WESTEND

Ebook Edition

Albrecht Müller
Wolfgang Lieb

Nachdenken
über
Deutschland

Das kritische Jahrbuch
2013/2014

WESTEND

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www.westendverlag.de

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ISBN 978-3-86489-507-4
© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2013
Lektorat: Brigitte Baetz
Satz: Publikations Atelier, Dreieich
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany

Inhalt

Die NachDenkSeiten geben Gebrauchsanweisungen zum Selberdenken

Gedanken zur Gegenöffentlichkeit
Ein Vorwort von Jakob Augstein

1 Big Brother is watching you:
Wer schützt uns vor unseren Freunden?

2 Zahlemann und Söhne:
Die alltägliche Korruption

3 Ist es nur Dummheit oder hat es doch Methode?
Tricksereien mit Zahlen

4 Kein Anschluss unter dieser Nummer:
Warum gibt es keine politische Alternative?

5 Angela I., Kaiserin ohne Kleider:
Die Fehlschlüsse der Tefl on-Kanzlerin

6 Der Dilettantenstadl:
Wie sich die europäische Politelite blamiert

7 Die Rückkehr der reitenden Leichen:
Die Neoliberalen geben nicht auf

8 Einblick schafft Durchblick:
Wirtschaftswissen abseits des Mainstreams

9 Bundesagentur macht Arbeit:
Wie die Arbeitslosigkeit verwaltet wird

10 Bloß nicht krank werden!
Fehler im Gesundheitssystem

Wer sind und was wollen die NachDenkSeiten?

Die NachDenkSeiten geben
Gebrauchsanweisungen zum
Selberdenken

Würde sich die Politik an den Analysen und Vorschlägen der NachDenkSeiten orientieren, dann sähe es in Deutschland und Europa besser aus. Das klingt arrogant, meinen Sie? Vielleicht haben Sie recht, aber wir sind überzeugt davon, dass eine vernünftige Politik ohne Nachdenken, ohne das Analysieren von Problemen und ihren Ursachen nicht gelingen kann. Aber dieses Analysieren und Nachdenken über alternative Konzepte findet unserer Beobachtung nach kaum noch statt. Teilweise, weil unsere Medienwelt keinen Raum mehr bietet für unvoreingenommene öffentliche Debatten, teilweise, weil bestimmte Interessengruppen mit viel Geld und Einfl uss die Macht haben, dafür zu sorgen, dass ihre interessengesteuerte politische Strategien nicht aufgedeckt oder zumindest hinterfragt werden.

Wir schreiben für Menschen, die sich noch ihre eigenen Gedanken machen. Und davon gibt es zum Glück viele. Die Reaktionen vieler Leser auf unsere Denkanstöße beweisen das. Sie schreiben uns unter anderem, dass sie durch die NachDenkSeiten dazu ermutigt wurden, kritischer mit dem alltäglichen Medieneinerlei und den Zumutungen aus der Politik umzugehen. Sie schreiben uns auch, dass ihnen unsere kritische, aber gleichwohl konstruktive und vielfach auch optimistische Herangehensweise an die herrschende Politik und an die unbestreitbaren Probleme hilft, Zusammenhänge besser zu durchschauen und zu verstehen.

Unsere Internetseite wie auch dieses Buch haben Servicecharakter. Wir von den NachDenkSeiten wollen helfen, die Dinge besser zu verstehen. Eine intensive Bindung an unsere Leserinnen und Leser und die vielen freundlichen Reaktionen, die uns wiederum ermutigen und ermuntern, zeigen uns, dass die NachDenkSeiten ein wichtiger Begleiter durch das politische, ökonomische und gesellschaftliche Geschehen sind.

Das ist das siebte kritische Jahrbuch, das wir auf der Basis der Texte unserer Internetseite www.nachdenkseiten.de herausgeben. Nachdenken über Deutschland, dazu wollen wir auch in gedruckter Form anregen. Notwendig ist das. Gerade das Wahljahr 2013 hat bei vielen Menschen ein schales Gefühl hinterlassen. Es ging praktisch um Nichts, obwohl es um Vieles hätte gehen müssen. Es gab keine wirkliche politische Alternative zum Kurs von Frau Merkel, obwohl unser Land und wir alle diese dringend bräuchten.

In der veröffentlichten Meinung und in den herrschenden Kreisen wird so getan, als ginge es »uns« in Deutschland gut. Wer das nicht von sich sagen kann, bleibt vor der Tür. Im schlimmsten Fall wird ihm oder ihr vorgehalten, er oder sie sei eben selber schuld an seiner/ihrer Lage.

Sie werden in Nachdenken über Deutschland eine große Zahl von Analysen finden, die vor Monaten geschrieben wurden und (leider) gleichwohl aktuell geblieben sind. Denn die Probleme sind geblieben.

Sie werden deshalb bei der Lektüre dieses Buches nachvollziehen können, welchen Nutzen der regelmäßige Besuch der NachDenkSeiten haben kann. Zum Beleg haben wir unter anderem Texte zur Kandidatur Peer Steinbrücks als »Kanzlerkandidat« der SPD in das Buch aufgenommen. NachDenkSeiten-Leser konnten schon bei seiner innerhalb der Führungsriege ausgekungelten Ausrufung im September 2012 wissen, wohin die Reise geht. Nicht nur für das Funktionieren unserer Demokratie, sondern auch für eine bessere Wirtschaft und für mehr soziale Gerechtigkeit wäre eine »wirkliche Alternative« zum neoliberalen Einheitskartell notwendig gewesen.

Die Qualität politischer Entscheidungen hängt eng mit dem kritischen Verstand der Entscheidungsträger, der Medien und der Bürger eines Landes zusammen. Das Nachdenken und kritische Hinterfragen durch möglichst viele Menschen ist daher das Salz in der Suppe einer lebendigen Demokratie. Es verbessert den Geschmack. Es verbessert das Ergebnis.

Von unseren Sorgen können wir aber auch in diesem Vorwort nicht schweigen. Wir fürchten, dass die Zahl der Kritischen und Aufmüpfigen kleiner statt größer wird – weil viele unter dem Druck schlechter wirtschaftlicher Verhältnisse stehen und weil andere beim Genießen ihres Wohlstandes sich nicht stören lassen wollen. Zu viele Menschen werden müde. Das verstehen wir, können und wollen es aber nicht hinnehmen. Unsere Gesellschaft braucht eine kritische Gegenöffentlichkeit zur großen Einheitspartei der Abwiegler und Beschöniger. Deshalb erscheint auch dieses Jahr ein neues NachDenkSeiten-Jahrbuch. Deshalb bitten wir Sie, das Buch in Ihrem Freundeskreis herumzureichen oder zu verschenken – wenn es Ihnen persönlich geholfen hat, die Welt um uns herum besser zu verstehen.

Wir bedanken uns bei jenen vielen Menschen, die zum Gemeinschaftswerk der NachDenkSeiten täglich mit Rat und Tat beitragen und auch Beiträge zuliefern. Dankbar sind wir auch Jens Berger, der einige interessante Texte zu unserem Buch beigesteuert hat.

Albrecht Müller und Wolfgang Lieb

Gedanken zur
Gegenöffentlichkeit

Ein Vorwort von Jakob Augstein

Gegenöffentlichkeit ist ein widersprüchliches Wort. Man sollte meinen, es schließt sich selber aus. Es kann doch nur eine Öffentlichkeit geben. Die öffentliche. Und in der Öffentlichkeit wird in der Demokratie alles abgemacht. Aber wir wissen, dass die Verhältnisse nicht so sind. Es ist eine hübsche Idee, dass die Öffentlichkeit der Verhandlung von Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit dient. Aber sie trifft nicht zu.

Das Problem besteht nicht darin, dass die Journalisten nicht schreiben dürfen, was sie wollen. Solche Fälle gibt es. Aber sie sind selten. Eigentlich kann jeder schreiben, was er will. Aber so viele Journalisten wollen so wenig. Und sie haben ihre Leser daran gewöhnt, mit so wenig zufrieden zu sein.

Wenn man fragt: welche Rolle sollen die Medien spielen, auf wessen Seite stehen sie, was ist ihre Funktion, dann haben sich in den vergangenen Jahren die Antworten geändert. Im Beruf des Journalismus geht es heute seltener um Kritik, mehr um Stabilisierung. Weniger um das Hinterfragen, eher um das Erklären des Bestehenden. Das gilt nicht für alle Medien, so wie früher nicht für alle das Gegenteil galt. Aber es gilt zu oft für die großen Medien, für den Mainstream.

»Die freien Medien sind ja sozusagen ein Teil des Lebenselixiers jeder Demokratie«, das hat Angela Merkel einmal vor jungen Journalisten gesagt, die ja angeblich eine der mächtigsten Frauen der Welt ist, aber sicher nicht eine der wortmächtigsten. Und es trifft auf eine unangenehme Art und Weise zu. Viele Journalisten verstehen sich heute mitnichten als Gegner (Kritiker oder Gegenüber) der Politik, sondern als Partner. Wenn das so weitergeht, dann braucht man keine Journalisten mehr. Dann tun Pressesprecher es auch. Das scheint der Zug der Zeit ohnehin zu sein: Es soll mittlerweile mehr Pressesprecher in Deutschland geben als Journalisten.

Es ist kein Wunder, dass die Kanzlerin die Journalisten so wohlwollend loben kann. Die Demokratie hat sich verändert, und die Journalisten, die ihr dienen und sie schützen sollen, auch. Man muss sich sogar langsam fragen, ob wir dasselbe wie die Kanzlerin meinen, wenn wir von Demokratie reden. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown hat geschrieben: »Die großen Demokratien zeichnen sich heute weniger durch eine Überschneidung als vielmehr durch eine Verschmelzung von staatlicher und unternehmerischer Macht aus: Staatliche Aufgaben von Schulen über Gefängnisse bis hin zum Militär werden in großem Stil outgesourct; Investmentbanker und Konzernchefs fungieren als Minister und Staatssekretäre; auch wenn sie die entsprechenden Fonds nicht selbst verwalten oder anlegen, sind Staaten doch Eigentümer unvorstellbar großer Mengen an Finanzkapital; und vor allem ist die Staatsmacht über ihre Steuer-, Umwelt-, Energie-, Arbeits-, Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik sowie einen endlosen Strom direkter Unterstützungen und Rettungsprogramme für sämtliche Bereiche des Kapitals ganz unverhohlen in das Projekt der Kapitalakkumulation eingespannt. Die breite Masse, der Demos, kann die meisten dieser Entwicklungen nicht verstehen oder nachvollziehen geschweige denn bekämpfen und ihnen andere Ziele gegenüberstellen.«

Das alles geschieht im Rahmen der Demokratie. Und solche Demokratien brauchen die Medien vor allem als Instrumente der Vermittlung der Staatsmacht. Denn wenn wirklich Gefahr droht, schließen allzu viele Journalisten die Reihen fest um das System. Wir haben das bei den großen Skandalen um Recht, Moral und Öffentlichkeit gesehen, Wikileaks oder Geheimdienstüberwachung. Mit großer Verblüffung musste man feststellen: ganz und gar nicht alle Journalisten der großen deutschen Zeitungen stellten sich vorbehaltlos auf die Seite der Bürger, ja sie verteidigten nicht einmal ihre eigenen Rechte. Sondern ganz schön viele hielten lieber zum Staat und brachten viel Verständnis für Rechtsbrüche und Machtansprüche auf.

Es gehört zu dieser Wesensveränderung der Medien, dass der Schein unbedingt gewahrt bleiben muss. Dafür bedarf es einer Inszenierung. Die freie Rede muss sich hin und wieder gegen irgendeinen Widerstand durchsetzen. Das erhöht dann ihren Wert. Also gibt es beispielsweise in der Bild-Zeitung eine Kolumne, die den Titel trägt: »Das wird man ja noch sagen dürfen.« Diese Wendung ist geradezu ein geflügeltes Wort, oder sagen wir genauer ein struppig gefiedertes. Es ist die Essenz des Ressentiments. Es birgt in sich eine ganze Weltanschauung, klaustrophobisch in seiner spießigen Engstirnigkeit und maßlos ausgreifend in seinem allgemeinen Geltungsanspruch.

Was heißt das? Man tut so, als gäbe es jemanden, der einem den Mund verbietet. Man könne nicht einfach sagen, was man will. Man müsse sich das Recht nehmen. Man täte es gegen einen Widerstand. Hoch lebe die Pressefreiheit und die Demokratie!

Aber man kann getrost davon ausgehen: Wenn einer so redet, »das wird man ja noch sagen dürfen«, dann lügt er schon. Denn er weiß, dass er sagen kann, was er will. Und das, was »man« ja noch sagen dürfen soll, ist zumeist nichts als das wenig reflektierte Vorurteil. Es gibt niemanden, der verbietet, das Vorurteil zu verbreiten – außer Vernunft und Anstand.

Gegenöffentlichkeit ist etwas anderes. Sie bietet Gelegenheit zum Gespräch zwischen anspruchsvollen Autoren und Lesern, die sich ihrer Vernunft bedienen wollen und ihr Gefühl für Anstand bewahren. Das sind übrigens geradezu konservative Werte. Na und? Günter Gaus hat gesagt: »Ich bin von Geblüt konservativ. Ich bin aber links.« Das stammt aus einem schönen Gespräch, das Alexander Kluge einmal mit ihm geführt hat. Es geht darin um die Medien und die Öffentlichkeit und um das linke Denken. Da gab es auch diesen Wortwechsel:

Kluge: »Eine linke Position wäre also skeptisch empfindend?«

Gaus: »Ja.«

Kluge: »Geduldig?«

Gaus: »Ja.«

Kluge: »Langfristig angelegt, über die Generationen hinweg?«

Gaus: »Ja, aber in einem Punkt sollten sich linke Positionen von denen unterscheiden, die es gegeben hat und wohl auch noch gibt, und von denen ich finde, dass sie zu Recht zurückgedrängt worden sind: Man sollte nicht denken, dass man gesellschaftliche Fragen für alle Zeiten beantworten kann.«

Gaus hatte da etwas Wichtiges gesagt. Es steckte darin die Warnung vor dem Sektierertum, vor der Selbstgerechtigkeit, vor dem Dogmatismus. Das sind Risiken, die jeder eingeht, der sich gegen den Mainstream stellt. Denn so leicht lässt sich das Paradoxon, das in der Idee der Gegenöffentlichkeit steckt, nicht auflösen. Es ist eine heikle Angelegenheit: Je stärker das »Gegen« vom allgemeinen Bewusstsein entfernt ist, desto schwächer droht das »Öffentlich« zu werden. Aber wer die Leute aufklären will, muss sie erreichen. Die Gegenöffentlichkeit muss für die Öffentlichkeit zugänglich bleiben. Die Leute müssen von ihr erfahren und mit ihr etwas anfangen können. Und sie müssen – ganz praktisch – unter zumutbaren Bedingungen Zugang zu ihr finden können.

Darum kann ein Medium, das sich damit begnügt, gegen alles Mögliche zu sein, aber an der Öffentlichkeit kein Interesse mehr hat, für die Meinungsbildung dieser Öffentlichkeit keine Rolle mehr spielen.

Die Medien der Gegenöffentlichkeit müssen Rückzugsräume für die Vernunft, für die Kritik, für die Neugier bieten. Den NachDenkSeiten gelingt dieses Kunststück.

1 Big Brother is watching you:
Wer schützt uns vor unseren
Freunden?

Als wären wir alle die Kaninchen vor der großen Schlange USA: Es dauerte erstaunlich lange, bis der PRISM-Skandal die Gemüter im Lande erregte. Die Politik wiegelte ab, die Medien standen zunächst treu zum »Verbündeten«. Verschwörungstheoretiker hätten es sich nicht schöner ausdenken können: Unsere guten »Freunde jenseits des Atlantiks« spionieren uns in großem Stil aus, und unsere Politiker machen das Spiel mit.

Der Bote des Unheils wird geköpft und nicht der Unheilverursacher. Und unsere jämmerlichen Medien machen das mit

25. Juni 2013 / Rubrik: Verschiedenes / von Albrecht Müller

Snowden düpiert die USA – »Wie konnte das passieren?«, fragen amerikanische Medien. So berichtete die Tagesschau und übernimmt diese Sicht der Dinge. Wie konnte das passieren, wie ist das möglich, dass amerikanische und britische Geheimdienste die Kommunikation des restlichen Teils der Welt abhören, und worin unterscheidet sich dies noch von den Methoden übelster Diktaturen? – Das wären die notwendigen Fragen. Die Tagesschau und die anderen Medien müssten voller Abscheu darüber berichten und recherchieren. Sie müssten den Boten des Unheils, den Aufdecker der antidemokratischen Machenschaften hochleben lassen. Stattdessen verfolgen sie die Flucht des 29-jährigen Snowden mit Häme und plappern nach, was die Kommunikationsstrategen seiner Verfolger sich und den Medien zurechtgelegt haben. Sie lassen beispielsweise die Tagesschau in fetten Lettern fragen: »China, Russland, Kuba – der Pfad der Freiheit?«

Dieser Umgang mit dem »Verräter« Snowden ist weit verbreitet. Bei Spiegel Online beispielsweise oder auf WDR 2: Dort hießes: »Klartext zu Edward Snowden: Held oder Schuft?«. Der Autor Paul Elmar Jöris: »Durch die Spionage der Geheimdienste konnten Anschläge verhindert werden. Edward Snowden brachte nun aber alle Programme ohne Differenzierung in Misskredit und richtete großen Schaden an, …«

Ähnlich Marcus Pindur vom Studio Washington des Deutschlandradio:

»Bedenken- und gewissenlos. Edward Snowdens bizarre Flucht Es ist eine bizarre Flucht, und die Geschichte erscheint auf den ersten Blick so spannend wie einfach. Hier der einsame Whistleblower, der seinem Gewissen folgt und Freundin und Familie verlässt, um sein Martyrium öffentlich zu machen. Dort die herausgeforderte, rachsüchtige Großmacht USA, die all ihre Macht zum Einsatz bringt, der Goliath, der alles daran setzt, den kleinen David in seine Fänge zu bekommen.

Aber so einfach ist es eben nicht. Denn Edward Snowden ist kein Whistleblower. Er hat keine einzige illegale Praxis der amerikanischen Regierung enthüllt, keinen illegalen Übergriff der Sicherheitsbehörden belegt. All das, was wir von ihm erfahren haben, passiert innerhalb des amerikanischen Rechtsstaates und amerikanischen Rechts. (…)

Edward Snowden wird nicht von den amerikanischen Sicherheitsbehörden verfolgt, weil er sich gegen die USA gestellt hat. Sondern weil er sich bedenken- und gewissenlos über den Rechtsstaat hinweggesetzt hat. Mal sehen, wie glücklich er im ecuadorianischen Exil wird.«

Die US-Regierung und andere Verantwortliche in den USA haben sich eine PR-Strategie zur Abwehr der Kritik an der skandalösen Überwachung von Millionen Bürgerinnen und Bürger der Welt zurechtgelegt:

image  Sie machen aus dem Helden, der das Unheil der Überwachung aufgedeckt hat, einen Schuft und Verräter.

image  Und sie diskreditieren ihn, indem sie jene, die ihm bei der Flucht helfen oder zumindest sie nicht behindern, als falsche Freunde, als Feinde von Freiheit und Demokratie abwatschen.

So schreibt FAZ-Mann Matthias Rüb am 24.6.:
»Whistleblower auf der Flucht – Edward Snowdens falsche Freunde
China, Russland und Ecuador: Edward Snowdens Fluchtweg macht es den Politikern in Amerika leicht, den früheren Mitarbeiter von Geheimdiensten als bösen Verräter darzustellen.«

Die kritiklose Übernahme US-amerikanischer Propaganda zeichnet einen gewichtigen Teil deutscher Journalisten schon lange und immer wieder aus. Sie haben über Jahrzehnte schon die gängige Unterscheidung in Gut und Böse, in USA und Westen auf der einen Seite und die Bösen, die Russen, die Iraner, die Palästinenser, der Islam und so weiter auf der anderen Seite gemacht und propagiert. So dass sie jetzt bei diesem unglaublichen Skandal der Schnüffelei durch die USA und Großbritannien nach dem gleichen Schema verfahren und nicht im Ansatz fähig und willens sind, wenigstens zu fragen, ob man Snowdens Tat nicht als etwas Notwendiges und Wünschenswertes bezeichnen müsste.

Sie sind deshalb auch unfähig, auf der Basis der Informationen durch Snowden zu fragen und zu recherchieren, was Briten und Amerikaner mittels ihrer Schnüffelei noch erfahren hätten können. Offensichtlich haben die Briten Diplomaten und Politiker im Vorfeld von internationalen Konferenzen ausspioniert. Und beide Länder können mit der Abschöpfung von Informationen Wirtschafts- und Industriespionage betreiben. Es gäbe also ausreichend Gründe, sich über die Praxis der USA und Großbritanniens zu beschweren. Stattdessen wird beschönigt.

Merkel versinkt im Geheimdienstsumpf

11. Juli 2013 / Rubrik: Audio-Podcast, Das kritische Tagebuch / von Wolfgang Lieb

In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit über den Abhörskandal um den amerikanischen Geheimdienst NSA erklärte die Kanzlerin: »Dass Nachrichtendienste unter bestimmten und in unserem Land eng gefassten rechtlichen Voraussetzungen zusammenarbeiten, entspricht ihren Aufgaben seit Jahrzehnten und dient unserer Sicherheit.« Inwieweit Berichte über Programme wie PRISM zuträfen, müsse geklärt werden. Sie selbst habe vom USSpionageprogramm aus den Medien erfahren.
Merkel bemerkt offenbar nicht, wie sie selbst im Geheimdienstsumpf versinkt.

Die Kanzlerin forderte in dem Interview weiter, in der Debatte die besonderen Beziehungen zu den USA stärker zu berücksichtigen. Sie wünsche sich, »dass wir die notwendige Diskussion mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Geist führen, der bei allen mehr als berechtigten Fragen nie vergisst, dass Amerika unser treuester Verbündeter in all den Jahrzehnten war und ist …«

Und weiter: »Für mich gibt es überhaupt keinen Vergleich zwischen der Staatssicherheit der DDR und der Arbeit der Nachrichtendienste in demokratischen Staaten. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, und solche Vergleiche führen nur zu einer Verharmlosung dessen, was die Staatssicherheit mit Menschen in der DDR angerichtet hat. Die Arbeit von Nachrichtendiensten in demokratischen Staaten war für die Sicherheit der Bürger immer unerlässlich und wird es auch in Zukunft sein. Ein Land ohne nachrichtendienstliche Arbeit wäre zu verletzlich.«

Auf die Frage, ob sie selbst die Berichte der Nachrichtendienste lese, wies die Kanzlerin darauf hin, dass dies in der Verantwortlichkeit des Kanzleramtsministers liege. So weit das Interview der Kanzlerin. Laut einer Umfrage des Stern glauben 80 Prozent der Bürger nicht, dass die Bundesregierung von den NSA-Aktivitäten nichts wusste. Nur 15 Prozent denken, dass die Bundesregierung durch die Medien davon erfahren habe. Merkel bestreitet diese Vermutung und sagt, sie habe davon »durch die aktuelle Berichterstattung Kenntnis genommen«. Wie üblich bei ernsthaften Problemen, macht sich die Kanzlerin einen »schlanken Fuß« und verweist auf die Verantwortlichkeit des Kanzleramtsministers.

Ist es aber denkbar, dass der Kanzleramtsminister seiner Regierungschefin niemals berichtet hat, dass Geheimdienste auf deutschem Boden zumindest möglicherweise das im Grundgesetz verankerte Telekommunikationsgeheimnis brechen?

Wenn das so wäre, dann gibt es unter der Kanzlerin einen verantwortungsfreien Raum und es klafft eine Lücke in der Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Dann gibt es in unserem Staat einen über der Verfassung und der parlamentarischen Demokratie schwebenden Arkan, also einen Ort geheimen Herrschaftswissens. Dann stünden auch die mit der NSA kooperierenden Geheimdienste außerhalb der demokratischen Kontrolle und Legitimation durch die verantwortliche Regierung und ihrer Chefin. Dann ist die Demokratie tatsächlich ein Spielball der Geheimdienste.

Doch beim Abschieben der Verantwortlichkeit verwickelt sich Merkel in weitere Widersprüche: Warum hat Merkel nicht wenigstens nach Bekanntwerden des Abhörskandals ihren Kanzleramtsminister Roland Pofalla einbestellt und sich über dessen Kenntnisse berichten lassen?

Dass das nicht geschehen sein soll, ist doch selbst in einer weit tiefer angesiedelten geordneten Behörde undenkbar. Hatte aber auch Pofalla keine Ahnung, was da geschieht, dann kann das nur heißen, dass die Geheimdienste nicht nur außerhalb der Kontrolle durch die Regierung und schon gar durch das Parlament agieren, sondern sogar auch außerhalb der Aufsicht des der Kanzlerin direkt unterstellten Beauftragten der Bundesregierung für die Nachrichtendienste stehen.

Ist es vorstellbar, dass der Kanzleramtsminister nach dem Losbrechen der öffentlichen Debatte nicht die Verantwortlichen der drei deutschen Geheimdienste geladen hat und sich über alle Details hat berichten lassen? Hätte er das nicht getan, so wäre das ein schweres Dienstversäumnis, das einen sofortigen Entlassungsgrund darstellte. Hätten aber auch die Chefs der deutschen Geheimdienste über deren Kooperation mit der NSA nichts gewusst, so müssten sie wegen fehlender Kontrolle über ihre Behörden oder der Unfähigkeit, Grundrechtsverletzungen zu erkennen und vorzubeugen, gleichfalls sofort von ihrem Ämtern entbunden werden.

Was uns hier vorgegaukelt wird, hätte mit geordneter Verwaltung nichts mehr zu tun

In ihrer Argumentationsnot verwickelt sich Merkel in immer mehr Widersprüche. So widerspricht sie sich selbst, wenn sie den Vergleich zwischen der Stasi und der Arbeit der Nachrichtendienste zurückweist. Woher weiß denn die angeblich nichts ahnende Kanzlerin, dass durch die Geheimdienste nicht auch politisch unliebsame Personen erfasst und überwacht werden, wenn sie doch von der Schleppnetzüberwachung der NSA gerade auch in Deutschland und der Kooperation mit den deutschen Nachrichtendiensten erst durch die Medien erfahren hat?

Entweder weiß sie, wen oder was die Geheimdienste überwachen, oder sie weiß es eben nicht und verharmlost durch die Zurückweisung des Stasi-Vergleichs deren massenhafte Spähaktionen, ohne davon Kenntnis zu haben, von vornherein. Das wäre ein Politikum erster Güteklasse und man ist höchst erstaunt, dass die Opposition nicht diesen Verharmlosungsversuch aufdeckt.

In ihrer Not, die offenbar über unserem Grundgesetz stehenden geheimen Abkommen mit den USA nicht preisgeben zu können oder zu dürfen, flüchtet sich die Kanzlerin ins Pathos der transatlantischen Freundschaft. Sie wünsche sich, »dass wir die notwendige Diskussion mit den Vereinigten Staaten von Amerika in einem Geist führen, der bei allen mehr als berechtigten Fragen nie vergisst, dass Amerika unser treuester Verbündeter in all den Jahrzehnten war und ist«. Kann das Argument, dass die USA »unser treuester Verbündeter« sind, verfassungswidrige Ausspähungen des amerikanischen Geheimdienstes auf dem Geltungsbereich des Grundgesetzes rechtfertigen? Das wäre das Eingeständnis, dass die Bundesrepublik kein souveräner Staat ist und ihre Verfassung eine Verfügungsmasse des amerikanischen Geheimdienstes und damit der amerikanischen Regierung, die weder rechtlich noch politisch einzugrenzen ist.

»Die Balance zwischen dem größtmöglichen Freiraum und dem, was der Staat braucht, um seinen Bürgern größtmögliche Sicherheit zu geben« – wie sich Merkel immer wieder herauszureden versucht –, diese »Verhältnismäßigkeit« liegt im Übrigen nicht der Letztentscheidung der Politik und schon gar nicht in der Hand einer Verhandlungsdelegation, die nun nach Washington entsandt wurde, sondern diese Entscheidung ist eine Rechtsfrage und unterliegt damit dem Bundesverfassungsgericht.

Wo bleibt eigentlich der Antrag an dieses Gericht, die jetzt mehr und mehr bekannt gewordenen geheimen Abkommen an den Maßstäben der Grundrechte unseres Grundgesetzes zu überprüfen? Ist der ohnehin schon ausgehöhlte Artikel 10 des Grundgesetzes über das Grundrecht auf Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses überhaupt nichts mehr wert? Wenn schon das Grundgesetz keinen Schutz mehr gäbe, gegen die Machenschaften der NSA hier im Lande vorzugehen, warum setzt dann die Bundesregierung nicht wenigstens alle denkbaren politischen Instrumente ein? Etwa wie es die EU-Justizkommissarin Viviane Reding am Wochenende vorgemacht hat, indem sie mit einem Einfrieren der laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA gedroht hat.

Aber alle diese doch recht naheliegenden Erwägungen kommen der Kanzlerin gar nicht in den Sinn. Das lässt nur den Schluss zu, dass sie beim Ausspähen der Bevölkerung tatsächlich »Neuland« betreten will. Das heißt, dass sie die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Macht des Faktischen aushebeln will. Vielleicht verbirgt sich dies hinter dem neuen Tarnwort der CDU von den sogenannten »Mindestspeicherfristen« zur Verdeckung der bislang gerichtlich untersagten Vorratsdatenspeicherung.

Wenn das kein Wahlkampfthema ist, dann gibt es wohl keines mehr

Das hat die Landesvorsitzende der bayerischen FDP, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, schon längst erkannt. Den »Frontalangriff auf die Freiheit« hätten wir nicht etwa dem Versagen der derzeitigen Regierung und damit auch ihr als politische Hüterin des Grundgesetzes am Kabinettstisch zu verdanken, sondern »rot-grünem Denken«. So betreibt sie ihre Vorwärtsverteidigung in der FAZ.

Man möchte ja der Kritik der Justizministerin, dass es kein »Supergrundrecht auf Sicherheit« gebe, weil sonst die Freiheitsgrundrechte ins Leere liefen, durchaus zustimmen. Auch, dass durch die Ausspähungen die unbefangene digitale Kommunikation und der Rechtsstaat in Frage gestellt werden, ist ja richtig. Aber es ist verwegen, das abgestandene politische Schwarze-Peter-Spiel zu betreiben. Wer war eigentlich die letzten fünf Jahre Justizministerin? Will auch Leutheusser-Schnarrenberger uns weismachen, dass sie nichts von der massenhaften Überwachung ahnte? Die Justizministerin macht – wohl sogar zu Recht – die rot-grüne Bundesregierung für den Paradigmenwechsel verantwortlich, wonach die Sicherheitspolitik ihre dienende Funktion gegenüber den grundrechtlichen Freiheiten verloren habe. Doch Schröder und Schily sind vor acht Jahren aus ihren Ämtern gewählt worden. Und was hat Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer zurückliegenden fünfjährigen Amtszeit getan, um einen erneuten Leitbildwechsel einzuleiten, der ihr Freiheitspathos untermauern könnte? Als Justizministerin und Mitglied der Bundesregierung hätte sie doch jede Möglichkeit gehabt, sich über die Arbeit der Geheimdienste zumindest zu informieren.

Warum hat die sich als Freiheitskämpferin aufspielende Justitia nicht ihren Parteifreund Rösler als Wirtschaftsminister gedrängt, die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA wenigstens bis zur Aufklärung auszusetzen? Wie ein Pfau schlägt sie das Rad und plustert sich als Kämpferin für die Achtung der Freiheitsrechte der Bürger auf. So hofft sie, von ihrem eigenen Versagen ablenken zu können. Tatsächlich hat sie sich gegenüber den Aktivitäten der Geheimdienste nicht anders verhalten als das Sinnbild der drei weisen Affen: Sie hat nichts gehört, nichts gesehen und war stumm.

Innenminister Friedrichs »klare Ansage«

18. Juli 2013 / Rubrik: Das kritische Tagebuch / von Wolfgang Lieb

In einem Interview von Ines Arland mit Hans-Peter Friedrich zur NSA-Abhöraffäre auf dem Sender Phoenix schwurbelt der Innenminister wortreich und verweigert jede Aussage. Das Interview erinnert an Stoibers Gestammel über die Transrapid-Anbindung zum Münchner Hauptbahnhof und ist eher eine Lachnummer als ein Beitrag zur Aufklärung des Datenabschöpfungsskandals. Unser Leser J. Sch. hat dankenswerterweise die entscheidenden Passagen transkribiert.

Zunächst einmal die zwei Schlüsselsätze:

1. »Also von Seiten der NSA, dort kam die klare Ansage: ›Weder schöpfen wir hier in Am … äh … in … äh … Deutschland Daten ab, noch … äh … ver … äh … verstoßen wir gegen amerikanisches Recht‹.«

2. »Es gibt PRISM, PRISM ist … äh … nicht flächendeckend, PRISM geht nach Stichworten – das war’n ja viele Fragen, wir haben noch keine Fragen … äh … Antworten auf die Frage, wo genau holt ihr die Daten … äh … da geht es um die … äh … Deklassifizierung.«

Interessant ist, wie Friedrich von der Frage der Interviewerin ablenkt und davon fabuliert, dass die NSA die »klare Ansage« gemacht hätte, nicht gegen »amerikanisches Recht« zu verstoßen, während die Frage auf Verletzung »deutschen Rechts« zielte.

Hier die Mitschrift von Minute 2:57 bis 4:50:

Frage Phoenix: »Können Sie zu diesem Zeitpunkt sicher sagen, dass die Amerikaner auf deutschem Boden … äh … nicht gegen deutsches Recht verstoßen haben, oder ist das immer noch im Bereich des Möglichen?«

Antwort Friedrich: »Also von Seiten der NSA, dort kam die klare Ansage: ›Weder schöpfen wir hier in Am … äh … in … äh … Deutschland Daten ab, noch … äh … ver … äh … verstoßen wir gegen amerikanisches Recht‹, (eilig) aber ich habe vom am amerikanischen Justizminister gefordert,… äh … dass wir da eine klare … äh … Erklärung brauchen … äh …, dass es für uns ansonsten nicht akzeptabel wäre, aber ich … äh … glaube das auch nicht, das hat auch mit der Frage des Ausspähens von Daten, die ja überall auf der Welt stattfinden,… äh … und auch stattfinden können, jetzt nix zu tun. (Rasch) Ich glaube für uns ist wichtig, dass wir … äh … die Datensouveränität unserer Bürger schützen, und dazu ist es jetzt notwendig, dass wir … äh … auch für die Bürger Transparenz schaffen … äh … was passiert mit meinen Daten, die ich bei Google, die ich bei Facebook, die ich bei Yahoo … äh … ein … äh … speise, wir wollen in der Datenschutzgrundverordnung … äh … die gelten soll für ganz Europa … äh … festschreiben, dass jedes Unternehmen, (schmissig) auch jedes amerikanische Unternehmen, das Daten europäischer Bürger an irgendwelche Regierungen ausliefert, das melden muss, so dass wir Transparenz schaffen … äh … können. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt; den werden wir jetzt verhandeln – auf europäischer Ebene.«

Frage Phoenix: »Sie haben den US-Justizminister Eric Holder erwähnt,… ähm … bis wann hat man Ihnen denn zugesagt, dass man Dokumente [de]klassifiziert und dass Sie zum Beispiel auch Antworten auf Ihren Fragenkatalog bekommen, der so lange schon im Raum steht?«

Antwort Friedrich: »Also wir haben ja Antworten, erste Antworten. Es gibt PRISM; PRISM ist … äh … nicht flächendeckend, PRISM geht nach Stichworten – das war’n ja viele Fragen. Wir haben noch keine Fragen … äh … Antworten auf die Frage, wo genau holt ihr die Daten … äh … da geht es um die … äh … Deklassifizierung. Mir ist versprochen worden, so schnell wie möglich, und ich hoffe, dass ich da auch noch mal Druck gemacht habe, … äh … mit auch meinem Gespräch mit dem amerikanischen Vizepräsidenten. Immerhin zeigt das, dass die Amerikaner das Thema sehr ernst nehmen, und ich hoffe, dass wir bald auch Ergebnisse bekommen, aber ich kann es jetzt nicht voraussagen.«

Offiziell darf Friedrich sowieso nichts wissen, weil die Amerikaner genauere Informationen über PRISM (Planungswerkzeug für die Integration, Synchronisation und Verwaltung von Informationen) erst noch aus der Geheimhaltung herunterstufen, also »deklassifizieren« müssten. Also eiert er nur herum. Aber immerhin weiß er sicher, dass keine Knotenpunkte in Deutschland angezapft würden. Was eigentlich gar keine Rolle spielt, weil gar nicht kontrollierbar ist, über welche inländischen oder ausländischen Knotenpunkte die amerikanischen Geheimdienste die Kommunikation der Deutschen abschöpfen.

Der BND beteuerte gestern – wie die anderen Geheimdienstchefs schon vorher vor der parlamentarischen Kontrollkommission (PKGr) – erneut, er habe »keine Kenntnis vom Namen, Umfang und Ausmaß des NSA-Programms« gehabt. Das erinnert stark an die Rolle, die die Geheimdienste bei der Verfolgung der Morde des NSU einnahmen: Sie wollten nicht wissen, dass die Morde einen rechtsextremen Hintergrund hatten, und haben jeden Hinweis darauf nicht weiter verfolgt. So scheint es auch bei der Total-überwachung des Telefondienst- und Internetverkehrs durch die NSA zu sein. In ihrem Sicherheitswahn wollten sie von den massenhaften Grundrechtsverletzungen offenbar einfach nichts wissen.

Wer dem Wahn eines überverfassungsrechtlichen »Supergrundrechts auf Sicherheit« unterliegt, für den ist die Unverletzlichkeit des Post- und Fernmeldegeheimnisses in Artikel 10 des Grundgesetzes nachrangiges Recht. Verstößen dagegen braucht deshalb nicht weiter nachgegangen zu werden. Dem »Supergrundrecht« sind dann alle Grundrechte untergeordnet.

Auffällig ist, dass mit dem Innenminister nicht auch der Chef des Kanzleramtes als Verantwortlicher für die Sicherheitsdienste in die USA geflogen ist. Schließlich ist der Bundesnachrichtendienst (BND) direkt dem Kanzleramt unterstellt. Es ist merkwürdig, dass die Parlamentarier auf das Ablenkungsmanöver der Kanzlerin hereinfallen, indem sie Friedrich vorschickt und ihren Kanzleramtschef Roland Pofalla, für dessen Aufgabe als Geheimdienstkoordinator Merkel die politische Verantwortung trägt, aus der Schusslinie nimmt. Dass Merkel den eigentlich für die Geheimdienste gar nicht verantwortlichen Innenminister in die USA schickte und ihn jetzt den »Watschenmann« spielen lässt, ist ein leicht durchschaubares Manöver dafür, dass bei der »Teflon«-Kanzlerin bis zur Wahl bloß nichts anbrennen soll.

Man kann sicher sein, dass die Regierung insgesamt – auch die Justizministerin, die sich doch so gern als »Jeanne d’Arc der Bürgerrechte« feiern lässt – sich bis zum 22. September hinter der angeblich nicht gegebenen »Deklassifizierung« der Geheimdienstinformationen verstecken wird, selbst wenn die Amerikaner die Geheimhaltung schon längst herabgestuft haben sollten. So kann man sich hinter den USA verstecken und sich in die Pose des Aufklärers werfen, ohne dass man Licht in die Verwicklung der eigenen deutschen Geheimdienste bringt.

Ein weiteres Abwehrmanöver ist der Verweis auf die »europäische Ebene«. Dabei hat die britische Regierung dieser Tage schon die bestehenden Vereinbarungen und Verordnungen zur inneren Sicherheit aufgekündigt. Auf die EU abzustellen ist auch deshalb absurd, weil es schon seit 2006 eine Richtlinie gibt, die die pauschale, verdachtsunabhängige Speicherung aller Kommunikationsdaten vorsieht. Über eine Klage dagegen verhandelt gegenwärtig der Europäische Gerichtshof (EuGH).

Schließlich haben sich die Überwachungs-Fetischisten noch eine weitere Ausflucht ausgedacht. So dreht der Innenminister das universelle Menschenrecht auf Datenschutz gegenüber dem Staat in eine »Bürgerpflicht« um. Die Deutschen müssten »selbst für die Sicherheit ihrer Kommunikation« sorgen. So wird ein bürgerliches Abwehrrecht gegenüber dem Staat zur Privatsache umdefiniert. Gerade so als handle es sich nicht mehr um ein Schutzrecht, sondern um eine privatrechtliche Angelegenheit, bei der der Bürger selbst seine Grundrechte gegenüber dem Staat und seinen Geheimdiensten verteidigen und durchsetzen müsse. Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, ist das ein Aufruf zum aktiven Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Geschichte wiederholt sich als Tragödie und Farce zugleich

9. August 2013 / Rubrik: Audio-Podcast, Das kritische Tagebuch / von Wolfgang Lieb

Im Februar 1989 brachte der Spiegel die Titelgeschichte »Freund hört mit«. Daraufhin beantragte die Fraktion der Grünen im Bundestag eine Aktuelle Stunde zum Thema »Die Haltung der Bundesregierung zu Behauptungen in der Presse über das amerikanische NSA-System (Nationale Sicherheits-Agentur)«. In der damaligen Debatte begegnet man den gleichen Abwiegelungsstrategien der Politik gegenüber dem Überwachungswahn der Geheimdienste, wie wir sie jetzt, fast ein Vierteljahrhundert später, als Reaktion auf die Snowden-Enthüllungen wieder erleben müssen.

Geschichte wiederholt sich offenbar als Tragödie und als Farce zugleich: Es ist eine Tragödie, wie die demokratischen Staaten und ihre Geheimdienste seit Jahrzehnten mit dem Grundrecht auf Gewährleistung des Fernmeldegeheimnisses, mit der informationellen Selbstbestimmung und dem Schutz der Privat- und Intimsphäre umgehen. Statt ihren Bürgerinnen und Bürgern Schutz zu gewährleisten, werden diese umgekehrt unter Generalverdacht gestellt.

Es ist zugleich eine Farce, wie die Politik mit den immer gleichen Ausreden die totale Überwachung rechtfertigt, jede Kritik daran an sich abprallen lässt und schon gar nichts gegen die Unterwanderung von Recht und Gesetz durch Geheimabkommen über die Tätigkeit von Geheimdiensten unternimmt.

Im Spiegel-Artikel hieß es damals: »Die abgeschirmten Anlagen sind Knotenpunkte eines unsichtbaren Netzes, das die Bundesrepublik und den gesamten Erdball umspannt. Amerikas geheimster Geheimdienst, die National Security Agency (NSA), lauscht weltweit und rund um die Uhr, ganz besonders in der Bundesrepublik.

Von alliierten Sonderrechten ermächtigt und durch Gesetze geschützt, von allzeit schussbereiten Sicherheitskräften bewacht, von kamerabestückten Stacheldrahtzäunen und elektronischen Schutzschilden umhüllt, hat sich die NSA zu einer Monsterorganisation entwickelt, die in einem politischen Vakuum weitgehend nach eigenem Gutdünken operiert.

Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit hat irgendeine Macht der Erde Vergleichbares zustande gebracht – Lauschangriffe rund um die Erde. Was Präsidenten oder Minister in Kabinettssitzungen reden, was in Königshäusern oder auf Vorstandsetagen gesprochen wird, ob Generale saufen oder Botschafter fremdgehen, alles auf Band: Die Vertraulichkeit des Wortes ist aufgehoben, die Privatsphäre verletzt …

Die US-Regierung gibt jährlich etliche Milliarden Dollar aus, um im gigantischen Gewimmel der elektromagnetischen Wellen kein Signal, keinen Befehl und kein Gespräch zu verpassen, das auch nur im Entferntesten die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika berühren könnte.«

9/11 nur ein Vorwand für den Überwachungswahn

Diese Veröffentlichung über die weltweiten Lauschangriffe der NSA lag zwölf Jahre vor den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Das heißt: Die Anschläge auf das World Trade Center lieferten nur einen zusätzlichen Vorwand für den Überwachungswahn der Geheimdienste und ihrer jeweils für sie verantwortlichen und mit Milliarden finanzierenden Regierungen.

Es fehlte jeder politische Wille, die Grundrechte zu gewährleisten

Man hätte dem vom Spiegel aufgeworfenen Verdacht gegen die massenhaften Lauschangriffe der NSA also schon unter der Regierung Kohl nachgehen können, wenn man nur gewollt hätte. Die damalige Abgeordnete der Grünen, Angelika Beer, beklagte schon damals »die Unfähigkeit der Bundesrepublik, ihren Bürgerinnen und Bürgern Schutz vor der Verletzung ihrer Grundrechte zu gewährleisten«. Es fehle am Willen der Bundesregierung, die Gewährleistung der Grundrechte auch nur zu versuchen.

Interessant ist dabei, wie schon damals die Regierungsparteien und die SPD den Skandal abzuwiegeln versuchten: mit dem Totschlagargument des Anti-Amerikanismus. Der Abgeordnete Karl Lamers von der CDU sah in der Beantragung der Aktuellen Stunde und in den Ausführungen von Angelika Beer »eine eindeutige Spitze gegen die Vereinigten Staaten«. Auch damals wurde einfach unterstellt, dass die »Rechtsverhältnisse klar sind« und dass »keine Erkenntnisse über Aktionen vorliegen, die deutsches Recht und Vereinbarungen mit den Alliierten verletzten«. Man müsse prüfen, »ob angesichts der außerordentlich erweiterten, wohl zutreffend beschriebenen technischen Möglichkeiten, die wenn ich es richtig sehe, vor zwei Jahrzehnten getroffenen Regelungen und Vereinbarungen veraltet sind und angepasst werden müssen«. Es müsse »soweit wie möglich jeder Verdacht ausgeräumt werden«. Damit sollte man es aber auch bewenden lassen, es gebe »weiß Gott wichtigere Fragen, auch wichtigere außenpolitische Fragen«. »Das letzte, was wir dabei brauchen können, ist Misstrauen zwischen den Verbündeten, vor allem zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland.«

Das Verschweigen von geheimen Abkommen und der Verweis auf die Parlamentarische Kontrollkommission

Der damalige SPD-Abgeordnete Hans de With verwies darauf, dass durch das im Rahmen der Notstandsverfassung 1968 eingeführte G-10-Gesetz die »alliierten Sicherheitsvorbehalte endgültig und restlos abgelöst« worden seien. Man müsse bei der Bundesregierung auf Klarstellung drängen.

Der FDP-Abgeordnete Dr. Burkhard Hirsch verwies hingegen auf die »Verpflichtung zur Zusammenarbeit auch hinsichtlich der Sicherheit von Truppen, die im Rahmen des Truppenstatuts in der Bundesrepublik« lägen. »Wenn im Rahmen einer solchen Zusammenarbeit der Eindruck entsteht, dass das Überwachen eines Telefongesprächs notwendig ist, dann geschieht das ausschließlich gemäß den Regeln des G-10-Gesetzes.«

Die Angaben im Spiegel-Artikel würden in der Parlamentarischen Kontrollkommission überprüft. Wenn es sich notwendig erweisen sollte, werde man auch handeln. Aber bis heute ist keines der geheimen Abkommen bekannt, geschweige denn überprüft oder gar abgelöst. Die Überprüfungen der Parlamentarischen Kontrollkommission, so sie denn überhaupt stattgefunden haben sollten, haben zu keinerlei erkennbaren Ergebnissen geführt.

Die Regierung stellte sich unwissend und verwies auf die Geheimhaltungspflicht

Für die Kohl-Regierung antwortete der Staatsminister im Auswärtigen Amt Helmut Schäfer. Auch er verwies auf die »engsten Verbindungen«»feste Klammer«