Buchcover

Franz Maciejewski

Freud in Maloja

Die Engadiner Reise
mit Minna Bernays

Saga

Einleitung

»Journeys end in lovers meeting. Every wise men’s son doth know«

Shakespeare, Was ihr wollt

(2. Akt, 3. Szene)

Folgt man der Julierstraße im Lande Bünden bis nach Maloja (oder Maloggia) – jener Schwelle zwischen Italien und der Schweiz, an der das Engadiner Hochtal jäh ins Bergell abfällt –, so stößt man nach einer langgezogenen Kurve inmitten des Dorfes auf ein eindrucksvolles Gebäude: das Hotel Schweizerhaus. Der im Chaletstil errichtete Bau, der den Charme des Alten wie den Anspruch des Neuen gleichermaßen verkörpert, birgt ein Geheimnis – die Geschichte der verbotenen Liebe Sigmund Freuds zu seiner Schwägerin Minna Bernays.

Freud hat die beiden Bernays-Schwestern Minna und Martha Anfang der 80er Jahre in Wien kennengelernt, wohin die Hamburger Kaufmannsfamilie nach einem wirtschaftlichen Bankrott gezogen war. Minna verlobt sich mit 17 Jahren, noch vor ihrer um vier Jahre älteren Schwester Martha (der nachmaligen Frau Freud), mit Ignaz Schönberg; aber auf der Beziehung liegt ein Schatten. Schönberg, Student der Indologie, ist krank und stirbt 1886 an Tuberkulose. Nach dem Tod des älteren Bruders Isaak (1872) und dem des Vaters Berman (1879) ist dies der dritte Verlust eines nahen männlichen Angehörigen, den Minna zu verkraften hat. Schönberg verliert sie sogar zweimal: Der Schwerkranke löst ein Jahr vor seinem Tod die Verlobung auf. Minna ist 20 Jahre alt – und wird für den Rest ihres Lebens ledig bleiben.

Im Herbst 1896 nimmt Freud die temperamentvolle und attraktive Schwester seiner Frau in seine Wiener Wohnung Berggasse 19 auf. Eine Ménage à trois nimmt ihren Lauf. Minna, deren postalische Adresse »Frl. Minna Bernays bei Dr. Freud« lautet, erwirbt sich rasch in Fragen der Haushaltsführung und Kindererziehung die gleichen Rechte wie ihre Schwester. Anders als Martha avanciert sie zudem – was Freuds klinische Arbeit und wissenschaftliche Forschung anbetrifft – neben dem Berliner Freund Wilhelm Fließ zu dessen »nächster Vertrauten«. Nach und nach unternimmt Freud (von den beiden Frauen nur »Sigi« genannt) mit »der lieben Minnie« (oder auch »Minnig«) erste kleinere Landpartien; es folgt ein Wochenende in Salzburg. Im August 1898 brechen der damals 42-jährige Sigmund und die um 9 Jahre jüngere Minna schließlich zu ihrer ersten gemeinsamen Ferienreise auf, der im Laufe der nächsten Jahre weitere folgen sollten. Über Südtirol und Norditalien fahren sie ins Schweizerische Engadin, wo sie am 13. August in Maloja Station machen. »Wir sind in einem bescheidenen Schweizer Haus abgestiegen«, schreibt Freud von dort an seine Frau Martha. Gemeint ist das Hotel Schweizerhaus, das in Freuds Baedeker noch als Osteria vecchia geführt wird und sich rühmen darf, den Begründer der Psychoanalyse und seine Begleiterin drei Tage (und zwei Nächte) lang beherbergt zu haben.

Wer heute das Hotel aufsucht, vermisst vielleicht eine Marmortafel, auf der das Logis des berühmten Mannes festgehalten wäre. Aber der Direktor, Herr Wintsch, wird dem interessierten Gast gewiss das »Freud-Zimmer« zeigen und auf Nachfrage den handschriftlichen Eintrag Freuds in das altehrwürdige Gästebuch des Hotels. Übertrüge man diese Zeilen auf jene imaginäre Gedenktafel, so wäre dort zu lesen: »Hier wohnte im August 1898 Dr. Sigm. Freud und Frau.« So geschrieben wie gelesen entpuppt sich der Hoteleintrag unversehens als Schriftan-der-Wand. So stimmt es also, was eine Nichte Freuds, sehr viel später in einem Interview darauf angesprochen, bemerkte: Man habe sich in der Familie »das Maul zerrissen« und böse Zungen hätten von einer »zweiten Frau« Sigmunds gesprochen? Doch was genau steckt hinter der Verwandlung des »Fräulein Minna Bernays« in »Frau Freud«? Würden wir der psychoanalytisch einzig triftigen Antwort wiederum die Form einer Inschrift geben, so müsste auf der Tafel stehen: »Hier enthüllte am 13. August 1898 Dr. Sigm. Freud das Geheimnis seiner Libido.«

Beskrivelse i billedtekst

Das Hotel Schweizerhaus heute

Die Entdeckung des ominösen Hoteleintrags, die Freud der Gestalt des Ödipus, des phallischen Helden der griechischen Sage, nicht, wie üblich, in schöngeistiger sondern in sehr leibhaftiger Weise annähert, gelang 2006. Doch die Freudforschung hat den Rätselspruch der Sphinx schon sehr früh als »Minna-Frage« (Peter Gay) wahrgenommen: Hatte Freud ein intimes Verhältnis zu der Schwester seiner Frau oder nicht? Ernest Jones, der offizielle Freud-Biograph, sah sich genötigt, von umlaufenden Gerüchten über Freuds Eheleben zu berichten, dementierte sie aber energisch: »Bestimmt war Freuds Frau (Martha) in seinem Liebesleben die einzige Frau überhaupt. Zweifellos schätze Freud Minna, aber zu sagen, sie habe in seinem Gefühl irgendwie die Schwester ersetzt, ist einfach Unsinn.« Es war C.G. Jung, der in einem (1957 geführten und dann 1969 veröffentlichten) Interview als Erster von Tatsachen sprach: Minna Bernays habe sich ihm während seines ersten Besuches in Wien im Jahre 1907 anvertraut und gestanden, »dass Freud in sie verliebt und ihre Beziehung tatsächlich sehr intim war«. Fünf Jahre später, im Dezember 1912, teilte Sandor Ferenczi, in jenen Tagen einer der engsten Mitarbeiter Freuds, diesem brieflich eine Assoziation zu einem stark sexuell gefärbten Traum mit: »Sie haben einmal mit Ihrer Schwägerin eine Reise nach Italien gemacht (voyage de lit-à-lit).« Ferenczis spontaner Einfall spielt auf eine Passage aus der »Traumdeutung« an, in der Freud selbst eine »Traumanspielung auf das schöne Land« enthüllt: »gen Italien = Genitalien«.

Obwohl es keinen vernünftigen Grund gab und gibt, an den Angaben von Jung zu zweifeln und die sehr freudianische Bemerkung von Ferenczi nicht ernst zu nehmen, hat das Freud-Establishment ihre Glaubwürdigkeit pauschal in Abrede gestellt. K.R. Eissler und Peter Gay sprachen von bloßen Vermutungen und forderten »unabhängige Beweise«. Trotz dürftiger Argumente ist die Mehrzahl der Freudianer dieser Sprachregelung gefolgt.

Peter J. Swales, das Enfant terrible der Freud-Biographik, hat Anfang der 80er Jahre den Ton verschärft. In einer ebenso scharfsinnigen wie suggestiven Textexegese versuchte er den Nachweis zu erbringen, dass Minna Bernays von Freud schwanger gewesen ist und das gemeinsame Kind in Meran hat abtreiben lassen. Obwohl Swales in nachfolgenden Arbeiten seine These mit subtilen Ketten von Schlüssen erhärten und insgesamt einige der wichtigsten Bausteine zur Freud-Biographik beibringen konnte, werden seine Beiträge von orthodoxer Seite dem sogenannten »Freud-Bashing« (Freud-Klatschen) zugerechnet – und damit als nicht seriös diskreditiert.

Angesichts dieser verhärteten und hoch aufgeladenen Debattenlage ist der Fund von Maloja überraschend positiv aufgenommen und besprochen worden. Dies gilt vor allem für die Berichterstattung in den Printmedien. Die Erstveröffentlichung in der Frankfurter Rundschau vom 28. September 2006 hat weltweit Resonanz gefunden. Praktisch alle großen Zeitungen – von der New York Times und Le Monde, über den Corriere Della Sera und El Pais bis hin zur Neuen Zürcher Zeitung und Sunday Times – haben das Thema aufgegriffen und breit diskutiert [Anhang A]. Es stimmt aber auch, dass das kurzatmige Interesse der Medien in erster Linie einer publikumswirksamen Skandalisierung galt und gilt. Dem herrschenden Zeitgeist sind die Fortschritte in der Geistigkeit, die mit dem Namen Sigmund Freud verbunden sind, zutiefst suspekt. Daher das geheime Einverständnis, den Heros zu verunglimpfen, ihn wahlweise als Scharlatan oder Liederjan zu entlarven.

Das vorliegende Buch ist nicht zuletzt deshalb geschrieben worden, um dem Eindruck, das Dokument von Maloja diene einzig diesem Zweck, entgegenzutreten. Gewiss wird man etwa den Brief an den amerikanischen Neurologen James J. Putnam, in dem Freud die Schönheit der Sublimierung gegen das Glücksversprechen des Eros ausgespielt hat, jetzt anders lesen. Aber zur Häme besteht kein Anlass. Gewinnt doch gerade umgekehrt der fehlbare Freud an Menschlichkeit. Problematisch ist die Lage dagegen für die Hagiographen unter den Freudforschern, die uns Freud wieder und wieder als Wissenschaftsheiligen präsentiert haben. Ihr Werk – nicht Freud und die Psychoanalyse – ist beschädigt. Die entsprechenden Biographien warten darauf, umgeschrieben zu werden.

Ich werde die Geschichte der Aufdeckung der Liebesaffäre zwischen Sigmund und Minna im Folgenden nicht als »chronique scandaleuse« und damit im Geiste eines »Anti-Freud« erzählen. Vielmehr soll die Geschichte dem Ton und Stil nach sehr freudianisch aufgerollt werden – und damit letztlich der Psychoanalyse selbst zugute kommen. D.h. Minna Bernays interessiert nicht in erster Linie als Freuds Geliebte, sondern vielmehr als Wiedergängerin einer älteren Gestalt des Eros aus den Kindertagen des kleinen Sigmund. Wie die Julierstraße als Teil des altrömischen Wegenetzes über viele Etappen hinweg mit Rom als dem geheimen Mittelpunkt verbunden war, so wird sich zeigen, dass die Wege der Libido, auf denen Freud in Maloja gewandelt ist, in den Spuren seiner unglücklichen Kindheit verlaufen. Gemeint ist der Zwei-Mütter-Komplex, den Freud in seiner Freiberger Zeit erworben hat, als seine Erziehung konkurrierend in den Händen seiner Mutter Amalie und der als Ersatzmutter fungierenden Kinderfrau lag. Vor diesem Hintergrund ist die erotische Annäherung an die beiden Bernays-Schwestern Minna und Martha als Wiederholung einer infantilen Episode zu verstehen. Die Rekonstruktion dieser Tiefenschicht wird das geheime Zentrum der seelischen Heimat Freuds freilegen, Wegenetz und Beziehungsgeflecht in einem, das ihm bei allen späteren Erkundungen – die Umseglung erotischer Kontinente eingeschlossen – als eine Art topographisches Schnittmuster von Liebe und Hass gedient hat. So betrachtet vermag uns das libidinöse Begehren Freuds über alte und anhaltende Triebkonflikte aufzuklären, die den Begründer der Psychoanalyse in deren formativer Phase beherrschten – mit unvermeidlichen Folgen für die Theorie. Die gemeinsame Reise ins Engadin erscheint somit als eine mehrschichtige Zeitreise in die Vergangenheit. Für die Entzifferung ihrer Bedeutung dürfen wir getrost auf die Aufklärungsmetapher der Archäologie zurückgreifen, der sich Freud selber in seinen Werken immer wieder bedient hat:

»Nehmen Sie an«, schreibt Freud in Zur Ätiologie der Hysterie (1896), »ein reisender Forscher käme in eine wenig bekannte Gegend, in welcher ein Trümmerfeld mit Mauerresten, Bruchstücken von Säulen, von Tafeln mit verwischten und unlesbaren Schriftzeichen sein Interesse erweckte. Er kann sich damit begnügen zu beschauen, was frei zutage liegt, dann die in der Nähe hausenden, etwa halbbarbarischen Einwohner ausfragen, was ihnen die Tradition über die Geschichte und Bedeutung jener monumentalen Reste kundgegeben hat, ihre Auskünfte aufzeichnen und – Weiterreisen. Er kann aber auch anders vorgehen; er kann Hacken, Schaufeln und Spaten mitgebracht haben, die Anwohner für die Arbeit mit diesen Werkzeugen bestimmen, mit ihnen das Trümmerfeld in Angriff nehmen, den Schutt wegschaffen und von den sichtbaren Resten aus das Vergrabene aufdecken. Lohnt der Erfolg seiner Arbeit, so erläutern die Funde sich selbst. (...) Saxa loquuntur! [Die Steine reden!]«

Dieses Diktum gilt auch für den Fund von Maloja. Die Minna-Affäre ist nichts als der verworfene Eckstein am Gebäude der Psychoanalyse, das zu großen Teilen aus dem Steinbruch der Freudschen Biographie, dessen verschüttete Teile bis auf den heutigen Tag noch nicht vollständig freigelegt sind, erwachsen ist. In den aufgedeckten Erinnerungsschichten erkennen wir, mit dem schönen Wort von Conrad Ferdinand Meyer, den Menschen Freud »in seinem Widerspruch« – und dahinter »das ausgeklügelt Buch« der Psychoanalyse. Die Bedingungen der Niederschrift dieses Buches besser verstehen und dabei unberücksichtigt Gebliebenes zur Geltung bringen zu können, ist der tiefere Sinn der Unternehmung.

Die Reise auf mehreren Zeitebenen – Leitfaden des vorliegenden Buches – führt dabei unversehens aus dem Zirkel und Wirbel der Minna-Affäre heraus zu ganz anderen Begegnungen. Wir werden Freud auf Anregung seines Freundes Wilhelm Fließ, eines glühenden Verehrers des zuvor zitierten Schweizer Dichters, auf den Spuren von Jürg Jenatsch (des Graubündner Freiheitshelden, dem C.F. Meyer ein literarisches Denkmal gesetzt hat) reisen sehen und umgekehrt erleben, wie sich die Bahnen von Freud und Giovanni Segantini, dem Genius loci der Engadiner Bergwelt, auf Sichtweite annähern – wenn nicht kreuzen. Überraschende Treffen mit Gestalten der Literatur und Kunst treten aus dem Dunkel einer alten Geschichte ins Helle, um den Leser im Gegenlicht des Schrillen mit Bildern eines noch weithin unbekannten, leisen und nachdenklichen Freud zu konfrontieren.

Umgekehrt stoßen die Grabungen auf abgesunkene Katakomben und Todeslandschaften, zu denen vor allem eine von der Freud-Biographie kaum gewürdigte Schicht der Freudschen Militärzeit zählt: die Teilnahme am Balkanfeldzug von 1878/79, welcher der Eroberung Bosniens und der Herzegowina durch die Habsburger Monarchie galt. Als Freud 20 Jahre später als Tourist in die Herzegowina zurückkehrt, ereignet sich die berühmt gewordene Signorelli-Episode – das Vergessen des »Namens des großen Malers, der das Weltgericht in Orvieto gemacht hat«. Es wird sich zeigen, dass die alten Kriegserlebnisse in die Signatur jener Fehlleistung Eingang gefunden haben und dass die Affäre Minna der Schlüssel ist, sie dort zu entziffern und zu verstehen.