978-3-401-80171-1.tif

Autor

Mirjam Mous,
geboren 1963, arbeitete als Sonderschullehrerin, bevor sie hauptberuflich
Schriftstellerin wurde. Sie schreibt Bücher für Kinder und Jugendliche
und ist besonders bekannt für ihre mitreißenden Thriller.

Titel

Mirjam Mous

Password

Zugriff für immer verweigert

Aus dem Niederländischen
von Verena Kiefer

Arenaneu.tif

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012
© für die deutsche Ausgabe 2012 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel
»Password«
bei Van Holkema & Warendorf, Houten.
© 2012 Van Holkema & Warendorf/Unieboek The Netherlands
Alle Rechte vorbehalten
Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer
Covergestaltung: Frauke Schneider
ISBN 978-3-401-80171-1
www.arena-verlag.de
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Teil 1: Wie es begann

I have a bad feeling about this
(Star Wars Episode 1, The Phantom Menace)

1.

Die unerklärlichen Ereignisse begannen am Samstag, dem elften Mai, kurz nach zwei Uhr am Nachmittag. Mick stand im Badezimmer und pinkelte. Er war bei Jerro, seinem besten, oder besser gesagt, seinem einzigen Freund. Jerro hatte nicht nur ein eigenes Klo, sondern auch eine Badewanne, eine Dusche und zwei Waschbecken mit einem gewaltigen Spiegel. Anfangs hatte Mick das total seltsam gefunden: ein Schlafzimmer mit angrenzendem Privat-Badezimmer für einen Jungen, der noch zu Hause wohnt. Aber man gewöhnt sich an alles. Sogar an die eingebauten Lautsprecher – so konnte man zur Musik pinkeln.

Mick nickte im Takt des mitreißenden Rhythmus und summte mit. Plötzlich sang Christian Burns mitten in keeps me breathing through the storm deutlich lauter. Vermutlich hatte Jerro das Radio noch weiter aufgedreht.

Sympathisch, fand Mick. Während er noch die letzten Tropfen abschüttelte, drückte er schon die Spültaste. Dann knöpfte er sich die Hose zu und betrat das Schlafzimmer.

Jerro lag bäuchlings auf dem Bett. Sein Kopf war seitwärts gedreht und seine rechte Wange ruhte auf der Bettdecke. Gerade hatte er noch gelesen, aber jetzt hielt er die Augen geschlossen. Das machte er öfter, wenn er konzentriert zuhören wollte. Um ihn nicht zu stören, lehnte sich Mick an die Wand und wartete, bis The light between us zu Ende war. Gleich darauf dröhnte die neue Single von Jan Smit durch das Zimmer.

Die Schnulzbacke war echt nicht zum Aushalten!

Mick löste sich von der Wand, hielt sich die Ohren zu und ging zu Jerro. »Jan greift an! Jan greift an!«, rief er und tat dabei, als hätte er heftigste Schmerzen.

Jerro reagierte nicht, nicht einmal mit einem unterdrückten Lachen. Er blieb regungslos liegen, als wäre er bewusstlos.

Ein Scherz natürlich.

Wirklich?, flüsterte eine beunruhigte Stimme in Micks Gehirn. Sicherheitshalber schüttelte er Jerro an der Schulter, erst leicht, dann immer fester, bis er schließlich verzweifelt mit beiden Händen an Jerro rüttelte und über den nervtötenden Lärm der Musik hinweg brüllte: »Hör auf, das ist nicht mehr witzig!«

Es half nicht im Geringsten. Mick hätte genauso gut einen Sack Kartoffeln schütteln können. Eine ganze Lawine beunruhigter Stimmen löste sich und schoss durch seinen Kopf. Dann ergriff ihn die Panik.

Er rannte aus dem Zimmer. Zumindest versuchte er das, aber seine Beine hatten sich in Teig verwandelt, er konnte nur noch stolpern. Er riss die Tür auf und schleppte sich nach draußen auf den Treppenabsatz. »Herr Prins, Frau Prins!«

Trottel. Die waren doch nicht da.

»Kasia! Alfred! Wer auch immer!«

Er schaute über das Geländer, sah aber niemanden in der riesigen Diele.

»Kommt schnell! Es ist was mit Jerro!«, rief er jetzt noch lauter.

Noch immer keine Reaktion. Zum ersten Mal in seinem Leben hasste Mick das Haus von Familie Prins. Wenn jemand bei ihm zu Hause pupste, konnte man das buchstäblich bis zum Speicher hören. Aber in diesem Palast mit seinen hohen Decken, breiten Fluren und geräumigen Zimmern war jedes Geräusch wie ein Stein, der auf ein Kissen fiel.

Es half übrigens auch nicht gerade, dass Jan Smit noch immer weiterplärrte.

Auf noch immer teigigen Beinen ging Mick ins Schlafzimmer zurück.

Ruhig bleiben. Kühlen Kopf bewahren. Erst mal musste er dieses dämliche Radio zum Schweigen bringen.

Mit einem Druck auf die Taste war das erledigt. Dann stand er wieder am Treppengeländer.

»Jetzt hilf mir doch mal einer!«, schrie er fast verzweifelt.

Die Diele blieb weiterhin wie ausgestorben.

Was sollte er nur machen? Wenn er Hilfe holte, würde er Jerro allein lassen müssen. Und wer weiß, wie lange es dauerte, bis er jemanden gefunden ha…

Anrufen! Er konnte einen Rettungswagen rufen!

Mick tastete in der Hosentasche nach seinem Handy.

Nicht da!

Zum zweiten Mal ging er ins Schlafzimmer zurück. Jerro lag noch immer unverändert auf dem Bett. Mick überkam ein Brechreiz. Wo war dieses verflixte Telefon?

Der Schreibtisch! Hastig schob er Bücher und Hefte zur Seite. Manche fielen mit einem Knall zu Boden. Jerros Kalender. Aber kein Telefon. Mick ließ seinen Blick durchs Zimmer schweifen. Boden, Schrank, Wand. Dort! Auf der Fensterbank!

Seine Hand war klamm vor Schweiß.

Eintippen. Erst die 1…

Sein Zeigefinger schien einem anderen zu gehören. Ein unwilliger Körperteil, den er fernsteuern musste.

Noch einmal die 1.

Plötzlich tauchte Kasia, die polnische Haushälterin, in der Tür auf. Wie immer war sie auf einmal da – wahrscheinlich trug sie Spezialschuhe mit geräuschlosen Sohlen, denn man hörte sie nie kommen.

Mick weinte fast vor Erleichterung. »Jerr…« Mit einem Kopfnicken wies er zum Bett. »Ich rufe die 112.«

Augenblicklich zog Kasia Mick das Telefon aus der Hand. »Ich rufe an. Du sag Carl, Tor aufmachen.«

Mick musste kurz umschalten und blieb einen Moment reglos stehen.

Kasia setzte sich auf das Bett und fühlte Jerros Puls. Das Telefon hatte sie geschickt zwischen Schulter und Ohr geklemmt, so konnte sie unterdessen die Rettungszentrale informieren. Sie nannte Jerros Namen, sein Alter und die Adresse. »Lebt noch, schneller Herzschlag, sehr krank. Rettungswagen soll schnell kommen …«

Mick hätte sich schlagen können – gleich stand der Wagen am Tor und es war immer noch zu!

Er rannte aus dem Zimmer. Eile und Aufregung passten nicht gut zusammen. Er nahm die Kurve auf dem Treppenabsatz zu eng und stieß sich die Schulter am Türpfosten, rutschte fast von der Treppe und wollte durch die Haustür, bevor er sie weit genug geöffnet hatte.

Draußen schien die Sonne, als wäre nichts passiert. Mick rannte über das frisch gemähte Gras, am rechteckigen Teich mit den Koikarpfen vorbei und die Auffahrt hinunter. Der Kies knirschte unter seinen Schuhen. Er war kein athletischer Typ. Sein Herz wummerte und er hörte sich keuchen. Zum Glück machte der Weg schon bald eine Rechtskurve. Er rannte um die Koniferen herum und das Pförtnerhäuschen kam in Sicht.

Carl hatte ihn anscheinend kommen sehen, denn er wartete schon davor.

»Es ist was mit Jerro!«, rief Mick. »Wir haben einen Krankenwagen gerufen. Mach das Tor schon mal auf, dass er gleich durchfahren kann!«

Carl verschwand im Häuschen und wenig später schob sich das riesige elektronisch gesteuerte Tor zur Seite. Als Mick es zum ersten Mal gesehen hatte, war ihm sofort der Name Stargate in den Sinn gekommen. Ging man durch das Tor, verließ man die normale menschliche Welt und betrat die Welt der Sterne. Na ja, nicht dass man Jerros Eltern aus Film und Fernsehen kennen würde oder so, aber das Unternehmen von Herrn Prins war ziemlich berühmt und deswegen schwammen sie wie echte Hollywoodstars im Geld.

Mick betrat die Normalwelt und spähte die Straße hinunter. Carl stellte sich schweigend neben ihn, die Füße breit auseinander und unverrückbar. Seine Ausstrahlung war durch und durch unfreundlich, aber vermutlich nur, um eventuelle Eindringlinge abzuschrecken.

Mick presste die Fingernägel in die Handflächen. Wo blieb der Rettungswagen bloß?

Trotz der warmen Sonnenstrahlen auf seinem Rücken wurde ihm kalt. Was war mit Jerro passiert, während er im Badezimmer gewesen war? Kurz davor schien noch alles in Ordnung gewesen zu sein. Jerro hatte sich nicht schlecht oder krank gefühlt. Konnte man denn einfach so …?

Mick dachte an einen Comic, den er gerade gelesen hatte. Über außerirdische Spinnen, die einem heimlich unter die Kleidung krochen und alles Leben aussogen.

In der Ferne ertönte eine Sirene.

Endlich!

Mick lief schon mal die lange Auffahrt wieder hoch. Er musste sich beeilen, damit er rechtzeitig an der Haustür war und den Rettungsleuten den Weg zeigen konnte.

Das Gesicht des Fahrers ließ Mick an eine Mondlandschaft voller Krater denken und der Sanitäter hatte so große Hände, dass er eher wie ein Bauarbeiter wirkte.

»Ich bringe euch zu Jerros Zimmer«, sagte Mick.

Wenig Chance. Kasia stand schon in der Halle und übernahm die Regie.

»Kommen Sie.« Wie ein Verkehrspolizist winkte sie mit beiden Armen. »Schnell, kommen Sie.«

Mondkrater und Pranke gingen mit der Trage die Treppe hinauf. Mick wollte ihnen folgen, aber Kasia kommandierte: »Du hier bleib.«

Micks Erleichterung wich dem Ärger. Hallo? Er hatte Jerro gefunden. Er war sein Freund. Dann wurde ihm aber bewusst, dass Jerro es nicht wirklich merken würde, ob er dabei war oder nicht.

Außer wenn er gleich zu sich kam, dann schon!

»Ich will mit ins Krankenhaus«, sagte Mick, sobald sie mit Jerro auf der Trage vorsichtig die Treppe hinunterkamen.

»Gehörst du zur Familie?«, fragte Mondkrater.

»Nein, das nicht, aber …«

»Im Rettungswagen dürfen nur Angehörige mitfahren«, sagte Pranke.

Tränen juckten hinter Micks Augen. »Aber seine Eltern sind das ganze Wochenende über weg. Wenn ich nicht mitdarf, ist Jerro nachher ganz allein, wenn er wieder zu sich kommt.«

»Tut mir leid. Regeln sind Regeln.« Pranke lächelte wie Herr Buiks, der Mathelehrer, wenn Mick eine Aufgabe nicht verstand. »Aber ich verspreche dir, dass wir gut für ihn sorgen werden.«

Kasia legte ihre schlanke Hand auf Micks molligen Arm. Das beruhigte ihn gerade so weit, dass er nicht explodierte.

Jerro wurde ins Freie gerollt und in den Rettungswagen geschoben. Die Türen knallten zu. Micks Blick fiel auf das Nummernschild. Die letzte Buchstabenkombination war MS. Mick Schipper, dachte er automatisch. Dann vergaß er es sofort wieder.

Die Männer stiegen ein und die Sirene heulte auf. Die Räder wühlten sich tief in den Kies, Steinchen spritzten und dann fuhren sie mit einem Affenzahn davon.

Kasia schloss die Haustür. Nach all dem Lärm und der Aufregung von eben schien es plötzlich ohrenbetäubend still in der Halle zu sein.

»Du besser nach Hause gehen«, sagte Kasia dann. »Ich Herrn und Frau Prins rufe an.«

Mick nickte, aber er hatte andere Pläne. Jerros Eltern waren in London. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie im Krankenhaus sein konnten. Zum Glück war er am Morgen mit dem Fahrrad gekommen. Wenn er kräftig in die Pedale trat, konnte er in einer Viertelstunde bei Jerro am Bett sitzen.

Das Krankenhausgebäude bestand aus grauen Steinen und jeder Menge Glas. Der Eingang war komplett verglast und hatte eine Drehtür, die sich aufreizend langsam bewegte. Mick wich einem Mann mit Krücken aus und eilte zum Informationsschalter. Hinter einem Bildschirm saß eine Frau. An ihrem rechten Schneidezahn funkelte ein kleiner Diamant.

»Hallo«, sagte sie. »Kann ich dir helfen?«

»Mein Freund wurde gerade mit dem Rettungswagen hier eingeliefert.« Mick war noch außer Atem vom Radfahren. »Jerro Prins. Ich wüsste gern, wie es ihm geht.«

»Hm.« Sie tippte etwas in ihren PC. »Jerro Prins, sagtest du?«

»Ja.« Mick nickte, dass ihm fast der Kopf abfiel.

»Tut mir leid, aber bei uns wurde niemand mit diesem Namen eingeliefert.«

2.

Micks Gedanken schwammen immer dieselbe Runde. Das konnte nicht wahr sein. Es gab nur ein einziges Krankenhaus in der Stadt. Und das hatte auch keine Zweigstelle.

»Würden Sie bitte noch einmal nachschauen?«, fragte er heiser. »Jerro Prins. Er ist so alt wie ich. Fünfzehn. Ich war dabei, als er abgeholt wurde.«

Die Frau schaute wieder in ihren Computer. »Tut mir leid.«

Micks Knie waren weich. Er suchte Halt am weißen Kunststofftresen.

»Ich frage noch in der Notaufnahme nach. Manchmal herrscht da so ein Chaos …« Sie brachte ihren Satz nicht zu Ende und nahm den Hörer.

Mick drückte im Stillen die Daumen, aber als sie auflegte, konnte er es schon an ihrem Gesicht ablesen.

»Ich habe wirklich alles überprüft. Leider kann ich dir nicht weiterhelfen.« Sie sog an ihrer Lippe. »An deiner Stelle würde ich mit den Eltern von deinem Freund Kontakt aufnehmen. Vielleicht liegt er in einem anderen Krankenhaus.«

Mick wagte es nicht, noch etwas zu sagen. Er befürchtete, sofort in Tränen auszubrechen, was in einer Halle voller Zuschauer ein ziemlich schlechter Abgang wäre. Also nickte er nur und ging angeschlagen nach draußen.

Warum lag Jerro nicht im Krankenhaus?

Mick öffnete sein Fahrradschloss und versuchte sich unterdessen an logischen Erklärungen. Vielleicht hatte der Rettungswagen unterwegs einen Platten bekommen. Oder einen Motorschaden. Obwohl – Fahrzeuge von Hilfsdiensten wurden natürlich ständig überprüft und gegengecheckt. Nein, dann war es wahrscheinlicher, dass sie einen Unfall gehabt hatten. Ein anderer Verkehrsteilnehmer, der bei Grün über eine Ampel fuhr und die Sirene nicht hörte. Der Rettungswagen, der plötzlich auftauchte …

Während Mick auf dem Rad saß, rollte in seinem Kopf ein Horrorszenario nach dem anderen über die Bühne. Jerro, der aus einem Autowrack geschnitten werden musste. Eine Autoentführung, bei der es die Diebe nicht auf den Wagen, sondern auf Jerro abgesehen hatten, um anschließend einen Haufen Lösegeld von seinen Eltern zu verlangen. Eine Entführung durch Außerirdische, vermummt als Krankenhauspersonal …

Trotz seiner Sorgen musste Mick lachen. Solche Fantasien hatte man, wenn man so viele SF-Filme anschaute wie er. Er sollte lieber die Festnetznummer von Jerros Eltern anrufen und Kasia fragen, ob sie mittlerweile schon mehr wüsste. Seine Hand fuhr in die Hosentasche.

Oh nein. Sein Handy lag noch in Jerros Zimmer. Kasia hatte es ihm nicht zurückgegeben und er selbst hatte auch nicht mehr daran gedacht. Er musste warten mit dem Anrufen, bis er zu Hause war.

Mick trat fester in die Pedale. Es war lange her, dass er sich so verausgabt hatte. Eigentlich hasste er jegliche Form körperlicher Anstrengung. Sein Körper war nicht dafür gemacht. Wenn er rannte, scheuerten seine dicken Oberschenkel gegeneinander. Außerdem bekam er immer so seltsame rote Flecken ins Gesicht, als hätte ihn jemand mit der flachen Hand auf die Wangen geschlagen. Und als würde das noch nicht reichen, mussten sie während des Sportunterrichts auch noch diese lächerlichen kurzen Hosen anziehen. Hosen, die sich spindeldürre Sportlehrer mit ADHS ausgedacht hatten, um Jungen wie Mick zu quälen.

Was war gegen einen Trainingsanzug einzuwenden?

Da war schon die Bosporuslaan. Mick bog um die Ecke und fuhr auf den Bürgersteig. Sofie arbeitete samstags bei H & M und würde erst spät nach Hause kommen. Seine Mutter war offensichtlich schon zurück von ihrem Besuch bei Oma – zumindest stand der rote Peugeot in der Einfahrt.

Er sprang vom Rad und parkte es seitlich am Haus. Die Hintertür stand offen.

»Du bist schon da?« Seine Mutter hatte ihre Jacke noch nicht abgelegt. Sie sah Mick forschend an. Manche Menschen können aus der Hand lesen, aber sie las alles vom Gesicht ab. »Ist was?«

»Jerro.« Auf einmal merkte Mick, wie müde er war. Er ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und beugte sich vor, bis sein Kopf die Tischplatte berührte. Er versuchte, nicht zu weinen, aber viel fehlte nicht.

»He.« Seine Mutter drückte kurz seine Schulter. »Was es auch ist, es wird bestimmt wieder gut.«

Warum wollen Erwachsene einen immer beruhigen, als wäre man noch ein Kleinkind?

»Woher willst du das denn wissen?« Mick tat seine heftige Reaktion sofort leid. Seine Mutter konnte schließlich nichts dafür, dass Jerro im Krankenhaus lag.

Wenn er denn dort lag.

Mick wollte aufstehen. »Ich muss anrufen.«

Seine Mutter drückte ihn auf den Stuhl zurück, setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine. »Jetzt erzähl erst mal in Ruhe, was los ist.«

Mick fing an zu reden. Nicht ruhig, sondern schnell. Ständig stolperte seine Zunge über die Worte. Von Jerro. Von der Frau am Informationsschalter, die behauptete, er sei nicht eingeliefert worden.

»Und jetzt …«

»Ich rufe mal an.« Seine Mutter zog ihr Handy aus der Jackentasche und suchte im Telefonbuch. »Kasia, bist du das? Hier ist Micks Mutter. Wie möchten gern wissen, wie es Jerro geht.«

Mick sah seine Mutter an. Wie sie nickte und sich eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr strich. Sie sah nicht übertrieben beunruhigt aus.

»Aber er ist ins Krankenhaus gefahren und Jerro war nicht da«, sagte sie nach einer Weile.

Mick setzte sich aufrechter hin.

»Doch?« Sein Mutter schwieg wieder kurz. »Vielleicht hat er es dann falsch verstanden.«

»Was?« Mick bekam große Lust, ihr das Telefon aus der Hand zu reißen.

»Jerro ist ganz normal aufgenommen worden.« Sie schrieb mit einem unsichtbaren Kuli in die Luft.

Mick sprang schon auf, um Papier und Stift zu suchen.

»Abteilung Ost«, sagte seine Mutter. »Zimmer zwei-null-vier.«

Mick notierte die Nummer. »Ich werde ihn sofort besuchen.«

»Morgen erst?«, fragte Micks Mutter. »Aber wer ist denn bei ihm? Seine Eltern sind doch …« Sie gab ein verstehendes Brummen von sich. »Gut. Ich werde es ausrichten. Tschüss, Kasia.« Sie legte das Telefon auf den Tisch.

»Bringst du mich mit dem Auto hin?«, fragte Mick.

»Morgen.« Seine Mutter stand auf und zog die Jacke aus. »Jerro ist jetzt noch zu schwach, um Besuch zu empfangen. Sie vermuten eine Lebensmittelvergiftung. Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, er ist in guten Händen. Laut Auskunft der Ärzte spricht er gut auf die Behandlung an.«

Morgen erst.

»Aber das dauert noch so lange!«, sagte Mick verzweifelt. »Ich bin sicher, er fände es schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Seine Eltern sind auch nicht da und …«

Seine Mutter seufzte. »Ich weiß es, Schatz. Es ist alles ganz blöd. Aber im Krankenhaus wissen sie bestimmt am besten, was für Jerro gut ist.«

Mick unterdrückte das Bedürfnis, irgendwo gegenzutreten. Wäre er bloß nicht so ungeduldig gewesen. Er hätte einfach in der Eingangshalle des Krankenhauses warten sollen, um sich später noch einmal am Schalter zu informieren. Dann wäre Jerro doch noch aufgetaucht und er hätte jetzt höchstwahrscheinlich bei seinem Freund sein können.

»Kopf hoch, mein Junge.« Seine Mutter strich ihm durch die Haare.

Mick war ziemlich angesäuert und wich aus. »Bin kurz weg«, brummte er.

»Du gehst nicht zu Jerro«, mahnte seine Mutter.

»Nur zu ihm nach Hause. Mein Handy abholen.« Mick schlug die Hintertür mit einem Knall hinter sich zu.

Es war seltsam, allein in Jerros Zimmer zu sein. Mick sammelte die Bücher und Hefte auf, die er früher an diesem Nachmittag vom Schreibtisch geschubst hatte. Sein Handy fand er auf dem Bett und steckte es ein. Am Kopfende lag auch noch das aufgeschlagene Comicheft. Er sah wieder vor sich, wie Jerro am Nachmittag auf dem Bauch liegend gelesen hatte: auf den Ellbogen gestützt, das Kinn auf den Händen. Mick würde so schon nach wenigen Minuten Nacken- oder Rückenschmerzen bekommen, aber Jerro konnte diese Haltung problemlos eine Stunde durchhalten. Zumindest bis heute.

In der linken Seite des Heftes war ein Knick. Wahrscheinlich hatte sich Jerro aus Versehen daraufgelegt, als er bewusstlos wurde.

Mick nahm den Comic und strich über das Papier. Das würde Jerro bestimmt nicht gut finden. Er bewachte seine Comicsammlung wie Goldbarren. Nur Mick lieh er manchmal ein Heft aus. Eine echte Ehre, aber auch eine Last, denn Jerro sagte immer dazu: »Ich schieße dich auf den Mond, wenn ich es nicht heil zurückbekomme.«

»Ach«, antwortete Mick dann. »Es gibt blödere Orte, an die man geschossen werden könnte.«

Er schloss das Heft. Legte es auf den Schreibtisch und stapelte andere Bücher darauf, in der Hoffnung, den Knick so zu glätten. Währenddessen dachte er an die Frau am Infoschalter. Sie hat sich einfach geirrt, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Aber das unangenehme Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmte, blieb in seinem Magen.