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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2012

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh – Stefanie Freischem

(Fotos: plainpicture/ponton/stephen stichler; plainpicture/Elektrons 08; Bill Noll/iStockphoto.com; Phase 4 Photography – fotolia.com)

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ISBN Printausgabe 978-3-86252-025 1 (1. Auflage 2012)

ISBN E-Book 978-3-644-90221-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-90221-3

Für meine Eltern

Frau Dr. Ellen Murnau, die Schuldirektorin meiner Tochter, liegt unter ihrem Schreibtisch und schreit.

«Machen Sie doch was, Sie sind doch Polizist!»

Sie meint mich, denn zum einen ist niemand anders im Zimmer, zum anderen bin ich nun einmal tatsächlich bei der Polizei.

Doch auch ein Polizist muss erst einmal die Dinge sortiert bekommen, und daher mache ich zunächst einmal gar nichts. Sage auch nichts, sondern starre auf den golfballgroßen Stein, der vor ungefähr sieben Sekunden durch die Fensterscheibe krachte und nur knapp den adrett frisierten Kopf der Schulleiterin verpasst hat.

Eben noch teilte mir Frau Dr. Ellen Murnau mit abgeklärter Stimme mit, dass Melina nur mit viel Aufwand, Anstrengung und einer veränderten Arbeitseinstellung die Versetzung in Klassenstufe 11 erreichen werde. Nun hat sich die Sach- und vor allem ihre Stimmlage schlagartig verändert. Ich hatte einiges bei diesem Gespräch befürchten müssen und auch mit viel Schlimmem gerechnet, aber nicht unbedingt damit, dass Steine durchs Büro segeln.

«Machen Sie doch was!», brüllt sie erneut, noch immer unter ihrem Tisch kauernd. Irgendwie hat sie ja recht, wenn sie so etwas von einem Hauptkommissar einfordert, aber es bringt doch nun mal nichts, wenn sie mich so anschreit, finde ich. Ich blicke auf die am Boden liegenden Glasscherben und warte darauf, dass sie es ein drittes Mal tut.

Sie tut es.

Ich gucke zum Fenster, als würde ich auf den nächsten Stein warten. Draußen rennt eine schmale Jungengestalt im

«Da rennt jemand», sage ich zu Frau Dr. Ellen Murnau und zeige mit dem Finger in Richtung Schulhof.

Frau Dr. Murnau, inzwischen wieder aus ihrem Schreibtischversteck herausgekrochen, streift sich ihren himmelblauen Hosenanzug glatt, richtet hektisch ihre Hochsteckfrisur und befiehlt mir in einem Tonfall, mit dem sie sonst vermutlich Fünftklässler maßregelt, die ihre Hausaufgabenhefte nicht ordentlich geführt haben, dass ich doch nun gefälligst hinterherlaufen solle.

Auf diese Idee bin ich aber auch schon selbst gekommen.

Ich renne los und stolpere über das Kabel eines Overheadprojektors, ein Gerät, von dem ich dachte, dass es so etwas im 21. Jahrhundert in Deutschlands Schulen gar nicht mehr gäbe. Nicht so mitten in Hessen. Ich sprinte. Ging auch schon mal schneller und schmerzfreier, denke ich, als ich an diesem milden Frühlingsdienstagnachmittag mit meinen 39 Jahren durch die leeren Schulgänge keuche.

Auf dem Schulhof angekommen, mein linkes Knie und die rechte Hüfte machen sich schon schmerzhaft bemerkbar, ist kein Kapuzenbursche mehr zu sehen. Ich entscheide mich daher für einen dynamischen Gehschritt, der mir trotzdem ermöglicht, eine Zigarette anzuzünden, und schreite in Richtung Waldrand. Meine Hände tasten mich ab und finden mein Handy nicht. Ich kann also im Moment nicht einmal meine Kollegen anrufen und sie auf die Jagd schicken.

Plötzlich entdecke ich in der Nähe des Einkaufsmarktes den Kapuzenpulli. Ich überquere die Straße und renne zielstrebig auf ihn zu. Er sieht mich, verschärft sein Tempo und spurtet Richtung Wald. In wenigen Sekunden hat sich der Abstand zwischen uns verdoppelt.

«Stehen bleiben, stehen bleiben», rufe ich in die Vogelsberger Weite.

Ich weiß, dass ich gleich zurückmuss, zur Schule, zu Frau Dr. Ellen Murnau. Doch jetzt noch nicht, später, entscheide ich, wische mir den Schweiß von der Stirn, begutachte die nassen Flecken unter den Armen, zünde mir eine weitere Zigarette an und setze mich mit Blick auf die Gesamtschule auf einen Baumstumpf. Hier also wird meine Tochter Melina ein weiteres zusätzliches Jahr verbringen dürfen. Wenn nicht ein Wunder geschieht oder sie den Plan, das Abitur zu erreichen, vorzeitig in den Vogelsberger Wind schießt. Hauptsache nur, sie wird nicht von einem Stein erschlagen.

 

Urplötzlich muss ich an DAS denken. DAS, was mein Leben ins Wanken brachte. DAS, was alles durcheinanderwarf und so vieles veränderte. Sogar mich. Über ein Jahr ist das nun schon alles her. In den letzten Monaten ist es mir immer häufiger gelungen, Gedanken und Erinnerungen daran zu vermeiden. Man kann sogar sagen, dass wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt ist.

Ich habe mich entschieden, dass das, was in der Polizeiakte steht, die Wahrheit ist. Es ist auch meine Wahrheit geworden. Der Doppelmörder wurde gefasst, starb kurz darauf in Haft und fertig. Alles andere bleibt Privatsache. So sehe ich das. So will ich es sehen. Und zwar für meine Frau Franziska, für meine Tochter Melina, für meinen Sohn Laurin und für mich, Henning Bröhmann, der sich in diesem Moment auf den Weg zurück zur Schule, zurück zu Frau Dr. Ellen Murnau macht, um sich vermutlich dafür beschimpfen zu lassen, dass er den Steineschmeißer von Schotten nicht mit bloßen Händen zu fassen bekommen hat.

 

Uwe Niespich ist der Hausmeister der Schule. Er bewegt sich irgendwo in einem Alter zwischen 25 und 60 und hat tatsächlich einen grauen Kittel an. Und ich dachte, nur mittelmäßige Kabarettisten tragen heute noch graue Kittel, wenn sie dem «Volk aufs Maul schauen» und mal wieder einen Hausmeister auf der Bühne darstellen. Doch ich dachte ja auch, es gäbe keine Overheadprojektoren mehr. Es würde mich nun auch nicht mehr wundern, wenn ich gleich Matrizenblätter auf Frau Dr. Ellen Murnaus Schreibtisch entdeckte.

Uwe Niespich brabbelt noch eine Weile weiter, wohl mehr mit sich, als an mich gewandt. Jedenfalls höre ich nicht zu, was ihm nichts auszumachen scheint. Ich sitze wieder wie vorhin auf dem Stuhl gegenüber dem Platz der Direktorin und warte auf dieselbige. Sie wolle sich nach dem kleinen Schreck, wie sie selber sagte, noch ein wenig frischmachen und gleich zurück sein.

«Sache Se doch mal jetzt ehrlisch», plärrt mir Hausmeister Niespich ins linke Ohr. «Jetzte mal ganz unter uns Priesterfrauen: Wie viel Prozent von dene Strafanfällischkeite wird von …» – nun dämpft er seine Stimme und blickt verstohlen um sich – «… also, wie viele Verbreschereie werden von Netdeutschen … äh verbroche?»

«Netdeutsche?», frage ich nach und stelle mich blöd.

«Na ja, von dene Ausländä.»

«1,3 Prozent, weltweit», antworte ich.

«Sisste!», antwortet Niespich, ohne dass ich den Eindruck gehabt hätte, dass er meine Antwort gehört, geschweige denn verstanden hat, und verlässt mit dem Scherbeneimer das Büro.

Dann betritt Frau Dr. Ellen Murnau in zackigem Tempo ihr Büro. Sie nimmt hinter ihrem Schreibtisch Platz, lächelt mir souverän zu und sagt: «Herr Bröhmann, ich finde das sehr aufmerksam von Ihnen, doch Sie hätten meinethalben gar nicht mehr wiederkommen müssen. Wir waren doch so weit durch, oder? Melina muss deutliche Signale setzen, um noch eine Chance zu haben. Vor allem in puncto Disziplin ist sie wieder …»

«Verzeihung», unterbreche ich die Schulleiterin zaghaft, «ich bin jetzt eigentlich nicht mehr wegen meiner Tochter zurückgekommen. Ich möchte mit Ihnen über den Vorfall mit dem Stein sprechen.»

«Ach das», sagt sie und lächelt gekünstelt wie eine Bundeskanzlerin, die Bundespräsidenten verteidigt, die sich von Multimillionären den ein oder anderen hübschen Urlaub bezahlen lassen. «Das ist doch längst vergessen. Da machen wir mal einen hübschen Haken dran.»

Wo ist die kreischende Frau geblieben, die noch vor einer knappen Stunde unter dem Schreibtisch kauerte?

«Wie meinen Sie das?», frage ich nach. «Sie wollen keine Anzeige erstatten? Sie wissen schon, dass der Stein Sie nur um Zentimeter verfehlt hat?»

Die Schulleiterin stützt ihre Ellenbogen auf den Tisch, legt ihr Kinn auf die Fäuste und sieht mich an. Sie war bestimmt mal eine recht schöne Frau, denke ich, bevor so eine strenge, stracke Maskerade ihr gut fünfzig Jahre altes Gesicht prägte.

«Was würde denn passieren, wenn ich Anzeige erstatte? Dann stünde morgen doch alles in der Zeitung. Es gäbe unnötige

Ich bin überrascht, und mein Gehirn sendet diese Reaktion auch an mein Gesicht, denn Frau Dr. Ellen Murnau ergänzt:

«Das mag Sie vielleicht verwundern, aber ich sehe das hier wirklich nicht so dramatisch. Wissen Sie, wir bauen hier in der Schule in den letzten Jahren etwas richtig Gutes auf. Wir geben uns alle Mühe, dass sich auch hier bei uns, in der überall so belächelten Provinz, selbst mit Lehrkräften und Schülern aus dem Vogelsberg eine leistungsstarke und moderne pädagogische Situation etablieren kann. Diese Schlagzeilen wollen wir schreiben und nicht, dass irgendwelche Jungchens Steine in unsere Fenster schmeißen. Ich bin sicher, der wusste gar nicht, dass jemand im Zimmer war. Der wollte eine Scheibe einschmeißen.»

Wieder lacht sie präsidial, erhebt sich und reicht mir die Hand. Auch ich stehe auf, rieche das akzentuierte Parfüm der Direktorin und meinen Verfolgungsjagdschweiß und strecke ihr die Hand entgegen.

«Ich würde Sie also herzlich bitten, diese Geschichte ähnlich gelassen aufzunehmen, wie ich das tue. Sie wissen doch in Ihrem Bereich genau wie ich in meinem, was die wirklichen Probleme sind, oder?»

«Ja», sage ich da einfach mal, gehe Richtung Tür und spüre Frau Dr. Ellen Murnau hinter mir her lächeln.

 

Ich verlasse das Gebäude und bin ganz froh, dass es nun am Ende so gelaufen ist. So, als wäre nichts passiert. Alles darf wieder in Ruhe seinen Gang gehen. So wie ich es eigentlich am liebsten habe. So wie es der Vogelsberger an sich am liebsten hat. Die überregionale Bekanntheit, die ich im letzten Jahr zeitweise erlangt hatte, war nichts für mich. Richtig so, nichts ist passiert. So soll es sein, so soll es bleiben. Morgen werde ich

 

Was im letzten Jahr geschah, reicht für die nächsten Jahre, habe ich beschlossen. Dieses permanente Gefühl der Überforderung, privat wie beruflich, brauche ich wirklich nicht mehr. Wenn Franziska mich noch einmal verlassen möchte, dann soll sie es beim nächsten Mal auf eine andere Weise tun. Ich will mich dann auf die Dinge einstellen können. Das wäre mein Wunsch.

Ich hole den hechelnden und sabbernden Berlusconi aus dem Auto, lege ihn an die Leine und führe ihn durch den Frühling.

Eigentlich ist die Reaktion der Direktorin alles andere als überraschend. Ich erinnere mich, dass Frau Dr. Ellen Murnau die Schottener Gesamtschule bei nahezu allen bundesweiten Schulwettbewerben angemeldet hat. Fördergelder will sie mit durchdachten Konzepten gewinnen. Da würde so eine hässliche Geschichte tatsächlich nicht passen.

Wie vom Gesetzgeber geheißen, tuckere ich im Schritttempo durch meinen Wohnort Bad Salzhausen. Höflich grüße ich alle Rollatoren, die von Kurgästen umklammert werden. Ich werde nie zurückgegrüßt, was mich aber nicht stört. Manchmal stelle ich mir vor, es würde hier in diesem stillgelegten Stadtteil von Nidda einmal, ein einziges Mal ein fünftägiges Punkfestival stattfinden, mit obligatorischem Zeltlager im Kurpark.

 

Auf unsere Doppelhaushälfte zufahrend, sehe ich schon von weitem, dass er wieder da ist. Und es steht wieder sein tiefergelegtes Mazda-Dings vor dem Haus. Ich gebe mir wirklich alle Mühe, ihn zu mögen. Also, nicht das Auto, sondern dessen Fahrer. Aber es gelingt mir einfach nicht. Es ist der Freund meiner fünfzehnjährigen Tochter. Franziska sagt, ich sei nur eifersüchtig. Mag ja sein, aber er ist trotzdem nicht der Richtige für Melina. Das spüre ich, nein, das weiß ich. Objektiv gesehen. Ich kenne sie nämlich. Außerdem ist er viel zu alt für sie. Meine Güte, er ist achtzehn! Acht…zehn, volljährig, er fährt Auto … Meine Tochter ist doch noch ein Kind. Na ja, so fast … ein bisschen wenigstens.

 

Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich Franziska mit dem Rücken zu mir auf der Terrasse Dehnübungen machen. Den rechten Arm hat sie in die Luft gestreckt, den linken in die Hüfte gestemmt. Drahtig wippt sie hin und her. Sie ist noch schmaler geworden, fast schon dürr, seit sie laufen geht, wie sie es nennt. Man könnte das, was Franziska manchmal sogar zweimal täglich tut, auch Joggen nennen. Mein Vater sagte früher Waldlauf

«Hallo», rufe ich ihr zu.

«Hi», kommt aus den Tiefen einer Kniebeuge zurück.

«Wollten wir nicht zusammen abendessen?», frage ich mit Blick auf die Uhr und den nicht gedeckten Tisch.

«Du wolltest was kochen, hast du heute Morgen gesagt», ergänze ich und bemühe mich, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen.

«Kann sein», kommt es aus Franziskas Mund, der trotz gestreckter Beine fast den Boden berührt. «Ich habe mich halt anders entschieden.»

Das tut sie derzeit häufig, sich anders entscheiden. Sie möchte nie mehr in diese Mühle von früher geraten, sagt sie immer. Sie müsse einen neuen Rhythmus finden. Es sei alles eine Übergangsphase.

Franziska beendet ihren Dehnfirlefanz, läuft schwungvoll auf mich zu, setzt mir einen Kuss auf die Wange und sagt: «Ich geh noch schnell unter die Dusche, würdest du das Abendbrot machen? Das wäre super. Adrian isst auch mit.»

Schon ist sie im Badezimmer verschwunden, und ein paar Sekunden später höre ich Wasser auf den Duschboden prasseln.

Adrian isst auch mit. Tolle Wurst. Käse decke ich auch noch auf. Dann noch Butter, Radieschen, ein paar Tomaten, fünf Teller, fünf Gläser und fertig.

 

Es klingelt. Dann hämmert gleich jemand an die Tür und ruft:

«Machen Sie sofort auf! Dann passiert Ihnen nichts.»

«Wer ist da?», frage ich.

«Das tut nichts zu den Dingen!»

«Zur Sache», korrigiere ich.

«Was?», brüllt es von der anderen Seite.

«Mir doch egal. Machen Sie sofort die Tür auf, sonst muss ich schießen.»

«O.k. …» Ich berühre vorsichtig die Türklinke.

«Und Hände hoch. Sonst kann ich gegen nichts garantieren.»

Ich öffne die Türe, erhebe die Hände und wimmere: «Ich bin unschuldig, ich habe nichts getan.»

Ein ein Meter dreißig großer Polizist hält mir seinen Dienstausweis vor die Nase.

«Versuchen Sie nicht zu fliehen. Sie haben keine Chance. Das ganze Gebiet ist umzingelt. Los, an die Wand.»

Ich stehe breitbeinig vor der Fotowand mit der Nase am vergilbten Busen von Franziskas verstorbener Großmutter, spüre etwas Waffenähnliches an meinem Rücken und werde abgetastet.

«Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun», jammere ich.

«Hah», ruft er. «Was haben wir denn hier?» Er zieht mir eine Plastiktüte aus der Hosentasche.

«Oh, wie, was?», stammele ich panisch. «Das ist nicht von mir. Das muss mir jemand zugesteckt haben.»

Der Mann zeigt sich ungerührt. «Das können Sie Ihrem Richter erzählen. Ich verhafte Sie hier jetzt … sofort, wegen äh … Mord und Drogen und außerdem … Hey!»

Während der seltsame Polizist nach Worten ringt, löse ich mich aus der Umklammerung und fliehe Richtung Küche.

«Halt! Stehen bleiben, sonst habe ich nichts anderes übrig, als zu schießen!», brüllt er durchs Haus.

«Es bleibt, es bleibt Ihnen nichts übrig, muss es heißen …», rufe ich zurück.

Dann werde ich getroffen. Zwei Schüsse. Einer trifft mich am Bein, der andere an der Hüfte. Ich breche zusammen und sterbe.

So oder ähnlich begrüßen mein sechsjähriger Sohn Laurin und ich uns in den letzten Wochen recht häufig.

 

Wenig später brülle ich ins Kellergeschoss: «Äähssen!»

Eine Weile ist nichts zu hören. Dann rufe ich noch einmal den gleichen Text. Jetzt kommt von meiner Tochter Melina ein eher verhuschtes «Gleich».

Melina wohnt neuerdings unten. Sie wollte das. Hat in ihrem Kellerzimmer zwar kaum Tageslicht, dafür aber ihre Ruhe, genügend Abstand zu den Eltern und vor allem einen eigenen Eingang. Was ich manchmal schwierig finde. Ich verweile immer noch auf der Kellertreppe und höre von unten albernes Gekichere und betriebsames Flüstern.

«Komm, Henning, lass uns doch anfangen», ruft mir Franziska, inzwischen frisch geduscht und mit hässlichen Leggins bekleidet, zu.

«Was machen die denn so lange da unten?», frage ich, ohne meinen Blick von Melinas Zimmertür abzuwenden.

«Mensch ärgere dich nicht spielen, vermute ich mal», antwortet Franziska trocken. Ich finde das nicht witzig.

«Muss der Typ jetzt immer hier mitessen?», zische ich nach oben. «Hat der kein Zuhause? Gehört der jetzt schon zur Familie, oder was?»

«Lass ihn doch. Der ist doch nett. Und Melina macht’s glücklich.»

«Ach was», sage ich und stapfe nun doch die Treppe hinauf. «Ich jedenfalls will noch nicht mit 39 Opa werden. Und schon gar nicht soll mein Enkelkind einen so aufgeblasenen Heini zum Vater haben.»

«Henning», sagt Franziska und berührt mich leicht am Oberarm. «Du bist doch nur eifersüchtig.»

«Warst du nicht eben zu dem Gespräch mit der Murnau?», wechselt Franziska das Thema.

«Jaja.»

«Und?»

«Sieht nicht gut aus. Melina müsste nun richtig Gas …»

«Entschuldigen Sie bitte die Verspätung», unterbricht mich in diesem Moment Adrian, der geräuschlos die Treppe hochgekommen ist. «Ich habe Mel beim Geschichtsreferat geholfen, und wir wollten das noch schnell abschließen.»

Melina, die wir Melina nannten und nicht Mel, kommt hinterhergetrottet. Sie grinst und hat verräterisch rote Wangen.

Jaja, Geschichtsreferat, so nennt man das also heute, denke ich und fühle mich wie mein eigener Vater.

«Herzlichen Dank, dass ich wieder mitessen darf», schmiert der Jüngling weiter. «Das sieht aber leggä schmeggä aus.»

Adrian Albrecht ist nun schon drei Monate lang der Freund meiner Tochter. Es ist ihre erste große Liebe, wenn man das so nennen mag. Jedenfalls nach meinem Kenntnisstand. Für Melina gibt es derzeit nur Adrian. Adrian hier, Adrian da. Sie himmelt ihn so heftig an, dass es irgendwann ein böses Ende nehmen wird. Warum nur kann man seine Kinder nicht vor allem Leid beschützen? Ich weiß, sie müssen ihre eigenen Erfahrungen machen, bla, bla, bla. Liebeskummer ist ja auch schön und gut, aber doch bitte nicht wegen so einem Schnösel.

Adrian trägt seine schwarzen Haare sehr kurz und mit ausrasiertem Nacken. So, als ginge es gleich morgen nach Afghanistan. Tatsächlich will er sich, der abgeschafften Wehrpflicht trotzend, direkt nach dem Abitur bei der «Truppe», wie er es nennt, melden. Er könne sich auch gut vorstellen, dort zu studieren, hat er kürzlich erzählt.

Adrian trägt ein enges schwarzes T-Shirt, in dem seine im Fitnessstudio erworbenen Muskeln besonders gut zur Geltung kommen. Er trägt immer enge schwarze T-Shirts. Seine Haut ist zu braun für die Jahreszeit, und mir fällt erstmals auf, dass er sich die Augenbrauen gezupft hat. Ein gepflegter junger Mann, würde meine Mutter sagen. Aber das macht die Sache auch nicht besser.

Melina spricht und isst so gut wie gar nichts und himmelt und himmelt.

In eine kurze Gesprächspause sage ich: «Melina, ich hatte heute ja das Gespräch in der Schule. Wegen deiner Versetzung … ne?»

Ich setze einen väterlich autoritären Gesichtsausdruck auf.

«Ja, und? Was sagt se, die dumme Murnau?», blafft sie, erfolgreich von mir aus dem Anhimmelmodus herausgerissen. Das ist sie wieder, meine Melina, wie ich sie kenne und liebe.

«Es sieht so aus, als ob du die 10 wiederholen müsstest. Es sei denn, du änderst dich extrem in deiner Einstellung …»

«Hohh, Mann, ist ja gut jetzt. Können wir vielleicht wann anders drüber reden???»

«Mel», mischt sich Adrian ein. «Ich finde, du solltest deinem Vater ruhig zuhören. Deine Noten sind wirklich …»

«Melina hat recht», unterbreche ich ihn. «Wenn sie das so möchte, werden wir das Thema in der Familie besprechen, im kleinen Kreis.»

Zu dem du, du kleiner Scheißer, nicht dazugehörst.

Kann er und darf er.

Ich blicke zu Franziska. Sie schaut durch mich hindurch. Sie ist in ihrem eigenen Film. Mal wieder. Irgendwo anders, ganz weit weg, im gedanklichen Exil. Doch es wird wieder, da bin ich sicher. Es braucht Zeit, und die soll sie bekommen. Auch wenn es mit dem Geld immer enger wird, seit sie nicht mehr als Lehrerin arbeitet.

Kurz erwäge ich, von der Steinwurfgeschichte zu erzählen. Doch was bringt das außer Aufregung? Nichts.

Es ist ja auch so nicht leicht. Ich gebe zu, dass Franziska es war, die eine Paartherapie machen wollte. Ich war der, der geblockt hat. Überreden wollte sie mich nicht. Zum Glück. Arbeiten will sie, sagt sie immer, an sich und an unserer Partnerschaft. Mir reicht aber schon die Arbeit bei der Polizei.

Ich glaube daran, dass die Dinge sich irgendwie fügen werden. Man sollte nur einen Fehler nicht machen: die Ansprüche zu hoch zu stellen.

 

Als Franziska und ich um kurz nach Mitternacht nebeneinander im Bett liegen und ich gerade im Begriff bin, meine Leselampe zu löschen, sagt sie auf einmal: «Henning, ich finde deine Haltung gegenüber Adrian lächerlich. Melina merkt, dass du ihn nicht magst. Dabei ist er so ein netter aufgeschlossener Kerl. Und Melina scheint glücklich zu sein. Das ist doch das Wichtigste, oder nicht? Diese Abneigung hat nur was mit dir selbst zu tun. Niemand anderes kann es dir recht machen.»

Ich will eigentlich schlafen und nicht diskutieren, sage dies auch so und drehe ihr den Rücken zu. Ich ärgere mich über ihre Bemerkung und weiß schon jetzt, dass ich nun alles andere hinbekommen werde, nur nicht einschlafen.

Moinsen», sagt Kriminalpolizeikollege Teichner nun immer zur Begrüßung, seit er mit einigen Kumpanen vom Schützenverein «SC Lauterbach» eine Exkursion zur Hamburger Reeperbahn durchführte. So auch an diesem Mittwochmorgen, als ich unser kleines schmuckloses Büro in der Polizeidirektion Alsfeld betrete. Teichner trägt heute ein T-Shirt mit der Aufschrift: «Bier formte diesen wunderbaren Körper».

«Guten Morgen», grüße ich so förmlich wie nur irgend möglich zurück. Während ich mir einen Cappuccino an unserem neuen Kaffeevollautomaten ziehe, betritt auch mein zweiter Kollege, der von mir überaus geschätzte Markus Meirich, das Büro.

Glücklicherweise bin ich nicht mehr sein Chef. Seit Februar ist Markus ebenfalls Hauptkommissar und mir somit gleichgestellt. Es wurde auch höchste Zeit. Es war in den letzten Jahren eine Farce, dass der, der den Laden hier schmiss, offiziell mir unterstellt war. Jetzt teilen wir uns die Dienststellenleitung.

Auch Markus Meirich reiche ich einen Cappuccino, dann setze ich mich mit meinem halben Hintern auf die Ecke seines Schreibtischs.

«Alles klar bei dir?», frage ich. «Du siehst so mitgenommen aus.»

Er nickt müde. «Ich war gestern mit meinen alten Volleyballkollegen einen trinken. War nett, wurde aber sehr spät.»

Markus Meirich, der mit seinem durchtrainierten Zwei-Meter-Körper immer noch wie ein aktiver Leistungssportler aussieht, hat bis vor wenigen Jahren in der Bundesliga Volleyball gespielt.

«Liegt nichts Besonderes an heute, oder?», fragt er mit Blick auf die Termintafel und nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse.

«Gerne. Ich hasse das ja.»

Markus ist Kriminalist durch und durch. Er mag seinen Beruf dann am liebsten, wenn es aufregende Fälle zu lösen gibt. Pädagogisches Trallala mit Schulklassen, die präventiv und spielerisch auf das Böse im Leben vorbereitet werden, langweilt ihn. Bei mir ist das umgedreht. Für Markus passieren hier im Vogelsberg viel zu wenige Morde. Mir haben die im letzten Jahr mehr als gereicht. Ich fürchte, auch Markus wird hier nicht mehr lange bleiben.

Er ist im Übrigen überzeugt, dass der Fall im letzten Jahr zu schnell abgeschlossen wurde. Er hätte gerne weiter ermittelt. Ich tat alles, damit das nicht passiert. Und der entscheidende Mann, unser Vorgesetzter und mein Onkel Kriminaloberrat Ludwig Körber, unterlag sehr schnell der Versuchung, sich mit der Aufklärung des spektakulären Faschingsmords überregional feiern zu lassen, und schloss die Akte.

Doch das ist Schnee von gestern.

Heute scheint die Sonne, der Frühling gibt alles und treibt die Allergiker zur Verzweiflung. Eine Weile stehe ich noch an Markus Meirichs Schreibtisch herum. Einfach so, weil er nett ist und es mich von der Arbeit abhält. Wir wechseln ein paar freundschaftliche, private Worte und treiben das ein oder andere laue Späßchen.

Dann schleppt Teichner seinen mit unzähligen Würsten und Bieren gemästeten Leib in unsere Richtung. Markus sieht sein T-Shirt und verdreht die Augen.

Teichner gesellt sich zu uns.

Markus und ich beenden unser Gespräch und blicken ihn mehr oder weniger erwartungsfroh an.

«Ja?», sage ich.

«Och, nix.»

Ach, er hat’s auch nicht leicht, denke ich ihm nachblickend. Zu Recht.

 

Mit dem Haufen Pubertierender komme ich wie immer gut klar. Ich gehe da zu Hause seit drei Jahren durch eine harte Schule und bin somit im Training. Und jetzt muss die Büdinger Schulklasse Rollenspiele machen, bei denen sie lernen soll, dass, wenn sie in der Nachbarschaft einen Mann seine Frau verkloppen hört, sie ihr Spiel auf dem Handy gerne unterbrechen darf, um mit dem Gerät lieber etwas Sinnvolles zu tun. Zwischendurch werfe ich neckische Scherze ein, die ich vorher bei Melina ausprobiert habe. Wenn sie neutral guckt, weiß ich, dass andere Jugendliche darüber lachen könnten.

Danach gibt es einen Lehrfilm, wie man sich in einer U-Bahn vorbildlich verhält, wenn Mitbürger belästigt werden. Ich ignoriere die Tatsache, dass die meisten der Jugendlichen gar nicht wissen, was eine U-Bahn ist, da wir im Vogelsberg froh sein können, wenn zwei-, dreimal am Tag irgendwo ein Nahverkehrszug hält.

Am Ende führe ich sie noch durch die verschiedenen Räumlichkeiten der Alsfelder Polizeidirektion. Sehr spannend. Auch unser Büro wird besichtigt. Die Jungs kichern über Teichners T-Shirt. Als wir den Raum wieder verlassen, höre ich ihn tatsächlich, nachdem er ausgiebig die Popos der dreizehnjährigen Mädchen begutachtet hat, leise zu Markus flüstern:

«Lass die noch mal ein paar Jahre auf die Weide …»

 

Nach einer ausgedehnten Mittagspause stimme ich mich gerade mit unsinnigen Aufräumarbeiten auf meinem Schreibtisch so langsam auf den unverdienten Feierabend ein, da höre ich von

Der Blick meines Vaters wandert in rasantem Tempo durch unser Büro und bleibt an Teichners T-Shirt haften.

«Ist das heutzutage die Dienstkleidung eines Polizisten bei der Kripo Alsfeld?», fragt er mit tiefsitzender strenger Falte über der Nase, zeigt mit dem Finger auf den dicken Teichner und sieht mich dabei an.

«Hallo Papa, das ist ja eine Überraschung», wechsle ich das Thema und bemühe mich, meiner Stimmmelodie etwas Freudiges unterzumischen. Ich stehe auf und reiche ihm meine sofort schwitzig werdende Hand zur Begrüßung. Auch Körber und den unbekannten Dritten, der sich breit grinsend im Raum umschaut, begrüße ich per Handschlag.

«Vielleicht kann man mal hergehen und den Beamten der hiesigen Kriminalpolizei mitteilen, dass sie im Dienst neutrale Kleidung zu tragen haben», fährt mein Herr Vater fort.

Ich bin mir unsicher, ob er damit mich meint oder Kriminaloberrat Körber, der jahrzehntelang direkt meinem Vater unterstellt war und den er vor 39 Jahren zu meinem Patenonkel kürte. Mein Vater hat auch Jahre nach Eintritt in seine Pensionszeit noch nicht verstanden, dass er von diesem Zeitpunkt an hier eigentlich nichts mehr zu sagen hat. Er gilt nicht unbedingt als Meister des Loslassens. Legendär ist die polizeiliche Diensttelefonleitung, die er sich in sein Wohnhaus nach Rudingshain hat legen lassen. Er könnte es nicht ertragen, bei Telefonaten mit der Direktion als «externer» Anrufer zu gelten.

«Man sollte eigentlich wissen, dass man als Staatsdiener nicht herzugehen und Parolen auf dem Oberhemd zu tragen hat, seien es politische oder …»

«Ich denke, man hat mich verstanden!», zischt der ewige Polizeipräsident.

Teichner murmelt eine unterdrückte Entschuldigung und versichert, dass dies nicht mehr vorkommen werde.

«Wenden Sie sich mit Ihrer Entschuldigung an Kriminaloberrat Körber. Ich habe in diesem Laden ja nichts mehr zu sagen. Das sollte man inzwischen mitbekommen haben, nicht wahr?», schnarrt mein Vater.

Der mir unbekannte halbglatzige Herr, dessen Frisur am Hinterkopf beginnt und dafür erst auf den Schultern endet, inspiziert derweil ein Bücherregal, auf dem lieblos ein paar Gesetzesbücher aneinandergereiht vor sich hin stauben.

Hilflos nehme ich den nächsten Anlauf, die Situation ein wenig aufzulockern, und sage: «Wusste gar nicht, Papa, dass du heute in Alsfeld bist. Ist Mutter auch mit? Macht ihr euch einen schönen Tag?»

«Kann man bitte hergehen und nicht das Private mit dem Beruflichen vermischen?»

Ich muss lachen, was meinem Vater sichtlich nicht gefällt, mir aber erfreulich egal ist.

Nun endlich ergreift Onkel Ludwig Körber das Wort. «Wo ist der Kollege Meirich?»

«Bei einem Außentermin», antworte ich knapp.

«O.k., also Henning, dies hier ist Manfred Kreutzer. Der wird in den nächsten Tagen mal bei euch hospitieren.»

«Aha …», antworte ich. Ein Hospitant. Der Mann ist weit über sechzig und trägt eine schwarze ledrige Weste, weite schlecht sitzende Jeans, darüber einen Bauch, der vermutlich auch von Bier geformt wurde, und hellbraune Herrenslipper-Bömmelchen-Schuhe.

«Manfred ist mir seit Jahren ein sehr gut Bekannter», sagt mein Vater. «Er müsste dir eigentlich auch ein Begriff sein?»

«Nee, so richtig weiß ich jetzt nicht …»

Ärgerlich das alles. Ich bin nicht der Meinung, gelangweilten Rentnerfreunden meines Vaters Entertainment bei der Polizei bieten zu müssen.

«Henning, wir müssen sofort los», unterbricht uns Teichner aufgeregt. «Amokdrohung in der Vogelsbergschule in Schotten.»

Ich erstarre. Melina! Dann denke ich an den schmächtigen Steinewerfer.

«Ja, einwandfrei, da häng ich mich doch grade mal hinndedran», meldet sich dieser Manfred Kreutzer ungefragt mit tiefer nuscheliger Stimme. «Gleich ein Einsatz, wunnerbar!»

Bevor ich in die Lage komme, ihm das zu untersagen, befiehlt mein Polizeipräsidenten-a.-D.-Papa: «Der kommt mit, basta. Der hat mein vollstes Vertrauen!»

Du sollst verrecken, Murnau! Und mit dir die ganze Schule. Ich komme wieder.

Diese unschöne Briefbotschaft liegt vor unser aller Augen auf dem mir so gut bekannten Schreibtisch der Frau Dr. Ellen Murnau. Sie selber hat diesmal hinter und nicht unter dem Möbelstück Platz genommen. Ihr Gesicht ist der Situation angemessen blass.

Neben mir sitzt tatsächlich unser neuer Praktikant, der bei dieser Besprechung genauso wenig zu suchen hat wie das T-Shirt meines Kollegen Teichner. Einfach beschämend, das alles.

«Haben Sie einen Blassen, wer oder was damit gemeint sein könnte?», fragt das schlimme T-Shirt die Schuldirektorin.

Frau Dr. Ellen Murnau rümpft die Nase. «Sie meinen mit Ihrer Formulierung, ob ich eine Ahnung hätte?»

«Yep!»

Ich schalte mich ein und erzähle von dem gestrigen Vorfall mit dem Steinewerfer. In Teichners Blick lese ich: «Warum hast du das nicht gemeldet?» Glücklicherweise hält er den Schnabel. Auch Manfred Kreutzer glotzt mich dämlich an.

«Ich habe ihn kurz gesehen, allerdings nur von hinten», fahre ich fort. «Zudem war sein Gesicht vermummt. Zierlich, klein. Ich vermute, ein Junge im Alter zwischen elf und dreizehn.»

Manfred Kreutzer, der einen Schreibblock auf seinem Schoß liegen hat, schreibt alles akribisch mit.

«Ein Mädel könnte es nicht gewesen sein?»

«Ich glaube nicht», antworte ich. Und vor allem keines, das

Kreutzer beginnt neben mir mit dem rechten Bein zu wackeln, was mich in Verbindung mit dem dauerhaften Schreibstiftkritzelgeräusch kolossal irritiert.

«Wir müssen nun also den Steinwurf gestern als klare Attacke auf Sie, Frau Murnau, betrachten», sage ich. «Die Drohung dieses Briefes ist namentlich an Sie gerichtet. Ich denke, wir sollten das ernst nehmen.»

Alle nicken ernst, auch Frau Dr. Ellen Murnau.

«Gibt es irgendjemanden in der Schule, mit dem oder der Sie zurzeit richtig Ärger haben?»

Ellen Murnau stößt einen kurzen Seufzer aus. «Sie wissen doch selbst, wie beliebt wir Lehrer und Lehrerinnen sind …»

«Niemand, der Sie in letzter Zeit beschimpft hat oder Ähnliches?»

«Nein. Außer Ihrer Tochter niemand», rutscht es ihr heraus. Ich lache. Als Einziger in der Runde.

«Entschuldigen Sie bitte», murmelt die Schulleiterin etwas peinlich berührt hinterher. «Ich bin einfach etwas angespannt.»

Es klopft an der Tür, und eine Frau kommt herein. Frau Dr. Ellen Murnau stellt sie als Frau Stefanie Assmann vor, die für den Vogelsbergkreis als Schulpsychologin arbeite.

«Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Ich hatte etwas Probleme mit meinem Auto», sagt sie und setzt sich auf den freien Platz neben Teichner.

«Frau Assmann habe ich hinzugebeten, da der Brief ja auch eine Drohung an die Schule, also auch an die Schüler enthält», erklärt Ellen Murnau.

«Außerdem hat sie viel mit einzelnen Schülern zu tun gehabt, die, na ja, sagen wir mal, zu so etwas fähig sein könnten. Vielleicht kann sie uns bei der Einschätzung helfen, wie ernst so eine

Stefanie Assmann, die Mitte dreißig sein dürfte und kurzes, gescheiteltes braunes Haar trägt, lächelt kurz und lässt sich von mir über den jungen Steinewerfer informieren.

«Ich denke», sagt sie danach, «der Täter will dir, Ellen, hauptsächlich Angst machen. Darum geht es ihm in erster Linie. Ich vermute, der Steinwurf sollte dich auch nicht treffen, sondern dir in erster Linie einen Schrecken einjagen …»

«Hätte er aber fast», unterbricht Teichner sie in unangemessen patzigem Ton. Teichner hat so seine Probleme mit dem Berufsstand der Psychologen und mit studierten Frauen ohnehin.

Die Schulpsychologin zieht gelassen eine Braue hoch, blickt zu Teichner, als würde sie ihn fragen, ob sie nun weiterreden dürfe, und fährt fort.

«Seine Vorgehensweise hat etwas Unbeholfenes. Ich glaube nicht, dass er eine große Aktion gegen die Schule plant. Doch er wird weitermachen, Nadelstiche setzen, vor allem gegen dich, Ellen.»

Frau Dr. Murnau nickt.

«Das ist aber nur eine erste grobe Einschätzung. Also weder eine Wahrheit noch eine Weisheit.»

Ein schöner Satz. Den höre und sage ich viel zu selten.

Stefanie Assmann schaut in die Runde und bleibt mit ihrem Blick bei unserem Hospitations-Manni hängen.

«Kenne ich Sie nicht?», fragt sie. Kreutzer blickt auf und unterbricht seine Notizen. Auch sein Bein gibt endlich Ruhe.

«Das mag durchaus möglich sein», brummt er und grinst dabei blöd.

«Ja natürlich», ruft Stefanie Assmann entrüstet in die Runde. «Der ist doch von der Zeitung. Was hat denn hier bitte jemand von der Zeitung zu suchen?»

Sie blickt zu Frau Dr. Ellen Murnau, die diesen Blick

«Ich verstehe nicht», bringe ich hervor.

«War», sagt dann Manfred Kreutzer.

«Wie, war?», frage ich.

«War bei der Zeitung. Seit zwei Jahren bin ich im Unruhsstnd.»

«Bitte wo?», hake ich nach. Das letzte Wort war für niemanden zu verstehen.

«Im Unruhestand», antwortet er, diesmal deutlicher.

«Aber das kann doch nicht angehen, Herr Bröhmann», ruft Ellen Murnau voller Empörung und erhebt sich von ihrem Schreibtischstuhl. «Wenn in den nächsten Tagen irgendetwas von diesem Gespräch hier in der Zeitung steht und dadurch eine Panik bei Eltern und Schülern ausgelöst wird, dann mach ich Sie dafür verantwortlich, das können Sie mir glauben!»

«Ruhig Blut und tief durschtmen», kommt es bassig aus Kreutzer herausgemurmelt.

«Durschtmen» interpretiere ich für mich mal als «Durchatmen».

«Dem wird nicht so sein», fährt Kreutzer fort, während er sich breitbeinig zurücklehnt und seine verschränkten Arme auf dem Bierbauch ablegt. «Der Polizeipräsident a.D. Bröhmann vertraut mir nicht ohne Grund. Selbstverständlich wird von mir nichts nach außen getragen. Alles streng vertraulich. Dasdochernsach.»

Wieder versteht keiner dieses letzte Wort. Es fragt aber auch niemand nach, und wenig später wird das Meeting von Frau Dr. Ellen Murnau verärgert abgebrochen.

 

Warum muss mir bitte der Herr Vater so ein Kuckucksei hier ins Nest legen? Als wäre mein Job nicht schwer genug, als wären die

Zügigen Schritts gehe ich vor Teichner und Kreutzer her in Richtung des Schulparkplatzes.

Da kommt plötzlich der Hausmeister Uwe Niespich aufgeregt herangerauscht.

«Gut, dass Sie noch da sind», hechelt er. «Komme Se mal mit.»

«Was ist denn los?», frage ich.

«Weggesperrt gehör’n die Drecksäcke. Alles zusamme, rin in ’nen Sack und ordentlich druffgehaue.»

Empört weist er zum Parkplatz. Die vier Autoreifen des uns am nächsten stehenden sportlichen Kleinwagens sind zerstochen.

«Tötet Murnau» ist zudem in den schwarzen Lack der Fahrertür eingekratzt worden.

«Das ist der Wagen der Frau Direktorin. Ich wüsst, was ich mit dene anstelle dät, dät isch die in die Finger krieje!» Hausmeister Niespich ist so erregt, dass er mir ein Tröpfchen Speichel auf die Wange spuckt.

Teichner, der inzwischen zusammen mit Manfred Kreutzer ebenfalls den Ort des Geschehens erreicht hat, pfeift lautlos in den Wind und sagt: «Hoi, hoi, hoi, na herzlichen Glühstrumpf.»

Ich atme tief durch. Scheiße, das nimmt nun langsam Formen an, die mir so gar nicht gefallen.

Reschersche», knödelt Manfred Kreutzer auf meine Frage, warum er denn ausgerechnet dieses Praktikum bei uns machen möchte. Wir sind auf der Fahrt zurück nach Alsfeld ins Präsidium, nachdem kriminaltechnisch alles rund um die Autobeschädigung untersucht wurde.

«Alles Reschersche für meinen Krimi.»

«Oha?», bringe ich hervor.

«Ich hab schon immer gern geschrieben, so nebenher. So wie’s neben der Arbeit bei der Zeitung halt ging. Stressische Zeiten warn des …» Manfred Kreutzer schließt die Augen, lächelt gütig und nimmt sich viel zu viel Zeit, seinen Sermon fortzusetzen. «Da braucht ihr keine Angst ham, ich geb nix an meine alte Redaktion weiter. Meinen Nachfolger kann ich eh net leiden. Ein Schnösel vor dem Herrn ist das.»

«Hm.»

«Das Kapitel ist abgschlssn.»

Es ist eine dieser Autofahrten, bei denen jede Ampel rot ist.

«Als ich deinem alten Herrn beim Skaten von meinem Buchprojekt …»

«Skaten?», unterbreche ich und unterdrücke ungläubiges Gelächter. «Mein Vater skatet?»

«Ei nee, so nenn ich das immer, wenn mir mittwochs Skat kloppe.»

Teichner lacht, ich nicht.

«Grüner wird’s nicht», kommentiert Teichner von der Rückbank.

«Als ich deinem Vater also von meinem Krimiprojekt erzählt hab», fährt Kreutzer fort, «da schlug er mir gleich vor, dass ich

Na ja, ob das so schön ist, wenn eine Schulleiterin mit dem Tode bedroht wird, denke ich so vor mich hin.

«Und um was geht’s in Ihrem Krimi denn?», frage ich mäßig interessiert.

«Na ja, es ist eigentlich eher ’n Driller.»

«Ui», mache ich. «Und was ist das Thema?»

«Da bin ich noch am Guggn. Stoff hab ich genug. Wenn ich allein die Sache, die ich in der Kreisredaktion beim Vogelsberger Landbote erlebt hab, aufschreim würd, dann hätt ich schon zehn Bücher fertig.» Da lacht er leise und atmet dabei affektiert aus.

Wir fahren auf einer sehr engen Landstraße, die zum Überholen nicht geeignet ist, wie die vielen kleinen Holzkreuze am Straßenrand eindrücklich dokumentieren.

«Und jetzt lass ich mich noch bei euch nbissi insprn.»

«Bitte?»

«Inspirieren.»

«Ach so …»

«Es soll auf jeden Fall so in die Richtung Stieg Larsson gehen. Adler Olsen und so. Ich plan ’ne vierbändige Trilogie», erzählt Manfred Kreutzer.

«Also ’ne Driller-Drillogie», verarsche ich ihn, wissend, dass er es nicht bemerkt.

«Genau, genau, das isses, besser kann man’s net ausdrckn. So ’n bissi mit Geheimdienst, aber auch viel Lokalkollorit hier aus unserem Vogelsberg.»

«Geheimdienst im Vogelsberg?», frage ich zaghaft nach.

«Genau, genau, so was, ja.» Manfred Kreutzer strahlt mich mit weit aufgerissenen Augen an und zückt seinen Notizblock.

«Das wär ’n super Titel», jubelt er. «Geheimdienst im Vogelsberg, super. Moment, muss ich mir gleich aufschreiben. Ich geb die Idee gleich morgen an den Verlag weiter.»

«Ja, das heißt fast, also so gut wie … Ich hab da so Kontakte …»

«Kontakte?»

«Ja, von meinem Schwager der Schwippschwager der Kusseng hat ’n guten Draht zum Verlagswesen.»

«O.k., und zu welchem Verlag?», frage ich fast ernsthaft interessiert nach.

«Na ja, so allgemein. Der kennt einfach alle.»

«Alle?»

«Alle!»

Die Unterredung beginnt mir nun mehr und mehr Spaß zu machen. Schade nur, dass Markus Meirich nicht im Auto sitzt und ich ihm keine vielsagenden Blicke zuwerfen kann.

 

danke für die geilen Pics. Voll toll, das Meer *_* … will auch hin. Wie läufts in der Schule? Verstehst du alles??? Miss u!

So, nun die von dir gewünschten News aus der Heimat …:

Ich bin so fett. Dabei ess ich gar nicht mehr als wie immer … ok, is jetzt vielleicht auch nicht sooo megainteressant für dich, geht mir aber im Kopf rum. Hab grad geduscht und beschlossen, ich muss abnehmen!!! Nehm mich beim Wort! Keine Angst, ich will bestimmt nicht so enden wie die Jana mit ihrer Bulimie-Scheiße. Wenn ich die auf ihrem Apfel da rumknabbern sehe … Da werde ich lieber so fett wie die Lisa … lol!

Ich habe halt Schiss, dass das immer so weiter geht. Dass ich immer fetter werde, ohne, dass ich was für kann. Dann hab ich bald Oberschenkel wie Cristiano Ronaldo … Der Unterschied ist nur, bei dem sieht’s geil aus.

Und dann liebt mich Adrian bestimmt nicht mehr. Oh Gott, Stopp, nicht weiterdenken, fang jetzt schon an zu flennen, nur bei dem Gedanken … Oh mann, Mara, jetzt weiß ich echt, was Liebe ist. Alles was vorher war, Kinderkacke. Adrian, das ist ernst. Ich lieb ihn so!!!!!!!!! Ich will ohne ihn nicht mehr leben. Das kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Krass, wie lang wir schon zusammen sind … es sind jetzt 3 Monate, 11 Tage, 5 Stunden und 8 Minuten. Ich kanns immer noch nicht glauben. Der kann doch alle haben und ich bins. Hammer!!!!

Nächstes Jahr, wenn er Abi hat, dann will er sich ne eigene Wohnung besorgen. Und dann zieh ich zu ihm, wenn ich 16 bin. Und da hält mich keiner von ab!!!!! Auch nicht Mom oder Dad!.

Mom ist ständig daheim, seit sie wieder zurück ist. Das nervt. Ich mein, es hat mehr genervt, als sie weg war, aber immer da ist genauso scheiße. Außerdem geht mir ihr ewiges Rumgejogge auf den Sack. Die hat bald einen dünneren Arsch als ich.

 

LA