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Titelseite

 

Für Adam, Steve, Elliot und Jonah,

für die wir gern Drachen, Kelpies und Greifen die Stirn bieten. Nur was die Mantikore angeht, könnt ihr eher nicht mit uns rechnen.

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KAPITEL 1

Logan Wilde bemerkte die Federn gleich nach dem Aufwachen. Fünf von ihnen lagen wie Herbstlaub auf seinem grauen Teppich. Logan starrte sie an und rieb sich verschlafen die Augen, während sein dritter Wecker losschrillte.

Er stieg aus dem Bett und hob eine der Federn auf. Sie war groß und leuchtete im Sonnenlicht, als wäre sie mit Goldstaub überzogen. Vor allem, wenn er sie gegen seine hellbraune Handfläche hielt.

Logan überlegte, ob vergangene Nacht irgendetwas Seltsames geschehen sein könnte, wie etwa … nun, sagen wir, der Besuch eines riesigen goldenen Vogels, der durch sein Zimmer geflattert war. Das Problem war nur, dass Logan einen wirklich, wirklich tiefen Schlaf hatte. Sein Dad machte immer Witze, dass neben seinem Kopf eine Alarmanlage losheulen könnte, ohne dass Logan davon aufwachen würde.

»Hm«, murmelte Logan. »Will ich echt wissen, was mit dem Rest dieses Vogels passiert ist, Tinka?«

Erst als er sich umdrehte, fiel ihm auf, dass sich seine Katze nicht wie sonst am Fußende seines Bettes rekelte.

»Tinka?«, rief er.

Da erhaschte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf seinem Schreibtisch. Hulk, sein Siamesischer Kampffisch, schwamm aufgescheucht in seinem Glas herum und schlug dabei wild mit den langen violetten Flossen. Das Terrarium daneben sah dagegen völlig verlassen aus. Logan ging hinüber und lugte hinein.

Normalerweise rannten ihm seine zwei Mäuse in der Hoffnung auf Futter schon entgegen, wenn sie ihn nur sahen. Doch heute kauerten Mr und Mrs Smith unter einem Haufen Hobelspäne in einer Ecke. Selbst als Logan ihre Futterdose schüttelte, weigerten sie sich herauszukommen.

»Was zur Hölle ist hier los?«, fragte Logan laut.

»Miau«, drang ein leises Stimmchen aus seinem Schrank.

Logan öffnete die Tür und fand seine Katze im obersten Regal, wo sie sich hinter einem Stapel Pullis versteckte. Verängstigt schaute sie ihn an, während sie ihr grau-weißes Fell sträubte.

»Och, du arme Kleine, was ist denn passiert?«, machte Logan sich über sie lustig. »Ist ein großer böser Vogel ins Zimmer geflogen und hat dich erschreckt?«

»Rrrrrrrriau«, grummelte sie. Und ihr vorwurfsvoller Blick sprach Bände: DU jedenfalls bist nicht aufgewacht, um uns zu retten. Kein Problem, schnarch einfach friedlich weiter, während ich gefressen werde. Daran merke ich, wie furchtbar wichtig ich dir bin!

Da sah Logan die blauen, grünen und roten Fäden an ihren Krallen und begriff, dass Tinka die ganze Nacht damit verbracht hatte, in Panik seine Pullis zu zerfetzen.

»Oh Mann.« Logan stöhnte. »Na klasse, Tinka!«

»RRRRIAU«, protestierte sie beleidigt. Logan griff nach ihr, aber sie legte die Ohren an und hechtete über ihn hinweg. Als er herumfuhr, sah er gerade noch ihre Schwanzspitze zum offenen Fenster hinaus verschwinden.

Logan seufzte. »Irgendwann bekomme ich einen Hund«, erzählte er seinem Fisch. »Einen, der nicht bei jedem Scheiß gleich Panik schiebt.«

Hulk wedelte mit den Flossen, als wollte er sagen: Hey, ich bin auf der Seite der Katze!

Logan zog sich an und steckte die Nachricht und das Pausengeld ein, die sein Vater ihm in die Küche gelegt hatte. Dann schnappte er sich noch schnell eine Milchschnitte für den Schulweg und eilte aus dem Haus.

Xanadu war eine verschlafene kleine Stadt in Wyoming, umgeben von lauter Bergen. Nie hätte Logan gedacht, dass er mal an so einem Ort landen würde. Andererseits hätte er auch nie damit gerechnet, dass seine Mutter sie per Postkarte abservieren und sein Dad seinen schicken Job als Anwalt aufgeben würde, um in den Westen zu ziehen und nach ihr zu suchen.

»Schau dir das an, Dad!«, hatte Logan im Sommer gesagt, als ihr Umzugswagen an etwas vorbeigerattert war, das wie ein echter Saloon aussah – über dem Eingang hing sogar ein Holzschild, in das ein Paar langer Hörner eingebrannt war.

»Es ist wie das genaue Gegenteil von Chicago. Bekomme ich jetzt ein Pferd? Ich wette, hier hat jeder ein Pferd.«

»Klar kannst du ein Pferd haben«, hatte sein Dad geantwortet. »Sobald du mit Cowboyhut, Stiefeln und Sporen zur Schule gehst.«

Dad hielt sich für wahnsinnig witzig.

Logan war nicht annähernd mutig genug, einen Cowboyhut zu tragen, von allem anderen mal ganz abgesehen. Als der Neue in der siebten Klasse? Vergiss es!

Aber die zehn Minuten zur Schule auf einem Pferd, statt wie jetzt mit seinem Fahrrad, zurückzulegen, wäre schon ziemlich cool. Logan fuhr im Leerlauf einen Berg hinunter und wich den Schlaglöchern aus. Den Duft von frisch gebackener Pizza, der seinen ganzen Block in Chicago erfüllt hatte, vermisste er noch immer. Auf die meisten anderen Gerüche der Stadt konnte er allerdings dankend verzichten. Hier roch die Luft nach Nadelbäumen und weit entferntem Schnee.

Am Fuß des Hügels düste er an der Bank von Xanadu vorbei und entdeckte auf der Treppe davor eine Gruppe von Leuten in Anzügen. Ihm blieb keine Zeit, anzuhalten, doch im Vorbeifahren hatte er den Eindruck, als hätte jemand die Vordertür der Bank zerkratzt. Zumindest hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit geriebenem Käse.

Kann gar nicht sein. Du musst dich geirrt haben. Kopfschüttelnd trat Logan weiter in die Pedale.

Bisher gefiel ihm Wyoming besser als Chicago, auch wenn er noch nicht wirklich neue Freunde gefunden hatte. Manchmal ritt tatsächlich jemand auf einem Pferd die Hauptstraße entlang und die Regionalzeitung wurde noch gedruckt und erschien nicht nur als Online-Newsletter – noch dazu in einer altmodischen Schrift wie auf diesen GESUCHT: TOT ODER LEBENDIG-Postern. In Wyoming hatte Logan einen richtigen Garten – na gut, es war nur ein Streifen Gras um ihr einstöckiges Haus herum. Trotzdem, es bestand Hoffnung, dass er hier eines Tages endlich einen Hund halten durfte. Am coolsten war allerdings, dass sein Dad ihn den ganzen Tag lang allein mit dem Rad in der Gegend herumfahren ließ.

Außerdem lauerten hier nicht an allen Ecken hinterhältige Erinnerungen an seine Mutter. Er hatte keine Ahnung, wie sein Dad auf die Idee gekommen war, sie ausgerechnet in dieser Gegend zu finden. Xanadu war viel zu langweilig für sie – im Umkreis von achtzig Kilometern gab es nicht einmal einen Flughafen. Logan machte die Ruhe nichts aus, aber seine Mutter wäre schon nach einer Woche durchgedreht.

Er fuhr um die letzte Ecke und krachte um ein Haar in drei Schüler, die mitten auf der Straße standen und stritten.

»Aaaaah!« Er riss den Lenker herum, während zwei aus der Gruppe zur Seite sprangen. Logan verkantete sich mit dem Reifen an der Bordsteinkante, flog vom Rad und landete der Länge nach in einem Haufen Orangenblätter eines fremden Vorgartens.

»Pass doch auf, wo du hinfährst!«, brüllte ein Mädchen.

»Ich?« Logan setzte sich auf. »Ihr steht doch mitten auf der Straße rum!« Sein Ellbogen tat weh und er hatte sich die Handflächen aufgeschrammt. Außerdem fühlte er, wie Blut sein Schienbein entlangrann. Logan nahm seinen Sturzhelm ab und rollte sein Hosenbein hoch.

Das jüngere Mädchen, das ihn angeschrien hatte, stand noch immer mitten auf der Straße und stierte ihn wütend an. Ihr dunkles Haar war zu zwei langen Zöpfen geflochten. Sie war ihm schon einmal aufgefallen, als sie auf dem Fußballfeld eine Mitschülerin angebrüllt hatte. Aber ihren Namen kannte er nicht. Die beiden anderen – ein Junge und ein Mädchen – gingen wie er in die Siebte.

»Oh Mann«, sagte der Junge, als er sich Logans blutendes Bein besah. »Das tut mir echt leid, Alter.« Blue Merevy war groß, blond und wirkte immer ein wenig verschlafen. Die Mädchen himmelten ihn an und tummelten sich gern in seiner Nähe. So ganz konnte Logan das nicht verstehen, obwohl es wahrscheinlich etwas mit Blues grünen Augen zu tun hatte – und der echt lässigen Art, zu reden.

»Schon okay«, winkte Logan ab und warf einen kurzen Blick zu dem zweiten Mädchen, Zoe Kahn – mit Abstand die merkwürdigste Schülerin der siebten Jahrgangsstufe. Ihr kinnlanges rotbraunes Haar klemmte hinter ihren Ohren und ihr grünes Flanellhemd war falsch geknöpft. Mit gerunzelter Stirn starrte sie zur Postfiliale auf der anderen Straßenseite.

»Keiko«, flehte sie schließlich das jüngere Mädchen an, als wäre Logan gar nicht da. »Jetzt komm schon, bitte! Wir brauchen deine Hilfe.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Keiko und warf ihre Zöpfe in den Nacken. »Das bescheuerte Vieh würde mich wahrscheinlich nur beißen, wenn es mich sieht. Das ist dein Problem. Ich halte mich da raus.« Sie verengte die goldbraunen Augen zu Schlitzen und funkelte Logan an, bevor sie auf dem Absatz kehrtmachte und in Richtung Schule davonmarschierte.

»Wir kommen zu spät«, stellte Blue fest.

»Aber wir müssen nachsehen.« Zoe klang verzweifelt. »Was, wenn er bis zur Mittagspause schon weg ist?«

»Mach dir keine Sorgen«, meinte Blue leiser.

Logan fühlte sich wie das fünfte Rad am Wagen. Er rappelte sich auf und wollte sich gerade davonstehlen, als er noch einmal in Zoes Gesicht sah. Dabei bemerkte er, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Sogar Blue wirkte aufgewühlt, was ganz und gar nicht zu ihm passte.

Wenn Logan jetzt einfach so wegspazierte, ohne seine Hilfe anzubieten, würde er sich für den Rest des Tages wie der letzte Idiot vorkommen. »Ist alles okay?«

»Ja, passt schon«, antwortete Zoe und wischte sich über die Augen.

»Sicher?«, hakte Logan nach. »Ist … ähm … Kann ich irgendwie helfen?«

Zum ersten Mal blickte Zoe ihn wirklich an, als würde sie eben erst bemerken, dass er da war. »Ach … danke. Aber nein, schon okay. Es ist nur … Mein Hund ist weggelaufen.«

»Oh nein! Was ist es denn für ein Hund? Wie lange ist er schon weg? Wie heißt er? Hast du schon mal im Tierheim nachgefragt? Ich kann dir helfen, Flyer zu machen, wenn du magst. Hat er einen Chip? Ist er schon mal weggelaufen?« Logan hielt inne. Blue und Zoe sahen ihn beide mehr als komisch an. »Ähm«, machte er. »Ich mag Hunde eben.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen«, sagte Zoe und schenkte ihm ein müdes Lächeln. »Trotzdem danke.«

Im Pausenhof erklang der erste Gong.

»Wir sollten uns beeilen«, wandte Zoe sich an Blue. Dann sprintete sie quer über die Straße und verschwand in der Postfiliale. Logan fiel auf, dass auf der großen Steintreppe davor einige Federn lagen – riesengroße Federn, wie die in seinem Zimmer, nur waren diese hier dunkelbraun statt golden.

»Wie kommt sie darauf, dass ihr Hund da drin ist?«, fragte Logan.

»Äh … er steht wirklich auf Postboten.« Blue zuckte mit den Schultern. »Er ist kein so ganz normaler Hund.«

»Wie heißt er?«

Blue machte ein nachdenkliches Gesicht. »Äh … Six. Nein, Finn. Ach was, sagen wir: Six. Bis später!« Er drehte sich um und folgte Zoe, noch bevor Logan weitere Fragen stellen konnte – wie etwa: »Hast du dir das im Ernst gerade so offensichtlich ausgedacht?«

Logan seufzte und Blue verschwand durch den Haupteingang der Postfiliale. Genau darum hatte Logan auch vier Monate nach ihrem Umzug nach Xanadu noch immer keine Freunde. Es lag nicht nur daran, dass er sich jedes Mal total tollpatschig anstellte, wenn er mit Leuten ins Gespräch kam. Und es lag auch nicht daran, dass er anders aussah als die meisten seiner Mitschüler – Walter Barnes, der zweite Afroamerikaner in der Klasse, war ein megabeliebter Footballstar und hatte eine Freundin, die bereits in die Achte ging.

Nein, die Wahrheit war, dass die Kids hier alle schon ihre festen Freundeskreise hatten. Die gesamte Siebte bestand nur aus vierundzwanzig Schülern – zehn Jungs, vierzehn Mädchen – und bei jedem Einzelnen war es unmöglich, ihn besser kennenzulernen.

In der ersten Woche hatte Logan probiert, sich in der Mittagspause mit Walter an einen Tisch zu setzen. Doch Walter hatte ihn ignoriert, sich nur mit seinen Footballer-Kumpeln unterhalten und so getan, als wäre seine Lasagne wesentlich interessanter als Logan. Er schien sich weder für die Basketballmannschaft der Chicago Bulls noch für das Baseballteam der Chicago Cubs zu interessieren, erst recht nicht dafür, wie viele Spiele Logan zu Hause live gesehen hatte.

In der Woche darauf hatte Logan einen anderen Tisch ausgetestet, in der Hoffnung, bei den Jungs aus der Schulband mehr Glück zu haben als bei den Sportlern – immerhin war er ein ganz passabler Saxofonspieler. Aber als er anfing, von Charlie Parker zu reden, erntete er nur verständnislose Mienen. Keiner mochte die Sachen, die er mochte. Keiner von denen hatte jemals die Serie MythBusters – Die Wissensjäger oder The Amazing Race geschaut – eine Show, in der verschiedene Teams wie bei einer Schnitzeljagd gegeneinander antreten und knifflige Aufgaben lösen mussten. Und was Siamesische Kampffische anging, hätte Logan genauso gut erzählen können, dass er einen kleinen langweiligen Alien in einem Goldfischglas auf seinem Schreibtisch großzog.

Die Leute am Band-Tisch verbrachten den Großteil der Mittagspause damit, Szenen aus alten South Park-Episoden zu zitieren. Leider gehörte South Park aber zu den Serien, die Logans Dad ihn nicht anschauen ließ. Nach diesem Versuch blieb Logan zwar an diesem Tisch, aber er gab es auf, sich an den Unterhaltungen zu beteiligen.

Unterm Strich war es schlicht und ergreifend hoffnungslos. Zugegeben, seine Freunde in Chicago waren auch nicht gerade umwerfend gewesen. Als seine Mom abgehauen war, hatten sie alle nur bescheuertes und wenig hilfreiches Zeug gebrabbelt, und kurz darauf hatten sie gar nicht mehr darüber reden wollen. Und wenn Logan ihre zweizeiligen E-Mails las, war er eigentlich gar nicht böse darüber, dem ganzen Drama an seiner alten Schule entflohen zu sein – ständig ging es nur darum, wer gerade auf wen stand und wer peinliche Bilder von wem rumschickte. An seiner neuen Schule war er vielleicht unsichtbar, dafür hatte wenigstens nicht jeder ein Foto von ihm auf dem Handy, auf dem er Orangensaft aus seiner Nase prustete.

Logan schlurfte zur ersten Stunde in sein Klassenzimmer und kritzelte Federn in sein Hausaufgabenheft, bis es läutete. Mr Christopher fing eben an, die Anwesenheitsliste durchzugehen, als Zoe und Blue von einer wütenden Vertrauenslehrerin durch die Tür eskortiert wurden.

»Diese beiden hier haben die Schule geschwänzt!«, erklärte Miss McCaffrey. Sie machte eine kleine dramatische Pause, bevor sie hinzufügte: »In der POST!«, als würde das alles noch deutlich verschlimmern.

»Ooooooh«, hauchte Jasmin Sterling im hinteren Teil der Klasse. »Zoe und Blue schicken sich gegenseitig Liebesbriefe! Wie süß.«

Blues entspannter Gesichtsausdruck veränderte sich nicht, doch Zoe warf Jasmin einen vernichtenden Blick zu. Jeder, selbst Logan, wusste, dass Jasmin diejenige war, die bis über beide Ohren verknallt in Blue war. Zoe und Blue waren dagegen mehr wie Bruder und Schwester, jedenfalls soweit Logan das beurteilen konnte.

Der Lautsprecher an der Wand knisterte. »Miss McCaffrey«, erschallte die Stimme des Direktors, »kommen Sie bitte umgehend zur Cafeteria. Wir haben hier … ein kleines Problem.«

Während die Vertrauenslehrerin aus dem Zimmer rauschte, linste Zoe nervös zu Blue hinüber. Logan bemerkte, wie Blue kaum merklich den Kopf schüttelte und Zoe auf ihren Platz schob.

Zoe ließ sich auf den Stuhl neben Logan fallen und fuhr sich unruhig mit den Händen durchs Haar. Dann stellte sie ihren Rucksack zwischen ihrem und Logans Tisch ab. Er fragte sich, ob ihr wohl bewusst war, wie merkwürdig dieser Rucksack roch – als hätten sich nasse Hunde und Nilpferde darauf gewälzt. Als er ihn musterte, fielen ihm einige braune Haare auf, die im Reißverschluss klemmten. Sie waren zu lang und zu dunkel, um zu Zoe zu gehören. Also stammten sie wohl von ihrem Hund, was bedeutete, dass er wuschelig war und komisch roch.

Aber Logan hätte lieber einen Hund, der komisch roch, als gar keinen. Er überlegte, welche Rasse solche Haare haben könnte. Vielleicht ein Bernhardiner?

Blues Pult stand direkt vor Logans. Da er Blues Kopf so den ganzen Tag vor der Nase hatte, war ihm aufgefallen, dass Blues blondes Haar einen leichten Grünstich hatte. Außerdem roch auch Blue merkwürdig, irgendwie nach Meer, als würde er den lieben langen Tag surfen. Dabei lag der nächste Strand Hunderte von Kilometern entfernt.

Mr Christopher drehte sich zur Tafel und schrieb eine Matheaufgabe an. Da zischte ein zusammengeknüllter Zettel an Logans Nase vorbei und knallte Blue gegen den Kopf.

Blue und Logan drehten sich gleichzeitig zu Zoe um.

»Wir müssen zur Cafeteria«, wisperte sie, ohne Logan die geringste Beachtung zu schenken.

Blue nickte in Richtung Mr Christopher. »Aber wir haben Unterricht.«

Zoe rieb sich ihr dünnes Handgelenk. »Das ist aber wichtiger! Du weißt, was FABA macht, wenn wir –« Plötzlich schien sie Logan doch zu bemerken und schaute ihn an.

»Was hat Faber mit deinem Hund zu tun?«, fragte Logan erstaunt. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Mitschüler Ben Faber einem Hund etwas antun würde.

»Ähm. Nichts. Das habe ich nicht gesagt.« Zoe wandte sich wieder an Blue: »Wir müssen herausfinden, was da los ist.«

»Er wird dich nicht gehen lassen«, flüsterte Blue und schüttelte den Kopf. »Mich auch nicht. Nicht nach dem Auftritt vorhin.«

Logan war klar: Wäre es sein Hund, dann wäre er genauso verzweifelt, wie Zoe sich anhörte. Für seinen eigenen Hund würde er alles tun, um ihn zurückzubekommen.

»Ich gehe«, wisperte er und hob die Hand.

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KAPITEL 2

»Nein, warte!«, wollte Zoe ihn aufhalten, aber der Lehrer hatte ihn bereits bemerkt.

»Mr Christopher? Darf ich mal auf die Toilette?«, fragte Logan.

Seufzend ließ sein Lehrer die Kreide sinken. »Na schön, aber trödel nicht herum!«

An der Tür warf Logan einen letzten Blick auf Zoe, die nervös an ihrem Daumennagel kaute. »Alles okay«, formte er stumm mit den Lippen.

Der Gang war verlassen. Er eilte zur Cafeteria, vorbei an jeder Menge gelber Spinde. Als er näher kam, hörte er aufgeregte Stimmen. Vor der grünen Metalltür blieb er stehen, bückte sich und tat so, als müsste er seine Schnürsenkel binden, während er lauschte.

»Aber wie kann denn alles weg sein?«, schrie Miss McCaffrey.

»Kein Krümel ist übrig!« Diese Stimme gehörte Buck, dem Mann, der für die Küche der Cafeteria zuständig war. »Ich hab es Ihnen doch gesagt: Jemand hat die Kühlschränke und die Gefriertruhe aufgebrochen und alles aufgegessen. Das Chili, die Tortilla-Fladen, den Käse, den Wackelpudding, die Schokomilch, die Tomatenscheiben – alles, was wir heute zum Mittagessen servieren wollten! Alles weg!«

»Das muss ein wildes Tier gewesen sein«, mutmaßte Direktor Upton mit seiner schläfrigen Nuschelstimme. »Vielleicht ein Bär.«

»Ein besonders sorgfältiger Bär«, höhnte Buck. »Einer, der Türen und Dosen öffnen kann.«

»Dosen?«, hakte Miss McCaffrey nach.

»Sehen Sie!«, zeterte Buck. »Alle roten Bohnen – die Deckel hochgedrückt und leer geleckt!«

»Vielleicht hat der Bär sie mit seinen Krallen geöffnet«, überlegte der Direktor, auch wenn ihm diese Theorie offenbar selbst unglaubwürdig vorkam.

»Nur den Salat hat er übrig gelassen.« Buck klang, als wäre er am Boden zerstört. »Und dann diese roten Federn überall. Wahrscheinlich hat das Vieh irgendeinen Vogel hier reingeschleppt, um ihn auch noch zu fressen.«

»Wie auch immer. Nur Salat können wir zum Mittagessen jedenfalls nicht auftischen!«, keifte Miss McCaffrey.

»Das ist mir schon klar!«, schrie Buck.

»Schreien Sie mich gefälligst nicht an!«, brüllte sie zurück.

»Mr Wilde?«

Logan hätte vor Schreck beinahe das Gleichgewicht verloren. Er hatte völlig vergessen, weiter so zu tun, als würde er sich die Schuhe binden – oder darauf zu achten, ob sich jemand näherte.

Vor ihm stand die Schulbibliothekarin mit einem freundlichen, aber verwirrten Ausdruck im Gesicht. Ihre Haut hatte die Farbe von Karamell und ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug einen knöchellangen knallgrünen Rock, der mit lauter rautenförmigen Spiegelteilchen bestickt war, und eine Bluse in Hellrosa, die ganz und gar nicht dazu passte. Ihr Name wollte ihm spontan nicht einfallen. Daher war er auch mehr als erstaunt, dass sie seinen kannte.

»Äh, also … tut mir leid«, stammelte er und stand auf. »Ich war … Ich habe nur …«

Sie legte einen Finger auf ihre Lippen. »Haben sie endlich herausgefunden, was los ist?«, flüsterte sie und nickte in Richtung Cafeteria.

Logan schüttelte den Kopf.

»Weißt du es vielleicht?«, fragte sie.

»Ich? Ich weiß gar nichts. Ich hab mir nur die Schuhe zugebunden.«

»Hmmm«, machte sie und betrachtete skeptisch seine Turnschuhe. »Haben sie von Federn geredet?«

»Ja. Aber ich glaub nicht, dass ein Vogel das angerichtet hat. Vögel essen doch kein Chili«, antwortete Logan. »Ich meine – stimmt doch, oder?«

Sie starrte abwesend in die Cafeteria, als würde sie ihm gar nicht zuhören.

»Na geh schon, husch, husch!«, scheuchte sie ihn davon. Erleichtert floh er den Gang hinunter.

Als Logan zurück in die Klasse kam, hielt Mr Christopher gerade einen Vortrag über Polynomgleichungen. Logan ließ sich auf seinen Stuhl gleiten und riss einen Zettel aus seinem Block.

Irgendwas hat die komplette Cafeteria leer gefressen, schrieb er. Klang aber nicht nach einem Hund. Vielleicht ein Bär? Im Augenblick passiert nicht viel – nur ein paar Erwachsene, die sich anschreien. Er faltete den Zettel, und als Mr Christopher nicht hinsah, warf er ihn auf Zoes Tisch.

Sie las ihn, ächzte leise und ließ den Kopf auf die verschränkten Arme fallen. Nicht ganz die Reaktion, mit der Logan gerechnet hatte.

Hektisch zupfte er höchst konzentriert lose Papierstücke aus der Spiralbindung seines Blocks. Er legte ohnehin keinen besonderen Wert darauf, mit der abgedrehten Zoe Kahn befreundet zu sein. Ständig schlief sie im Unterricht ein und ließ sich die wildesten Ausreden einfallen, weil sie wieder einmal die Hausaufgaben nicht dabeihatte. Auch wenn die Lehrer nicht merkten, dass sie schwindelte – Logan wusste es.

Ihre Klamotten waren immer entweder voller Löcher oder voller Flecken und dabei schien ihr das noch nicht einmal etwas auszumachen. Sie führte andauernd Selbstgespräche und kaute an ihren Nägeln herum. Außerdem zog sie ständig ein besorgtes Gesicht. Und sie sprach kaum mit jemandem ein Wort, abgesehen von Blue, der aus unerfindlichem Grund mit ihr befreundet war, obwohl er mit jedem hätte abhängen können.

So dringend hatte Blue einen Kumpel auch wieder nicht nötig. Oder?

Erleichtert kam Logan endlich zu Hause an. Der Tag war lang gewesen, vollgepackt mit öden Fächern und einer langweiligen Mittagspause, während der er sich hauptsächlich den Kopf darüber zerbrochen hatte, wo sich in Xanadu ein Hund verstecken könnte. Logan schob sein Fahrrad in die Garage und ging ins Haus.

»Tinka?«, rief er.

»Grrrriau«, kam die Antwort unter der Couch hervor.

»Na, spinnst du noch immer rum?«, fragte er und holte sich eine Limo aus der Küche. »Mensch, dich hat irgendwas so richtig erschreckt, oder?«

»GRRRRRIAU.«

Auf der Arbeitsfläche hatte sein Dad eine weitere Nachricht hinterlassen: Viel Arbeit dieses Wochenende. Tut mir leid, dass ich so häufig unterwegs bin. Was hältst du von Pizza und Bears-Spiel am Sonntagabend? Im Kühlschrank sind jede Menge Reste, falls du Hunger bekommst. Ruf mich an, wenn was ist.

Die Bears waren ihre gemeinsame Lieblings-Football-Mannschaft, das würde super werden. Logan wusste, dass sein Dad mit der neuen Arbeitsstelle im Ministerium für Tier- und Artenschutz alle Hände voll zu tun hatte, und es gefiel ihm, dass er Logan zutraute, allein zurechtzukommen. Allerdings war Logan sich sicher, dass sein Dad einige dieser sogenannten »Überstunden« damit verbrachte, nach Mom zu suchen. Ihre letzte Postkarte – voller lahmer Ausreden und Abschiedsworte – hatte sie nämlich in Cheyenne, Wyoming, aufgegeben. Es war also kein Zufall, dass sie einen Monat später hierher gezogen waren. Zwar redeten sie nie darüber, aber offensichtlich hoffte Logans Vater, sie zu finden und ihre Meinung zu ändern.

Aber das würde nicht passieren. Logans Mom war schon immer lieber auf Reisen gegangen, als zu Hause zu bleiben. Und selbst wenn sie mal daheim war, reichte die Zeit fast nie für ein gemütliches Abendessen. Sie war einfach nicht der Typ Mutter, der auf Spieleabende mit der Familie und gemütliche Radtouren stand, auch wenn sie Logan und seinen Dad liebte. Logan hatte immer das Gefühl gehabt, dass ihr Rucksack stets gepackt und abreisebereit war. Daher hätte es ihn eigentlich nicht wundern oder verletzen sollen, als sie schließlich gar nicht mehr zurückgekommen war.

Hatte es aber. Wer servierte denn, bitte schön, die eigene Familie mit einer Postkarte ab?

Klar, viele seiner Freunde in Chicago hatten nur entweder Mutter oder Vater. Meistens war allerdings der Dad abgehauen, während die Mom geblieben war. Oder manchmal hatten sie überhaupt nie einen Dad gehabt. Oder ihr Vater war zwar da, funktionierte aber mehr wie eine Art zusätzliches Sofakissen und nicht wie ein Familienmitglied.

Genauer betrachtet, hatte Logan es also ziemlich gut getroffen. Zumindest hatte er einen Dad, der Burritos machte, mit ihm in der Einfahrt Körbe warf und sich Mühe gab, dieselben Bücher wie Logan zu lesen.

Er schüttelte den Kopf. Er wollte gar nicht über all das nachdenken.

»Okay, Tinka«, sagte er. »Ich werde jetzt Mr und Mrs Smith füttern, falls du mitkommen und zuschauen magst.« Für gewöhnlich liebte es Tinka, auf dem Schreibtisch zu hocken und wie eine düstere Bedrohung Logans Mäuse anzustarren, während er sie fütterte. Doch heute weigerte sie sich, unter der Couch hervorzukommen.

Schulterzuckend trottete Logan in sein Zimmer, ließ seinen Rucksack auf den Boden fallen und warf einen Blick in den Mäusekäfig. Mr und Mrs Smith kauerten noch immer unter ihrem Haufen aus Holzspänen. Nervös zuckten sie mit der Nase, als sie sich Logan zuwandten.

»Ihr armen Kerle«, sagte Logan und griff nach ihrem Futter. »Was hat euch denn so –« Er hielt inne. »Komisch.« Die Dose fühlte sich wesentlich leichter an als heute Morgen. Logan nahm den Deckel ab und spähte hinein.

Sie war völlig leer.

»Was zum … Leute, wer hat denn euer ganzes Futter gefressen?« … und dann den Deckel wieder zugemacht?

»SKWOOOOOOOOORP.«

Logan erstarrte. So ein Geräusch hatte er definitiv noch nie im Leben gehört. Und es war von irgendwo in seinem Zimmer gekommen.

Langsam und mit klopfendem Herzen drehte er sich um.

Da bemerkte er auf dem Teppich einen Schwanz, der unter dem herabhängenden Zipfel seiner Bettdecke hervorspitzte. Es war der lange, goldbraune und fellbesetzte Schwanz eines Löwen.

Unter seinem Bett war ein Monster.

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KAPITEL 3

Das konnte kein Löwe sein. Immerhin gab es in Wyoming keine Löwen, oder? Pumas vielleicht, aber die hatten keine solchen Schwänze.

Logan hob den Baseballschläger auf, der in seinem Schrank lehnte. Vorsichtig kam er ein Stückchen näher, dann ging er in die Hocke und spähte unter sein Bett.

Das Ding hatte die Augen geschlossen. Die vordere Hälfte ähnelte einem riesigen Königsadler, komplett mit Flügeln, Schnabel und allem Drum und Dran. Der Rest des Körpers war voller Fell und an den vier Pfoten, die das Monster hatte, saßen die scharfen Krallen eines Löwen.

Zuerst packte Logan das blanke Entsetzen, doch dann war er erleichtert. Das da war nicht echt. Es konnte gar nicht echt sein. Das Geräusch hatte irgendeinen anderen Ursprung gehabt. Und das da vor ihm musste irgendein komisches Plüschtier sein, das ihm seine Großeltern geschickt hatten. Großeltern vergaßen manchmal, dass Zwölfjährige iPods, Videospiele und Hunde mochten, aber kein Babyspielzeug.

Doch was für ein Tier war vorn ein Vogel und hinten ein Löwe? So eine Plüschfigur war Logan noch nie untergekommen.

Auch egal, wenigstens konnte er sicher sein, dass es absolut, hundertprozentig, nicht echt war.

Da schlug das Wesen die Augen auf.

»Mork!«, rief es.

Logan fiel rückwärts gegen seine Schranktür und ließ den Schläger fallen. Das Ding lebte! Jetzt würde er gefressen werden, von einem … einem Löwen-Adler-Vieh!

»Mork!«, trillerte das Wesen erneut und klapperte mit seinem Schnabel. Zumindest klang es nicht gefährlich. Eigentlich waren diese Laute sogar irgendwie süß. »Mork! Mork!«

»Ich schlafe«, nuschelte Logan. »Ich träume. Das sind Halluzinationen.«

»Mork!«, beharrte das Wesen unter dem Bett. »MORK!«

Logan schloss die Augen. »Logan, das bildest du dir alles nur ein. Wahrscheinlich hat irgendwas mit den Pizzas nicht gestimmt, die sie uns heute Mittag bestellt haben. Auf gar keinen Fall liegt da ein Monster unter deinem Bett und morkt dich an.«

Looooogan!

Hörte er jetzt schon Stimmen? Logan wagte einen verstohlenen Blick auf das Ding. Aus großen dunklen Augen betrachtete das Wesen ihn neugierig. Genau mit solchen Augen hatte Logan sich schon immer seinen zukünftigen Hund vorgestellt.

»Warst du das?«, fragte er.

Logan tut mich hören?

»Äh …«

»Mork!«

Sein Bett wackelte, als das Tier darunter hervorkrabbelte, sodass Logan es zum ersten Mal richtig sah. Es war kleiner, als er angenommen hatte – nicht größer als ein Labradorwelpe. Aus dem flauschigen Rücken ragten weiche goldene Flügel. Lange Löwenkrallen gruben sich in Logans grauen Teppich, während sich das Wesen schüttelte und mit dem Schwanz schlug. Der Kopf wurde von einem Kranz aus goldenen Federn eingerahmt, wie von einer winzigen Mähne. Zwischen Kopf und Brust gingen die Federn dann in Fell über. Mit dem gebogenen Schnabel schnappte es in die Luft und machte klack, klack, klack.

Logan fiel ein, dass er schon einmal eine Zeichnung von etwas ganz Ähnlichem gesehen hatte, und zwar auf dem Umschlag eines Fantasybuchs. Es sah aus wie ein Greif … aber die gab es ja nicht wirklich.

Das Wesen schüttelte sich noch einmal und sprang dann auf ihn zu. Bevor Logan die Flucht ergreifen konnte, hüpfte es auf seinen Schoß. Er verzog das Gesicht, als die Krallen durch seine Jeans pikten, aber anders als erwartet, griff ihn das Wesen nicht an. Stattdessen schlang es den Schweif um den kleinen Körper und setzte sich hin. Mit dunklen Augen starrte es Logan ernst an, und als es ihm mit dem Kopf gegen die Brust puffte, konnte er nicht anders, als es zu streicheln.

»Moooooork«, gurrte das Wesen genüsslich, rückte noch näher an ihn heran und rollte sich schließlich zu einer Kugel zusammen, genau wie Logans Katze das immer tat. Logan kraulte das weiche Fell – es war sogar noch weicher als das von Tinka – und berührte behutsam einen der gefalteten Flügel. Eigentlich fühlte sich das ganz und gar nicht wie ein Traum oder eine durch schlechte Pizza hervorgerufene Halluzination an.

»Was zum Teufel bist du?«, fragte er. »Irgendein Regierungsexperiment?« Immerhin züchteten Wissenschaftler ja auch andauernd irgendwelche neuen Pflanzen und erfanden komische Früchte, wie zum Beispiel Pflaumikosen. Vielleicht konnten sie auch Adlöwen machen.

Das Wesen öffnete den Mund, doch statt wieder »Mork« zu sagen, stieß es ein lautes »SKWOOOOORP« aus.

Logan lachte. »Dann nenne ich dich also Skworp?«

Skworp!, tschirpte die Stimme in seinem Kopf. Guter Name! Skworp tut Skworp mögen! Logan! Zuhören!

»Ganz genau«, meinte Logan. »Ich Logan. Du Skworp.«

Zuhören! Skworp essen! Der Knirps schnappte nach Logans Fingern und jaulend zog Logan die Hand weg.

»Fein, aber doch nicht mich!«, sagte er. »Dann hast du also das ganze Mäusefutter verputzt, was?«

Skworp hat Hunger, sagte das Wesen und schenkte Logan dabei den herzerweichendsten Hundeblick, den ein Adlergesicht zustande bekam. Kleines Nagerchen-Essen sehr, sehr bäh. Seine Miene hellte sich auf. Besser kleine Nagerchen essen?

»Nein!« Logan blickte den Kleinen streng an. Zum Glück war der Deckel des Terrariums fest verschlossen, damit Mr und Mrs Smith vor Tinka in Sicherheit waren. »Meine Mäuse werden nicht gefressen! Das sind meine Freunde.«

Skworp schmiegte sich an ihn und lehnte den Kopf an Logans Brust. Skworp auch Freund sein tut.

»Ach du.« Lächelnd kraulte Logan Skworps Köpfchen.

Skworp viel besserer Freund als Winz-Nagerchen. Winz-Nagerchen voll nutzlos. Aber lecker!

»Kommt nicht infrage! Dir machen wir dafür ein paar Frikadellen, okay? Die schmecken viel besser, versprochen.«

Plötzlich setzte Skworp sich kerzengerade auf und klapperte wie wild mit dem Schnabel. Oh-oh! Das kleine Kerlchen sprang auf Logans Bett und versteckte sich unter der Decke, sodass im Handumdrehen alles voller Haare war.

»Was ist?« Logan stand auf. »Was ist denn los?«

»Mork!«, jammerte Skworp. Mit einem gehetzten Blick zum Fenster vergrub er sich so lange in der Bettwäsche, bis nur noch eine große Beule unter der dunkelblauen Decke zu sehen war.

Logan wagte einen Blick aus dem Fenster und duckte sich schlagartig.

Vor dem Haus standen Zoe und Blue und starrten die niedrigen Hecken an, die das Grundstück umgaben.

Vignette

KAPITEL 4

»Federn, Federn und noch mehr Federn!«, drang Zoes aufgebrachte Stimme durch das Fenster. »Mehr finden wir einfach nicht. Vielleicht ist das alles wirklich meine Schuld. FABA wird uns dicht machen und Dad wird mir Hausarrest auf Lebenszeit aufbrummen. Dann müssen alle umziehen und dich oder Käpten Fuzzbutt oder Mondstampfer werde ich nie mehr wiedersehen.«

»Denk mal positiv – vielleicht schicken sie Keiko dann zurück nach Japan«, meinte Blue.

»Das ist nicht zum Lachen, Blue!« Zoe hielt inne. »Na ja, okay, das wäre ein Vorteil.«

»Außerdem wissen wir gar nicht, ob es deine Schuld war«, sagte Blue freundlich. »Und so schlimm ist es nicht. Noch hat FABA keine offizielle Jagd auf sie eröffnet. Und irgendwelche Tierfotografen haben wir auch noch nicht herumschnüffeln sehen. Wir müssen sie einfach alle vor Sonntag wiederfinden.«

Sie? Logan linste zu der Skworp-förmigen Beule in seinem Bett.

»Warum machst du dir so wenig Sorgen?«, fragte Zoe. »Wenn FABA uns schließt, wer weiß, was dann mit dir oder deinem Dad passiert. Oder wo ihr dann wohnen müsst.«

Da war es wieder, dieses Wort. Faba, nicht Faber, dachte Logan.

Blue zuckte mit den Schultern. »Ich mach mir erst Sorgen, wenn’s wirklich ernst wird. Wenn ich mir auch noch ständig Gedanken über Sachen machen würde, die vielleicht passieren, dann … Na ja, dann wäre ich wie du.«

»Na herzlichen Dank.« Zoe seufzte und betrachtete die Federn. »Das hier ist bestimmt schon lange weitergelaufen.«

»Lass uns zu Hause vorbeischauen«, schlug Blue vor.

»Okay.« Zoe gab sich geschlagen. »Ich bin mit meiner Aufgabenliste sowieso noch nicht fertig. Aber wenn irgendjemand sie entdeckt …«

»Ich weiß«, sagte Blue. »Dann geht die Welt unter. Schon wieder.«

Logan hörte, wie sie ihre Fahrräder nahmen und davonfuhren. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken.

Skworp steckte den Schnabel unter der Decke hervor. Jammer-Mädchen weg?, trillerte sein Stimmchen in Logans Kopf.

»Jammer-Mädchen?«

Noch kleines Mädchen, aber immer, immer jammern und sich Sorgen machen tut. Tut immer alles doppelt gemoppelt überprüfen und macht sich dann trotzdem noch mehr Sorgen. Wedelt immer mit Pfoten in der Luft, aber will nie fliegen. Tut bestimmt bald ihr Fell verlieren. Und beißt ihre Krallen.

Ja, das klang eindeutig nach Zoe.

»Skworp«, fiel bei Logan der Groschen. »Du bist Zoes Hund!«

Der Greif warf die Decke zurück und plusterte empört die goldbraunen Brustfedern auf. Skworp nicht so was! Herkules und Killer und Reißzahn und Max sind Hunde! Und Käpten Fuzzbutt Zoes Haustier sein tut! Skworp KEIN Haustier und GANZ BESTIMMT kein Hund! Skworp ganz frei und GANZ ECHTER GREIF!

»Von mir aus«, meinte Logan. »Jedenfalls bist du das, was sie sucht. Oder nicht?«

Skworp betrachtete kleinlaut seine Klauen. Ooooch, nur einer.

»Wie viele gibt es denn?«

Der Greif verzog das Gesicht. Zwei Brüder und drei Schwestern. Er fuhr mit dem Kopf herum, als würden sie jeden Moment aus dem Schrank purzeln. Fehlen mir alle! Hm, fast alle. Klink nicht. Klink immer Bestimmerin sein tut.

»Sechs Greifen wandern einfach so in Xanadu herum? Kein Wunder, dass Zoe ausflippt.« Logan beugte sich über seine Computertastatur und tippte Faba bei Google ein, in der Hoffnung, auf etwas zu stoßen. »Ich wette, das ist noch viel schlimmer, als einen Hund zu verlieren. Mann, ich hätte sie nicht so traurig weggehen lassen sollen. Wir müssen dich nach Hause bringen.«

Neiiiiiin! Skworp warf sich wieder unters Bett. Kein zurück in Knast! Nicht zurück! Endlich frei! Endlich frei!

Logan zögerte. Er malte sich alle möglichen schrecklichen Orte aus, an denen man Greifen einsperrte, wie Laborratten untersuchte oder wie gefährliche wilde Tiere gefangen hielt. Andererseits wirkten Zoe und Blue nicht gerade wie fiese Regierungswissenschaftler.

Wikipedia behauptete, dass »Faba« eine Ackerbohne war. Vermutlich nicht das, worüber Zoe geredet hatte. Logan probierte es noch einmal.

»La Faba – Ort am Jakobsweg in der Provinz León«, murmelte er und runzelte die Stirn. »Hm. Irgendwie wohl auch nicht ganz das Richtige.«

Das Internet brachte ihn nicht weiter. Also sah er wieder zu Skworp. Das Greifenjunge lag ausgestreckt da, hatte die Pfoten über den Schnabel geschlagen und machte möglichst jämmerliche Geräusche.

»Ist es da, wo du herkommst, denn so schlimm?«, fragte Logan.

Oh, furchtbar! Nie genug Essen! Alle in EINE Höhle gequetscht! Tag und Nacht tun die uns nur rumkommandieren! Nirgends irgendwelche Schätze! Und dauernd tun die doofen Drachen uns anstarren!

Logan glaubte, sich verhört zu haben. »Drachen?« Er musste sich setzen und plumpste auf den Boden. Greifen waren eine Sache. Wenn es in diesem Kaff von einer Stadt aber auch noch Drachen gab, hatte er Xanadu wirklich völlig falsch eingeschätzt.

Skworp reckte den Kopf und drehte ihn zu Logan. Und am allerallerschlimmsten … nie genug zu ESSEN!

»Schon gut, schon gut«, meinte Logan. »Ich hab’s kapiert. Ich hol dir was.« Er hielt inne. Durfte man Greifen mit Frikadellen füttern? Was, wenn er Skworp aus Versehen vergiftete?

Logan wandte sich erneut seinem Computer zu und tippte ins Suchfeld seines Browsers: »Was essen Greifen?«

»Menschen«, schlug eine Webseite freudig vor. Logan betrachtete Skworp kritisch. Das Junge schien ihm nicht zur Sorte »Menschenfresser« zu gehören.