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Friedrich Ani

Süden und das heimliche Leben

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Friedrich Ani

Friedrich Ani wurde 1959 in Kochel am See geboren. Er arbeitete als Reporter, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Er schreibt Romane, Kinderbücher, Gedichte, Hörspiele, Drehbücher und Kurzgeschichten. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, so u.a. mit dem Tukan-Preis für das beste Buch des Jahres der Stadt München. Als bisher einziger Autor erhielt Ani den Deutschen Krimipreis in einem Jahr für drei Süden-Titel gleichzeitig. 2010 folgte der Adolf-Grimme-Preis für das Drehbuch nach seinem Roman »Süden und der Luftgitarrist«. 2011 erschien bei Droemer der Roman »Süden«. Friedrich Ani lebt in München.

Impressum

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2012 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Kn aur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Buchcover/Hayden Verry

ISBN 978-3-426-41513-9

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»Servus, wo bist du?«

»In der Nähe des Südpols, irgendwo in Afrika.«

1

Regen prasselte auf die Gartentische vor der offenen Tür. Kirchenglocken läuteten. Sonntagvormittag. Tabor Süden saß in einer Kneipe und fragte sich, wieso.

Weder die fünf Männer an seinem Tisch noch die Frau hinterm Tresen hatten in der vergangenen Stunde Wesentliches zur Aufwertung seiner Anwesenheit beigetragen. Seine Chefin hatte ihm gestern den Auftrag erteilt, und er, ohne Not nüchtern, hatte zugestimmt, gleich am nächsten Tag ein Treffen zu arrangieren.

Der nächste Tag war schneller heute, als Süden erwartet hatte. Und seit dem Aufstehen haderte er nicht nur mit sich, weil er an seinem freien Tag einen Termin vereinbart hatte. Er verzweifelte nicht nur fast an den ineinandertrudelnden Monologen, die er sich anhören musste. Was ihm am meisten zu schaffen machte, war der Anblick des Kaffeekännchens und der Tasse, die vor ihm standen wie das Geschirr eines gemeinen Gottes.

In einem Gasthaus mit dem Namen »Charly’s Tante« zu sitzen und kein Bier zu trinken, erschien Süden wie die Vorstellung, er hätte damals als Ministrant in Unterhose und Unterhemd vor dem Altar knien müssen.

Mehrmals hatte die Wirtin, deren blonde, kurios hochgesteckte Haare ihm – vermutlich als Folge seiner Abstinenz – wie ein verrutschter Zwiebelturm vorkamen, die Frage gestellt, ob er nicht, wie die anderen Männer, ein Helles oder ein Weißbier wolle. Er schüttelte jedes Mal den Kopf. Und er fragte sich, wieso.

Welcher Anfall von Berufsethos zwang ihn, einen Kaffee zu trinken, der erst seinen Magen und dann seinen Darm ruinierte und anderswo wahrscheinlich zur Bekämpfung von Ehec-Bakterien eingesetzt wurde? Noch nicht einmal seinen kleinen karierten Schreibblock hatte er aus der Tasche gezogen. Das meiste, was er bisher an diesem Tisch über das Verschwinden der sechsundvierzigjährigen Kellnerin Ilka Senner erfahren hatte, stand in den Protokollen der Polizei. Den Rest hielt Süden für das übliche Getrommel von Zeugen, die sich aus der Savanne ihrer Phantasie zu Wort meldeten, in der Überzeugung, Geheimnisse und Wahrheiten zu verkünden.

Zwölf Jahre bei der Vermisstenstelle der Kripo und vier in der Mordkommission hatten ihn das Zuhören gelehrt, das Weghören und das Doppelthören. Er kannte den Unterschied zwischen Lügen und Schwindeln, Lamentieren und Leiden und den zwischen Rhabarberkompott und Rhabarberkomplott. Vom selbstgemachten Nachtisch seiner Mutter hatte er als kleiner Junge nie genug bekommen, vom selbstgemachten Laberzeug, mit dem ihn manche Leute einzulullen versuchten, wurde ihm übel.

»Sie sehen blass aus«, sagte Charlotte Nickl, genannt Charly, die Frau des Wirts. »Wollen Sie einen Schnaps?«

Kurz vor einem erneuten Kopfschütteln sagte Süden: »Ein Bier.«

»Na also.« Der Zwiebelturm neigte sich vor und zurück, und die Wirtin ging zum Tresen.

Die fünf Männer sahen ihn an, wieder einmal. Im Grunde sahen sie ihn die ganze Zeit an, als wäre er ein Riesenspiegel und sie Balletttänzer auf der Probe. Alles, was er möglicherweise spiegelte, war blanke Ratlosigkeit, und alles, was sie verkörperten, waren die Gesetze der Schwerkraft. Vielleicht, dachte Süden, sollte er sich vor der Tür unter die grüne Markise stellen, die kühle Luft einatmen und an eine Frau denken oder zumindest an ein anderes Lokal. Vielleicht passten die Menschen und er heute einfach nicht zusammen. Abstand, hatte er einmal gelesen, sei die Seele des Schönen.

»Sehr zum Wohl.« Die Worte hagelten auf seine Gedanken. Charlotte Nickl stellte ein blendend aussehendes helles Bier vor ihn hin und lächelte, wie Jesus gelächelt hätte, wenn die Kreuzigung abgesagt worden wäre. Sie schien erlöst zu sein. Süden war es auch.

»Möge es nützen!« Er hob sein Glas. Alle hoben ihre Gläser. Die Wirtin eilte zum Tresen, holte ihre Weißweinschorle, und dann tranken sie und stellten ihre Gläser ab, und nur Charlotte behielt ihres in der Hand. Süden leckte sich die Lippen und hob den Kopf. Wie rauchende Apostel umringten ihn zwölf Augen.

Er wusste nicht, was er sagen sollte, also breitete er die Arme aus, lehnte sich zurück, rief sein inzwischen perfekt eingeübtes Nicken ab, faltete die Hände im Schoß, schwieg eine Weile und beugte sich wieder zum Tisch, soweit sein Bauch es ermöglichte.

Der Regen prasselte immer noch auf die Gartenmöbel und den Asphalt. Vögel zwitscherten sommerlich. Süden bildete sich ein, die Freude seines Blutes über das Bier wahrzunehmen.

Momente unendlicher Erwartung.

Dann sagte Dieter Nickl, den jeder Dieda nannte: »Ich geh jetzt schiffen, und dann wird Klartext geredet, habt’s mich?«

Süden zog seinen Spiralblock und den Kugelschreiber aus der Tasche. Klartext, dachte er, den wollte er notieren, zumal ein Mann ihn angekündigt hatte, der am Sonntagvormittag gegen elf Uhr bei seinem vierten Weißbier angelangt war und gegen dessen bisheriges Aussagenkonglomerat die babylonische Sprachverwirrung von Hemingwayscher Klarheit gewesen sein musste.

»Da bin ich wieder.« Nickl setzte sich, wie vorher, Süden gegenüber und rieb sich die Hände. Vielleicht, dachte Süden, hatte er sie sich auf dem Lokus zumindest in Unschuld gewaschen. »Jetzt pass mal auf, die Ilka ist seit achtzehn Jahren bei mir …«

Für Süden eine Neuigkeit, als hätte ein verschwitzter Bote ihm zugeflüstert, der Papst sei katholisch.

»… Achtzehn Jahre, das ist eine Ewigkeit. Ist dir das klar? Entschuldigung, wenn ich du sag, das passt schon, oder?«

»Unbedingt«, sagte Süden.

»Ich bin der Dieda.«

Und der Bote flüsterte weiter: Der Jesus auf dem Bild ist der mit den Wundmalen.

»Und weil das so ist, ist es vollkommen ausgeschlossen, dass die Ilka einfach abgehauen ist. Ist das jetzt mal nachvollziehbar? Begreifen Sie, begreifst du, was ich dir damit sagen will, als Mensch und Freund und Wirt. Der Ilka ist was zugestoßen, ein Verbrechen. Und das muss aufgeklärt werden. Und zwar zügig. Und zwar von dir.«

Süden sagte: »Ich bin kein Polizist.« Eine Wahrheit so wahr wie ein leeres Bierglas.

»Das weiß ich doch«, brüllte Nickl ihm ins Gesicht.

»Ganz ruhig, Dieda«, sagte Claus Viebel, der auf der Bank neben Süden saß. »Der Detektiv hat dich schon verstanden.« Er wandte sich an Süden. »Sie haben das verstanden, was der Dieda meint? Er meint, die Ilka ist womöglich ermordet worden, verschleppt, man weiß nichts. Die Polizei war hier, hat uns alle befragt, auch die Angehörigen, Spuren gesichert angeblich. Sie sagen …«

»Sie sagen …«, sagte Nickl und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf Süden, und Viebel schloss allmählich seinen Mund. »… Die Ilka ist erwachsen, sie ist sechsundvierzig, das kommt ja noch dazu, sie weiß, was sie tut. Das ist das Problem, polizeilich gedacht. Sie kann machen, was sie will. Sagt die Polizei. Hinweise auf ein konkretes Verbrechen … keine da. Angenommen, du verschwindest plötzlich …« Er meinte, schätzte Süden, seinen Freund neben sich, Johann Baumann, falls Süden ihn nicht mit einem der anderen verwechselte.

»Stell dir vor, wir sitzen hier, und du kommst nicht. Am nächsten Tag auch nicht, das ist doch … Polizei her. Ja, der Mann, der ist erwachsen, wie alt bist du, Johann? Wie alt genau?«

»Genau fünfundsechzig«, sagte Johann, und es klang nicht nach einer Ode an die Freude.

»Genau. Mehr erwachsen kann man nicht werden als fünfundsechzig. Was ist dann?«

Wovon redet er?, dachte Süden und betrachtete sein leeres Glas, wagte aber nicht, an der unerhörtesten Stelle des Monologs einen dürstenden Blick zum Tresen zu werfen.

»Dann ist«, sagte Nickl, ohne seinen Nachbarn anzusehen, »nichts. Da ist nichts. Du liegst in einer Odelgrube in Unterzeismering …«

»Was für eine Odelgrube?«, sagte Viebel.

»Was?«

»Ich war noch nie in Unterzeismering«, sagte Johann Baumann. Außer Nickl war er der einzige Weißbiertrinker am Tisch. Er trank einen Schluck und starrte vor sich hin. Süden hoffte, der Mann versetzte sich nicht in die Lage einer Leiche in einer Odelgrube, nicht an einem heiligen Sonntag.

»Das ist doch vollkommen egal«, sagte Nickl. »Ich sprech hier allgemein, von der Natur der Polizei. Verschwunden heißt: Niemand sucht nach dir. Nach einem Kind würden sie suchen, das ist klar. Aber nach dir nicht, nach mir auch nicht. Und nach der Ilka auch nicht. Und sogar wenn du verschwindest, Süden, sucht niemand nach dir, jedenfalls nicht die Polizei. Die Charly war mal in Helsinki verschwunden, ich hab mir Sorgen gemacht, weißt du das noch, Charly?«

Die Frau am Tresen unterbrach das Polieren der Gläser. Seit zwanzig Minuten polierte sie ein Glas nach dem anderen und sah dabei aus, als dächte sie über Dinge nach, die Süden wissen sollte. Vielleicht wirkte auch nur der Weißwein und löste ein philosophisches Schauen bei ihr aus.

»Hörst du zu?« Nickl beugte sich über den Tisch. Interessanter Atem umwaberte den Detektiv. »Das ist ja der Grund, warum wir dich herbestellt haben. Damit du die Ilka findest.«

Zum Abschied flüsterte der Bote Süden zu: Und am Jüngsten Tag findet übrigens eine Auferstehung statt.

»Die Ilka muss gefunden werden«, sagte ein Mann, der, glaubte Süden, Olaf Schütze hieß. »Deswegen haben wir zusammengelegt, damit wir uns einen fähigen Detektiv leisten können. Wir alle hier am Tisch. Der Dieda, der Claus, der Werner, der Johann und die Charly natürlich auch. Tausend Euro. Ist nicht viel, aber Sie werden schon was rausfinden. Die Frau Liebergesell hat gesagt, Sie können was, Sie haben ein Gespür, Sie sind unbestechlich.«

»Im übertragenen Sinn«, sagte Nickl, klopfte Süden auf den Arm und wandte sich zum Tresen. »Bring unserm unbestechlichen Süden noch ein Helles und eine Runde Obstler.« Er sah Süden an. »So was nennt man Solidarität. Wir finden die Ilka, und du bist unser Spürhund. Tausend Euro. Vertrag, alles klar. Hast du ihn dabei?«

»Ja«, sagte Süden. Obstler, dachte er. Er sollte anfangen, sich Notizen zu machen, vor allem, sich die Namen einzuprägen.

»Das war der Hammer, da in Helsinki«, sagte Nickl. »Ist auf einmal die Charly wie vom Erdboden verschluckt. Ich hab gedacht, ein Elch hätt die gefressen, die stehen ja da auf der Straße. Steht da plötzlich ein Elch. Die Charly nicht mehr …«

Er redete so lange, bis Charlotte die frischen Gläser brachte. Und als alle ihren Schnaps getrunken hatten, redete er weiter. Süden machte sich keine Notizen.

 

Nach Aussage von Claus Viebel, einem dreiundvierzigjährigen Glaser, hatte Ilka Senner manchmal ein »verträumtes Wesen«. Viebel, nach eigenen Worten früher »vollbeschäftigt im Glasfassadenbau tätig«, inzwischen »beim Glasbau gelandet und vorübergehend außer Vollzug«, beschrieb die Bedienung als einen Menschen, dessen Stimmungen häufig wechselten und der, vor allem »in Richtung Sperrstunde«, zur Schwermut neigte.

»Das ist doch ewig weit hergeholt, was du da behauptest«, sagte Olaf Schütze. Viebel ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen.

»Die Ilka hat zwei Gesichter, das merkst du bloß in deinem Rausch nie. Die Ilka, Herr Süden, ist nicht so einfach. Die ist komplex, die arbeitet hier seit hundert Jahren, und ich seh die fast jeden Tag und denk mir: Die sagt was nicht. Verstehen Sie das?«

»Wir sagen du.« Die Stimme des Wirts versank in seinem Weißbierglas. Anscheinend sah er nur selten die Person an, mit der er redete. Außer, die Person saß ihm direkt gegenüber, wie Süden.

»Ich bin höflich zu dem Herrn Süden.« Viebel kratzte sich mit dem kleinen Finger am Schnurrbart, was er alle zehn Minuten wiederholte. Mit dem Schnauzer und den Koteletten wirkte er, als wäre er in den Siebzigern des vorigen Jahrhunderts eingefroren und vorgestern aufgetaut worden. Allerdings hatte er zu jener Zeit noch nicht gelebt. Er zündete sich eine Selbstgedrehte an, legte das Feuerzeug auf das zerknitterte Päckchen. »Was ich andeuten will, Herr Süden: Auch wenn die anderen sagen, ihr könnt was zugestoßen sein, so sag ich, es könnt auch was anderes passiert sein, nämlich ein Unglück. Dass etwas in ihr zu Bruch gegangen ist, das mein ich …«

»Hoffentlich gehst du nicht bald zu Bruch, du Glasermeister«, sagte Johann Baumann, ein fünfundsechzigjähriger Rentner, der sein Leben, wie er sich ausdrückte, »im Schaufenster unserer schönen Stadt« verbracht hatte – als Sachbearbeiter im Finanzamt München Zentral.

»Ich bin kein Glasermeister.« Viebel drehte den Kopf zu Süden. Der Detektiv saß an der hinteren Schmalseite des rechteckigen Tisches, der Wirt an der vorderen, Viebel und Schütze links, Ring und Baumann rechts von Süden. »Einen Betrieb führen ist nicht das, was ich will, Herr Süden, das sollen andere machen. Das muss jeder selbst entscheiden. Mein ehemaliger Chef, Hohensteiger, der konnt zehn Leute gleichzeitig dirigieren, rumscheuchen eher, aber alles unter Kontrolle, Glasfassaden Hohensteiger …«

»In der Ilka ging etwas zu Bruch«, sagte Süden. Wäre seine Ungeduld eine tollwütige Bulldogge, kein Zwinger hätte sie mehr bremsen können, sie hätte den Glaser Viebel zerfleischt, den Finanzbeamten Baumann, den Hausmeister Ring, den Kioskbesitzer Olaf Schütze und am Ende den Wirt Nickl, bevor sie ihre blutverschmierten Zähne in den Zwiebelturm der Wirtsfrau gegraben hätte, um ihr eine letzte Chance zum Sprechen zu geben.

So jedoch saß Süden bloß da, ein Monster aus Zorn mit menschlichem Antlitz.

»Das war und ist mein Eindruck.« Viebels kleinster Fingernagel suchte etwas im Schnurrbart. »Die Frau hat ein Los, und das lastet auf ihr.«

Vielleicht, dachte Süden, hatte der Ex-Steuereintreiber recht. Vielleicht gingen in diesem Moment still und leise die letzten Bullaugen in Viebels Hirn zu Bruch.

»Die Frau hat ein Los, und das lastet auf ihr«, wiederholte Süden. »Wären Sie in der Lage, etwas konkreter zu werden? Was genau könnte Ilka dazu gebracht haben, sich umzubringen?«

»Das hab ich nicht gesagt.« Viebel hob den Zeigefinger, dessen Ränder im gleichen Schwarz gehalten waren wie die übrigen. »Hab ich nie gesagt, dass sie sich umgebracht hat. So was sagt man nicht einfach so, wenn man keine Beweise hat.«

»Und du hast keine«, sagte Ring, der ihm auf der anderen Seite des Tisches gegenübersaß. »Also halt die Klappe, trink dein Bier, rauch deinen stinkenden Tabak und stör uns nicht.«

»Ich stör niemand.«

»Mich schon«, sagte Ring.

Mich auch, sagte Süden nicht, stattdessen: »Ilka machte auf Sie einen deprimierten Eindruck.«

»Die ist doch nicht deprimiert«, sagte Nickl laut, zu laut für seine in den vergangenen Minuten eingeschlafene Stimme. Ein lungenfüllender Husten erschütterte den Wirt. Seine geröteten Augen schienen zu lodern. Der Arm, den er sich vors Gesicht hielt, kam zu spät. Ungebremst fegte die bakterienpralle Luft aus Nickls breitem Körper quer über den Tisch, und nur ein Anfall maßloser Höflichkeit hinderte Süden daran, sich zu ducken.

Charlotte Nickl warf einen besorgten Blick zum Stammtisch, wirkte aber nicht ernsthaft beunruhigt. Die vier anderen Männer tranken synchron aus ihren Gläsern und leerten diese gleichzeitig. Sofort machte Charlotte sich an der Zapfanlage an die Arbeit. Als sie die gefüllten Gläser zum Tisch trug, rang Nickl immer noch mit einem Nachhusten, für den er den Arm nicht mehr brauchte. Er umhustete entspannt sein Weißbierglas.

»Zum Wohl, Freunde«, sagte Charlotte.

»Merci, Charly«, sagte Werner Ring, der siebenundfünfzigjährige Hausmeister, dessen Oberarme, vermutete Süden, in einer früheren Existenz Oberschenkel gewesen waren. Ring trug ein schwarzes T-Shirt und darüber eine Jeansjacke und einen silbernen Ring im linken Ohr. Sein kahler Kopf glänzte von Schweiß, gleichzeitig verströmte er einen herben Geruch nach Rasierwasser. Seine Stimme klang beinah sanft, seine blauen Augen strahlten fürsorgliche Gelassenheit und Zufriedenheit aus. Die meiste Zeit hielt er seine Hände auf dem Tisch gefaltet, ab und zu zuckte sein Mund, wie bei einem scheuen Lächeln. »Pass auf, Claus«, sagte er, machte eine Pause und sah Viebel an. »Du setzt hier keine Märchen über die Ilka in die Welt, okay? Was redst du da von Depression? Hast du überhaupt eine Ahnung, was das ist? Du behauptest, die Ilka ist krank, und ich sag dir, die Ilka ist nicht krank, und jetzt sei einfach mal still. Okay?«

»Der hat gesagt, sie ist depressiv.« Viebel zeigte auf Süden. »Ich hab gar nichts gesagt.«

»Du hast gesagt, sie hat einen Sprung in der Schüssel«, sagte Baumann.

»Hat er nicht gesagt«, rief Charlotte vom Tresen.

»Sagst du eigentlich auch mal was?« Der Wirt warf Süden einen in tausend Sperrstunden geübten Vernichtungsblick zu.

Süden warf seinen in tausend Vernehmungsstunden eingeübten Gelassenheitsblick in die Runde. »Bis jetzt habt ihr mir nichts erzählt, was ihr nicht auch schon der Polizei erzählt habt. Und der Polizei habt ihr erzählt, ihr habt keine Ahnung, wohin die Ilka verschwunden sein könnte. Ich bin hier, um etwas Neues zu erfahren.«

»Ist doch alles neu«, sagte Viebel. Seine Stimme wies mittlerweile deutliche Risse auf. »Wenn ich sag, mit der Ilka war was, dann war da was, im Innern, was sie uns nicht zeigen wollt. Und das war so. Die hat was mit sich ausgemacht, nur mit sich allein. Und was? Weiß man nicht. Und das ist neu, Herr Süden, das haben wir der Polizei nicht erzählt.«

»Hatte Ilka in jüngster Zeit Besuch?« Süden stellte fest, dass auch die Blicke der anderen anfingen zu schwächeln. »Führte sie ungewöhnliche Telefonate? Kam sie zu spät zur Arbeit, ist sie früher als sonst nach Hause gegangen?«

Der Blick, den Süden Charlotte in der Hoffnung zuwarf, sie habe als Frau vielleicht etwas mehr erfahren als die Männer, wurde von den Blicken der Männer auf halbem Weg abgefangen und landete im Orkus ihrer Ahnungslosigkeit.

»Die Charly brauchst gar nicht erst anstarren«, sagte Nickl. »Die hat mit der Ilka praktisch nicht gesprochen, und die Ilka hat mit ihr nicht gesprochen. Wofür zahlen wir dir tausend Euro, wenn du auch nichts rausfindest. Das ist doch Beutelschneiderei, ich sammel das Geld gleich wieder ein.«

»Red keinen Unsinn, Dieda.« Charly kam an den Tisch und blieb neben ihrem Mann stehen. »Ich mach mir genauso viele Sorgen wie ihr alle, die anderen Sachen spielen jetzt überhaupt keine Rolle.«

Süden sagte: »Welche Sachen?«

»Die anderen Sachen«, sagte Nickl in sein Glas.

»Und die anderen Sachen haben nichts mit dem Verschwinden deiner Kellnerin zu tun.«

»Nein.«

Süden schwieg.

Nach etwa acht Sekunden sahen ihn die Männer und Charlotte an, als hätten sie noch nie einen Mann gesehen, der schwieg.

Süden lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Diese Leute und in gewisser Weise auch seine Chefin hatten ihn veranlasst, auf nüchternen Magen drei Biere und einen Schnaps zu trinken, und dann hatten sie ihn mit Sachen abgespeist, die ihm nicht schmeckten. Und nun erfuhr er von anderen Sachen, die offensichtlich eine große Rolle gespielt hatten und jetzt nicht mehr. Er war angetrunken und mürrisch. In seinem Magen beschimpften sich Bier und Kaffee, durch seinen Kopf taumelten Gedanken wie durch ein gläsernes Labyrinth. Draußen fiel der Regen auf die Tische, ein kühler Wind wehte zur Tür herein und kehrte vor lauter Rauch wieder um. In regelmäßigen Abständen fuhr auf der Perlacher Straße ein Linienbus vorüber.

Süden zwängte sich aus der Ecke und stand auf. »Ich brauche frische Luft«, sagte er.

»Gefährlich«, sagte Viebel.

»Erzähl ihm von dem Typen, der da draußen gestanden hat«, sagte Ring zu Charlotte. »In der Nacht, weißt schon.«

»Was für ein Typ?«, sagte Nickl.

Seine Frau nahm die leeren Gläser in die Hand. »Ein Spinner, der ist auf die Ilka gestanden, hat sich aber nicht reingetraut, sie hat ihn weggeschickt.«

»Haben Sie der Polizei davon erzählt?«, fragte Süden.

»Wozu denn? Der ist unwichtig, da ist gar nichts passiert.«

Ring sah Süden an. »Der Typ hat die Ilka belästigt, das hat sie gegenüber der Charly auch zugegeben, der Ilka war das peinlich. Ich hab ihr gesagt, ich red mit dem, aber die Ilka wollt das nicht.«

»Aha«, sagte Nickl.

Unter der Markise legte Süden den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Keine Minute später stand Charlotte neben ihm. Sie rauchte, in der linken Hand hielt sie einen weißen Plastikaschenbecher.

»Es ist so, Herr Süden.« Sie sprach mit leiser, unsicherer Stimme. »Ich mag hier nicht mehr sein, und mein Mann eigentlich auch nicht. Meine Eltern haben ein Haus in Bad Endorf, da können wir jederzeit einziehen, da ist’s schön. Und das machen wir auch. Wir haben mit der Brauerei schon geredet, und jetzt ist es so: Die Brauerei sagt, sie möchte das Lokal gern erhalten, ob wir wen wüssten, der es übernehmen könnte. Da haben wir beide gesagt, die Ilka, die kann das. Die ist achtzehn Jahre bei uns, und wenn wir mal in Urlaub waren, hat sie den Laden geschmissen, und zwar fehlerlos. Die ist patent, die kann mit den Gästen umgehen, mit den Männern, die ist die geborene Wirtin, das hab ich immer schon gedacht. Wir haben ihr das gesagt, und sie? Zuerst hat sie sich wahnsinnig gefreut, und dann ist sie nachdenklich geworden, hat immer wieder gesagt, sie muss sich das alles noch mal durch den Kopf gehen lassen, die viele Verantwortung, die Büroarbeit. So viel ist das nicht, Herr Süden, das lernt man schnell, kein Problem für die Ilka. Ihre Zukunft ist gesichert. Und genau in dem Moment ist sie spurlos verschwunden. Da stimmt doch was nicht. Irgendwas ist da passiert, und zwar nichts Gutes.«

»Könnte der unbekannte Mann etwas damit zu tun haben?«

»Weiß ich nicht. Der ist ein paar Mal aufgetaucht, das kommt schon mal vor, dass nachts irgendwelche Typen hier durch die Gegend schleichen. Ich hatte den Eindruck, die Ilka hat den gekannt, aber beschwören will ich’s nicht. Wieso ist die denn weg? Genau jetzt, wo sie ein eigenes Geschäft hätte? Das ist doch absurd.«

Die Frau des Wirts drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Sie müssen mir versprechen, dass Sie uns die Ilka gesund und munter wiederbringen. Versprechen Sie mir das?«

2

Ilka Senner verschwand am Mittwoch, dem 1. Juni. So stand es in der Suchmeldung der Kripo. Im Namen ihrer Stammgäste hatten Charlotte und Dieter Nickl die Sechsundvierzigjährige offiziell als vermisst gemeldet. Zwei Tage zuvor hatte sie noch in der Kneipe »Charly’s Tante« in der Perlacher Straße 100 bedient. Am Dienstag, dem Ruhetag des Lokals, telefonierte sie gegen ein Uhr mittags mit ihrer Freundin Margit Großhaupt, anschließend schaltete sie ihr Handy aus und nicht wieder ein. Das Gerät lag auf dem Küchentisch, die Zimmer waren aufgeräumt, wie Hauptkommissarin Birgit Hesse Süden berichtete. Keine Hinweise auf einen überstürzten Aufbruch. Der Koffer auf dem Schlafzimmerschrank und die mit Wäsche gefüllten Schubladen, die Schminksachen im Bad und die Ansammlung von Sommerschuhen im Flur deuteten nach Meinung der Ermittlerin nicht darauf hin, dass die Mieterin eine längere Reise angetreten hatte.

»Wir haben die Nachbarn befragt«, sagte die Kommissarin zu Süden, nachdem er am Montag wieder in halbwegs geordnete, innere Verhältnisse zurückgekehrt war. »Sie wissen nichts. Nichts von Ilkas Plänen, nichts von einem Bekannten oder Freund, nichts von ihren Gewohnheiten, höchstens, dass Ilka, wie viele Leute rund um den Spitzingplatz, regelmäßig beim nahen Tengelmann einkauft. Ich hab mit dem Geschäftsführer und einer Kassiererin gesprochen, sie kennen die Frau vom Sehen, mehr nicht. Wie so oft.«

Wie so oft. Das hatte auch Süden gedacht, als er am Sonntag nach seinem von Charlotte Nickl eingenebelten Luftschnappversuch wieder am Stammtisch Platz genommen hatte. Wie so oft bei Vermissungen umgab die Zeugen, Verwandten und Bekannten eine große Erinnerungslosigkeit, die sie selbst kaum wahrnahmen. In der Überzeugung, Gutes zu tun, schmückten sie ihr vermeintliches Wissen mit phantastischen Girlanden und funkelnden Gedanken und verwandelten jeden zuhörenden Fahnder in einen Weihnachtsmann, von dem sie ein wundervolles Geschenk erwarteten: den Gesuchten in all seiner Pracht.

Doch Wunder waren selten bei Vermissungen. Nach Südens Erfahrung passierten sie eigentlich nie. Manchmal kehrte jemand freiwillig und erschöpft vom verkehrten Alleinsein zurück. Manchmal missglückte ein Selbstmordversuch. Manchmal hatte ein vermisstes Kind nur beim Nachbarn im Keller mit der Eisenbahn gespielt. Manchmal bestand eine Akte bloß aus Papier. Meist jedoch war alles ein einziges Entsetzen.