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Carolina Schutti

einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein

Carolina Schutti

einmal muss ich über
weiches Gras gelaufen sein

OTTO MÜLLER VERLAG

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ISBN 978-3-7013-1193-4

© 2012 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Gesamtherstellung: CPI Moravia Books GmbH. Korneuburg
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

meinen Großmüttern

Inhalt

I. Babuschka

II. Daunenhöhle

III. Warme Himbeeren

IV. Hundert Bürstenstriche

V. Saure Milch

VI. Zimmer drei

VII. Frau Holle

I.

Babuschka

Fang einfach an, sagte Maja,
so viele erste Sätze.

Es heißt nicht Babuschka, sondern Matrjoschka, sagte meine Großtante, die einzige Tante meines Vaters, dabei konnte sie gar kein Russisch. Sie hatte wohl recht, aber ich glaubte ihr nicht. Ich hatte meine Babuschka immer schon so genannt und sie vorsichtig geschüttelt und auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt und die kleinste genau untersucht, ob sie sich nicht auch öffnen ließe wie die anderen, durch einen geheimen Mechanismus, denn ich hatte nicht glauben können, irgendwann bei der letzten angekommen zu sein.

Nachts war ich oft wachgelegen und hatte meine Augen im Zimmer umherschweifen lassen, und ich hatte der großen Babuschka erzählt, wie das Haus von außen aussah und der Garten, das in die Breite gezogene Dorf, der Schatten, der sich mehr als das halbe Jahr auf den Großteil der Häuser legte. Vom Tal mit seinen waldigen Hängen erzählte ich, vom Nachthimmel, der sich fest darüber spannte. Es hatte mir Angst gemacht, dass mir niemand sagen konnte, was dahinter war. Aber vielleicht musste man nur die richtige Frage stellen, um eine Antwort zu erhalten. Die Babuschka schaute mich an mit ihren großen Augen und ich machte sie auf und nahm das kleinste Püppchen heraus, legte es zart in meine Hand, wiegte es hin und her, staunte, wie erwachsen es aussah.

Meine Babuschka war verloren gegangen, so machte man mich glauben, aber das war unmöglich. Ich hatte sie niemals mit nach draußen genommen. Vielleicht hatte meine Tante beschlossen, dass ich zu groß sei für Puppen und sie eines Tages auf dem Dachboden versteckt oder weggeworfen, vielleicht hatte sie das Gemurmel, das allabendlich aus meinem Zimmer drang, für beunruhigend gehalten. Ich habe nie gefragt.

Ich erzählte Marek von der Babuschka und er strich mir das Haar hinters Ohr und küsste mich auf die Stirn.

Moje kochanie, flüsterte er, und ich wusste, was das hieß, wenn ich auch kein Polnisch konnte und das Weißrussisch meiner ersten Jahre verloren gegangen war wie die Babuschka.

Marek hatte ein kleines Holzhaus mit einem verwilderten Garten. Er bot dem alten Walter Geld für die Gartenarbeit, aber mehr als ein paar Äste entfernte er nicht und Mähen war nicht möglich, da beim Zaun und um das Haus herum zu viel Gebüsch wucherte, so sagte Walter jedenfalls. Er ließ das Gebüsch stehen und kaufte sich Schnaps.

Marek trank keinen Schnaps, er trank nie. Trotzdem waren seine Augen manchmal rot, wenn er am Fenster saß und hinausschaute.

Sie seien nicht nacheinander gestorben, wie es sich gehört, hatte mir Marek einmal erzählt, sondern zuerst der Onkel, dann die Großmutter, dann starb Micha, sein Lieblingsneffe, er erhängte sich an einem Baum, an dem Baum, den der Großvater für den Onkel gepflanzt hatte. Über Mutter und Vater sprach er nicht, aber jeder wusste, was passiert war, nur hatte niemand eine Erklärung dafür, warum Marek als junger Mann ausgerechnet in dieses Dorf gezogen, warum er nach dem Krieg nicht nach Hause zurückgekehrt war.

Vergiss das alles wieder, hatte Marek dann gesagt und sich über die Augen gewischt, vergiss es. Ich habe es trotzdem nicht vergessen und fragte meine Tante, ob sie mir etwas über Marek sagen könne. Die Schattenseite ist schlecht, antwortete sie, und setzte nach, was mich das angehe. Ich fragte, warum stehen hier überhaupt Häuser, wenn die Schattenseite so schlecht ist, doch darauf bekam ich keine Antwort.

Der Schnee kam früh und blieb lang, im Hochsommer musste man sich schon um vier eine Wolljacke holen, wenn man draußen spielen wollte. Im Garten wuchsen nur Minze und Kamille, Schnittlauch und Dill. Das Gras, wenn man barfuß darüberlief, stach einem in die Fußsohlen, doch ich konnte mir weiches Gras gar nicht vorstellen. Oder nicht mehr. Als kleines Kind nämlich muss ich über weiches Gras gelaufen sein, ein Mal zumindest, denn nach Jahren gab mir die Tante ein Foto, das mich mit meiner Mutter in einem Park zeigte. Ich hatte ein kurzes, weißes Kleidchen an mit gestickten Blumen und einer handgekettelten Borte am Kragen, meine Mutter hatte mich an der Hand gefasst, lachte in die Kamera und hielt nicht still für das Foto, der Arm war so unscharf wie ihr Gesicht. Wir standen barfuß im Gras, ich sah verunsichert aus, meine Augen weit aufgerissen, meine Lippen ein offener Spalt.

Meine Tante wollte nicht, dass ich Marek besuchte, ich solle lieber mit den anderen Mädchen spielen, meinte sie. Oft tat ich so, als hätte ich den ganzen Nachmittag lang Fangen gespielt und Gummihüpfen, ich kniete mich auf dem Nachhauseweg in die Wiese und strich mit den Handflächen über feuchte Erde. Manchmal, wenn genug Zeit war, legte ich mich ins Gras und sah mir die Wolken an, die sich rosarot färbten, und wenn das Licht es zuließ, konnte ich unzählige kleine Insekten beobachten, die den Himmel bevölkerten und die Luft unruhig machten.

Es stimmt nicht, dass ich mich in ein Insekt verwandeln wollte und davonfliegen, denn ich wäre nicht weit gekommen. Und Tier wollte ich auch keines sein, obwohl es damals dazugehörte, ein Lieblingstier zu haben und alles darüber zu wissen.

Fini fragte mich nach der Schule, welches Tier ich denn gern wäre, und fügte in einem Atemzug hinzu, dass ich nicht antworten solle, sie wisse es, sicher ein Vogel – oder ein Engel, um zu meiner Mutter fliegen zu können. Ich wollte nicht zu meiner Mutter fliegen, denn unter der Erde war es eng und kalt, das hatte mir meine Tante gesagt und das glaubte ich ihr.

Es gibt verschiedene Babuschkas. Manche gleichen sich bis in die feinsten Details und manche haben unterschiedliche Bilder auf dem Bauch. Auf jedem Bauch ein anderes Bild und man weiß sofort,
welche Geschichte dazugehört. Und die große
Babuschka hält alle Geschichten zusammen wie der Umschlag eines Märchenbuches. Das kleinste Bild sollte man sich besonders genau anschauen, denn wenn man Glück hat, gibt es sogar hier auf dieser winzigen Fläche einen Hintergrund, der einen Wald zeigt oder einen Bach oder Blumen. Ich hatte Glück gehabt, meine Babuschka war besonders schön gewesen. An jedes Bild kann ich mich erinnern und auch die Geschichten zu den Bildern weiß ich noch, sie haben sich wie von selbst übersetzt, ohne dass ich es bemerkt hätte.

Marek bat mich oft, ihm diese Geschichten zu erzählen. Ich dachte, dass sie ihn an die Märchen seiner Kindheit erinnerten, vielleicht, weil sie sich ähnlich waren, aber womöglich wollte er nur verhindern, dass sie aus meiner Erinnerung herausfielen.

Marek schenkte mir Süßigkeiten oder bunte Steine, die ich unter einer losen Diele in meinem Zimmer aufbewahrte, doch wenn ich mit meiner Tante unterwegs war und wir ihn zufällig trafen, grüßte er nur kurz und sah mich kaum an dabei, als wäre ich ihm gleichgültig. Aber nachmittags, wenn ich zu ihm kam, strich er mir über die Wangen, setzte sich mir gegenüber an den schweren Holztisch, trank Schwarztee mit Milch und Zucker aus einem Glas mit aufgedruckten Blumen. Meinetwegen hatte er immer einen Vorrat an Getränken, die ich sonst nicht bekam, in der Speisekammer. Ich freute mich auf das sprudelnde Gelb oder Rot, saß auf Mareks Schoß, ließ mir Bücher vorlesen oder Märchen erzählen, lauschte gespannt seiner Stimme. Eine Unregelmäßigkeit lag darin, die nur ich hören konnte, so meinte ich damals, ein Tonfall, der mich an früher, an ganz früher erinnerte.

Als ich groß genug war, um allein mit dem Bus in den Nachbarort zu fahren, schickte mich meine Tante einmal in der Woche zum Einkaufen. Sie gab mir zwei Stofftaschen mit und nach Wochen noch musste ich ihr, bevor ich das Haus verließ, die Haltestellen und die Abfahrtzeiten hersagen. Ich vergaß nie etwas und durfte mir ab und zu eine Kleinigkeit aussuchen. Mit der Zeit kannte ich alle Geschäfte und wurde immer schneller mit den Besorgungen fertig, sodass ich noch durch die Straßen streifen und mir die Auslagen anschauen konnte. Damals begann ich, öfter an meine Mutter zu denken. Ich stellte mich so vor die Schaufenster, dass mein Spiegelgesicht ungefähr auf die ausgestellten Kleider passte. Bei einigen schaffte ich es, in den anderen hingen die Kleider zu hoch. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn sich das Gesicht meiner Mutter neben dem meinen spiegeln, wie ich an ihrer Seite in die Auslage hineinlachen würde und wie wir uns an den Händen hielten dabei.

Manchmal fragte ich mich, wie es wäre, einen jungen Mann an der Hand zu halten, mit ihm zu gehen, wie Fini es nannte. Ich versuchte, mich gerade zu halten, während ich die Straße auf und ab lief, den Bauch einzuziehen, denn das sei ganz wichtig, hatte Fini gesagt, mit den Hüften zu wackeln, sodass es aussah, als hätte ich hohe Schuhe an. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn mich ein junger Mann auf die Sonnenseite holen würde, er würde meine Mutter fragen, ob es gestattet sei, ihre einzige geliebte Tochter mitzunehmen, ja, mitnehmen würde er sagen, meine Mutter würde lächeln und nicken, mich an der Schulter fassen und zu dem jungen Mann hinschieben, ihre Hände vor dem Bauch falten, warten, bis er mir einen Kuss gegeben und mich in die Arme genommen hätte, und dann würde sie winken, bis wir hinter einer Biegung des Weges verschwunden wären.

Fini nahm mich manchmal an der Hand, wenn wir gemeinsam durch den Wald streiften. Wurde es auf dem Nachhauseweg dunkel, packte sie mich so fest, dass die Abdrücke ihrer Finger noch lange sichtbar waren. Ich sagte ihr nicht, dass sie mir wehtat. An langen Sommernachmittagen, wenn wir von den anderen genug hatten und ich nicht bei Marek war, setzten wir uns an den Bach, hielten die Füße ins Wasser, bis sie rot waren, legten uns dann auf die flachen, sonnenwarmen Felsen und krempelten die Blusen hoch, um unsere Bäuche zu bräunen. Fini erzählte mir Geschichten, keine Märchen, sie erzählte, was sie über die anderen Mädchen wusste und über deren Familien und von ihrem älteren Bruder und dessen Freundinnen und Freunden und ausgiebig davon, was sie durchs Schlüsselloch beobachtet hatte. Sie erklärte mir, wie das sein würde in ein paar Jahren, wenn aus uns junge Frauen würden und sich die Männer für unsere gebräunten Beine und Bäuche interessierten. Ich hörte ihr gerne zu, ihre Sätze flossen dahin wie der Bach, ein beruhigendes Plätschern beinah, und obgleich keine Baba Jagas und verzauberten Königstöchter vorkamen, lauschte ich ihren Erzählungen gespannt. Ihre Familie wurde einen Nachmittag lang zu der meinen, Finis Geschichten nahm ich mit nach Hause und mit ihnen das Gefühl, etwas erlebt zu haben und dem Schatten entkommen zu sein. Eines Abends schrieb ich einen Satz, einen halben Satz auf, der mir unterwegs eingefallen war: Könnte man sich all die Geschichten wie einen Schutzschild vor den Leib halten, sich fremde Sätze umhängen wie einen Tarnmantel. Ich las den Satz Fini vor, als wir uns das nächste Mal sahen, doch sie blickte mich von oben herab an und begann zu lachen. Ich knüllte den Zettel zusammen, steckte ihn ein, warf ihn auf dem Nachhauseweg in den Bach und wusste, dass er bald zu kleinen Fetzen würde, um sich dann ganz aufzulösen im kalten Wasser. Nie wieder ist mir so ein Satz eingefallen und nie wieder würde ich so einen Satz aufschreiben. Aber diesen einen habe ich mir gemerkt.

Man muss immer wieder von vorn anfangen, sagte meine Tante, wenn ich meinen Mut zusammennahm und sie nach früher fragte, obwohl ich ahnte, dass sie wieder nicht antworten und mir das Gefühl geben würde, sie mit dieser Frage in Verlegenheit gebracht zu haben. Die Vergangenheit, die ich mit meiner Mutter erlebt hatte, und die Vergangenheit mit meiner Tante haben sich gegeneinander verschoben, ich habe keine Erinnerung an die Schnittkante, keine Erinnerung daran, wie ich aus der Stadt ins Dorf gekommen war.

Ich weiß noch, dass ich die Tante nicht verstand, dass sie in der mir unvertrauten Sprache auf mich einredete, und dass ich zu dem fremden Mann, der mich abgeholt hatte, Papa sagen sollte. Ich sah ihn zuerst nur an den Wochenenden und dann immer seltener, weil er den Rat meiner Tante beherzigte und ganz von vorn anfing. Ich durfte bei der Tante bleiben, sie war froh um Gesellschaft in dem zu großen Haus.

Deiner Mutter war es nicht gut genug bei uns, sagte die Tante, und dass ich gerade ein paar Wochen alt gewesen sei, als sie das Dorf und meinen Vater hinter sich gelassen habe, doch scheiden lassen wollte sie sich nicht, den Grund wisse sie bis heute nicht.

Und jetzt bist du hier, sei zufrieden. Ich wusste, ich musste zufrieden sein.

Als Marek starb, lebte ich nicht mehr im Dorf. Das Foto auf der Todesanzeige zeigt ihn als Fünfzigjährigen, ich weiß es so genau, weil das sein schönster Geburtstag gewesen war, weil das Foto auf einem schmalen Regal neben der Haustür stand, sein schönster Geburtstag, so hatte er jedenfalls gesagt. Fifty-fifty, hatte jemand mit weißem Lackstift an den unteren Rand geschrieben. Für hundert Jahre hat es nicht gereicht, sein Leben, aber wer kann schon sagen, wie viel Leben man mitbekommt. Meine Tante starb vor ihm, sie bekam dreiundachtzig Jahre, um das Grab muss sich niemand kümmern. Sie hatte eine Steinplatte bestellt und Jahre vor ihrem Tod selbst bezahlt, wer möchte, kann eine Kerze daraufstellen oder einen Blumenstrauß hinlegen, den die Sonne trocknet und den der Wind von der Grabplatte weht. Sie wusste, ich würde nicht wiederkommen.

Ich kam nicht wieder, ich konnte nicht, ich habe eine Matrjoschka bekommen, sie sieht meiner alten, meiner versteckten, meiner weggeworfenen Matrjoschka sehr ähnlich. Ich habe sie auseinandergenommen und alle Puppen nebeneinander aufgestellt. Auf die Bäuche sind Szenen aus Märchen gemalt, aber sie machen mich traurig, jetzt, wenn ich mich an sie erinnere. Mit meiner Mutter habe ich meine Sprache verloren, die Einschlafsätze, die Trostsätze, dieses Wogen und Wiegen der Worte, unsere Sprachinsel, auf der nur wir beide Platz hatten, auf der wir durch die Stadt trieben, zum Spielplatz, zum Bäcker. Kübel, Schaufeln und Semmeln, ich kann mich nicht erinnern, mit welchen deutschen Wörtern ich zu meiner Tante kam. Und jetzt: Trostsätze aus dem Wörterbuch, Trostsätze vom Band gesprochen, doch das Wiegen will sich nicht einstellen, die Sätze bleiben vergessen.

Moi bednyj anjol, muss meine Mutter gesagt haben, moj bednyj anjol.

Ich drehe die Puppen um und lasse sie aus dem Fenster schauen, ihre Rücken sehen alle gleich aus. Hellblaue Blumen auf rotem Grund. Wo sind meine ersten Sätze geblieben, frage ich mich, frage ich mich jetzt erst, wenige Jahre lang aufgeblüht zu einer ganzen Sprache und auf der Schattenseite wieder verkümmert, nicht einmal in Erinnerung geblieben, nicht in meiner jedenfalls.

II.

Daunenhöhle

Steh nicht in der Tür herum, sagt die Tante.

Maja drückt sich vom Türstock weg, macht einen Schritt vorwärts, auf die Tante zu.

Ist sie gekommen?, fragt Maja.