Für Ismael und Samira

In Liebe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Copyright: Anke Winkler

Illustrationen: Anke Winkler und Samira Winkler

Herausgeber: Einklang Verlag, Zetel

Umschlaggrafik: Andreas Reiberg

Titelillustration: Anke Winkler

Books on Demand GmbH

Printed in Germany

ISBN: 978-3-9817092-7-8

Inhaltsverzeichnis

  1. Eine wundersame Begegnung
  2. Behutsames Erkennen
  3. Sonderbare Geheimnisse
  4. Seelenverbindungen
  5. Harms Traurigkeit
  6. Raouls Tränen
  7. Wunder geschehen
  8. Das Wiesenfest
  9. Umarmungen
  10. Der Abschied

Eine wundersame Begegnung

Es war einmal eine Rose, die stand neben einer Bank inmitten blühender Wiesen. Nur ein kleiner Weg führte an ihr vorbei, der zwei Ortschaften miteinander verband. Wie sie einst dorthin gelangt war, bleibt uns ein Rätsel. Sie war von zauberhaft anmutiger Gestalt, ihre Blüten leuchteten magentafarben, die jungen Knospen noch rosig, und verströmten einen sanften betörenden Duft in den warmen Sommerwind.

Schon viele Menschen hatten sich an ihr erfreut, wenn sie Ruhe suchend neben ihr auf der Bank Platz nahmen. Manche verliebte junge Hand berührte die Schöne und ließ sich eine Blüte für seine Liebste neben sich schenken. Alte, vom Leben erzählende Hände strichen nur sanft über die zarten vollen Blüten und nahmen bloß einen Hauch Duft mit sich, während lächelnde Augen auf ihr ruhten. Die Rose teilte gerne ihre Pracht und genoss die Freude der Menschen.

Am schönsten aber war für sie die Nähe eines kleinen Mädchens, Andalie. Sie besuchte Abend für Abend die Bank neben der Blume und sprach zur Rose. Andalie blieb stets eine Weile dort sitzen, erzählte von ihren Erlebnissen, vor allem aber von ihren Träumen und Hoffnungen. Zum Abschied küsste sie jedes Mal sanft die größte Blüte ihrer schönen "Elfenblume", wie sie die Rose nannte.

Ja - und es war tatsächlich eine Elfenblume, denn eines Tages - mit den ersten warmen Frühlingssonnenstrahlen - war eine kleine Elfe in eine der sich öffnenden Knospen der Rose eingezogen. Mittlerweile war aus dem kuscheligen Plätzchen ein wahrer Blütenpalast geworden, in dem die kleine Elfe in süßem Duft lebte. Sie war ebenso gekleidet wie ihre Auserwählte und für das menschliche Auge unsichtbar, was jedoch vor allem daran liegen mag, dass wir selten tiefer schauen als nötig. So sah die kleine Elfe die Menschen kommen und gehen, ohne dass sie selbst wahrgenommen wurde.

Manchmal hatte sie jedoch den Eindruck, dass das Mädchen einen Augenblick ihres Daseins erahnte, denn sie hielt gelegentlich im Sprechen inne, legte ihren Kopf lauschend zur Seite und betrachtete wie träumend die Blüte, auf der die Elfe - fröhlich mit den Beinen baumelnd - saß. Dann winkte sie dem Kind übermütig zu. Verwundert lächelte Andalie, schloss sinnend die Augen und küsste dann ihren Abschiedsgruß.

Nachdenklich und zugleich leise kichernd blieb die Elfe sitzen. Es war ihr jedes Mal ein Vergnügen, ein wenig von dem zarten Kuss des Kindes zu erhaschen.

Sie hieß Mirali und war ein bezauberndes Elfenmädchen. Sie war voller Fröhlichkeit, von überschäumender, sprudelnder Lebendigkeit und freundlich zu jedem Lebewesen, das sie in ihrem Palast besuchte. Viele Schmetterlinge ließen sich bei ihr nieder, die sich bei einem süßen Mundvoll Blütennektar von ihr erzählen ließen, was sie gesehen und erlebt hatte. Dabei strich Mirali ihnen zärtlich über die schillernden Flügel. Die frisch geschlüpften Falter stärkte sie mit kraftvollen Strichen, trocknete taubestäubte Gewänder und befreite auch den einen oder anderen von lästig klebenden Spinnenfäden. Sie flog mit ihnen zu anderen Blüten, besuchte Elfen und Feen, auch mal die kleinen Wichte am nahegelegenen Baumstumpf und verspürte nie auch nur einen Hauch von Langeweile oder gar Schwermut. Ach, war das Leben herrlich! Und ach, hätte es nicht ewig so bleiben können?

Eines Tages aber zerbrach das Glück der kleinen Elfe und sie lernte erstmals tiefe Verzweiflung und Traurigkeit kennen.

Es begann damit, dass zwei Menschenkinder an der Wegbiegung erschienen, bewaffnet mit Stöcken, die sie rechts und links in die am Wiesenrand stehenden blühenden Pflanzen schlugen. Blüten und Blätter fielen danieder und kennzeichneten den Weg der zwei tobenden Jungen. Die Elfe hörte das Jammern und Klagen der Pflanzen und ihrer Bewohner und Freunde und hielt entsetzt den Atem an. Etwas Kaltes, Hartes, Beklemmendes legte sich auf ihr zartes Herz, und sie umfasste sich schutzsuchend mit beiden Armen. Was geschah denn da bloß?

Die zwei Gestalten kamen näher, grölend und johlend. Mit wütenden Armen zerstörten sie alles, was ihnen in den Weg kam. Zitternd hielt die Kleine sich an den Blütenblättern fest, sich halb verbergend und mit schreckensgeweiteten Augen, da die Kinder direkt auf die Bank zusteuerten. Schwere Stiefel bearbeiteten diese, Holz schlug auf Holz, sie hörte das Knacken eines Astes, der dabei zerbarst.

„Alles wird platt gemacht! Zerschlagen! Weg mit dem Unkraut! Ha!"

Ein Stock sauste auf die zauberhafte, anmutige königliche Rose nieder. Knospen flogen, Blütenblätter fielen. „Stinkende Hexe, du! Deine Stacheln machen uns keine Angst!" Schon wieder erhob sich der Stock, bereit, die große Blüte zu zerreißen, in der in Todesangst die kleine Elfe kauerte.

„Halt! Sofort aufhören! Was macht ihr denn da?"

Eine laute Männerstimme erschreckte die Kinder. Unsicher erstarrte der Stock in der Luft und sank unverrichteter Dinge hernieder.

„Bloß weg hier, schnell! Aber wir werden wiederkommen!"

Die Kinder verschwanden lärmend über die Wiese. Von der anderen Seite näherte sich laut schnaufend ein alter Mann. Ein gerötetes Gesicht zeigte seinen Ärger. Bei der Bank verharrte er schwer atmend und betrachtete wortlos die zerstörte Rose. Befreite sie sanft von Blättern und Blütenfetzen. Nahm eine abgeschlagene Knospe in seine weichen faltigen Hände. Hob sie, mit Tränen in den Augen, ans Gesicht und sog schmerzerfüllt den lieblichen Duft durch seine Nase in sein Herz. Erinnerungen überwältigten ihn - ein zartes Versprechen vergangener Zeiten. Seufzend bettete er die Knospe ins warme Gras. Dann streichelte er leise über die übrig gebliebene große Blüte, sehr vorsichtig, damit sich kein Blatt mehr löse - und ging.

Stille umgab den Ort der Zerstörung. Das Klagen war verstummt, das Weinen unhörbar geworden. Wie erstarrt lag die Wiese in der warmen Abenddämmerung, bis ein kleiner Vogel mutig erste zarte Töne seines Abendliedes in die Welt hineinschickte: „Piep, piep, ziküü!"

Da erwachte unsere kleine Elfe aus ihrer Erstarrung. Wie betäubt, noch immer bebend, richtete sie sich vorsichtig auf, lugte hinter den Blütenblättern hervor, schaute zunächst in den sich leuchtendrot färbenden Abendhimmel und wagte erst dann einen Blick in die Tiefe. Und was sie dort sah, ließ einen lauten Schrei ihrer kleinen Brust entweichen:

„Oh weh!"

Zu Füßen der wunderbaren Mutter des Palastes, des Heimes der kleinen Elfe, lagen zerstreut ihre Blütenblätter, zerrissene Blätter und Stängel, noch duftende junge Knospen, entweichende Lebensfreude. Einzig der Palast sowie einige kleine Blüten und zwei Knospen standen noch. Doch auch sie wankten traurig und zerrupft im Abendwind.

Benommen kletterte die vor Kummer ganz geschwächte kleine Elfe aus ihrem Blumenversteck. Tröstend berührte sie die Blüten, liebkoste innig die Knospen, strich hier und dort über ein Blättlein. Behutsam ließ sie sich zur Erde nieder und nahm wehmütig die verlorenen Knospen auf, umfing sie zärtlich und nahm Abschied von ihrer Lebendigkeit. Stumm lehnte sie ihren zarten Körper gegen den starken Stängel und schaute traurig in die Ferne, gebettet in die heruntergefallenen warmen, weichen Blütenblätter. So saß sie eine Weile ganz still, bis sie sich schließlich erhob, ihren Palast erklomm und sich schutzsuchend in den sie umarmenden Blütenblättern verbarg.

Wie jeden Abend kam auch heute das kleine Mädchen. Leichtfüßig sprang sie, mit fliegenden braunen Zöpfchen, den Weg entlang, glücklich summend nach fröhlichen Erlebnissen des Tages, bereit zu teilen. Doch plötzlich erstarb das jubelnde Springen, als sie die ersten Zeichen der Zerstörung wahrnahm. Erschrocken hielt sie inne, bückte sich nach den Blumenköpfchen, die den Weg säumten, nahm sie sacht auf und legte sie vorsichtig zurück ins Wiesengras. Stockend, von einer schmerzlichen Ahnung gezogen, näherte sie sich der Rose. Immer zögernder setzte sie Fuß um Fuß, als ahnte die Seele bereits, was sich zugetragen hatte. Doch gleichzeitig wurde sie getrieben von dem Bedürfnis zu trösten und zu helfen.

Entsetzen überzog das weiche Kindergesicht, als sie schließlich vor ihrer Liebsten stand, ihrer Elfenblume.

„Mein Liebling!", flüsterte sie mit Tränen in den braunen Augen. „Was ist mit dir geschehen?"

Aufschluchzend umfing sie ihre Blumenfreundin und schmiegte ihr tränenfeuchtes Gesicht in die samtigen Blüten. Dann sank sie kraftlos auf die Bank und betrachtete weinend die große schöne Blüte, die tröstend die kleine Elfe umhüllte und wiegte.

Mirali erwachte aus einem kurzen Erschöpfungsschlaf und spürte sofort die Anwesenheit des Mädchens. Plötzlich durchlief sie die Erkenntnis, dass nur dieses Menschenwesen ihr und ihren Freunden helfen könnte. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und krabbelte mit müden Gliedern aus ihrem Blütenbett. Vorsichtig schob sie die weichen Blütenblätter auseinander und erspähte das Mädchen, das mit traurigen Augen auf ihre Blüte sah.

„Hallo!" Zögernd rief Mirali das Mädchen an. „Hallo, Menschenmädchen!"

Andalie meinte, eine Bewegung in der Blüte wahrzunehmen und richtete ihren Blick aufmerksam ins magentafarbene Wunderwerk. Ob sich dort ein Insekt versteckt hielt, vielleicht ein kleiner Schmetterling, schutzsuchend vor der Ungeheuerlichkeit des Geschehenen? Sie beugte sich vor, um in die Blüte zu sehen, in der gespannt abwartend und leise winkend das Elflein stand.

„Hallo, Menschenmädchen!"

Andalie vernahm ein Stimmchen - ungläubig schüttelte sie den Kopf. Doch plötzlich sah sie tatsächlich ein winziges wundersames Wesen. Es war wie ein Hinübergleiten in einen Traum und sie nahm zarte Arme und Beine wahr, ein wunderhübsches Gesichtlein, umrahmt von lockigem dunklem Haar und ein blütenfarbenes, schillerndes Kleidchen.

„Wer bist du?", flüsterte das Mädchen. „Bist du echt?"

„Ja!", rief Mirali voller Freude, denn es machte sie so glücklich, endlich erkannt worden zu sein. „Ich bin wirklich und ich freue mich so! Ich habe dich schon öfter mal gerufen und nun endlich siehst du mich!"

„Ich meinte immer zu träumen", wisperte das Kind und sah staunend auf das Elfenwesen.

„Ich bin Mirali, ein Elfenmädchen. Ich brauche ganz dringend deine Hilfe, denn siehst du", sie wies auf die Zerstörung, „Schreckliches ist geschehen!"

„Ja, aber was nur?", fragte leise das Mädchen.

Aufgeregt erzählte Mirali von dem traurigen Ereignis und von den zwei Jungen, einem kräftigen blonden und einem dunkel gelockten, die so voller Zorn alles niedergeschlagen hatten. Abschließend rief sie nochmals aus: „Du musst mir helfen! Uns allen helfen!"

„Ich?", fragte Andalie erschrocken. „Aber wie denn?"

„Du musst mit den Kindern sprechen, bitte!", flehte Mirali. „Sie werden wiederkommen und noch mehr zerstören! Ach, ich habe solche Angst!" Ein Schluchzen ließ den zarten kleinen Körper erbeben.

Andalie zitterte selbst vor Schreck, denn diese Aufgabe erschien ihr unüberwindbar. Sie streckte vorsichtig die Hand aus und berührte sanft mit ihren Fingerspitzen das kleine traurige Wesen. „Nicht weinen", versuchte sie zu trösten, doch tropften ihr selbst Tränen aus ihren großen dunklen Augen. „Nicht weinen."

Schniefend fragte das Elflein: „Wie heißt du denn eigentlich, Menschenmädchen?"

„Andalie", flüsterte das Mädchen und lächelte trotz ihrer Tränen. „Das bedeutet ‚die Nachtigall‘ - ich bin beim Lied einer Nachtigall zur Welt gekommen und darum nannten meine Eltern mich so. Ich finde das sehr schön!"

„Wunderschön", antwortete Mirali. „Spät abends singt hier eine Nachtigall. Du musst sie einmal hören!"

Andalie nickte lächelnd, wurde dann jedoch wieder ernst und nachdenklich. „Ich glaube, ich weiß, um welche Jungen es sich handelt. Sie gehen bei mir in die Schule. Aber ich habe Angst vor ihnen!" Sie zögerte. „Und ich spreche nicht gerne mit anderen."

„Du sprichst nicht gerne?", fragte Mirali erstaunt. „Aber warum denn nicht? Hier auf der Bank erzählst du doch immer sehr viel!"

„Ja, hier", entgegnete Andalie. „Meiner Rose erzähle ich alles. Aber sie lacht mich auch nicht aus. Sie ist meine Freundin!"

„Ich auch!", rief Mirali freudig aus. „Ich auch! Aber - warum wirst du denn ausgelacht?"

„Ach - so halt“, druckste Andalie. „Ich bin irgendwie anders. Ich mag andere Dinge. Ich sehe und höre anders, ja, und ich fühle anscheinend auch anders. Ich fühle mich nicht wohl bei den Sachen, die die anderen Kinder gerne tun, sie interessieren mich nicht. Ich mag die Stille, die Vögel, die Blumen. Ich träume so gerne!"

„Was machen denn die anderen Kinder für andere Sachen?", erkundigte sich nun neugierig geworden das Elfenmädchen.

„Oh, das ist schwierig zu erklären, Computerspiele zum Beispiel und fernsehen, laute Raufspiele und Sport. Mir schmerzen die Ohren davon."