image
image
image

Inhalt

VORWORT

Sich zum Historiker der eigenen Lebensgeschichte zu machen, wenn man selbst Akteur gewesen ist, ist ein zweifelhaftes, wenn nicht unmögliches Unternehmen. Das vorliegende Buch ist denn auch keine wissenschaftliche Darstellung, sondern ein aus Texten, Szenen, Berichten und Erinnerungen gemischtes Bild jenes eigentümlichen »roten Jahrzehnts«.

Was soll das gewesen sein – dieses »rote Jahrzehnt«? Sicherlich nichts, das sich in den Geschichtsbüchern findet. Trotzdem dürfte der Begriff allen, die diese Jahre bewußt erlebt haben, etwas sagen. Die Schüsse vom 2. Juni 1967 in Westberlin und vom 18. Oktober 1977 in Stammheim markieren unzweifelhaft einen dramatischen Zyklus von Stimmungen, Losungen, Bewegungen und Aktionen, die eine »politische Generation« geformt haben, auch wenn nur ein kleiner Teil der Altersgenossen tatsächlich aktiv involviert war. Aber es gab wohl kaum jemanden, den das völlig unbeteiligt ließ. Und es war die Farbe Rot, die dieses Jahrzehnt noch einmal (wenn auch trügerisch) dominiert hat.

Dieses Buch, das ich vor circa zwei Jahren in Angriff genommen habe, sollte vor allem etwas Licht in den inneren Kern dieser Bewegung(en) werfen, auf jenes oft hermetisch abgeschlossene Segment der politisch Hochaktiven und Hochmotivierten, zu denen ich selbst gezählt habe. Kein grelles Licht der »Enthüllung« allerdings auf Zeiten eines finsteren Extremismus, für den seine heute prominenten oder in verantwortlicher Position befindlichen Träger noch Rechenschaft abzulegen hätten; sondern eher ein sachlich scharfes, persönlich mildes Licht der Selbstaufklärung, die wir (so fand ich) uns selbst und anderen noch schuldig seien – den Kindern, Eltern und Geschwistern, Freundinnen und Freunden. Was genau hat so viele damals motiviert, sich eine Zeitlang als Akteure einer chimärischen Weltrevolution zu fühlen, und das mit einer Konsequenz, die manchen weit hinaus getrieben hat? Um ein Stück reflektiver Selbsterforschung also sollte es gehen, bei dem unsere eigenen generationellen Anteile am Geschehen mir tatsächlich als das eigentlich aufklärungsbedürftige Element erschienen.

Denn aus den objektiven (politischen, ökonomischen, sozialen) Zeitumständen heraus ist weder die internationale Jugendbewegung um 1968 schlüssig erklärbar, noch für die Bundesrepublik der gesamte Krisenzyklus dieses »roten Jahrzehnts«. So liegt der Akzent der Darstellung vor allem auf den sozialpsychologischen Verkettungen von Kriegs- und Nachkriegsgeneration – und hier besonders wieder auf unserer eigenen Seite. Wir können uns nicht immer im Schatten der angeblich so allgegenwärtig gewesenen »alten Nazis« verstecken. Wir müssen auch über uns reden – unsere unbewußten Affekte und Zwangsgedanken, unsere eigenen Größenphantasien und narzißtischen Gewinne.

Kurz vor Abschluß des Manuskripts brach die »Fischer-Debatte« über dieses Buch herein. Ihren Auslöser bildeten, charakteristisch genug, nicht jene kaum aufregenden Enthüllungen vom »Mann im schwarzen Helm« – die nur visualisierten, was ohnehin längst bekannt war. Sondern es war eine bestimmte Konstellation von Umständen: daß es gerade eine Tochter von Ulrike Meinhof war, die sich als Rächerin auf diesen Kriegspfad begeben hatte – zur gleichen Zeit, als der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland vor einem Frankfurter Gericht über den Ex-Terroristen und Szenegenossen Hans-Joachim Klein aussagte, der ihm als Schatten seiner eigenen Geschichte gegenübersaß.

Immerhin hat die Debatte gezeigt, wie dicht alle diese scheinbar längst abgelegten Erfahrungen noch unter der Oberfläche liegen und wie tief sie die Einstellungen und den Habitus der heute politisch Aktiven geprägt haben. Ein durchsichtiger, generationell geprägter Revanchismus der Kritiker aus dem schwarz-gelben Lager traf dabei auf eine ähnlich generationell geprägte Verteidigungsfront im rot-grünen Lager, das gerade in dieser Frage allerdings eine erstaunliche Mehrheit der Bundesbürger hinter sich hatte. Die Republik verteidigt ihren endlich gewonnenen inneren Frieden nun gerade in einer Person wie Joschka Fischer – mit allem, was darin an Ironie und tieferer Bedeutung liegen mag.

Um diese, vielleicht gar nicht so erstaunliche, aber doch recht paradoxe Entwicklung abmessen und würdigen zu können, braucht es allerdings ein geschärftes, facettenreicheres Bild jener Zeiten und ihrer Akteure. Ohne das bleibt ein blinder Fleck in der Mentalitätengeschichte und intellektuellen Biographie der deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren Wege der Selbstzivilisierung gewunden und kompliziert genug waren.

Dieses Buch, zu dem mir Helge Malchow vom Verlag Kiepenheuer & Witsch die Anregung gab, hat im Laufe des Schreibens mehr an Umfang und »Gewicht« gewonnen, als ursprünglich geplant war. Aber diese Ausdehnung resultiert gerade aus der Verbindung von Analyse mit Erzählung, die dieser Thematik einzig angemessen erschien, und die das Buch, wie ich hoffe, nicht schwerer, sondern leichter, zugänglicher macht.

Mit vielen ehemaligen Akteuren oder Beobachtern der diversen Milieus und Gruppen, die dieses »rote Jahrzehnt« bevölkert haben, habe ich gesprochen – und kann mich bei allen nur pauschal bedanken, weil es eine allzu heikle Abwägung wäre, wer von meinen Gewährsmännern und –frauen in diesem Zusammenhang hätte genannt werden mögen und wer nicht.

Meine Frau Anna Leszczynska war Zeitzeugin aus ganz eigener Perspektive – und wie immer die erste Leserin meiner Texte. Daß diese Arbeit mehr an Zeit und Energie gekostet hat als vorgesehen war, weiß sie am besten.

Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern – meinem Vater, der starb, als unsere Entfremdung am größten war, an der er seinen und ich meinen Anteil hatte; und meiner Mutter, die aus allen guten und schlechten Zeiten mit Menschlichkeit und Humor das Beste gemacht hat.

Frankfurt/Main, März 2001 Gerd Koenen

DAS SCHWARZE LOCH

. . . in der eigenen Biographie und der öffentlichen Erinnerung

Also was die siebziger Jahre betrifft kann ich mich kurz fassen . . . Widerstandslos, im großen und ganzen, haben sie sich selbst verschluckt . . . Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, wäre zuviel verlangt.

H. M. Enzensberger

In der Aureole des ersten Tages stehen wir auf dem Balkon über dem Boulevard, auf dem der Verkehr wieder zu rollen beginnt, und Adam zeigt mir ein Photo seiner Freundin Ewa, im selben paradiesischen Naturzustand wie wir beide. Stunden zuvor, als das Trinken begann, ist sie mit einem umwerfenden Lächeln gegangen. Surrealerweise steht auf dem Haus gegenüber eine Sternwarte. Oder die Sternwarte sieht wie ein Haus aus. Egal. Der Wodka, in unerbittlichen Runden eingenommen, mit Brot, Gurken, Speck und kaltem Tee, hat uns eine Nacht lang in ein helles Zelt gesteckt, unsere Gespräche erleuchtet und unsere Gesänge beflügelt. Die ersten Sonnenstrahlen strecken uns nieder. Schlafen, nur schlafen. Bis in den hohen Mittag. Warschau im kurzen Sommer der »Solidarität«, Anno 1981. Ende einer revolutionären Dienstreise. La guerre est finie.

Wann hatte diese Reise begonnen? Schwer zu sagen. So richtig vielleicht erst im Sommer 1977, als ein Verbotsantrag gegen unsere Organisation anhängig war und ich mit einem größeren Geldbetrag am Leib nach Wien geschickt wurde, um Quartier zu machen für den Fall der Illegalität. Der lange erwogene Austritt wäre nun Desertion gewesen und kam nicht mehr in Frage. Oder begann alles im Jahr davor, als angesichts der erwarteten Weltkrisen und Kriege alle Kräfte und Ressourcen mobilisiert wurden, um eine mächtige Parteizentrale und einen modernen technischen Apparat auf die Beine zu stellen, in den ich (trotz notorischer Rechtsabweichungen) als Redakteur des wöchentlichen Zentralorgans eingestellt wurde? Oder vielleicht eher 1975, als ich alle akademischen Ambitionen aufgab und als moderner Narodnik »in den Betrieb ging«, um an der Organisation des Proletariats mitzuwirken? Oder war der eigentliche Schnittpunkt das Jahr 1974, als wir Danys und Joschkas Putztruppen in den Frankfurter Häuser- und Straßenkämpfen verbissen die »Führung« streitig machten und beim regelmäßigen Aufmarsch der ideologischen Stadtquartiere stets mit dem größten und geschlossensten Fähnlein auftraten, ich mit dem Megaphon und allerhand Größenphantasien immer voran? Oder begann diese Reise im Sommer 1973, als ich an der Gründung einer neoleninistischen Kaderorganisation, dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), teilnahm und für unseren Beitrag zur Programmdebatte gleich Selbstkritik (wg. kleinbürgerlichen Demokratismus) üben mußte – und mich trotzdem nicht abschrecken ließ, im Gegenteil? Oder müßte ich den eigentlichen Beginn auf 1970/71 datieren, als wir uns als KOMMUNISTISCHE GRUPPE FRANKFURT/OFFENBACH unter Hunderten ähnlicher Zirkel konstituierten und anfingen, »revolutionäre Betriebsarbeit« zu machen? Oder war das bereits 1969, als man begann, sich abends mit konspirativen Klingelzeichen in kleiner Runde zu treffen, um über die Perspektiven einer revolutionären Arbeit außerhalb der Universität zu beraten, Marx-, Engels- und Lenin-Texte zu schulen, endlose Papers zu schreiben und in den Basisgruppen und ROTEN ZELLEN eifrig zu fraktionieren und zu rekrutieren? Oder war die Übersiedlung nach Frankfurt als zweite Hauptstadt der Bewegung zum Wintersemester 68/69 bereits der Schritt, mit dem ich insgeheim beschloß, Berufsrevolutionär zu werden? Oder war das ursprüngliche Schlüsselerlebnis nicht eher der Februar 1968, als wir aus Tübingen zum Vietnam-Kongreß nach Westberlin fuhren, in banger Erwartung eines blutigen Frontstadt-Pogroms, nur um zu erleben, daß die Straße und die Medienbühne in triumphaler Weise uns gehörten? Oder war es schon jener unselige 2. Juni 1967, an dem ich wie Zehntausende meiner Altersgenossen das flashartige Gefühl hatte, jetzt hätten »sie« auf »uns« geschossen, radikale Entwicklungen im Lande und in der Welt stünden so oder so bevor, weshalb ich, immer noch Mitglied der Humanistischen Studenten-Union, dem SOZIALISTISCHEN DEUTSCHEN STUDENTENBUND (SDS) beitrat, um mit von der Partie zu sein, die nun begann.

Alle diese Etappen meines kleinen Langen Marsches haben selbst im Rückblick noch eine große innere Schlüssigkeit. Und ich glaube, sie gehören nicht nur in meiner Erinnerung zusammen, sondern bilden tatsächlich Kapitel einer Geschichte, der des »roten Jahrzehnts«.

In der Erinnerung haftet noch eine ganz andere Schlüsselszene: Als Yves Montand in Alain Resnais’ Film »La guerre est finie« dem Mädchen den Laufpaß gibt, das er auf irgendeiner Existenzialisten-Party am Rive Gauche aufgegabelt hat, wo ihn Studenten vom Typ der Pariser Mairevolutionäre mit linksradikalen Phrasen attackierten, ohne auch nur zu ahnen, daß auf ihn, den Kommunisten aus dem spanischen Untergrund, eine neue ernste Mission wartete. Im nächtlichen Nebel auf der Tübinger Neckarinsel im Sommer 1968, kurz vor meiner Übersiedlung nach Frankfurt, war ich Yves Montand, wie er diese mythische Grenze wieder überschritt – in den Widerstand, die Revolution oder den Tod.

So kitschig das klingt, so kitschig war es auch. Man war von Filmbildern okkupiert, weil man die gesellschaftliche Realität selbst als bloße Staffage und falsches Spiel empfand und die Politik als mediale Inszenierung und Manipulation, die man mit provokativen Aktionen durchbrechen mußte – deren Wirksamkeit man wiederum an den Reaktionen der Medien ablas. Eine der ersten kulturrevolutionär auftretenden Gruppen im Vorfeld des SDS, zu der auch Rudi Dutschke gehörte, nannte sich 1965 – nur scheinbar ironisch – die »Viva-Maria-Gruppe« (nach dem Spielfilm von Louis Malle mit Brigitte Bardot und Jeanne Moreau). Viele, die später in den Terrorismus abglitten, haben berichtet, alles sei ihnen anfangs »wie ein Film« vorgekommen, ein Kriminalfilm, Politthriller oder Italo-Western, je nach Temperament.

Mein Film (der mit Yves Montand) schien zumindest aus dem Stoff der Wirklichkeit gemacht. Nur daß mir die Pointe auf bezeichnende Weise entging: Denn Semprun (der das Drehbuch nach eigenen Erfahrungen verfaßt hatte) beschreibt darin den inneren Konflikt eines Kommunisten, der weiß oder ahnt, daß er von seiner Partei sinnlos verheizt wird. Der »Krieg« (der spanische Bürgerkrieg) ist lange vorbei, das Land ist durch den Tourismus und die wirtschaftliche Öffnung in einem Umbruch begriffen, der weit radikaler ist als jede Résistance und jede Revolution. Nur die Parteiführer im Exil haben es nicht gemerkt oder wollen es nicht wahrhaben.

Der imaginäre Anschluß an die »wirkliche Geschichte«, den wir so fieberhaft suchten, war eine Flucht aus der unerträglichen Leichtigkeit unserer eigenen Lebenswelt, der wir nicht trauten, zurück in das Zeitalter der Weltkriege und Bürgerkriege, das uns viel »realer« und gegenwärtiger erschien. Und hinaus in eine Weltarena, in der längst eine radikale Revolution im Gange war – die Frage war nur, ob mit oder ohne uns.

Vom Auftauchen aus dieser mythologischen Sonderwelt handelte im Frühjahr 1982 auch meine Abschiedserklärung im Zentralorgan, dessen Redakteur ich war. Darin kehrte die Warschauer Balkonszene in einer spöttischen Parabel als Erinnerungsrest wieder. Ich verglich uns mit Held Prometheus, wie er »nach Jahren revolutionärer Standhaftigkeit, an den Felsen geschmiedet, während ihm der Adlergeier des Opportunismus von der Leber fraß – also, wie Held Prometheus die Augen aufmacht, keine Ketten und keine Adlergeier sind da, statt dessen große Aussicht, schönes Wetter, Autos tuten, alles okay soweit, und da beschleicht ihn der horror vacui vor soviel Lärm und Leben, er läßt sich an den Felsen, den imaginären, zurücksinken, schließt die Augen, der Adlergeier frißt an seiner Leber, und alles hat wieder seine Ordnung«.1› Anmerkung

Das war eine ironische Aufforderung an die Genossinnen und Genossen, endlich aus der geschlossenen Welt eines berufsrevolutionären Aktivismus, der zur reinen Mimikry geworden war, aufzutauchen und diese Organisation, die nur noch mit ihrer politisch-ideologischen Selbstabwicklung befaßt war, einfach aufzulösen. Und um die fast unbegreifliche Distanz zu bezeichnen, die sich plötzlich auftat, kam mir eine andere Metapher in den Sinn: »Ich weiß nicht, wie es den anderen geht – ich jedenfalls fühle mich um Lichtjahre, so zwei bis drei Milchstraßen, von diesem schwarzen Loch entfernt . . .«

Da war es (wieder einmal) sechs Uhr früh vorbei, es dämmerte, ich nahm den Text aus der Maschine, legte ihn ins Körbchen für den Satz und ging aus der Redaktion, in der ich schon gekündigt hatte, in den morgendlichen Verkehr hinaus.

Das Gefühl eines anhaltenden Wirklichkeitsverlustes ist auch, nachdem sich alle früher oder später von ihrem jeweiligen Affenfelsen losgemacht und vom Kopf wieder auf die Füße gestellt haben, nicht verschwunden. Das »schwarze Loch« klafft in der eigenen Biographie, aber auch im allgemeinen Bewußtsein. Jedenfalls gehörte die Erinnerung dieses langen »roten Jahrzehnts«, das zeitlich weitgehend mit der sozialliberalen Ära zusammenfiel, aber darin keinesfalls aufging, bis vor kurzem noch eher zu den Apokryphen einer Geschichte der Bundesrepublik.

Vom historischen Resultat her mochte (und mag) das völlig gerechtfertigt erscheinen. Sosehr die Attentate der RAF oder der REVOLUTIONÄREN ZELLEN, die Flut der »Berufsverbote« und der »Unvereinbarkeitsbeschlüsse«, die zahllosen militanten Straßenaktionen und Showdowns von der »Schlacht am Tegeler Weg« 1968 bis zu den Kämpfen um Brokdorf oder Grohnde 1976/77 die Republik damals aufgewühlt haben, sowenig bildete das verzweigte Geflecht von Gruppen der »Alten« und »Neuen Linken«, von den DKPisten und Stamokap-Jusos über die Trotzkisten zu den Maoisten, Anarchisten oder Spontaneisten jemals »eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung« – um es im erstaunlich deflationären Ton der Verfassungsschutzberichte dieser Jahre zu sagen.

Ganz anders stellt sich die Sache schon dar, wenn man das revolutionäre Sektenwesen und den Zeitgeist, der es trug, als integralen Teil einer Gesellschafts- und Mentalitätengeschichte der Republik beschreibt. So hatte entgegen einer beinahe allgemeinen Ansicht der organisierte Linksextremismus der 70er Jahre einen weitaus bedeutenderen Umfang als die »68er-Bewegung«, aus deren Zerfall er äußerlich gesehen hervorging. Tatsächlich war der SDS auf die größeren Universitätsorte beschränkt gewesen und hatte dort nie mehr als ein paar Dutzend oder, wie in Berlin und Frankfurt, ein paar Hundert rundum aktive Mitglieder. Zwar strömten Tausende auf die großen Teach-ins und Demonstrationen. Und es gab jugendliche Rebellen in nahezu allen Orten und vielen gesellschaftlichen Bereichen. Aber 1967/68 waren das Einzelgänger oder kleine Cliquen, die sich an einer Reihe von Codes erkannten.

Das Kernpotential der Jugendrevolte von 1968 läßt sich auf (maximal) 20.000 Aktive schätzen, davon allein 4–5000 in Westberlin. Der SDS hatte auf dem Höhepunkt etwa 2500 Mitglieder (soweit überhaupt Registrierungen stattfanden). Bei der großen internationalen Vietnam-Demonstration in Westberlin im Februar 1968 waren etwa 15.000 auf der Straße. Und bei der zentralen AntiNotstands-Demonstration am 11. Mai 1968 in Bonn brachte die vereinigte »Außerparlamentarische Opposition«, die APO, rund 60.000 Gewerkschafter, Lehrlinge, Schüler, Studenten, linke Sozialdemokraten, Christen, Pazifisten, Neutralisten und Kommunisten auf die Beine.

Erst mit der Auflösung von APO und SDS 1969/70 wurde aus der antiautoritären Jugendrevolte eine echte, generationell geprägte Massenbewegung. Allein die Zahl der organisierten Mitglieder der diversen linksrevolutionären und kommunistischen Gruppen und Parteien lag die ganzen siebziger Jahre hindurch bei circa 80–100.000. Und dieses brodelnde Sektenwesen war nur die sichtbare Spitze eines viel weitläufigeren politisch-kulturellen Phänomens, das sich keineswegs auf Randzonen beschränkte, sondern bis tief in die Mitte von Staat und Gesellschaft hineinreichte.

Mitarbeit in einer Basisgruppe, Betriebsgruppe oder Roten Zelle, einem Lehrlingszentrum oder einem antiimperialistischen Komitee, einer Roten oder Schwarzen Hilfe; Mitgliedschaft in einer der zahlreichen Kaderorganisationen und Kaderparteien oder in einer ihrer »Massenorganisationen«; Aktivitäten in einer der »undogmatischen« und »militanten« Gruppen sozialistischer, anarchistischer, spontaneistischer oder feministischer Observanz, die in praktisch allen großen und kleinen Orten aufschossen; Teilnahme an den zahllosen Schulungen und Diskussionen, in denen es um die »Systemüberwindung« oder die »antiimperialistische Revolution« ging, und die habituelle Lektüre entsprechender Bücher und Zeitschriften (mit heute phantastisch wirkenden Auflagen von einigen Zehntausend); mehr oder weniger regelmäßige Beteiligung an Demonstrationen, Kundgebungen, Versammlungen oder illegalen Besetzungsaktionen, die in ihrer »Massenhaftigkeit« die der sechziger Jahre jederzeit übertrafen und fast rituell in Zusammenstößen mit der Polizei endeten; Überprüfungen durch den Verfassungsschutz, die Schulbehörden, die Gewerkschaftsleitungen oder den Werkschutz und politisch begründete Maßregelungen, Entlassungen und Berufsverbote – das alles ist als ein prägendes Element in Hunderttausende von Biographien eingelagert. Insofern handelt es sich um eine Generationserfahrung im vollen Sinne des Wortes.

Reinhard Mohr hat aus der Perspektive der nachrückenden Zwischengeneration der »78er« die typischen Sozialisationsformen dieser Jahre noch einmal eingängig evoziert. Zauberworte wie »strukturelle Gewalt« dienten als Passepartouts einer Gesellschaftskritik, in deren Zentrum nach Peter Brückner »die repressive Entstellung fast aller zwischenmenschlichen Beziehungen« stand. Erst durch eine organisierte »Gegengewalt« konnten die »Herrschaftsverhältnisse« auch »sinnlich erfahrbar« gemacht werden. Mit jeder Verlagerung des Kampffeldes – von der »Betriebsarbeit« über die »Fahrpreiskämpfe« und »Häuserkämpfe« bis hin zu den »§ 218-Kampagnen« und der »Anti-AKW-Bewegung« – und mit jeder Einbeziehung frischer Alterskohorten in diese Bataillen tauchte stets von neuem die Forderung nach einer »langfristigen Strategie« und »revolutionären Organisation« auf. Denn das Ziel war immer und unverrückbar »die Revolution«, die natürlich nur als eine internationale gedacht werden konnte, als Weltrevolution mithin. Darunter ging kaum etwas.

Auch ein Gutteil der Verlagsprogramme, Zeitschriftenredaktionen, Rundfunk- und Fernsehanstalten, der Theater-, Literaten- und Künstlerszene stand im Banne dieser Zeitstimmung und übte den Jargon einer pseudorevolutionären Eigentlichkeit. Von heute aus gesehen, schreibt Mohr, wirke es nahezu »unbegreiflich, wie große Teile der westdeutschen – und westeuropäischen – Intelligenz sich für Jahre in diesem Geschichtsbild häuslich einrichten konnten«.2› Anmerkung

Die distanzierte Formulierung macht klar, in welchem Grade die Aktivisten von damals mittlerweile neben sich selbst stehen, wenn es darum geht, sich die eigenen Motivationen noch einmal zu vergegenwärtigen und zu fragen, woher diese über alle lebendigen Erfahrungen und Interessen weit hinausschießende, abstrakte Theorie- und Organisationswut, diese jederzeit abrufbare Militanz und Empfänglichkeit für weltrevolutionäre Phraseologien damals eigentlich kamen. Und da man sich das selbst nicht mehr recht aufklären konnte, verdrängte oder verklärte man diese Geschichte. Sie war vorwiegend zum Stoff spätabendlicher Kneipengespräche oder häuslicher Anekdoten »aus der Kampfzeit« geworden.

Es gibt eine ausufernde Literatur über die »68er-Revolte« und eine andere über den Terrorismus der RAF, die seit langem zu Objekten einer eigenen, schwülen »Erinnerungskultur«, regelmäßiger publizistischer Neuverarbeitungen oder ausgedehnter akademischer Forschungen geworden sind. Über das viel breitere Phänomen des spezifischen Radikalismus der 70er Jahre dagegen gab und gibt es kaum eine reflexive, geschweige selbstreflexive Literatur.

Diejenigen, die Auskunft geben könnten, verweigern sich dem großteils. »Die Protagonisten der damaligen Bewegung, auch der Autor der folgenden Bemerkungen, haben nie daran gedacht, die Geschichte dieses Großversuches aufzuschreiben«, hat etwa Christian Semler, der ehemalige Vorsitzende der maoistischen »KPD«, in einer seiner sporadischen Nachbetrachtungen geschrieben. Erstens sei der Ruf der (bis heute sogenannten) »K-Gruppen« zu schlecht, da sie nach allgemeiner Auffassung die Mörder der frischen Emanzipationsblüte der antiautoritären 68er-Revolte gewesen sein sollen. Zweitens befalle einen angesichts des Wustes der damaligen Druckerzeugnisse sogleich heftige Unlust. Und schließlich »verstehen die Funktionäre von einst kaum mehr ihre damaligen Motive und Handlungen. Der Riß ist zu tief.« Kurz und gut, den Ex-Kadern sei die Sache zu peinlich, den Soziologen zu immobil, den Historikern zu geringfügig und den Psychologen zu durchsichtig.3› Anmerkung

Richtig ist, daß diese Geschichte sich von selbst erledigt hat – kaum weniger gründlich als die DDR und der übrige »real existierende Sozialismus«. Dabei ist allerdings mit sehr unterschiedlichen moralisch-historischen Maßen gemessen worden. Man konnte noch im Jahr 1999 nicht Pressesprecherin der SPD werden, wenn man als FDJ-Studentin in den siebziger Jahren der Stasi ein paar belanglose Pflicht-Berichte nach Auslandsreisen geschrieben hatte.

Aber man konnte ohne weiteres Vizepräsidentin des Bundestages, Vizekanzler, Minister/in oder Staatssekretär/in werden, wenn man eine erhebliche Strecke seiner Jugend als Aktivist oder Aktivistin einer der vielen revolutionären Organisationen dieser Zeit zugebracht hatte. Dort das kategorische Postulat des »Aufarbeitens der Vergangenheit« und einer lückenlosen Überprüfung der jeweiligen Biographien, hier der augenzwinkernde Einbau in die individuelle Karriere als ein bloßer walk on the wild side.

Deshalb braucht man nicht die lasche Verbitterung jener Enthüllungsautoren zu teilen, die »Joschka und seiner Gang« oder anderen Ex-Militanten und Ex-Kadern der 70er Jahre ihre wilde Vergangenheit und gleichzeitig auch noch ihren Verrat an derselben vorhalten wollen.4› Anmerkung Oder die beinahe komische Verzweiflung jener, die – wie der damalige FAZ-Redakteur Eckhard Fuhr 1993 in einem Leitartikel unter dem Titel »Alles Achtundsechziger« – die »wimmernde Hilflosigkeit« der bundesdeutschen Politik in »Gesinnungsnarzißmus und Realitätsverweigerung« als fataler Erbschaft jener Zeit begründet sehen wollen, um allen Ernstes zu fordern: »Die deutsche Politik muß sich von 1968 emanzipieren.«5› Anmerkung Dabei hatte Brigitte Seebacher-Brandt doch bereits im Herbst 1990 mit der eklatanten Wahlniederlage Lafontaines und dem Fall der Grünen unter die 5-Prozent-Marke die Generation der Achtundsechziger für historisch »abgewählt« erklärt, da sie für die Unhaltbarkeit der deutschen Teilung blind gewesen und durch die Umbrüche von 1989 »überlistet« worden sei. »Ihr Erbe wird nicht weitergetragen. Es ist versunken und der Blick nun frei . . .«6› Anmerkung

Von wegen! 1998 fand Peter Gauweiler die »Rudi-Dutschke-Generation« bequemer denn je im Sattel, nunmehr grün domestiziert, um ihren lebensgeschichtlichen Erfolg auszukosten, nämlich »die bundesweite Verbreitung einer töricht harmlosen Lebensstimmung«. Ihr Waterloo von ’89 hätten sie ganz locker weggesteckt – anders als die ihnen so ähnliche »Horst-Wessel-Generation«, die die Erfahrung ihres geschichtlichen Scheiterns nach 1945 in einer heroischen Aufbauleistung eingelöst habe. »Das Vorbild ihrer Leistung ist nicht gefragt, ihre Größe, ihre Tragik, ihre Leiden (sind) – im Gegensatz zum Weltschmerz der Achtundsechziger – ein Tabu.« Mit dieser Generationenlüge, so Gauweiler, gedenke die bundesdeutsche Gesellschaft offenbar ungerührt weiter dahinzuleben.7› Anmerkung

Schlimmer noch, hätte man dem Herrn Gauweiler zurufen müssen! Denn gerade in den neunziger Jahren, in der späten Ära Kohl also, haben die 68er-Rebellen (nach einer schönen Formulierung Heinz Budes) »ihre Rolle im Familienroman der Bundesrepublik gefunden«.8› Anmerkung Bis es im Herbst 1998 sogar hieß: »Die 68er an der Macht«. Joschka Fischer hat sogar die früheren Popularitätswerte von Rita Süssmuth oder Kurt Biedenkopf noch übertroffen. Und der Titel seines Bestsellers »Mein langer Lauf zu mir selbst« könnte mittlerweile fast als Gesamtüberschrift über der Geschichte der Republik stehen, während seine Minister-Turnschuhe im »Haus der Geschichte« zu den Insignien der Republik zählen – und demnächst, wer weiß, auch sein schwarzer Helm aus der Kampfzeit.

Eingeleitet worden war diese Wende mit der programmatischen Rede des Bundespräsidenten von Weizsäcker am ersten Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 1990, worin er die »Jugendrevolte am Ende der sechziger Jahre« in offizieller Weise zu einem Baustein der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik erhob, da sie »allen Verwundungen zum Trotz zu einer Vertiefung des demokratischen Engagements in der Gesellschaft« beigetragen hat.9› Anmerkung Fast könnte man von einer zweiten, innergesellschaftlichen Wiedervereinigung (West) sprechen. Die Herausforderung der Republik mit ihrer allenfalls verächtlich zitierten »FdGO« durch ein weit nach links abgewandertes Segment der Nachkriegsgeneration war beendet.

Erst seit einigen Jahren hat sich der wissenschaftliche Betrieb des Themas angenommen. »1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft« lautete dreißig Jahre danach der Titel einer internationalen Arbeitskonferenz und eines Sammelbandes.10› Anmerkung Das klingt erwartungsvoll, und mit Recht. Die Archive stehen nach Ablauf aller Sperrfristen weit offen – und wieviel Papier ist damals nicht beschrieben und bedruckt worden! Ganze Bergwerke an Dokumenten harren ihrer Erschließung, fruchtbringende Forschungsthemen ihrer Beantragung, weitreichende Paradigmen ihrer Entfaltung. Hier, wo die Texte und Bilder schon gehörig Patina angesetzt haben, darf noch einmal romantisch-utopisch geschwelgt werden, und wär’s in dürrem Wissenschaftsjargon. Da liest man, daß »auch in der Bundesrepublik die 68er-Bewegung – analog zur französischen Mai-Bewegung – ein antiautoritäres, antihierarchisches Potential frei«gesetzt habe, welches auf allen Feldern die etablierten Strukturen »mit alternativen Ordnungsentwürfen konfrontiert« habe, »welche die Emanzipation des Individuums durch kollektive Selbstbestimmung und Selbstverwaltung erstrebten«und dadurch mit dem»Charisma derPhantasie«unser Leben verändert hätten.11› Anmerkung

Solche treuherzigen Historienmalereien sind Teil eines inventing of traditions, wenn nicht geradezu einer »Selbsterfindung der Nation«. Das hat sich mittlerweile bis zur fixen Vorstellung verdichtet, erst 1968 sei die äußere Westbindung der Bundesrepublik durch ihre innere »Verwestlichung« und Demokratisierung gesichert worden. Seit diesem Datum, dem »Jahr, das alles verändert hat«, sollen auch hierzulande »Selbstinitiative, Mündigkeit, Zivilcourage, Nonkonformismus und kollektive Verantwortlichkeit . . . einen unverzichtbaren Stellenwert erhalten« haben.12› Anmerkung So Wolfgang Kraushaar, der Chronist der bundesdeutschen Protestbewegungen, der auch von »einer Art soziokultureller Nachgründung«13› Anmerkung der Bundesrepublik durch die antiautoritäre Protestbewegung spricht.14› Anmerkung Tatsächlich ist in Manfred Görtemakers Gesamtdarstellung der Geschichte der BRD von einer regelrechten »Umgründung der Republik« die Rede.15› Anmerkung Und als ein wesentlicher Unterschied zwischen den Gesellschaften der Bundesrepublik und der DDR gilt dann konsequenterweise, daß es dort eben kein »68« gegeben hat16› Anmerkung; oder, noch apodiktischer: »daß die DDR eine deutsche Geschichte minus 1968 war«.17› Anmerkung

Spätestens hier hat man das Gefühl, daß im Herbst der Erinnerungen (der eigenen wie der geborgten) die Urteilskriterien erheblich verrutscht sind. Der DDR hätte also vor allem eine kleine 68erRevolte gefehlt – und sonst nichts? Und wir Wunderkinder dieses annus mirabilis wären die wahre Gründergeneration der Bundesrepublik-West gewesen?!

Mag sein, daß meine biographischen Erfahrungen sich in besonderer Weise gegen solch weichgezeichnete Genrebilder sperren. Aber so nett, antiautoritär und fortschrittsbeflissen, wie man uns im nachhinein nahelegen möchte, waren wir nun wirklich nicht – und haben wir uns bei aller militanten Unschuld auch anno ’68 nicht gesehen. Wenn Wolfgang Kraushaar gleichzeitig von »antidemokratischen Elementen«im SDS und von einem »Flirt mit demTotalitarismus« spricht und erklärt, im Grunde seines Herzens froh zu sein, daß keines der Ziele von damals verwirklicht wurde, mündet die Sache doch wohl in einer offenen Aporie.18› Anmerkung

Es geht nicht darum, die Dinge schwärzer zu zeichnen, sondern schärfer. Daß schon die Ideologeme der originären 68er-Bewegung – und keineswegs erst die neokommunistischen Plattformen der siebziger Jahre – einen entschieden antiliberalen, antidemokratischen (jedenfalls antiparlamentarischen) und antiwestlichen Charakter getragen haben, ist eine unschwer nachzuweisende Tatsache. Alles andere hätten wir auch damals schon als Beleidigung empfunden. Wie kann aber eine Bewegung Liberalität, Demokratisierung und Verwestlichung vorangetrieben haben, die bis in die frühen 80er Jahre hinein das deutliche Gegenteil auf ihre Fahnen geschrieben hatte?19› Anmerkung Das ist die eigentliche und spannende Frage, die man zumindest nicht abschwächen darf.

Dabei scheint mir der Widerspruch durchaus auflösbar – nur eben nicht in der Form einer nachträglichen Verharmlosung. Sondern erst dann, wenn es gelingt, halbwegs plausibel zu rekonstruieren, auf welche Weise eine derart radikale und vielfach sektiererische politische Bewegung wie die, die im Juni 1967 auf voller Breite begann und zehn Jahre später im »deutschen Herbst« in einem blutigen Showdown kulminierte, dennoch zum Katalysator eines gesellschaftlichen Umbruchs werden konnte, der vollkommen andere gesellschaftliche Ergebnisse zeitigte als die, die man »politisch bewußt« angestrebt hatte. Aber auch umgekehrt: wenn man annähernd versteht, woraus die enorme Aktionsenergie und erstaunliche Definitionsmacht der radikalen Linken sich damals eigentlich speiste. Das Ganze war jedenfalls ein hochparadoxer, durch und durch widersprüchlicher Prozeß.

Die Antwort, die Niklas Luhmann 1988 in einer sarkastischen Philippika gegen »Njet-Set und Terror-Desparados« auf diese Fragen gegeben hat, ist betont kurzschlüssig. Aber sie stellt den Widerspruch zwischen revolutionären Ansprüchen und zivilen Resultaten wenigstens mit ätzender Schärfe heraus: »Zufällige Vorfälle, der Schuß auf Benno Ohnesorg zum Beispiel, schossen die Studenten aus der Gesellschaft hinaus – und von da ab konnte man über den Rasen laufen.«20› Anmerkung

Als Jürgen Habermas in einem improvisierten Redebeitrag auf dem Hannoverschen Kongreß »Student und Demokratie« im Juni 1967 (im Anschluß an das Begräbnis von Benno Ohnesorg) hypothetisch und bewußt provokativ vor einer Tendenz des »linken Faschismus« in der entstehenden Studentenbewegung warnte, war das keine unspezifische Beschimpfung, sondern hatte eine recht präzise Bedeutung. Angesprochen war eine von Dutschke zuvor entwickelte Ideologie und Strategie bewußter »Provokationen«, deren Ziel es offenbar sei, so Habermas, die »sublime Gewalt« der herrschenden Institutionen »zu einer manifesten Gewalt (zu) machen, um sie dadurch zu deklarieren und zu denunzieren«. In Berlin war nach den Anti-Schah-Demonstrationen und den Schüssen vom 2. Juni ein Demonstrationsverbot erlassen worden, das Dutschke mit einer bundesweiten Mobilisierung zu brechen vorschlug. Es war allgemeine Erwartung, daß das in neuen, bürgerkriegsartigen Zusammenstößen enden müsse.

Diese Politik bezeichnete Habermas als »voluntaristisch« und »ein Spiel mit dem Terror (mit faschistischen Implikationen)«.21› Anmerkung In einem erläuternden Brief an Erich Fried sah er eine Verwandtschaft von Dutschkes Konzept »mit gewissen, an Sorel anknüpfenden linken Tendenzen des frühen italienischen Faschismus«. Im übrigen habe er den Eindruck, »daß das sozialpsychologische Potential, an das Dutschke appelliert, höchst ambivalent ist und fast ebensogut rechts wie links kanalisiert werden könnte, weil die Befriedigung . . . nicht aus der Realisierung eines bestimmten politischen Ziels, sondern aus der Aktion um ihrer selbst willen« geschöpft werde. Dem Wunsch Frieds, er (Habermas) möge sich öffentlich vom Wort des »linken Faschismus« distanzieren, da dies den Gegnern der Protestbewegung in die Händespiele, mochte er nicht entsprechen. Da die SDS-Führerin der Kernfrage noch nicht Farbe bekannt hätten, ziehe er es einstweilen vor, »das ominöse Wort über den Häuptern schweben zu lassen«.22› Anmerkung

Ein Jahr später erklärte Habermas dann, nicht ohne Feierlichkeit, er sei mittlerweile »zu der Überzeugung gelangt, daß die von Studenten und Schülern ausgehende Protestbewegung . . . eine neue und ernsthafte Perspektive für die Umwälzung tiefsitzender Gesellschaftsstrukturen eröffnet« habe. Gerade durch ihren relativ privilegierten Status und den immateriellen Charakter ihrer Kritik an einer sinnlos gewordenen kapitalistischen »Leistungsideologie« mit ihren Verdinglichungen, Ersatzbefriedigungen und Entfremdungen gebe diese Jugendbewegung erstmals wieder den Blick auf eine mögliche Transformation der entwickelten Industriegesellschaften frei, »die eine sozialistische Produktionsweise zur Voraussetzung, aber eine Entbürokratisierung der Herrschaft . . . zu ihrem Inhalt hat«.

Diese Neubewertung hinderte Habermas nicht, die »scheinrevolutionäre« Rhetorik und Politik der Bewegung einer nochmaligen harschen Kritik zu unterziehen. Vor allem in seiner Polemik gegen die SDS-Kader und sonstigen »Berufsrevolutionäre«, die ihren »innere(n) Kommunikationskreis . . . gegen die Zufuhr dissonanter Erfahrungsgehalte abgedichtet« hätten und deren Aktionismus durch die notorische »Verwechslung von Symbol und Wirklichkeit . . . im klinischen Bereich den Tatbestand der Wahnvorstellung« erfülle, steckte er keinen Fußbreit zurück. Mit ätzender Schärfe entwickelte er eine Typologie des »Agitators«, des »Mentors« und des »Harlekins«1› Anmerkung der Bewegung, deren intellektuelle déformations professionelles, »wenn sie aus dem Schattenreich der persönlichen Psychologie heraustreten und zur politischen Gewalt werden, wahrlich ein Skandal sind«.23› Anmerkung

Das Suhrkamp-Bändchen »Protestbewegung und Hochschulreform« von 1969, in dem Habermas seine verschiedenen Interventionen zusammenfaßte, war von dem akuten Wunsch des Autors diktiert, »die wachsenden Affekte der Bevölkerung gegen Studenten« und das, »was immer schon beschworen worden ist: das Einsetzen nackter Repression« (mit der er offenbar rechnete), nach Möglichkeit zu konterkarieren und gleichzeitig die »vaterlose« Jugendbewegung davor zu bewahren, »in die vorhersehbare Niederlage ihrer aktionistischen Irrläufer hineingezogen« zu werden, deren »Weg in die Subkulturen jenseits der Hochschule« politisch und sozial längst vorgezeichnet sei.24› Anmerkung

Diese und alle weiteren, sukzessiven Änderungen der Positionen von Habermas können wohl als Schrittmacher und Indikator eines Einstellungswandels der bundesdeutschen Öffentlichkeit insgesamt gelten. In der Einleitung zu der von ihm initiierten Bestandsaufnahme »Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹«von 1979 stellte Habermas »die aus der Protestbewegung hervorgegangene Alternativbewegung« bereits ebenso wie die Ökologiebewegung und die feministische Bewegung ganz deutlich auf die Habenseite seiner Zeitbilanz. Er stufte sie als »neopopulistische«, aber legitime und lebendige Formen des Widerstands gegen eine drohende »Kolonialisierung der Lebenswelt«2› Anmerkung ein – und damit als Indikatoren einer tiefgreifenden silent revolution (nach Inglehart), eines latenten Wertewandels, worin die »materialistischen« Werte von Wohlstand, Sicherheit und Stabilität zunehmend von den »postmaterialistischen« Werten der Selbstverwirklichung, Solidarität und Partizipation zurückgedrängt würden.25› Anmerkung

Diese kulturelle Evolution, die sich in der kurzen sozialliberalen Reformphase von 1969 bis 1972 niedergeschlagen hatte, sah Habermas allerdings von einer neuen Rechten »militant in Frage gestellt«. Deren Angriff gelte zugleich jenem »Zug der intellektuellen Entwicklung, von dem man sagen kann, daß er im Nachkriegsdeutschland dominiert hat: Ich meine den dezidierten Anschluß an Aufklärung, Humanismus, bürgerliches Denken«.26› Anmerkung Diese »Tendenzliteratur« und »Ordinarienpamphletistik« erfülle mittlerweile den Tatbestand einer regelrechten intellektuellen Gegenrevolution, und ihre Protagonisten betrieben die stets im Munde geführte »geistige Auseinandersetzung« als eine Art »paramilitärischen Einsatz an der semantischen Bürgerkriegsfront«.27› Anmerkung

Alles ist hier erstaunlich: die Sicherheit, mit der Habermas für das gesamte Nachkriegsdeutschland eine intellektuelle Dominanz der Linken annimmt und gerade ihr den Anschluß an westliches, bürgerliches Denken zuschreibt; die Kürze, auf die er die eigentliche Reformphase nach dem Bonner »Machtwechsel« datiert (von 1969 bis 1972); und die Heftigkeit, mit der er eine »große Koalition von Ordnungsphilosophen« als konterrevolutionäre »Neue Rechte« an die Wand malt und auch mit Namen benennt (wie Lübbe, Scheuch, Schelsky, H. Maier, Sontheimer), die heute wohl kaum jemand so verorten würde. Das gibt einen Eindruck davon, mit welcher polemischen Härte und affektiven Aufladung in diesen siebziger Jahren auch im Oberhaus der Republik des Geistes politische und weltanschauliche Kontroversen ausgetragen wurden.

Aber in welchen Zeitsprüngen da gedacht und geurteilt wurde, ermißt man so recht erst, wenn Jürgen Habermas wieder ein knappes Jahrzehnt später die Protestbewegung und Kulturrevolte von 1968 bereits zum Auslöser eines Prozesses der »Fundamentalliberalisierung« der Bundesrepublik erhob – der auch die CDU nun erreicht und in Frau Süssmuth Gestalt angenommen habe.28› Anmerkung

Um so lächerlicher ist der späte Büßer- und Bekennergestus der zahlreichen selbststilisierten »Renegaten« dieser Bewegung, die sich einen Mantel überstreifen, der ihnen viel zu groß ist, und eine Würde in Anspruch nehmen, die ihnen nicht zusteht. Was können wir schon für Renegaten sein! Daß unsere revolutionäre Projektemacherei nur die Wiederaufführung einer historischen Trägödie als Farce (wenn auch mit blutiger Nase) war, muß schwerlich noch bewiesen werden.

Eine Recht auf Renegatentum hätten allenfalls die Terroristen, die mit der ubiquitären Gewaltrhetorik dieser Jahre wirklich Ernst gemacht haben. Aber Menschen, die über die Motive ihres eigenen Handelns vertieft nachgedacht haben, statt sich in unendliche Selbstlegitimationen zu verstricken, sind aus dem Umfeld der RAF, des 2. JUNI oder der REVOLUTIONÄREN ZELLEN kaum hervorgegangen. Die Schuld und Verantwortung lag und liegt für das Gros der deutschen Ex-Terroristen beim Staat oder bei »der Gesellschaft«, die sie zu dem gemacht und getrieben haben sollen, was sie waren und was sie taten. Eine größere moralische und intellektuelle Selbstentmündigung ist schwerlich denkbar.

Es ist sicher wahr, daß der Taumel von Terror-Anschlägen und Anti-Terror-Maßnahmen, und besonders der Showdown im »deutschen Herbst« von 1977, viele Züge einer folie àdeux zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen den Ex-Wehrmachts-Leutnants wie Schmidt und Herold und den Kommandeuren und Kommandeusen einer ROTEN ARMEE FRAKTION wie Baader und Ensslin trug.29› Anmerkung Aber auch das läßt sich nur begreifen, wenn man den eigenen Anteil sieht. Die Unfähigkeit dazu verrät noch immer etwas über die Blindheit des Prozesses selbst.

Das (vermeintliche) Gegenstück bilden jene, die mit großer Geste in sich gegangen sind, nur um sich als Konvertiten zu entpuppen – sei es zum wahren Islam, zum ingrimmigen Nationalkonservatismus oder zum intellektuell aufgeputzten Neonazismus. Womit sie so ostentativ gebrochen haben, das setzen sie unter anderen Vorzeichen fort. Damit geben sie, wenn auch auf unterschiedliche Weise, eine Ahnung von der Leerstelle, die der Verlust der einstigen revolutionären Macht- und Größenphantasien in ihrer Psyche oder Biographie hinterlassen hat.

Das prominenteste Beispiel einer Wiedergeburt als fanatischer Nationalfundamentalist und intellektueller Antisemit hat Horst Mahler geliefert. Mittlerweile adoriert er die jugendlichen Neonazis und Brandstifter als Vorkämpfer und Märtyrer einer völkischen Wiedergeburt, so wie er einst im Mai die jugendlichen Straßenkämpfer der APO und die Terroristen der RAF adoriert hatte, denen er sich zeitweise sogar anschloß. Alles in allem hat sich im Lager der Neuen Rechten mittlerweile ein beachtliches, nicht unrepräsentatives Segment ehemaliger Aktivisten der Neuen Linken versammelt30› Anmerkung-so daß die unbequeme Frage nur schwer von der Hand zu weisen ist, ob diese politischen Konversionen nicht tatsächlich etwas von den verborgenen Unterströmungen und tiefen Ambivalenzen des generationellen Radikalismus der sechziger und siebziger Jahre verraten. Fast sieht es so aus, als sei diese Neue Rechte von Anfang an das schattenhafte alter ego der Neuen Linken gewesen. Auch wenn man Bernd Rabehls posthume Einvernahme seines Freundes und Rivalen Rudi Dutschke als Kronzeuge einer angeblichen »nationalrevolutionären« Tendenz der antiautoritären Protestbewegung so nicht durchgehen lassen kann31› Anmerkung –sie dürfte doch mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten.32› Anmerkung

In der eklatanten Verkennung der vielfältigen und widersprüchlichen Einbindung der 68er-Bewegung in einen ungleich breiteren, von niemandem »betriebenen« gesellschaftlichen Umbruch treffen sich ihre heftigsten Kritiker und Apostaten wiederum mit denen, die sich als die unverwegten Verfechter und treuen Hüter des Grals der »Ideen von 1968« und einer darauf getauften Emanzipationsbewegung verstehen.

So laufen die »im Zorn und gegen das Vergessen« geschriebenen Texte des früheren Habermas-Assistenten und Bewegungs-Mentors Oskar Negt auf den Versuch hinaus, ein mythisiertes »Achtundsechzig« mit seinem reinen, erzdemokratischen und antiautoritären Spirit auf Flaschen zu ziehen und kategorisch zu trennen von fast allem, was dann daraus hervorging – den sogenannten »K-Gruppen« zum Beispiel. Über deren Geschichte auch nur zu reden ihm (Negt) »völlig anachronistisch und von keinerlei politischer Dringlichkeit« erscheint, da sie schwere Mitverantwortung am Scheitern jenes emanzipatorischen Aufbruchs tragen.

Daß dieser ewig jugendliche Replikant »Achtundsechzig« (ein Oskar mit der Blechtrommel sozusagen) seinem damaligen Mentor mittlerweile zum Verwechseln ähnlich sieht, ist kein Zufall. Denn als die wahren Berufsrevolutionäre haben sich laut Negt die »Revolutionäre im Beruf« erwiesen, mit oder ohne Professorentitel. Ihr zäher Kampf um eine »Begriffsbildung von links«, gegen die »Verluderung des geschichtlichen Bewußtseins«, und ihre vielfältige stille »Maulwurfsarbeit in verwinkelten Gängen und eigens hergestellten Netzwerken« hat ein freieres Geschlecht antiautoritär Erzogener hervorgebracht, das die Fackel des kritischen Geistes aufnehmen wird. Die Enkel fechten’s besser aus. Um so weniger hat es Negt überrascht, daß aus den militanten Linksradikalen, Maoisten und K-Grüpplern der 70er Jahre überwiegend grüne »Realpolitiker«, habermasianische Reformisten oder sogar waschechte Neoliberale geworden sind.

Das ist nur die letzte Bestätigung seiner These, »daß der Glaubwürdigkeitsverlust politischer Phantasie und gesellschaftskritischer Analyse . . . durch die Linke selbst mitproduziert worden sind – in einer Zeit, die unter sehr verschiedenen Aspekten mit Recht bleierne Zeit genannt werden kann«. Mit dem Resultat, daß heute nur noch einige der »nach rechts ausschlagenden, politisierenden Wissenschaftler« (Negt nennt Fest, Sontheimer, Nolte) noch ehrlich bereit sind, »der Maulwurfsarbeit, die vom anstößigen Jahr 68 ausging, eine nach wie vor bedrohliche Kraft für das gegebene Herrschaftssystem zu(zu)schreiben«.33› Anmerkung Sie wenigstens, die Gegner von damals, haben verstanden!

Der wahre Mythologe des historischen Augenblicks von »Achtundsechzig« und Ankläger des Verrats daran ist allerdings nicht der wackere Begriffsarbeiter Negt, sondern der berserkerhafte Psycho-Apokalyptiker Klaus Theweleit. Kaum einer ist bis heute so hymnisch und so haßerfüllt um dieses ephemere Ereignis gekreist wie er. Auf dieser Nadelspitze des eigenen Erlebens hat er sich sein ganzes Welttheater eingerichtet, ein Pandänomium von Körpern & Unkörpern, Geistern & Ungeistern, Toten & Untoten, Tätern & Opfern, Males & Females, Köchinnen & Menschenfressern.

z ; ein Teil der ›Geschichte‹ von ›68‹ . . . wird erst jetzt .«› Anmerkungmach Theweleit seine Geschichte so zurecht, bis sie r