Zur Autorin

Millay Hyatt

Jahrgang 1973, in Dallas USA geboren; Dr. phil., studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Ohio, Los Angeles, Paris und Berlin; 2006 promovierte sie mit einer Dissertation über das Utopische und Utopiekritische bei Hegel und Deleuze an der University of Southern California. Millay Hyatt lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Berlin.

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Inhalt

Wir sind viele

Die natürlichste Sache der Welt

Wie ein Kinderwunsch entsteht

Jemand ist gestorben

Warum wollen wir überhaupt Kinder?

Meine Wut und meine Trauer

Zwischen Wahn und Euphorie

Macht ein unerfüllter Kinderwunsch hysterisch?

Kinder. Wunsch. Behandlung.

Das Gesetz im Widerstreit mit den technischen Möglichkeiten

In der Maschinerie der Reproduktionsmedizin

Mehr Beratung, mehr Sensibilität in den Kinderwunschkliniken

Letzte Station Eizellspende

Zwischen Kinderwunsch und Kindeswohl

Vom Umgang mit Enttäuschungen

Allein geht es nicht

Kinderwunsch ohne Partner

Partner ohne Kinderwunsch

Wie gemeinsam ist der gemeinsame Wunsch nach einem Kind?

Wenn die Lust abhanden kommt

Homosexuelle mit Kinderwunsch

Mit dünner Haut auf Mitgefühl hoffen

Alles andere als eine Privatsache

Warum adoptiert ihr nicht einfach?

Vom Kinderwunsch zum Adoptivkinderwunsch

Abenteuer Auslandsadoption

Weil wir uns einen Menschen wünschen

Anhang

Literaturverzeichnis

Hilfreiche Internetseiten

Zur Autorin

Millay Hyatt

Ungestillte Sehnsucht 

Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt


Ch. Links Verlag, Berlin

Editorische Notiz
Dort, wo es sich angeboten hat, habe ich geschlechtsneutral formuliert. Sonst habe ich mehrheitlich die weibliche Form benutzt. Damit sind selbstverständlich durchweg beide Geschlechter gemeint.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Oktober 2012 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Juni 2012)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de
mail@christoph-links-verlag.de

Titelgestaltung und Titelillustration: Burkhard Neie, www.blackpen.xix-berlin.de

ISBN: 978-3-86284-195-0  

Wir sind viele

Andrea und Thomas sind ein Paar, seitdem sie 19 ist und er 23. Sie kommt aus einer großen Familie und hat schon immer gewusst, dass sie einmal Kinder haben möchte. Thomas entdeckte seinen Kinderwunsch, als er sich in seine Frau verliebt hat. Nach nur zwei Jahren nimmt das Paar es mit der Verhütung nicht mehr so genau, fünf Jahre später, nach der Hochzeit, wird sie ganz weg gelassen. Langsam rückt das Thema aus den Hinterköpfen in den Vordergrund, dann geht es gezielt darum, schwanger zu werden. Und irgendwann überwiegt die Sorge, dass noch immer nichts geschehen ist.

Anja ging lange mit aller Selbstverständlichkeit davon aus, dass sie spätestens mit Anfang 30 Mutter sein würde. In ihren Zwanzigern mit Ausbildung, Reisen und Kunst beschäftigt, erhält der Wunsch tatsächlich mit ihrem 30. Geburtstag eine akute Bedeutung. Doch bisher hat sich in ihrem Leben keine Beziehung ergeben, die Kinder tragen könnte. Mit den verstreichenden Jahren wächst die Dringlichkeit.

Frieda, Mitte 40, und Tom, Mitte 50, sind glücklich mit ihrem Sohn. Aber die Familie ist noch nicht komplett. Das zweite Kind lässt auf sich warten, und es ist klar, dass es ohne Nachhilfe nicht kommen wird. Das Paar nimmt die vorhandenen Angebote an und begibt sich damit auf einen verschlungenen Weg, der sie vor Herausforderungen stellt, auf die sie kaum vorbereitet sind.

Ich bin jetzt 39 Jahre alt. Seit fast einem Jahrzehnt weiß ich, dass ich ein Kind haben will. Mein Mann ist 45 und trägt diesen Wunsch schon in sich, seitdem er ein kleiner Junge ist. Wie Andrea, Thomas, Anja, Frieda und Tom können auch wir unsere Kinderlosigkeit nicht einfach hinnehmen. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren haben wir alles Erdenkliche unternommen, um ein Kind in unser Leben zu bringen. Bis heute ist das nicht geschehen. Dass die Umsetzung unseres Kinderwunsches inzwischen zu einer Lebensaufgabe geworden ist, erstaunt uns immer wieder. Dieser unerfüllte Wunsch hat uns auseinander genommen, uns mit uns selbst konfrontiert wie sonst nichts.

Wir unfreiwillig Kinderlosen haben keine Plattform, um über unseren Wunsch zu sprechen und unseren Verlust zu betrauern. Auch privat treffen wir oft auf Unverständnis. Viele unserer Freundinnen – die, die Kinder haben, und die, die keine wollen – halten uns für übergeschnappt, wenn sie sehen, wie sehr uns unser Wunsch beschäftigt und wie weit wir gehen, um ihn zu erfüllen: Wie wir uns Kinderwunschbehandlung nach Kinderwunschbehandlung antun, uns für eine Auslandsadoption verschulden, uns den nächstbesten, zeugungsfähigen Partner vorknöpfen … Wenn diese Freundinnen es überhaupt mitbekommen. Denn viele von uns reden nur in einem sehr kleinen Kreis über unsere Sehnsucht und unsere Strategien, und manches verheimlichen wir vor allen: die psychischen Krisen, die gepfuschten Papiere beim Leihmuttergeschäft im Ausland, das Loch im Kondom. Auch wenn es die meisten nicht bis zur Leihmutter oder zum vorsätzlich geschädigten Präservativ bringen – mit solchen oder ähnlichen Gedanken haben viele von uns schon gespielt. Aber es braucht nicht einmal eine tatsächliche Überschreitung des Gesetzes oder der eigenen moralischen Vorstellungen, damit wir die Vehemenz unseres eigenen Wunsches für uns behalten. Vielen erscheint schon eine über Jahre anhaltende Sehnsucht unvereinbar mit gängigen Vorstellungen darüber, was wichtig sein sollte, und damit Grund genug, nicht darüber zu sprechen.

Denn die Debatte über den Geburtenrückgang, die seit Jahren in vielen Industrieländern entbrannt ist, konzentriert sich auf dessen gesellschaftliche Auswirkungen, vor allem für Länder mit einer vergleichsweise niedrigen Einwanderungsrate wie Deutschland. Die Problemlage ist wohlbekannt: Weniger Kinder bedeuten eine schwere Belastung für die Rentenkassen und für nachkommende Generationen, die immer mehr Alte finanzieren müssen. In dieser Diskussion wird die Kinderlosigkeit vor allem als eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung behandelt und auf die Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln, die Emanzipation der Frauen, den steigenden Druck auf private Haushalte und Ähnliches zurückgeführt. Die Politik versucht der Situation beizukommen, indem sie Familien mit Kindern steuerlich entlastet, das Elterngeld einführt, Ganztagsschulen fördert, neue Kitaplätze schafft. Diese Maßnahmen folgen der Annahme, dass sich die meisten Kinderlosen mit Absicht gegen eine Familiengründung (oder weitere Kinder) entscheiden. Oft müssen sie, vor allem Frauen in festen Partnerschaften, ihre Entscheidung gegen Kinder sogar rechtfertigen. Diese Annahme entspricht jedoch nicht der Realität.

Eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2007 zeigte, dass in Deutschland 12,8 Millionen Menschen zwischen 25 und 59 Jahren einen offenen Kinderwunsch haben oder gern (mehr) Kinder bekommen hätten. Das stellt mehr als ein Drittel dieser Altersgruppe dar. Trotzdem spielen diese Menschen so gut wie keine Rolle in der Diskussion, wie sie derzeit geführt wird. Es gibt eine beträchtliche Zahl Menschen, die morgen ein Kind zeugen oder zu sich nehmen würden, wenn sie den richtigen Partner hätten, nicht unfruchtbar (oder noch fruchtbar) wären, wenn sie ein Adoptivkind vermittelt bekämen. Was das für jeden Einzelnen bedeutet, ist in der Öffentlichkeit bisher weitgehend unsichtbar.

Ich gehöre zu der Gruppe der noch aktiv Wünschenden und Hoffenden. Immer wieder habe ich mich über die Jahre nicht wahrgenommen und missverstanden gefühlt, sowohl innerhalb der öffentlichen Diskussion als auch im Privaten. Gleichzeitig bin ich, sobald ich von meiner Situation erzählt habe, aus allen Richtungen angesprochen worden von Menschen, die gesagt haben: Ich auch. Oder: Ich habe eine Freundin, die hat auch so eine Geschichte. Kratzt man einmal ein bisschen an der Oberfläche, quellen sie nur so hervor, die unerfüllten Kinderwünsche. Zahlreiche Menschen tragen traurige, komplizierte und hanebüchene Geschichten mit sich herum, in dem irrsinnigen Glauben, sie seien die Einzigen, denen es so geht. Oder sie betrachten ihre Situation als ausschließlich private Angelegenheit und ärgern sich höchstens darüber, dass sie für die niedrige Geburtenrate mitverantwortlich gemacht werden – aber sehen keine weitere gesellschaftliche Relevanz ihrer ungewollten Kinderlosigkeit. Dabei ist das, was uns widerfährt und was wir erleben, durchsetzt von kulturellen und gesellschaftlichen Codes. Spätestens wenn wir versuchen, einen nicht ohne Weiteres erfüllbaren Kinderwunsch umzusetzen, begeben wir uns in ein wirres Dickicht aus moralischen, politischen und rechtlichen Vorgaben und Vorstellungen und verheddern uns dort oft heillos. Aber auch das streng genommen Private daran findet in einem gesellschaftlichen Kontext statt und spiegelt sich in den vielfältigen Erfahrungen anderer wieder und widerlegt somit das oft empfundene Gefühl des Alleinseins. So tief der Abgrund eines unerfüllten Kinderwunsches auch sein mag: Unzählige andere Betroffene halten sich auch dort auf.

Aus diesen Beobachtungen und meinen persönlichen Erfahrungen heraus entstand die Idee, einige dieser Schicksale in einem Buch festzuhalten und anhand dieser Erzählungen das Phänomen des unerfüllten Kinderwunschs näher zu betrachten. Ist der Kinderwunsch ein Wunsch wie jeder andere? Ist er »natürlich«? Warum treibt der Versuch, ihn über Umwege zu erfüllen, manche Betroffene weit über die eigenen Grenzen hinaus? Warum ist es vielen peinlich, darüber zu sprechen? Anhand dieser Fragen begebe ich mich in die Tiefen und Weiten meiner eigenen Geschichte und die meiner Interviewpartnerinnen. Insgesamt habe ich dreizehn ausführliche Interviews mit Betroffenen (neun Frauen und vier Männer) geführt, hinzu kommen noch einige Protagonistinnen, mit denen kürzere Gespräche stattfanden. Sie alle stammen aus meinem Bekanntenkreis, aus einschlägigen Internetforen oder sind mir empfohlen worden. Mehr Frauen als Männer antworteten positiv auf meine Anfrage und erzählten in der Regel auch ausführlicher. Das bedeutet keinesfalls, dass der unerfüllte Kinderwunsch in erster Linie ein Frauenthema ist. Aber Frauen erleben ungewollte Kinderlosigkeit oft anders als Männer. Das hat kulturelle Gründe, aber auch biologische: Ein unerfüllter Kinderwunsch ist für viele Frauen eng verknüpft mit dem Wunsch, schwanger zu sein. Trotzdem wird ungewollte Kinderlosigkeit von Männern oft genauso als Lebenskrise erlebt wie von Frauen. Gleichzeitig ist unbestreitbar, dass in unserer Gesellschaft unter Frauen eine andere Kultur des Sprechens über »intime« Dinge wie den Kinderwunsch herrscht als unter Männern. Ich habe mehrere Männer angefragt, von denen ich aus privaten Gesprächen weiß, dass ihre Kinderlosigkeit sie bis zur Verzweiflung treibt, die ihre Geschichte aber, auch anonymisiert, lieber nicht in einem Buch stehen haben wollten (Frauen, die aus dem gleichen Grund ablehnten, gab es übrigens auch).

Alle Geschichten, bis auf meine eigene und die meines Mannes (den ich auch interviewt habe), sind anonymisiert, das heißt, Namen und einzelne Details wurden geändert. Die Gespräche waren gekennzeichnet von großer Offenheit und Ehrlichkeit. Teilweise wurden mir Dinge erzählt, die bisher noch niemandem anvertraut wurden. Ich bin all meinen Gesprächspartnerinnen zutiefst dankbar für ihr Vertrauen.

Was diese unterschiedlichen Menschen miteinander teilen, ist die Tatsache, dass sie alle eine schwierige, bisweilen leidvolle Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Kinderwunsch haben oder hatten. Obwohl viele von ihnen ihren Wunsch letztlich erfüllen konnten, es noch tun werden oder mittlerweile mit Freude kinderlos leben, konzentriert sich dieses Buch nicht auf solche Happy Ends. Es geht mir viel eher um einen teilnehmenden Blick auf die Erfahrungen von ungewollt kinderlosen Menschen. Und die Frage, was macht man und wie fühlt man, wenn man in dieser Lage ist, wenn man noch nicht weiß, wie die Geschichte ausgehen wird. Ich möchte diese Erfahrungen aus der Unsichtbarkeit und Sprachlosigkeit herausholen und zugleich einen kritischen Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit ungewollter Kinderlosigkeit und ungewollt Kinderlosen werfen. Damit die Betroffenen ermutigt werden, sich ihrem Wunsch und all dem, was er mit sich bringt, zu stellen.

I greet you from the other side
Of sorrow and despair
With a love so vast and shattered
It will reach you everywhere
And I sing this for the captain
Whose ship has not been built
For the mother in confusion
Her cradle still unfilled

Leonard Cohen
»Heart with no Companion«

Für J. und für meine Familie