansen überschätzt.“

Ihr Gesicht verzog sich zu einer ärgerlichen Grimasse. „Ein Model ist doch bloß eine Projektionsfläche, keine Persönlichkeit. Es verdient diese ganze Aufmerksamkeit gar nicht. Ein Model ist nur ein Model und nicht etwa ein Wissenschaftler, der den Krebs besiegt oder sonst etwas Großartiges getan hat. Alle Welt misst diesen Mädchen so viel Bedeutung bei, und am Ende glauben sie es dann selbst.“

Tim Rosen sagte: „Die Modebranche ist ein anstrengender Job. Man ist nicht automatisch dumm, wenn man dort arbeitet. Mal sind die Models die Superstars, mal die Designer. Zurzeit sind es die Schauspieler.“ Er spielte mit seinem Ohrring. „Jede Generation und Gesellschaft braucht ihre Helden, um sie in den Himmel zu heben. Wollen wir nicht selber alle Helden sein?“

„Das ganze Getue um die Models, die Anzeigen, die Kampagnen, das ist doch in Wahrheit alles eine große Mogelei“, sagte Caitlin Falco. „Die Mädchen, selbst die besten unter ihnen, werden totretuschiert, wenn es die Natur nicht zu ganzer Perfektion geschafft hat. Darauf achten ihre unermüdlichen Agenten und PR-Leute, allesamt Hüter der Makellosigkeit. Manche Fotos sind danach so weit von der Realität entfernt wie ein Eskimo vom Südpol.“

„Anna war ein Klasse-Mädchen“, widersprach Jill Bright ärgerlich. „Ich habe gern mit ihr gearbeitet. Ihr ungeschminkter Wasser-und-Seife-Look gefiel mir auf Anhieb, weil er einem das Gefühl vermittelte, dass die Welt in Ordnung ist, vielleicht sogar gut. Kein anderes Mädchen konnte so über den Runway laufen wie sie. Es war, als würde sie übers Wasser schreiten. Natürlich, das kann man lernen, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die wahre Perfektion hat man wie die Augenfarbe. Auf jeden Fall war Anna Hansen zur Stelle, als aus Kleiderständern Popstars wurden. Wenn man bedenkt, dass Christian Dior, als es noch keine Agenturen gab, seine Mädchen in Pariser Bordellen aussuchte, haben wir heute ein gut funktionierendes System.

Anna besaß das, was den Unterschied zu den anderen Mädchen ausmacht: das Gesicht. Gesichter müssen sein wie Gemälde, in