ein freier Raum für unfreie Menschen

Den Menschen gewidmet,

die uns diesen freien Raum eröffnet haben:

Teresa ¦ Senta ¦ -*-zeya-*- ¦ Tinti ¦ Batmary ¦ Florian ¦ Georg

Andi ¦ Angelika ¦ Bernhard ¦ Monika ¦ Walter ¦ Ursula

Gerhild Fuchs ¦ Horst Schreiber ¦ Maria Fröhlich

Mirek Macke ¦ Barbara Raffelsberger ¦ Gaby Pedrazzolli

Anneliese Gall ¦ Traudi Kloimstein ¦ Inge und Franz Rimacek

Gitti und Heinz Lechleitner ¦ Erika und Helmut Moser

von der Crowd finanziert

über Startnext

mit herzlichem Dank

für die Unterstützung durch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

VERLAG

éditions foulland, Daxgasse 19, 6020 Innsbruck, Österreich redaktion@foulland.com – www.foulland.com

HERAUSGEBER

Mag. Gerhard Moser; Anschrift siehe Verlag

lAYOUT/SATZ

pepperweb; www.pepperweb.net

HERSTELLUNG

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt, Deutschland

ATME! 2015 – STREITSCHRIFT FüR LITERATUR

ISBN 978-3-902599-04-9(Hardcover), ISBN 978-3-902599-04-9 (E-Book)

ISSN 1811-3516

© 2015 éditions foulland – Alle Rechte vorbehalten.

Hinweis

Alle Rechte an den Texten und Bildern, abgesehen von dem den éditions foulland eingeräumten Recht der Veröffentlichung in der Zeitschrift ATME! in ihren verschiedenen Ausprägungen (Buch, E-Book) und dem damit verbundenen Werbematerial liegen bei den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern.

TEXTE

BILDER

KÜNSTLER

SCOTT BATTY Paris, Frankreich

Geboren in Manchester, aktuell tätig in Paris.

Schriftsteller, Maler, Sänger (Larynx and Claw).

›Diese Tätigkeit ist so schwer, wahr, rein, manchmal erschreckend. Aber

ebenso lohnend. Das Werk fängt Feuer und findet zu seiner Form. Ich

fühle mich gezwungen, es mit anderen zu teilen.‹

scottbatty@free.fr

MARKUS DOLP Innsbruck, Österreich

Sänger und Texter.

›Maggo Bug textet, schwitzt, tanzt und jodelt seit 1990 für Out of Order, Bug, Todesstern und Owl Rave. »Hossa! Hossa!« dem Exzess, der Ausschweifung und dem Lärm!‹

sonicbua@gmx.at

M. FOULLAND Pirna, Deutschland

Literarischer Vagabund und Förderer.

›Domo doršzekawa! Den Bauch nach oben und treiben ...‹

fou@foulland.com

MARLENE GÍSLASON Turin, Italien

Belichterin.

›Schatten werfen und Licht spenden,

Schleier setzen und Hüllen abstreifen.‹

marlene@foulland.com

ROBERT KERBER Frankfurt, Deutschland

Schriftsteller.

›Schreiben als Zustandsbericht:

Depeschen von mentalen und emotionalen Fronten,

von Hand festgehalten, dokumentierend, verdichtend, verletzend.‹

design@robertkerber.de

GERHARD MOSER Innsbruck, Österreich

Schriftsteller und Spieleentwickler.

›Ich wünsche mir nichts.‹

gerhard@foulland.com

PACÔME THIELLEMENT Paris, Frankreich

Schriftsteller und Vidéaste.

Letzte Veröffentlichungen: Pop Yoga (Sonatine, 2013) und

Les cinq livres du King (mit Jonathan Bougard, Le Feu Sacré, 2014)

pacome.thiellement@wanadoo.fr

Gast: Teresa Staudacher

SCOTT BATTY

POEMS I

  1. das gelobte Land/promised land
  2. im Griff/control
    ursprünglich erschienen in ATME! Ausgabe 4
  3. Idioten und Staub/fools and dust
    ursprünglich erschienen in ATME! Ausgabe 2
  4. Acapulco-Lippen/acapulco lips
    ursprünglich erschienen in ATME! Ausgabe 3

Freie Interpretation ins Deutsche: Gerhard Moser

DAS GELOBTE LAND

Sieht so aus, als ob das gelobte Land

nichts gelobte,

falsch lag

wie sie,

in entstellter Stellung

ohne die Spur eines Gesichts,

den Regen erneuernd

über einem anderen Himmel,

kalt, hart, derb,

ein frischer Selbstmord,

leuchtet im Grau

direkt vor meiner Nase,

so gibt sie sich hin,

zerbrochen zwischen den Gleisen

PROMISED LAND

Looks like the promised land

promised nothing,

was lying,

like her,

at a mangled angle,

with no trace of face,

re-writing the rain

across another sky,

cold, cruel, crude,

a fresh suicide,

glowing in the grey,

on the end of my nose,

giving herself away,

cracked between the tracks

IM GRIFF

die Haut des Babys

hin- und hergerissen zwischen zwei Herzen

bekomme ich in den Griff

den Impuls

bekomme ich in den Griff

das Scheitern des Glaubens

bekomme ich in den Griff

von Extremen geformt zu sein

bekomme ich in den Griff

das Warten

bekomme ich in den Griff

das raffinierte Testosteron

der kommenden Paarungszeit

bekomme ich in den Griff

den Adrenalinstoß des Verrats

bekomme ich in den Griff

das arglose Mitleid

deiner letzten Bemerkung

bekomme ich in den Griff

einen Tag

bekomme ich einen Tag

in den Griff?

einen Tag

bekomme ich einen Tag

in den Griff?

CONTROL

I can control

the baby’s skin

torn between two hearts

I can control

momentum

I can control

the failure of faith

I can control

being defined by extremes

I can control

waiting

I can control

the ingenious testosterone

of a new season

I can control

treason’s adrenaline

I can control

the uninformed pity

of your last remark

one day

can I control

one day?

one day

can I control

one day?

NARREN UND STAUB

Tage wie Regen

so schwer zu ertragen,

Tage wie Regen

so schwer zu heucheln,

Tage wie Regen

kalte Abscheu,

Tage wie Regen

Narren und Staub

hoch über Frankreich fliegend

über den Wolken, ein müder Tanz,

schwach wie ein Kätzchen auf festem Grund,

ich glaube, ich bin bereit abzustürzen

Tage wie Regen

so schwer zu ertragen,

Tage wie Regen

so schwer vorzutäuschen,

Tage wie Regen

kalte Abscheu,

Tage wie Regen

Narren und Staub

FOOLS AND DUST

days like rain

so hard to take,

days like rain

so hard to fake,

days like rain

cool disgust,

days like rain

fools and dust

flying high over France

above the clouds, a tired dance,

weak as a kitten on solid ground,

I think I’m up for falling down

days like rain

so hard to take,

days like rain

so hard to fake,

days like rain

cool disgust,

days like rain

fools and dust

ACAPULCO-LIPPEN

ich kannte einen Jungen

der den Boden unter seinen Füßen verloren hatte

so dass er

in einer Pfütze

ertrank

als er versuchte

sein Spiegelbild zu küssen

ich erinnere mich nicht an seinen Namen

nur an sein Gesicht –

gesund und vernünftig

ACAPULCO LIPS

I knew a boy

who was out of his depth

so much so

that he drowned

in a puddle

trying to kiss

his own reflection

I can’t remember his name

just his face –

direct and sane

GERHARD MOSER

VERSCHWAND, PLÖTZLICH UND UNERKLÄRLICH

Zur Evolution eines Textes.

Der erste Beitrag, ›Europa‹, entstand anlässlich des 1. Int. Upper-Ground Festivals 2003 in Innsbruck. Die Sprache ist anfangs noch stark von Mosers 2001 fertiggestellten Roman ›Das terroristische Ideal‹ (ISBN 9783831137831) geprägt, einer wütenden, wahnhaften Anklage. In der zweiten Hälfte hingegen wandelt sich die Wut zu Trauer und Hoffnungslosigkeit.

›Weihnachtspost‹ erschien ursprünglich unter dem Titel ›Sterbehilfe‹ in einer gleichnamigen Anthologie (ISBN 978-3936526042). Die hier abgedruckte handschriftliche Fassung (niedergeschrieben von Teresa Staudacher) versandten die éditions foulland zu Weihnachten 2002 an Förderer des Verlags. Der Text greift den Tonfall von Europas letzten Absätzen auf, wechselt aber die Perspektive.

2006 erschien schließlich ›Vom Sterben – eine Reflexion in Wort und Bild‹ (ISBN 978-3200006072), ein von Scott Batty illustrierter lyrischer Essay, dessen letzte Zeilen hier abgedruckt sind. In ihnen findet der Leser den vorläufigen Ausdruck eines sich über Jahre entwickelnden Gedankens, in dem die beiden Texte verschmelzen. Die nächste Mutation des Textes war seine Übertragung ins Englische, die hier Seite an Seite mit der Originalfassung präsentiert wird (Übersetzung von Christine M. Grimm). Der Titel des übersetzten Buchs lautet ›Disappeared, Slowly and Unnoticed‹ und schließt den Kreis zur vorliegenden Zusammenstellung.

I) EUROPA

Hiermit werfe ich den ersten Stein:

Ich bin hasserfüllt. Ich bin ablehnend, ich bin verneinend. Ich bin gnaden- und reuelos, verachtend und verfolgend, voller Abscheu, voller Ekel. Ich bin inmitten Europas, in ihren erlahmten Eingeweiden, in ihren verstopften, verhärteten Arterien, zwischen ihren Metropolen, ihren Prachtstraßen, ihren Errungenschaften, den technischen, den ökonomischen, den fortschrittlichen, ihren Fabriken an Fabriken an Fabriken an Fabriken, ich bin zwischen ihren Strukturen und Prozessen, ihrer Mechanik, Zahnräder und Fließbänder und Lebensarbeitszeiten, ihren blutigen Gesten und blutigen Friedensmissionen und blutigen Machtdemonstrationen, ihren Zahlen, Zahlen, Zahlen, ihren Fakten, Fakten, Fakten, ihren Werten, Werten, Werten, dem Warenwert, dem Arbeitswert, dem Lebens-, nein, dem Elendswert, ihren haltlosen Geldflüssen, ihren ökonomischen Irrealitäten, dem Wachstumsdiktat, dem Anpassungsdiktat, dem Unterwerfungsdiktat: ich bin unter ihrer Logik, unter ihrer Vernunft, unter ihrem Joch, unter ihrer Knute, unter ihrer Demokratie, unter ihrem Allmarkt. Hier esse ich, hier schlafe ich. Hier trinke und hier wärme ich, hier schöpfe und hier erschaffe ich, hier verteufle und verfluche und verdamme und verabscheue und vernichte ich. Europa, sie ist Industrie. Europa, sie ist arbeiten, sie ist werken, sie ist treiben. Niemals ist sie Schöpfung, niemals ist sie Kreation. Nichts und niemand von ihr kennt Verzweiflung. Nichts und niemand von ihr schwitzt Blut. Nicht eine Frau, nicht ein Mann in Europa, die voller Elend wären, die erfüllt wären mit Unglück. Diese fruchtlose Europa, dieser Tage kennt sie keine Plagen, weder Pest noch Cholera, weder Idee noch Seele, kein Verderben, kein Ende. Nichts dergleichen. Europa ist Organisation. Europa ist Form. Europa ist Pflicht. Und Fortschritt natürlich. Und Reformen. Und Wohlstand. Sie ist satt. Sie ist ohne Verlangen. Sie ist bewusstlos. Nichts von ihr ist dem Tode geweiht. Europa ist voller Leben, natürlich! Reiches und paarendes Leben, sammelnd und sortierend, anhäufend und vermehrend, bewegen, bewegen, bewegen, niemals verharren, schaffen, schaffen, schaffen, niemals erschaffen.

Es ist wahr: nichts und niemand in Europa endet. Nichts geht zugrunde. Wenn doch, dann bloß im Geheimen. Hinter dem Betrieb, hinter der Geschäftigkeit. Dort, wo man ihren Blick nicht spürt. Noch im Sterben begriffen, ist man schon verlassen, ist man, gleichwohl lebendig, schon dem Toten gleich: in seinem, beim Sterbenden tatsächlichen, beim Gestorbenen bereits gedachten, Beisein wird die Stimme gesenkt, die Worte sind gedämpft und phrasenhaft, der Schritt ruhig, die Gesten andächtig; der Abschied und der Ausschluss, sie sind bereits vollzogen. Alles Weitere ist Ritual.

In der Tat, ich bin inmitten Europas. Doch ich bin nicht von ihr und nicht aus ihr. Dieser Tage bin ich gefasst. Dieser Tage bin ich ruhig. Ich bin mir meiner selbst bewusst. Das Individuelle tritt hervor, grenzt sich ab, entzieht sich; das Gesellschaftliche hingegen tritt zurück, verlagert sich, wandelt sich zu einem beobachtbaren und fernen Außen.

Nichts anderes ist es, das Sterben.

II) WEIHNACHTSPOST

III) ON DYING