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In Zusammenarbeit mit der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier

Band 1

Fragelehrbuch

(nach Immanuel Kant und Ernst Marcus)

zum Unterricht in den

vernunftwissenschaftlichen Vorbedingungen

der Naturwissenschaft

Herausgegeben von Detlef Thiel

Vorwort von Hartmut Geerken

2., revidierte Auflage

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

This is a WAITAWHILE book. Alle Rechte vorbehalten.

© 2008 bei Hartmut Geerken, Wartaweil 37, D-82211 Herrsching

Die erste Auflage erschien 2005 als Paperback.

Umschlaggestaltung: Hartmut Geerken und Dr. Anton J. Kuchelmeister unter Verwendung von Mynonas Unterschrift auf einem Brief an Herwarth Walden vom 16. September 1915 (Archiv der Akademie der Künste Berlin, Mynona Archiv, vormals Friedlaender/Mynona Archiv Geerken, FMAG).

Gesetzt in Adobe Garamond Pro.

Layout und Formatierung: Dr. Anton J. Kuchelmeister.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-7386-8876-4

Inhalt

hartmut geerken

der bleistift mynonas in anderthalbsteins weltbild

1

meine tante helene aus stuttgart (helene lorch, geb. geerken, 1889-1966) erzählte mir, als sie schon sehr alt war & ich noch sehr jung, dass sie als köchin (oder küchenhilfe) im haushalt der familie einstein in ulm (sie sagte definitiv ulm) gearbeitet habe. dies muss während des ersten jahrzehnts des zwanzigsten jahrhunderts gewesen sein. fast alles, was sie mir über diese zeit erzählte, habe ich vergessen, meine interessen lagen damals woanders, doch an etwas erinnere ich mich genau & ich frage mich, warum ausgerechnet dies in meinem gedächtnis blieb: tante helene berichtete, wie sie grosse mengen der gehirnnahrung spinat für den zehn jahre älteren albert in gläser eindünsten musste. albert wohnte damals, so erzählte sie, in einem einsamen haus (blockhaus?) im wald (in der schweiz?), wohin er sich, mit den spinatgläsern, zum forschen wochenlang zurückzog. – war es vielleicht die zeit, als sich ein nahrungsmittelchemiker um eine kommastelle vertan & generationen von kindern den appetit versaut hat, weil jedermann glaubte, spinat habe einen enorm hohen eisengehalt & der sei gut fürs gehirn? ist albert einstein etwa schon sehr früh auf eine kommastelle hereingefallen?

2

professor anderthalbstein, wie doktor salomo friedlaender/mynona (1871-1946) albert einstein (1879-1955) ‚liebevoll’ zu nennen pflegte, wurde, als die relativitätstheorie diskutiert wurde, genauso intensiv bejubelt wie verschmäht. friedlaenders verhältnis zu einstein war ambivalent. einsteins oft neukantianisch anmutende philophysik musste der altkantianer friedlaender schon aus prinzip ablehnen. die lebensphilosophie der beiden & ihre daraus resultierende weltsicht deckte sich aber in vielen bereichen. dies lässt sich belegen. nur im apriori verfehlten sie sich.

3

im keller von friedlaenders exilwohnung im nordosten von paris fand ich bei der wohnungsauflösung nach dem tod des sohnes im jahre 1988 zwei (oder waren es drei?) kartons (oder waren es obstkisten?) mit büchern. es war der rest von friedlaenders pariser bibliothek. unter den büchern fand sich einsteins mein weltbild (amsterdam: querido 1934). auf dem innentitel über dem verfassernamen mit dem eleganten schriftzug ‚mynona’ versehen, ist dieses buch, noch bevor es friedlaender in händen hatte, von unbekannt wüst zensiert worden: die seiten 119-128 sind brutal herausgerissen. es handelt sich um das kapitel III deutschland 1933, von dem lediglich die letzten anderthalb seiten im buch verblieben sind. friedlaender hat auf den vorsatzblättern vorne & hinten mit bleistift ein fortlaufendes register ihm wichtig erscheinender schlagwörter mit seitenangaben notiert. die herausgerissenen seiten 119-128 fehlen in diesem index.

die schrift einsteins würde ich gerne lesen, ich bezweifle, dass sie hier zu haben ist, und schicken mag ich sie mir keinesfalls lassen, aus guten gründen. (brief von rebekka hanf in witten an friedlaender, 28. april 1934, AAFMAG)

4

friedlaender hat einsteins buch (woher hatte er es? in paris gekauft? von bekannten aus deutschland? aus den niederlanden?) sehr intensiv im hinblick auf eine besprechung im pariser tageblatt durchgearbeitet. von der ersten bis zur letzten seite ist das weltbild angereichert mit marginalien, korrekturen, an- & unterstreichungen, fussnoten, kopfnoten, anmerkungen, ausrufe- & fragezeichen. nur etwa zwei dutzend seiten des 269 seiten starken buches kommen ohne den bleistift mynonas aus.

5

einsteins mein weltbild ist weder eine vollständige sammlung von aufsätzen, noch eine wissenschaftliche abhandlung, sondern sollte im wirbelsturm der politischen leidenschaften & der zeitgeschichte nur eines zeichnen: das bild einer human geprägten persönlichkeit. es sollte durch selbstzeugnisse einer verzerrung von einsteins charakter & anschauungen entgegentreten. in vielen punkten ihrer weltsicht sind sich einstein & friedlaender einig. dies lässt sich an den stellen nachvollziehen, an denen friedlaender am blattrand ein grosses m (für mynona) verzeichnet, oft auch zur untermauerung mehrfach unterstrichen. das m sagt: janz meiner meinung! hab ick doch schon immer jesagt! ick habs doch jewusst! oder ähnliches. wo z. b. einstein einen ausspruch von arnold berliner (herausgeber der zeitschrift die naturwissenschaften) zitiert, wonach ein wissenschaftlicher autor eine kreuzung von mimose & stachelschwein sei (s. 31), hat friedlaender sein m an den rand gesetzt, weil die spannung zwischen der mimose & dem stachelschwein, zwischen dem philosophen friedlaender & dem humoristen mynona seiner wissenschaftlich-künstlerischen existenz immanent war: zwei brüste wohnen ach in meiner seele!

6

wenn einstein beklagt, dass man ihm neuerdings übermenschliche kräfte des geistes und charakters andichtet & den grotesken gegensatz beschreibt zwischen dem, was mir die menschen an fähigkeit und leistung zuschreiben, und dem was ich wirklich bin und vermag (s. 55), so erkennt sich friedlaender in dieser nüchternen erkenntnis wieder, schreibt ein grosses m an den papierrand & verwendet dieses zitat als einstieg in seine rezension im pariser tageblatt (nr. 110 vom 1. april 1934, s. 3).

7

die bedingungslose abkehr vom kriege (s. 68), das polarisierende alles oder nichts (s. 82) zur vermeidung von kriegen, einsteins politisches credo der staat ist für die menschen da und nicht die menschen für den staat (s. 83), seine feststellung, dass das moralische nicht durch verstand ersetzt werden kann, – dies alles sind erkenntnisse einsteins, denen friedlaender mit einem grossen m am rand zustimmt. ein zweimal dick unterstrichenes m steht neben dem satz: nach meiner ansicht sollte man bei dem nächsten kriege die patriotischen frauen an die front senden statt der männer. (s. 100) gar demonstrativ dreimal unterstrichen hat friedlaender das initial seines pseudonyms bei dem satz: wenn wir nicht unter intoleranten, engherzigen und gewalttätigen menschen leben müssten, wäre ich der erste, der jeden nationalismus zugunsten universalen menschentums verwerfen würde! (s. 158). friedlaender zitiert diesen satz ebenfalls in seiner rezension des buches & stellt, den gedanken einsteins fortführend, fest: woran man wieder einmal bestätigt findet, dass der antisemitismus das beste konservierungsmittel des jüdischen nationalismus ist; und dass national-staaten anstelle der rechtsstaaten inhumaner unfug sind.

8

friedlaenders handexemplar von mein weltbild ist eine fundgrube für die stellung des philosophen friedlaender zu politik, pazifismus, judentum, wissenschaft, erziehung, religion, faschismus, frauenbewegung usw., indem er die meinung des wissenschaftlers einstein entweder in kargen marginalien konterkariert (terrible!, s. 232) oder ihr mit grossen emms zustimmt. wo es in dem von friedlaender annotierten buch zwischen den beiden wirklich blitzt & donnert, sind die passagen, in denen einstein auf kant zu sprechen kommt. begriffe beziehen sich auf sinneserlebnisse, aber sie sind niemals in logischem sinne aus diesen ableitbar. aus diesem grunde habe ich die frage nach dem apriori im sinne kants niemals begreifen können (s. 231). von friedlaender wird diese passage durchgehend unterstrichen, mit ausrufezeichen am rand & mit folgender fussnote versehen: aber dein schopenhauer nennt gerade die trle. [transzendentale] ästhetik den diamanten in kants krone.

oder wo einstein über die sicherheit, die bei der mathematik uns so viel achtung einflösst schreibt & feststellt, dass diese sicherheit durch inhaltliche leerheit erkauft wird (s. 229), notiert friedlaender am rand anti-kant.

der ton der rezension ist moderat & wohlwollend. die marginalien in seinem handexemplar (süss!, ei!, 84 fragezeichen, 265 ausrufezeichen) zeugen von selbstsicherheit, schärfe & ironie. in privatbriefen aber zieht er so richtig vom leder: … hier gibt es unerquickliche differenzen mit tante jaller, die mir übelnimmt, dass ich ihren albert einstein beschädige. nicht nur nimmt sie’s mir übel, sondern sie spricht mir alle „kompetenz“ dazu triftigst ab, da ich kein mathematischer physiker bin. da die tante jedoch keinen schimmer von kant/marcus hat, so versteht sie gar nicht das verbrechen, das einstein an dessen geistigem leibe und dadurch an der kultur begeht. man braucht, um dieses verbrechen nachzuweisen, keine höhere mathematik. auch einstein gehört zu den unheimlichsten verbrechern, nämlich zu den ‚unschuldigen’, die ‚nicht wissen, was sie tun’… immerhin könnte, sollte, müsste dieser mann seinen rechenkopf mindestens elementar aufgeklärt haben und mindestens als anscheinend so bedeutender geist kants prolegomena kennen. er ist also nicht einmal so ganz ‚unschuldig’. aber sei sein wille auch seelensgut, so gesellt sich hier zu seinem bescheidenen herzen ein eitler kopf, der allzu bescheiden bleibt, wenn er es ablehnt, sich mit den elementen der kantischen entdeckung zu befassen. eitel: – denn er wittert, dass alsdann kant-marcus und nicht a. einstein sich als der regierende geist herausstellen würde, der auch die frömmigkeit und güte erst ‚sehend’ macht… (brief von friedlaender an seine schwester anna, 23. februar 1934, AAFMAG)

9

dem buch liegen zwei zeitungsausrisse bei: ein fragment aus dem berliner tageblatt von 1925 mit dem titel die philosophische bedeutung der relativitätstheorie & ein kurzer artikel die offensive gegen einstein aus einer unbekannten zeitung, handschriftlich datiert 25. august 1920. letzterer ist eine besprechung der ersten veranstaltung der gegner einsteins und seiner relativitätstheorie, die sich in einer arbeitsgemeinschaft deutscher naturforscher organisiert hatten. der rezensent (e.v.) berichtet über diesen abend: die beruhigende erklärung des einen forschers und gelehrten, dass entsprechende massnahmen getroffen seien, um skandalmacher an die luft zu setzen, musste den rein wissenschaftlich interessierten besucher, der gekommen war, einer gelehrten auseinandersetzung, einer streng fachlichen beweisführung zu lauschen, etwas eigenartig berühren. immerhin scheint die erkenntnis, dass stuhlbeine als gegenargumente nur bedingten wert haben, auch in dieser arbeitsgemeinschaft deutscher naturforscher vorhanden zu sein. obwohl professor einstein, in einer loge sitzend, eine bequeme zielscheibe bot, wurde er doch nur mit solchen kleinen invektiven wie ‚reklamesucht’, ‚wissenschaftlicher dadaismus’, ‚plagiat’ usw. bombardiert.

10

kant gegen einstein ist anlässlich des einstein-jahres der erste band der „gesammelten schriften“, die das vollständige veröffentlichte & unveröffentlichte werk von salomo friedlaender/mynona in den kommenden fünf bis sechs jahren zugänglich machen werden. vor allem wird aus den zahlreichen nachgelassenen werken klar werden, welch eminente bedeutung mynona in den für literatur & philosophie so wichtigen ersten jahrzehnten des 20. jahrhunderts hatte & wie seine heute hochaktuelle philosophie in den entbehrungsreichen jahren des exils reifen konnte.

11

seit über dreissig jahren versuche ich vergeblich als nachlassverwalter, eine mehrbändige ausgabe seiner werke zu organisieren. ein querdenker wie friedlaender/mynona scheint jedoch nicht kompatibel mit den stromlinienförmigen erfordernissen des marktes, den die verleger heute fast ausschliesslich vertreten. ausführliche exposés & opulenter schriftverkehr mit den vermittlern des geschriebenen wortes liefen ins leere. die fritz thyssen stiftung, walter de gruyter, suhrkamp, wallstein, jüdischer verlag, aisthesis, deutscher literaturfonds, die deutsche forschungsgemeinschaft usw. sagten ab, liessen den briefverkehr schonungshalber einschlafen, indem sie briefe nicht mehr beantworteten oder haben eine bereits begonnene edition durch verweigerung von abrechnungsunterlagen & honorarzahlungen zum erliegen gebracht. seit etwa fünfzig jahren bin ich als autor & herausgeber von verlegern abhängig gewesen, habe ihr kopfnicken & ihr kopfschütteln & ihren standardsatz bitte verstehen sie mich recht, herr geerken über mich ergehen lassen müssen. ich habe die mehr oder weniger schlechten umgangsformen der meisten verleger jahrzehntelang ertragen, aber keinen prozess verloren.

eine rühmliche ausnahme möchte ich in dankbarkeit hier nennen: ‚verlegt bei klaus ramm in spenge’ & hoffen, dass es noch ein paar andere integre ausnahmen in diesem gewerbe gibt. else laskerschülers ich räume auf! meine anklage gegen meine verleger (zürich 1925) jedenfalls könnte ich beliebig fortschreiben.

12

zwei glücklichen umständen ist es zu verdanken, dass die „gesammelten schriften“ von salomo friedlaender/mynona jetzt endlich erscheinen können. zum einen hatte sun ra vor über zehn jahren die fäden in der hand, die den philosophen detlef thiel & mich über einen schallplattentausch zusammenführten. in einem jahrelang gepflegten, seltsam grotesken briefwechsel haben wir uns nun so weit abgeklopft, dass wir an die gemeinsame herausgabe dieses buchprojekts gehen können. der zweite glücksfall ist mein entschluss, mich von der gesellschaft der verleger endgültig zu verabschieden & die sache selbst & auf eigenes risiko in die hand zu nehmen. dass die stiftung archiv der akademie der künste in berlin den nachlass von friedlaender/mynona übernommen hat, spielte bei diesem entschluss eine wichtige rolle.

Detlef Thiel

„... immer noch der große Immanuel Unbekannt“
Marcus und Friedlaender/Mynona gegen Einstein

... ein Gespenst, das nun schon hundert Jahre die wissenschaftliche Welt in Ehrfurcht zu erhalten weiß.

Goethe: Die Farbenlehre (1808)

Des ersten Bandes zweiter, polemischer Teil, Nr. 28

Wie ein Paukenschlag – zumindest darüber sind sich alle einig, die bisher über Leben und Werk dieses Mannes schrieben – setzte Einsteins Weltruhm ein. „Die Massenmedien haben ihn entdeckt und machen ihn in einem beispiellosen Personenkult zum ersten globalen Popstar der Wissenschaft.“ (Neffe 2005, 13)

Friedlaender/Mynonas (im folgenden: F/M) Fragelehrbuch, vor 75 Jahren erschienen, ist ein erstaunliches Dokument der frühen Einstein-Rezeption, in der die Weichen für eine sehr komplizierte, heute noch keineswegs abgeschlossene Diskussion gestellt werden. Erstaunlich ist das Buch aus zwei Gründen.

Zum einen liefert es Anhaltspunkte für die Frage, wie es zu besagter Globalität kam. Studiert man ein wenig den Verlauf und die Struktur dieser Vorgänge, so wird man Blicke hinter allerhand ähnliche Machenschaften werfen können. Der ungeheure Aufschwung der Physik seit Mitte des 19. Jhs. – 1871 ist übrigens F/Ms Geburtsjahr – verdankt sich wohl weniger irgendwelchen subjektiven Genialitäten, auch kaum einem kollektiven kulturellen Sprung, sondern eher politischen, genauer: militärisch-ökonomischen Interessen, in Verbindung mit einem sich rasend schnell in alle Raffinessen entfaltenden Medienapparat. Einsteins Rolle in diesen Geflechten scheint bis heute nicht restlos geklärt.

Zum anderen greift das Buch über die bloß historische Dokumentation hinaus zu Perspektiven, deren Tragweite erst noch zu ermessen bleibt: zu einer aus Kants Opus postumum entwickelten Äthertheorie. Kundigere Leser mögen bei diesem Wort zusammenzucken: Der Äther gehört zu jenen im Europa des 19. Jhs. umgehenden Gespenstern. Doch ist zu beachten, daß Kants spätes, unvollendetes Werk fast hundert Jahre lang unzugänglich, ja verleumdet war. Erst 1882-84 wurden größere Stücke publiziert, eine vollständigere, doch immer noch unangemessene Edition erfolgte 1936/38. Man darf vermuten, daß eine frühere Veröffentlichung den Verlauf der physikalischen Forschung beeinflußt hätte.

Jedenfalls ist ‚Einstein’ mehr als ein Name. Es ist Symbol einer Bedrohung des praktikablen Gefüges klassischer Kosmologie. Diese knüpft sich ihrerseits an symbolische Namen: Euklid, Ptolemäus, Kopernikus – Kant. Brandmal jener Bedrohung freilich bleibt die Atombombe. Und die Bekanntheit jenes Namens, eine neue Idolatrie, scheint als Vorbild für ungezählte spätere Autoren zu dienen. Bis auf den heutigen Tag trägt großangelegtes Theorie-Design – vulgo: Marktschreierei ehrgeiziger Weltbildkonstrukteure – verwirrende Früchte. Einige Stichworte zur Erinnerung.

Einsteins 1905 veröffentlichte Aufsätze entfalten ihre Wirkung zunächst nur beim Fachpublikum. Im Frühjahr 1914 holen ihn Max Planck, Walter Nernst, Fritz Haber und Max v. Laue von Zürich nach Berlin; er wird ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und seit Oktober 1917 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Ende 1915 kommt er auf die richtige Formel der Allgemeinen RT. Deren Zusammenfassung sowie die populäre Darstellung erzeugen breites öffentliches Interesse.1 Bei der totalen Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 gelingt es, in Brasilien und in Westafrika die Lichtablenkung durch das Schwerefeld der Sonne zu messen. Am 6. November des Jahres werden in einer feierlichen Sitzung der Royal Society und der Royal Astronomical Society in London die Ergebnisse als Bestätigung von Einsteins Theorie bekanntgegeben. „Tags darauf beginnt die Einstein-Legende.“ Die Londoner Times verkündet eine „Revolution in der Wissenschaft“.2

Der ‚Relativitätsrummel’, die überall verbreiteten Schlagwörter – „Alles ist relativ“ usw. –, die suggerierte ‚Weltanschauung’, die ideologischen, nationalistischen, antisemitischen Ausbrüche bis hin zu Morddrohungen, die Anti-Einstein-Liga, die Deutsche Physik usw. – all das führt bei Einstein selbst zu gewissen Fluchtreaktionen. In den folgenden Jahren unternimmt er längere Reisen: 1921 USA (mit Chaim Weizmann), 1922 Japan, 1925 Argentinien und Brasilien usw.3 Im Herbst 1922 wird ihm für die Entdeckung des Gesetzes vom photoelektrischen Effekt der Nobelpreis zugesprochen. Um 1925 scheint der nach dem Krieg eingetretene Boykott deutscher Wissenschaftler überwunden, die außenpolitische Situation Deutschlands durch Stresemanns Verständigungs- und Entspannungspolitik verbessert. Die Angriffe auf Einstein flauen ab, um sich alsbald, im Zuge einer allgemeinen Abdrift nach rechts, wieder zu verstärken. Einsteins pazifistische Rede in New York am 14. Dezember 1930 erregt Aufsehen. Um die Jahreswende 1932/33 ist er erneut in den USA, kehrt nicht nach Deutschland zurück, sondern nach Belgien. Im Oktober 1933 geht er endgültig nach Princeton.

Einsteins Tod im Jahr 1955 fällt in eine Phase wieder beginnender Prosperität. An europäischen und amerikanischen Universitäten blühen nicht nur die ‚harten’ Naturwissenschaften, sondern auch deren theoretische Bearbeitung: Epistemologie, Methodologie, philosophy of science. Die Wortführer der internationalen Diskussionen hatten fast alle noch jenes Jahr 1919 miterlebt: die Mitglieder des Wiener Kreises – Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Hans Reichenbach –, Karl Popper und andere. Auch lebten noch viele Protagonisten jener Physik-Revolution. Als Niels Bohr starb, 1962, erschien Thomas S. Kuhns Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; kurz bevor Werner Heisenberg starb, 1976, kam Paul K. Feyerabends Buch Wider den Methodenzwang heraus.

Im folgenden eine durchaus kriminologische Skizze in drei Abschnitten: I. Einsteins Verhältnis zu Kant; II. die von Marcus und F/M vorgebrachte Kritik an Einstein, zugleich Materialien zur Genese des hier neu edierten Buches; III. dessen Quellen und Intentionen. Da es um eher unbekannte Texte und Kontexte geht, soll die Vielzahl der Zitate nicht verwundern.

I. Einstein ohne Kant?

F/Ms Titel Kant gegen Einstein trifft exakt das 1919 aufgebrochene Problem. Alle bisher hier genannten Autoren, die praktischen wie die theoretischen Physiker, erst recht die Philosophen, berufen sich auf Kant. Freilich in höchst unterschiedlicher Weise und mit divergenten Absichten. Einstein wußte um die Fronten. Am 8. Dezember 1919 findet er die plastische Formulierung von „der philosophischen Landeskirche der Kantianer“.4

Einer solchen Institution gehörten Marcus und F/M sicher nicht an, eher zählten sie – wenn sie als ‚Altkantianer’ überhaupt etwas zählten – zu den Häretikern. Andererseits erheben sie gegen Einstein unermüdlich den Vorwurf, Kants Leistung, seine kopernikanische Revolution, zu ignorieren, insbesondere seine erkenntnistheoretische Grundlegung der Physik zu verkennen. Die früheste Erwähnung findet sich in F/Ms scharfer Kritik an Walther Rathenaus Erfolgsbuch Von kommenden Dingen aus dem Jahr 1917:

„Charakteristisch für das Dunkelmannstum Rathenaus ist seine verständnislose Bekämpfung der Kantischen Ethik und Erkenntnistheorie. Der Glaube triumphiert sogar über die Mathematik, über Euklid: da sehen die Herren ‚Metageometer’ die üblen Folgen ihrer erkenntniskritischen Ahnungslosigkeit. Professor Einstein hat freilich Zeit genug, Kant nicht zu studieren – ja, das Nichtstudium Kants führt leicht zur Weltberühmtheit.“ (GS 2, 514)

Was so beiläufig klingt – Mangel an ‚Zeit’ –, trifft allerdings den zentralen Punkt. Am 24. Oktober 1916 schreibt Einstein seinem Freund Paul Ehrenfest in Leiden: „Hume hat wirklich gewaltigen Eindruck auf mich gemacht. Gegen ihn kommt mir Kant recht schwach vor, habe mir aber aus Zeitersparnis abgewöhnt, diese These zu verfechten.“ (CP 8, 346) Mit dem Bekenntnis zu Hume war es Einstein Ernst. Das zeigt eine Schlüsselstelle:

„Ich lese hier unter anderm Kants Prolegomena und fange an die ungeheure suggestive Wirkung zu begreifen, die von diesem Kerl ausgegangen ist und immer noch ausgeht. Wenn man ihm nur die Existenz synthetischer Urteile a priori zugibt, ist man schon gefangen. Das ‚a priori’ muß ich in ‚konventionell’ abschwächen, um nicht widersprechen zu müssen, aber auch dann paßt es nicht in den Einzelheiten. Immerhin ist es sehr hübsch zu lesen, wenn auch nicht so schön wie sein Vorgänger Hume, der auch bedeutend mehr gesunden Instinkt hatte.“5

Was Einstein über Kants Wirkung sagt – gilt es nicht eher für seine, Einsteins Wirkung? Wenn er den Apriorismus zu einem Konventionalismus „abschwächen“ will, so ist das streng genommen eine Entgegensetzung; eben diese Opposition bildet den Streitpunkt der gesamten Debatte: Der Apriorismus habe zuwenig „gesunden Instinkt“. Im Kant-Jahr 1924 schreibt Einstein in einer Rezension:

„Winternitz behauptet also mit Kant, daß Wissenschaft sei eine gedankliche Konstruktion auf Grund von Prinzipien a priori. Daß das Gebäude unserer Wissenschaft auf Prinzipien ruht und ruhen muß, die nicht selbst aus der Erfahrung stmmen, das wird wohl ohne Zweifel anerkannt werden. Bei mir fängt der Zweifel erst an, wenn nach der Dignität jener Prinzipien gefragt wird, bezw. nach ihrer Unersetzlichkeit. Sind jene Prinzipien wenigstens zum Teil so beschaffen, daß Wissenschaft mit ihrer Abänderung unverträglich ist, oder sind sie insgesamt bloße Konventionen wie das Ordnungsprinzip der Wörter in einem Lexikon? W. neigt zu der ersteren Auffassung, ich zu der letzteren.“ (Einstein 1924a, 21 f.)

Bereits am 14. Dezember 1915 vermerkt Einstein in einem Brief an Schlick: „Das Vertrauen auf die ‚apodiktische Gewißheit’ der ‚synthetischen Urteile a priori’ wird schwer erschüttert durch die Erkenntnis der Ungültigkeit auch nur eines einzigen dieser Urteile.“6 Vier Jahre später, in einem programmatischen Aufsatz im Berliner Tageblatt, erklärt er: Theorien, ja Grundgesetze werden nicht durch Sortieren einzelner Tatsachen erkannt oder durch Induktion erschlossen, sondern durch „intuitive Erfassung des Wesentlichen eines großen Tatsachenkomplexes“. Das ist ein schöpferischer Akt. Ihm folgt der handwerkliche Teil, das Deduzieren oder mathematische Herleiten von Folgerungen und ihr Vergleich mit den Erfahrungen.

„Eine Theorie kann also wohl als unrichtig erkannt werden, wenn in ihren Deduktionen ein logischer Fehler ist, oder als unzutreffend, wenn eine Tatsache mit einer ihrer Folgerungen nicht im Einklang ist. Niemals aber kann die Wahrheit einer Theorie erwiesen werden. Denn niemals weiß man, daß auch in Zukunft keine Erfahrung bekannt werden wird, die ihren Folgerungen widerspricht ...“ (Einstein 1919)

Das war freilich auch Marcus bekannt: „Nach einem Prinzip der Naturwissenschaft, das unumstößlich ist, ist eine Hypothese falsch, wenn sie auch nur mit einer einzigen Erfahrungstatsache in Widerstreit tritt.“7 Läßt sich aber dieses naturwissenschaftliche, also praktisch-empirische Prinzip einfachhin übertragen auf transzendentale Betrachtungen – auf Kants Frage, wie Erfahrung überhaupt möglich sei? Was beabsichtigt das Lehrstück vom Apriorismus denn anderes als die zukünftige Begegnung mit dem Objekt? Wie also kann sich der Übergang von der Metaphysik zur Physik vollziehen? Zwischen den beiden Territorien der reinen und der angewandten Naturwissenschaft, der Freiheit und der Natur, dem Rationalen und dem Empirischen, gähnt eine Kluft. Sie soll nicht in einem Sprung (saltus), mit einem „gefährlichen Schritt (salto mortale)“ überwunden werden. Sondern es geht darum, zwischen beiden Ufern eine Brücke zu schlagen und dabei die Regel zu beachten:

„(nach dem schertzenden Spruch eines Philosophen) es zu machen wie die Elephanten die nicht eher einen der 4 Füße einen Fuß weiter setzen als bis sie fühlen daß die andern drey feststehen“.8

Der Brückenbauer kann die Statik der Brücke schon berechnen, bevor er noch auf der anderen Seite der Schlucht war, sofern er eben nach Prinzipien a priori baut. Das ist Kants Idee einer „materialen Antizipation“.9 Sie ist niemals bis ins Ohr der Relativisten gedrungen. Der kleine erkenntnistheoretische Exkurs zu Beginn von Einsteins Autobiographie bestätigt die Kontinuität seines Denkens. Wenn er die Sinnen-Erlebnisse scharf unterscheidet von den in Büchern niedergelegten Begriffen und Sätzen, so war ihm zwar besagte Kluft bewußt, nicht aber die Idee jenes Königsberger pontifex. Einstein bleibt in vorkantischer Schematik befangen, wenn er die Begriffssysteme als „logisch gänzlich willkürlich“ bezeichnet:

„Hume erkannte klar, daß gewisse Begriffe, z. B. der der Kausalität, durch logische Methoden nicht aus dem Erfahrungsmaterial abgeleitet werden können. Kant, von der Unentbehrlichkeit gewisser Begriffe durchdrungen, hielt sie – so wie sie gewählt sind – für nötige Prämissen jeglichen Denkens und unterschied sie von Begriffen empirischen Ursprungs. Ich bin aber davon überzeugt, daß diese Unterscheidung irrtümlich ist, bezw. dem Problem nicht in natürlicher Weise gerecht wird. Alle Begriffe, auch die erlebnis-nächsten, sind vom logischen Gesichtspunkte aus freie Setzungen, genau wie der Begriff der Kausalität.“ (Einstein 1949a, 12)

Solcher Relativismus ist ein Nominalismus, für den alle Allgemeinheiten (Universalien), im Gegensatz zu den Einzelheiten (Singularien), bloße flatus vocis bilden. In dieser Sphäre, in der es nur Konventionen, willkürliche oder „freie“ Setzungen gibt, können wir also machen, was wir wollen. Absolute Geltungen gibt es nur in einem ganz anderen Bereich; Wilhelm von Ockham etwa faßte dies theologisch, Einstein nennt es „kosmische Religiosität“. Für Kant freilich sind die transzendentalen Ideen keine einfachen Begriffe, sie können nicht gewählt werden und niemals als Prämissen des Denkens dienen. Sondern es sind Entwürfe der Vernunft, um Erfahrung überhaupt möglich zu machen. Amphibolie, heißt es im Opus postumum, ist die Verwechslung eines logischen Grundes und des Kausalgesetzes; für den Verstand gilt nicht, was für das Sinnenobjekt gilt (Ak XXII, 313 u. 315).

Indem Einstein auf Hume zurückgreift, ignoriert er nicht nur Kants Überwindung von dessen Skeptizismus und Metaphysikfurcht; er blendet auch die mächtige Tradition eines sozusagen negativen Denkens aus, die Apagoge, den indirekten Beweis.10 Der individuelle schöpferische Akt steht am Beginn, ihm folgt das Prüfen, Vergleichen, Messen. Das „Entwerfen nach einer Idee“ (Kant) führt zu einem Produkt meiner Vernunft. Erkläre ich dieses unentwegt für ‚hypothetisch’, ‚approximativ’, ‚relativ’, so werfe ich das einzig sichere Instrument weg, das ich haben kann, das Gebilde der Vernunft, den Maßstab. Die von Einstein so betonte Intuition, der kreative Moment, entspricht allerdings der zentralen Idee Kants, der Theorie des aktiven, spontanen Bewußtseins.11 Doch kann der ausdrückliche Versuch, Kant zu umgehen, nicht dadurch sanktioniert werden, daß man, wie allzuviele Autoren nach Einstein, in unzähligen Varianten die Meinung nachplappert, durch eine physikalische Revolution sei Kant ‚überwunden’, ‚veraltet’, ‚erledigt’. F/Ms Antwort lautet: Wer so redet, hat Kant nicht verstanden – hat vor allem nicht begriffen, daß Kant noch die Vorgaben für Einstein liefert.

Sicher, die Dinge sind sehr verwickelt. Max v. Laue, Einsteins Förderer und Freund, Verfasser der ersten Monographie über das Relativitätsprinzip (1911), 1914 für seine Entdeckung der Beugung von Röntgenstrahlen beim Durchgang durch Kristalle mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, schreibt in seiner Autobiographie:

„Ich habe nie ein philosophisches Kolleg gehört, aber mich viel und eingehend mit Kantischer Philosophie beschäftigt. Ich las anfangs die Darstellung Kuno Fischers in seiner Geschichte der Philosophie, später und dann immer wieder von neuem Kants Kritik der reinen Vernunft, auch andere seiner Werke, vor allem die zur Ethik. Die Anregung dazu stammte aus der Gymnasialzeit [...], aber erst in den Universitätsjahren wurde ich reif, Philosophie, wie ich meine, zu verstehen. Sie hat mein Dasein von Grund aus umgestaltet, selbst die Physik scheint mir seitdem ihre eigentliche Würde nur daher zu beziehen, daß sie ein wesentliches Hilfsmittel der Philosophie abgibt. Wie ich denn überhaupt die Auffassung habe, daß sich sämtliche Wissenschaften um die Philosophie als ihr gemeinsames Zentrum herumgruppieren müssen und daß der Dienst an ihr ihr eigentlicher Zweck ist.“12

Marcus und F/M gegen Einstein

Ernst Marcus, geboren 1856 in Kamen, Westfalen, studiert Jura in Bonn und Berlin und wird ab 1885 in verschiedenen westfälischen Städten als Assessor und Richter tätig; seit seiner Ernennung zum Amtsrichter 1890 lebt er in Essen. Kurz vorher gelangt er durch Lektüre Schopenhauers zur Beschäftigung mit Kant. 1899 begegnet ihm F/M, der jedes Jahr einige Wochen bei seinem Schwager, dem Rabbiner Salomon Samuel in Essen verbringt.13 Marcus wird F/Ms Lehrer, dieser weist seit 1917 immer eindringlicher auf jenen hin. Im selben Jahr 1899 veröffentlicht Marcus sein erstes Buch.14 Es folgen vier Bücher,15 mehrere Aufsätze von Buchformat und Rezensionen, letztere meist in der Frankfurter Zeitung. Deren Chefredakteur war bis 1933 Robert Drill, Ökonom, Kulturkritiker, Kantianer und Förderer von Marcus. Dieser setzt nach einer Pause zwischen 1910 und 1917 die Reihe seiner Publikationen fort: sechs Bücher und viele kleinere Texte. Nach Marcus’ Tod am 30. Oktober 1928 widmet sich F/M noch energischer seinem Erbe:

„Mit dem Zuruf: ‚Ich sehe in Ihnen auch die Hauptstütze meiner Bestrebungen’ hat er mich legitimiert, in seinem Namen weiterzuwirken, auch wenn die Hoffnung, die er mir aussprach: ‚Hoffentlich werden Sie wenigstens sich noch des Erfolges freuen können’, wie es den frappanten Anschein hat, zunichte werden sollte. Ist doch bekanntlich unsere interessante ‚Moderne’ längst über Kant hinaus .... nicht wahr?“16

Eine präzise Charakterisierung von Marcus’ Philosophieren ist derzeit kaum möglich. Seine Veröffentlichungen müssen erst noch dem Bibliotheksstaub entrissen werden. Zwar erschienen Rezensionen seiner Bücher auch im Ausland, seit 1905 in The Philosophical Review (New York) und in Frankreich, doch gehört er bis heute zu den vergessenen Philosophen – mehr noch als F/M, der von schärfer hinsehenden Germanisten gelegentlich wahrgenommen wird. Die akademische Betriebsamkeit hat bei all ihrem philosophiehistorischem Eifer diese beiden Altkantianer noch nicht wiederentdeckt. Selbst die überspezialisierte Kantforschung ist achtlos an einem so gründlichen Geist wie Marcus vorübergegangen – um zu schweigen von F/M, der Kant so lebendig inszeniert hat wie kein anderer.17 Marcus setzte sich zum Ziel, „der Lehre Kants eine neue Darstellung zu geben“, die deren Verständnis übertragbar macht, und er spricht einmal von „angewandter Transzendentalphilosophie“ (Marcus 1925b, V u. 20). „Immanuel Kant hat nur das Stenogramm der Wahrheit geliefert, und die Entzifferung ist bisher eigentlich nur Marcus gelungen.“ (Mahnruf, 46)

Auf F/Ms Anregung beginnt Marcus die Einstein-Literatur intensiv durchzuarbeiten.18 Jener schreibt am 10. September 1920 aus Essen an seinen Freund Alfred Kubin: „Ich habe hier interessante Gespräche mit (dem jetzt 64jährigen) Ernst Marcus über ‚Kant contra Einstein’.“ Sechs Wochen später, am 25. Oktober:

„Marcus wird gegen Einstein polemisieren: insbesondre gegen die Bevorzugung des lediglich Mathematischen vor dem Dynamischen, und gegen die metageometrischen Interpretationen gewisser Formeln. Der Raum werde aus Dimensionen nicht erzeugt, nur konstruiert.“ (Briefe Kubin, 131 u. 133)

Der genaue Gegenstand jener Gespräche läßt sich nicht ausmachen – Kant contra Einstein ist der Titel einer im selben Jahr 1920 erschienenen Broschüre von Leonore Ripke-Kühn.19 Doch tragen sie bald Früchte. In seiner ausführlichen Rezension zu Emanuel Laskers Buch Philosophie des Unvollendbar (1919) wirft F/M dem Schachweltmeister vor, er mißverstehe „Kants Grundidee der absoluten Vollkommenheit, ohne welche wir die Welt der Erfahrung ja gar nicht unvollkommen, unvollendbar finden könnten“, und er verwechsle Kants praktische Vernunft mit einem „modernen Pragmatismus“, „bei dem die Wahrheit aus Utilität erwächst“. Doch schreibt er auch:

logischer20