Dr. Daniel 38 – Santorin auf Rezept

Dr. Daniel –38–

Santorin auf Rezept

Roman von Marie-Francoise

  Langsam schlenderte Maria Heine durch den Park der Hegner-Villa in Grünwald. Seit einem Jahr lebte sie nun schon hier, aber noch immer fühlte sie sich wie eine Fremde. Ihr Blick suchte das Haus, das im Licht der angenehm warmen Märzsonne weiß durch die Bäume schimmerte, dann sah sie auf ihre Armbanduhr und stellte fest, daß sie sich beeilen mußte. Frau Hegner wünschte, daß ihre Gesellschafterin zur Stelle war, wenn sie nach ihrem mittäglichen Schönheitsschlaf im Salon erschien.

  Maria mochte die arrogante, sehr von sich eingenommene Marlene Hegner nicht besonders, und der Grund, warum sie trotzdem noch hier arbeitete, war zum einen das Geld, das sie hier verdiente und mit dem sie ihre Eltern und die sechs Geschwister unterstützen konnte, zum anderen Frau Hegners Ehemann, der großzügige und immer freundliche Ernst Hegner.

  Schon oft hatte sich Maria gefragt, wie zwei Menschen zueinanderfinden konnten, die so verschieden waren wie die Hegners. Eine Antwort darauf hatte sie jedoch nie gefunden.

  Als Maria die Villa nun in der gebotenen Eile betrat, wurde sie von Frau Hegner bereits erwartet.

  »Verzeihen Sie, gnädige Frau«, stieß Maria hastig hervor. »Ich habe einen Spaziergang gemacht und nicht mehr auf die Zeit geachtet.«

  »Wie üblich«, entgegnete Marlene Hegner spitz, was Maria tief erröten ließ. »Nun gut, komm in den Salon, und lies mir etwas vor.«

  Maria beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen. Doch Frau Hegner hatte heute offensichtlich einen besonders schlechten Tag.

  »Was trägst du überhaupt für ein Kleid?« fragte sie, noch bevor Maria sich setzen und nach der Tageszeitung greifen konnte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie schon fort: »Maria, du weißt, daß ich diese flatterhaften Dinger nicht liebe!«

  Das »flatterhafte Ding« war ein knielanges Kleid mit dreiviertellangen Ärmeln und V-Ausschnitt – nicht mehr das modernste Stück, doch es war bequem, und Maria liebte es.

  »Geh nach oben und zieh dich um«, befahl Marlene Hegner streng, dann griff sie demonstrativ an ihre Schläfen und stöhnte leise: »Womit habe ich das nur verdient.«

  Rasch lief Maria ins erste Stockwerk und holte eines der Kleider aus dem Schrank, die sie in Marlene Hegners Beisein hatte kaufen müssen. Es waren allesamt hochgeschlossene Gewänder mit engen, langen Ärmeln und einem Rock, der Maria fast bis zu den Knöcheln reichte. Sie fühlte sich darin, als würde sie im Mittelalter, nicht im zwanzigsten Jahrhundert leben.

  »Na also«, urteilte Frau Hegner, als Maria wieder im Salon erschien. »Damit siehst du doch gleich anders aus.«

  Wahrhaftig, dachte Maria. Häßlicher könnte ich wohl kaum aussehen.

  Sie wußte nicht, daß sie sogar in diesem Aufzug schön war. Die Schlichtheit des Kleides brachte ihr madonnenhaftes Gesicht noch mehr zur Geltung, und das streng nach oben gesteckte, goldblonde Haar ließ sie erwachsen aussehen, obwohl sie erst vor einer Woche zwanzig geworden war.

  Jetzt griff sie nach der Zeitung, blätterte kurz und las dann zuerst den Wirtschaftsteil vor, ehe sie zu Kultur, Literatur und Musik überging. Der Nachmittag lief wie jeden Tag im gewohnten Schema ab. Als Maria mit der Zeitung fertig war, mußte sie sich ans Klavier setzen und eine halbe Stunde spielen – Mozart, Bach, Beethoven. Immer dieselben Stücke, immer dieselbe Reihenfolge. Es waren Marlene Hegners Lieblingsstücke und die einzigen, die Maria auf dem Klavier spielen konnte.

  »Marlene! Die Benachrichtigung der Klinik ist heute gekommen!«

  Ernst Hegners Worte platzten mitten in Beethovens Mondscheinsonate, was von seiner Frau mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln quittiert wurde.

  »Du bist und bleibst ein Banause!« wies sie ihn barsch zurecht. »Hast du denn nicht gehört, daß Maria spielt?«

  »Aber, Liebling, du kennst diese Stücke doch schon in- und auswendig«, wandte Ernst Hegner lächelnd ein, dann reichte er ihr ein mehrseitiges Schreiben. »Gleich nach Ostern wirst du angenommen.«

  Wieder traf Ernst Hegner ein mißbilligender Blick. »Der Brief muß doch schon am Vormittag gekommen sein.«

  Er nickte. »Ja, aber leider hatte ich noch eine Menge zu tun…«

  »Du bearbeitest die Post doch immer vormittags und bringst sie mit, wenn du zum Mittagessen kommst«, unterbrach ihn seine Gattin vorwurfsvoll.

  »Heute ausnahmsweise nicht.« Ernst Hegners Ton war eine Spur entschlossener geworden. Auch Marlene Hegner spürte das und beschloß, die Sache lieber auf sich beruhen zu lassen.

  »Maria, komm bitte her«, befahl sie und fuhr dann fort: »Ich werde nach Ostern einige Schönheitsoperationen vornehmen lassen, und du wirst mich dabei…«

  »Augenblick, Marlene!« fiel Ernst Hegner ihr ins Wort. »Du kannst Maria unmöglich zumuten, dich in die Klinik zu begleiten. Ich vermute, du hast Beschäftigung genug, wenn…«

  »Das solltest du besser meine Sorge sein lassen!« fiel Marlene ihm unwillig ins Wort.

  »Nein«, entgegnete ihr Mann fest. »Maria arbeitet seit einem Jahr bei uns. In dieser Zeit hat sie kaum einmal von ihrem Recht auf einen freien Tag pro Woche Gebrauch gemacht, und auch von ihrem Urlaub hat sie nur zwei Wochen beansprucht, um zu Hause bei der Obst-ernte und beim Einkochen und Einwecken zu helfen. Ich finde, wir sollten Maria während deines Krankenhausaufenthaltes einen schönen Urlaub ermöglichen.«

  Marlene Hegner spürte, daß der Ton ihres Mannes keinen Widerspruch zuließ, so daß sie sich entgegen Marias Erwartung ohne große Umstände fügte.

  »Und was verstehst du unter einem ›schönen Urlaub‹?« wollte sie lediglich wissen.

  Ernst Hegner bedachte Maria mit einem väterlichen, warmherzigen Lächeln, dann wandte er sich seiner Frau zu. »Ich habe an drei Wochen Griechenland gedacht.«

  »Drei Wochen Griechenland?!« kreischte Marlene Hegner entsetzt, doch noch bevor sie ihrer Empörung über diese ihrer Meinung nach völlig unangebrachte Großzügigkeit Ausdruck verleihen konnte, mischte sich Maria ein. »Das kann ich unmöglich annehmen, gnädiger Herr.«

  »Das mußt du sogar annehmen, Maria«, entgegnete er mit Nachdruck. »Wir haben uns zeitlebens eine Tochter gewünscht, und zumindest für mich bist du im vergangenen Jahr so etwas wie eine Tochter geworden – eine so wohlerzogene, anständige Tochter, wie wir sie uns nicht besser hätten wünschen können. Und aus diesem Grund wird mich nichts und niemand davon abbringen, dir diesen Urlaub zu schenken.«

*

  Die folgenden Wochen wurden die aufregendsten in Marias Leben. Nach einer gründlichen »Inspektion« ihres Kleiderschrankes hatte Ernst Hegner spontan beschlossen, die Gesellschafterin seiner Frau neu einzukleiden.

  »In diesen verstaubten Gewändern kannst du dich wirklich nirgends sehen lassen«, meinte er mit einem verächtlichen Blick auf die hochgeschlossenen, schweren Kleider.

  Damit sprach er Maria aus dem Herzen, doch als er sie in eines der exklusivsten Geschäfte Münchens begleitete, wurde das junge Mädchen schrecklich verlegen.

  »Hier ist es doch viel zu teuer, Herr Hegner«, flüsterte sie ihm hastig zu. Wenn seine Frau nicht dabei war, dann durfte sie auf die förmliche Anrede »gnädiger Herr« verzichten, besser gesagt, Ernst Hegner verlangte sogar, daß sie darauf verzichtete. Er legte nämlich im Gegensatz zu seiner affektierten Frau keinerlei Wert darauf. »Wir könnten doch genausogut in einem der vielen Kaufhäuser…«

  »Kommt überhaupt nicht in Frage!« widersprach Ernst Hegner entschlossen. »Du brauchst eine Garderobe, mit der du dich sehen lassen kannst. Schließlich habe ich für dich ein Fünf-Sterne-Hotel gebucht – da mußt du auch passend gekleidet sein.« Als er Marias immer noch sehr erschrockenen Blick sah, legte er mit einer väterlichen Geste einen Arm um ihre Schultern. »Ach, Mädchen, was sollte ich denn sonst mit dem vielen Geld anfangen? Es macht mir doch Freude, dir etwas zu schenken, wenn mir schon eigene Kinder versagt geblieben sind.«

  Da tat er Maria plötzlich leid. Obwohl er im Begriff war, für sie so viel Geld auszugeben, daß ihre Eltern und Geschwister bestimmt zwei Monate lang sorgenfrei hätten leben können, fühlte sie Mitleid mit dem steinreichen Ernst Hegner. Im Grunde war er weit ärmer als Marias Familie.

  »Madame Duval, zeigen Sie meiner Tochter bitte das Schönste, was Sie auf Lager haben. Sie macht demnächst Urlaub in Griechenland.«

  Ernst Hegners Worte an die Chefin des Hauses rissen Maria aus ihren Gedanken, und dann glaubte sie sich in einen Traum versetzt, denn was Madame Duval ihr an Badeanzügen, Strandkleider, Abendgarderobe und den gängigen Tageskleidern vorführen ließ, konnte unmöglich Wirklichkeit sein. Als das letzte Mannequin verschwunden war, schüttelte Maria fassungslos den Kopf.

  »Wie soll ich mich da nur entscheiden?« Ihr Gesicht war von einer rührenden Ratlosigkeit. »Es waren so viele… und alle sind so schön…«

  »Was heißt entscheiden?« entgegnete Ernst Hegner, dann lachte er auf. »Wir nehmen alle!«

  Maria glaubte nicht recht zu hören.

  »Aber das ist doch viel zu teuer«, protestierte sie flüsternd. »Herr Hegner… das… das waren doch mindestens…«

  »Alle fünfzehn Modelle«, erklärte Madame Duval mit einem strahlenden Lächeln, dann wandte sie sich Maria zu. »Kommen Sie, meine Liebe, wir wollen Maß nehmen.«

  »Maß nehmen?« wiederholte Maria verblüfft. »Aber…« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Sollten diese traumhaft schönen Kleider aus den erlesensten Stoffen denn tatsächlich exakt nach ihren Maßen angefertigt werden? Sie fühlte sich wie in einem Märchen, konnte aber nicht verhindern, daß etwas wie schlechtes Gewissen in ihr aufstieg. Da wurde sie über alle Maßen verwöhnt, während ihre Eltern in ständiger Sorge lebten, weil sie oft nur mit Mühe das Nötigste für ihre Kinder beschaffen konnten.

  Und während Madame Duval mit zwei Schneiderinnen um Maria herumturnte, lief vor ihrem geistigen Auge ihre Kindheit ab. Diese vielen entbehrungsreichen Jahre im Schoß einer intakten Familie! Die Ferien, die sie nicht auf Urlaubsreisen im Ausland verbracht hatte, sondern zusammen mit den Eltern und Geschwistern im heimatlichen Garten beim Ernten des Gemüses und beim Pflücken von Johannisbeeren, Kirschen, Äpfeln und

Zwetschgen. Und sie glaubte noch den Duft zu spüren, wenn die Mutter in der Küche gestanden, Marmelade eingekocht und Kompott eingeweckt hatte. Sogar das Gemüse war damals noch in Weckgläsern aufbewahrt worden. Erst jetzt, seit Maria bei den Hegners lebte und arbeitete und mit einem Großteil ihres Verdienstes die Eltern unterstützte, hatte sich die Familie Heine einen kleinen Gefrierschrank leisten können. Und Maria war glücklich, weil sie wußte, daß ihre Mutter sich nicht mehr so abrackern mußte wie früher.

  »Maria, träumst du?«

  Ernst Hegners Worte rissen sie in die Gegenwart zurück. Lächelnd sah sie zu ihm auf.

  »Ja«, gab sie zu. »Ich habe tatsächlich geträumt – von meiner Kindheit.«

  Liebevoll tätschelte Ernst Hegner ihre Hand. »Du armes Ding hattest es ziemlich schwer, was?«

  »Ja und nein«, antwortete sie. »Trotz aller Mühen und der vielen Arbeit, die ich schon als Kind zu bewältigen hatte, war es eine schöne Zeit. Können Sie sich vorstellen, wie ich mich als Zwölfjährige noch über eine kleine Puppe freuen konnte, die ich mir jahrelang gewünscht hatte und von der ich wußte, daß meine Mutter sie sich von ihrem Haushaltsgeld mühsam abgespart hatte?«

  Sehr ernst sah Ernst Hegner sie an. »Nein, Maria, das kann ich mir nicht vorstellen – leider. Ich wünschte, ich hätte mich ein einziges Mal über ein Geschenk so freuen können.« Dann blickte er sinnend an ihr vorbei. »Vielleicht hast du recht… vielleicht warst du in deiner entbehrungsreichen Kindheit glücklicher, als ich es mit meinem Reichtum jemals sein werde.« Rasch schüttelte er diese trüben Gedanken von sich ab und lächelte Maria an. »Freust du dich über die schönen Kleider, die du bekommen wirst?«

  Maria nickte strahlend. »Und wie ich mich freue! So etwas habe ich noch nie besessen, und auch von einem Urlaub im Ausland habe ich bisher nur träumen können.« Sie wurde ernst. »Sie verwöhnen mich viel zu sehr, Herr Hegner.«

  Da schüttelte er den Kopf. »Nein, mein Kind, ich genieße es nur, einmal für ein paar Wochen eine Tochter zu haben.«

*

  In der Villa von Dr. Robert Daniel fand an diesem Morgen das traditionelle Osterfrühstück statt, und dieses Jahr war es eine große Runde, die um den festlich gedeckten Tisch im Eßzimmer saß. Aus Freiburg war seine Tochter Karina angereist, und ihr Verlobter Jean Veltli hatte extra sein geplantes Klavierkonzert auf den nächsten Tag verlegt, um Karina begleiten zu können. Dr. Daniels Sohn Stefan, der in der Steinhausener Waldsee-Klinik als Assistenzarzt arbeitete, hatte sich vom dortigen Chefarzt für diesen Vormittag freistellen lassen. Ab Mittag würde er Sonntagsdienst ha-

ben. Darüber hinaus hatte Dr. Daniel dieses Jahr auch die Steinhausener Allgemeinmedizinerin Dr. Manon Carisi eingeladen, mit der ihn nicht nur eine gute Freundschaft verband, sondern seit kurzem auch eine gemeinschaftliche Praxis.

  Angesichts dieser Schar von Gästen hatte sich Dr. Daniels ältere, verwitwete Schwester Irene Hansen, die ihm hier in Steinhausen den Haushalt führte, zu einer wahren Flut an Köstlichkeiten hinreißen lassen.

  »Meine Güte, da weiß man ja gar nicht, wo man anfangen soll«, erklärte Manon.

  Dr. Daniel lächelte. »Ich würde dir raten, erst mal das Geräucherte vom Gröber-Bauern zu versuchen. Dazu den Meerrettich, den Irene selbst gemacht hat. Eine Delikatesse, das kann ich dir versprechen.«

  »Und als Nachtisch mußt du Tante Irenes Osterfladen probieren«, fügte Stefan hinzu. »Das ist ihre ganz besondere Spezialität. Einen besseren findest du in ganz Steinhausen und Umgebung nicht.«

  »Du übertreibst maßlos, Stefan!« erklärte Irene, errötete aber doch ein bißchen vor Stolz über dieses Lob.