Inhalt



Martin Kay

Kampf um Thardos

 

Atlantis



Eine Veröffentlichung des
Atlantis-Verlages, Stolberg
Mai 2017



Titelbild: Emmanuel Henné
Umschlaggestaltung: Timo Kümmel
Lektorat und Satz: André Piotrowski


ISBN der Paperback-Ausgabe: 978-3-86402-134-3
ISBN der E-Book-Ausgabe (EPUB): 978-3-86402-147-3

Dieses E-Book ist auch als Paperback überall im Handel erhältlich sowie als Hardcover direkt beim Verlag.

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Prolog

Die letzte Explosion riss Jerie von den Füßen. Es kam ihr vor, als würde ihr der Boden direkt unter den Beinen weggezogen. Sie stolperte und fiel der Länge nach hin. Ihre Ellbogen schlugen hart auf dem Geröllboden auf, doch sie verkniff sich den Schmerz, als sie das metallische Scheppern hörte. Panik stieg in ihr auf. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie hoch und suchte ihre beim Sturz verloren gegangene Waffe. Ihr Blick schweifte über den aufgeplatzten Fußboden. Erst als es draußen aufblitzte und der Lichtschein in den Innenraum fiel, nahm sie das Funkeln auf dem Metalllauf ihrer Pistole wahr. Aufatmend robbte sie auf die Waffe zu und griff nach ihr. Jerie rollte sich auf den Rücken, zog das Magazin aus dem Griff und stellte resigniert fest, dass sich keine einzige Patrone mehr darin befand.

Mies, dachte sie. Nur noch ein Schuss in der Kammer. Achselzuckend schob sie das Magazin in den Schacht zurück und blieb eine Weile auf dem kühlen Boden liegen. Sie schloss die Augen und versuchte, sich zu entspannen, doch die Bilder, die auf ihren Netzhäuten flimmerten, ließen ihr keine Ruhe. Jerie verkrampfte sich. Die Erinnerungen waren schlimmer als körperliche Folter.

Sie atmete tief durch, öffnete die Lider und wuchtete sich mit einem Ruck hoch. Wenn sie überleben wollte, musste sie raus hier. Es war nicht sicher. Nirgends war es mehr sicher, seit sie hier waren. Sie hatten alles verändert. Die ganze Welt war aus den Fugen geraten.

Die Fremden, die sich selbst Archalaya nannten, hatten ihnen anfangs vorgemacht, sie kämen in Frieden, doch als sie erst einmal die Besonderheit dieser Welt entdeckt hatten, kannten sie keine Skrupel, alles an sich zu reißen – auch wenn das bedeutete, Jeries Volk zum Untergang zu verdammen.

Die junge Frau bewegte sich auf allen vieren zu einem Fensterrand und schaute nach draußen. Schweres Artilleriefeuer ihrer eigenen Streitkräfte hatte diesen Teil der Stadt, womöglich den ganzen Planeten, in einen Haufen aus Schutt verwandelt. Hin und wieder zuckten gleißende Blitze aus den Energiewaffen der Fremden durch die Nacht. Ihre Technologie war der von Jeries Volk haushoch überlegen, und es mochte nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sie die ganze Welt eroberten. Vielleicht lebte dann von Jeries Leuten niemand mehr …

Ihre Hand umklammerte den Griff der Projektilwaffe. Es gab keine Chance. Sie waren den Angreifern hilflos ausgeliefert.

Keine Möglichkeit zur Rettung.

Nur zur Vergeltung.

Das war es, was Jerie vorhatte. Wenn sie die Eindringlinge nicht aus eigener Kraft vertreiben konnten, dann mochte es vielleicht jemand anderes für sie tun. Die Gewissheit, dass die Fremden für ihren feigen Angriff büßen würden, beruhigte Jerie für einen Augenblick, auch wenn sie die Stunde der Rache selbst nicht mehr miterleben würde.

Na schön, dachte sie, wandte sich vom Fenster ab und stürmte in geduckter Haltung durch den Ausgang des Gebäudes. Sie lief, so schnell sie in ihrer Verfassung noch konnte, zu dem großen Drillingsturm am Stadtrand hinüber. Er lag vielleicht fünf Blocks von ihrem jetzigen Standort entfernt, und sie wusste, dass sie nur eine geringe Chance hatte, es überhaupt bis dorthin zu schaffen. Der Lärm um sie herum war beinahe unerträglich. Ständig war das Rattern von Maschinengewehren zu hören. Das Geräusch der von panzerbrechenden Geschützen und Granatwerfern abgegebenen Schüsse hämmerte durch den frühen Abend und immer wieder war das schrille Zischen sich entladender Energiewaffen der Fremden zu vernehmen.

Jerie schluckte. Jeder dieser Laute bedeutete einen Gefallenen in ihren Reihen. Über allem donnerten die schweren Feldgeschütze, um die Deckungen des Feindes zu zerschlagen, doch sie konnten der fortgeschrittenen Technologie der Gegner kaum etwas entgegensetzen. Nur selten schaffte es ein Geschoss, eine Schwachstelle in ihren Schutzschirmen zu finden.

Jerie sah sich um und folgte dem Straßenverlauf, sofern es ihr gelang, überhaupt noch eine Straße auszumachen. Wo sie hinsah, waren die Gebäude eingestürzt, nur noch Ruinen einer ehemals stolzen Stadt. Eine Stadt, die wieder aufgebaut werden konnte, doch niemals wieder würde das Leben so in ihr pulsieren, wie Jerie es kannte. Die Zeiten des Friedens waren endgültig vorbei.

Geröll und loses Gestein aus zersprengten Häusern und umgestürzten Türmen pflasterten ihren Weg. Immer wieder traf sie auf Leichen von Zivilisten; diese mussten schon bei der ersten Angriffswelle umgekommen sein. Sie schaffte es, sich drei Blocks ungeschoren fortzubewegen, als sie Rufe von der gegenüberliegenden Straßenseite vernahm. Jerie hielt im Schritt inne und sah sich gehetzt um. Dann fasste sie einen Entschluss und verschanzte sich im Eingang einer Ruine. Sie bemühte sich, ihren rasenden Atem zu beruhigen, und presste sich mit dem Rücken gegen die mit Rissen durchzogene Wand.

Die Stimmen kamen näher und waren jetzt sogar zu verstehen. Worte in Jeries Sprache wurden gesprochen, doch die Fremden sprachen sie akzentfrei, deshalb war es nicht gesagt, dass sie tatsächlich auf ihre eigenen Leute traf. So verharrte sie in ihrer Position und wartete. Nur wenige Minuten darauf bog eine Gruppe aus fünf Soldaten um die Ecke. Jerie zuckte zusammen und starrte den Kriegern mit vor Schreck geweiteten Augen entgegen.

Sie waren es!

Unwillkürlich hielt die junge Frau den Atem an und verwünschte sich dafür, nicht mehr Munition für ihre Waffe mitgenommen zu haben. Mit nur einer Patrone im Lauf konnte sie nicht das Geringste ausrichten. Andererseits hatten diese Soldaten dort vermutlich ihre Schutzschirme eingeschaltet, die jegliche Geschosse und sogar Energiestrahlen einfach ablenkten.

Sie sind unverwundbar, dachte Jerie seufzend.

Die Gruppe setzte ihren Weg fort, der genau an Jeries Versteck vorbeiführte. Sie trugen ihre gebräuchliche Gefechtsuniform: meerblaue, enge Hosen, darüber schwere, blutrote Stiefel und leichte, blaue Hemden, deren Ärmel sie angesichts der heißen Temperaturen hochgekrempelt hatten. Unter ihnen war auch eine Frau, die anstelle des Hemdes ein knappes Top aus Leder trug, das gerade einmal ihre Brüste verdeckte, ansonsten blanke, sonnengebräunte Haut preisgab. Mit Ausnahme der Frau hatten sich die Fremden bullige Metalltornister auf die Rücken geschnallt, die im ersten Moment an kompakte Sauerstoffflaschen für Taucher erinnerten. Doch Jerie kannte mittlerweile ihren Zweck. Aus einer Buchse am Tornister führte ein dünnes Spiralkabel zur Unterseite des Griffstücks ihrer Strahlengewehre. Der Rucksack war nichts anderes als ein Energietornister für die mächtigen Waffen der Fremden.

Die Frau trug eine handlichere Pistole im Hüftholster, doch auch aus diesem Griffstück lugte ein dehnbares Kabel hervor; dieses war in eine kleine Ladebatterie am Gürtel gestöpselt. Als die Fremde die Hand hob, blieb die Gruppe mit einem Mal stehen. Jerie, die sich noch unentdeckt glaubte, presste sich fester an die Wand und traute sich nicht einmal zu atmen.

»Funkspruch von der Zentrale«, sagte die Fremde zu ihren männlichen Begleitern und berührte ein Sensorfeld an ihrem Gürtel. »Wir sollen uns in Sektor sieben sammeln, um unsere Truppen dort zu unterstützen.«

Die Männer senkten ihre Gewehre und berührten alle die gleichen sensorischen Tasten an ihren Gürteln. Von einer Sekunde auf die nächste waren sie verschwunden!

Ungläubig starrte Jerie zu der Stelle, wo die Gruppe eben noch gestanden hatte. Nichts deutete darauf hin, dass dort jemals irgendwer gewesen war. Sollte sie sich das alles eingebildet haben?

Nach gut einer Minute und einem heftigen Ringen mit ihrer Neugier und ihrer Angst gab sie Ersterer nach und trat ins Freie hinaus. Sie untersuchte den Platz, wo die Feinde verschwunden waren. Deutlich waren im Staub ihre Fußabdrücke zu erkennen.

Keine Einbildung!, sagte sie sich. Aber wo waren sie hin? Eine weitere Waffe ihrer hohen Technologie? Sie mussten eine Möglichkeit haben, sich auf diese Weise fortzubewegen.

Sie können ohne Zeitverlust große Strecken überwinden, schloss Jerie. Dabei hatte sie das Verschwinden nicht einmal richtig wahrgenommen. Sie waren nicht verblasst, sondern einfach fort. Wie aus der Realität herausgeschnitten. Sie werden immer unheimlicher.

Jerie stand auf und blickte sich um. Wäre nicht der permanente Kampflärm um sie herum, der schon fast zur Gewohnheit geworden war, würde es beinahe ruhig in der Straße wirken. Jerie mahnte sich zur Eile. Wenn sie ihren Plan der Vergeltung ausführen wollte, dann durfte sie keine Zeit mehr verlieren. Dieses plötzliche Verschwinden der Fremden bedeutete im Umkehrschluss, dass sie auch auf einmal vor ihr erscheinen konnten!

Sie beeilte sich, die restlichen beiden Blocks hinter sich zu bringen, und prallte betroffen zurück, als sie in die Hauptstraße einbog und die Drillingstürme vor sich sah. Die Gebäude stellten das stolzeste und höchste Bauwerk des gesamten Planeten dar, bevor die Fremden es vernichteten. Von den gewaltigen Türmen, die die Spitzen eines gleichseitigen Dreiecks gebildet hatten, war nicht mehr viel übrig geblieben. Zwei der Türme waren bis auf zehn Stockwerke dem Erdboden gleichgemacht worden, und der dritte hatte zwar nur die obersten fünfzehn Etagen von dreihundert eingebüßt, doch er war vollständig ausgebrannt. Nur noch ein Gerippe aus geschmolzenen Stahlträgern, das beim nächsten Sturm einfach einstürzen würde.

Tränen stiegen Jerie beim Anblick des zerstörten Bauwerks in die Augen. Es hatte den gesamten Stolz und das Können ihres Volkes repräsentiert, nun war es tot, so tot, wie sie bald sein würde. Vor den gefallenen Wolkenkratzern türmte sich eine schier unüberwindbare Barriere auf: eine riesige Geröllhalde aus Beton, Stahlträgern und Drahtgeflechten – Überreste der vernichteten Gebäude.

Jerie presste die Lippen zusammen und sah sich ein letztes Mal nach allen Seiten um, ehe sie den entscheidenden Schritt auf die Drillingstürme zu machte. Nach wenigen Metern stolperte sie fast über eine Leiche. Es war einer der Fremden, der in seltsam verkrümmter Haltung auf dem Boden in einer Lache aus geronnenem Blut lag. Wahrscheinlich hatte sein Schutzschirm versagt, als ihn eine Kugel am Hals erwischte. Jerie blieb neben ihm stehen, bückte sich und schloss seine Augenlider.

Wie menschlich sie doch sind, dachte sie. Überhaupt nicht von uns zu unterscheiden. Sie hatte immer geglaubt, dass Bewohner von anderen Planeten fremdartig, eben anders aussehen mussten als Menschen. Doch diese hier bewiesen das Gegenteil. Es gab auf anderen Welten Menschen überaus ähnliche Rassen.

Jerie nahm die Strahlenpistole des Fremden an sich, stellte aber fest, dass die Drähte, die zur Ladebatterie an seinem Gürtel führten, durchtrennt waren. Um sicherzugehen, dass die Waffe wirklich nutzlos war, richtete sie sie gen Himmel und betätigte den Abzug. Nichts geschah. Seufzend ließ sie das wertlose Stück einfach fallen und ging weiter. Sie brauchte knapp eine Stunde, um die Formation der Türme einmal zu umrunden und einen einigermaßen begehbaren Durchgang durch den Trümmerhaufen zu finden. Ächzend arbeitete sie sich durch das Geröll und schaffte es tatsächlich, das Innere eines der drei Türme zu erreichen. Es handelte sich dabei um einen der beiden, deren Stockwerke bis auf ein Minimum reduziert worden waren. Aber es spielte für Jerie kaum eine Rolle, in welchem der Türme sie sich befand, denn alle drei waren unterirdisch durch Tunnel miteinander verbunden.

Das Foyer des Gebäudes sah noch schlimmer aus, als Jerie vermutet hatte. Hier stand kaum noch ein Stein auf dem anderen. Überall lagen Glas und demoliertes Mobiliar. Die Decke war teilweise eingestürzt. Lose Kabelenden hingen aus Wänden und Decken. Jerie überprüfte kurz die Fahrstühle und bestätigte damit ihre Vermutung, dass sie nicht mehr in Betrieb waren. Die meisten Kabinen der zwölf Aufzüge waren vollkommen zerstört, das gesamte Gebäude ohne Elektrizität.

Jerie wusste, dass es einen Notabstieg gab. Sie kämpfte sich durch den Wirrwarr aus unzähligen Kabeln, umgeworfenen Möbeln, aufgerissenen Bodenplatten und Bruchstücken aus Beton zu einer kleinen Tür hinter dem Pult des Nachtwächters hindurch. Sie brauchte zwei Anläufe, um die Tür aufzustoßen, und prellte sich dabei die Schulter. Die Kammer dahinter war kaum größer als eine Telefonzelle, und sie endete an einer zweiten Tür, die nicht versperrt war. Jerie öffnete sie und trat in das nach unten führende Treppenhaus. Es bestand aus einem engen Flur mit einer schmalen Treppe. Eine Einrichtung für Notfälle, falls das Haupttreppenhaus nicht mehr zugänglich war. Jerie taumelte die schmalen Stufen hinunter und erreichte nach einigen Minuten einen Korridor, in den auch die Nottreppen der beiden anderen Türme führten.

Am Ende des Ganges befand sich ein Aufzug. Den Kontrollleuchten zufolge schien dieser von einem Notstromaggregat versorgt zu werden und noch in Betrieb zu sein. Aufatmend blieb Jerie vor der Tür stehen und studierte die Kontrolltafel. Wenn man den Zugangscode in der Zwischenzeit nicht geändert hatte, sollte es ihr möglich sein, den Lift zu benutzen. Immerhin hatte sie jahrelang in diesem Gebäude gearbeitet, bevor die Eindringlinge ihre Welt heimsuchten. Hastig flogen ihre Finger über die Tastatur und gaben die Zahlenkombination ein. Als sie die Bestätigungstaste drückte, geschah im ersten Moment nichts, und Jerie befürchtete schon, die Armaturen wären vom Angriff nicht verschont geblieben. Doch ehe sie wirklich resignieren konnte, schob sich die Aufzugtür mit einem Summen beiseite.

»Wieder Glück gehabt«, sagte sie und erschrak bei ihren eigenen Worten. Sie hatte lange nicht mehr gesprochen, vielleicht schon seit der ersten Angriffswelle der Fremden. Über den Klang ihrer eigenen Stimme verwundert betrat sie den Lift und wählte am Auswahlpult Fahrtrichtung, Zieletage und Fahrtgeschwindigkeit des Aufzuges an. Die Tür schloss sich. Sofort setzte sich die Kabine in Bewegung. Es ging nach unten. Jerie blickte zu der Stockwerkanzeige und sah die Etagen nur so vorbeirauschen. Das Gebäude hatte vor dem Angriff dreihundert Stockwerke in den Himmel geragt. Hundert Etagen befanden sich unter der Erde. Womöglich lebten hier noch irgendwo Menschen, die den Angriff überlebt und sich verschanzt hatten. Jerie hatte keine Zeit, sich mit diesem Problem zu befassen. Sie wollte einzig und allein dafür sorgen, dass die Archalaya ihre gerechte Strafe bekamen.

Mit voller Geschwindigkeit sauste der Lift in die Tiefe. Beim einhundertsten Stockwerk wurde er sanft abgefangen und rauschte nun durch einen Tunnel seitwärts weiter. Schließlich hielt er an. Die Tür öffnete sich automatisch. Jerie atmete tief durch und lief aus der Kabine. Sie fand sich in einem länglichen, vielleicht hundert Quadratmeter großen Raum wieder, der mit elektronischen Geräten vollgestopft war. Entschlossen hielt Jerie vor einer Tafel an, studierte kurz die Anzeigen und begann dann, sich an den Kontrollen zu schaffen zu machen. Fieberhaft setzte sie Hebel in Gang, drückte Tasten nieder und drehte an Reglern.

»Ich würde das an deiner Stelle nicht tun!«

Die Stimme durchschnitt wie ein scharfes Schwert die Stille. Jerie zuckte zusammen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie kannte die Stimme, es war seine Stimme! Damit hatte alles begonnen, mit seiner Stimme.

Langsam drehte sie sich herum. Ihre Augen weiteten sich.

»Du?«

Ihr Gegenüber nickte. Er war ein Archalaya und trug eine der Strahlenwaffen bei sich, aber sie steckte in seinem Hüftholster – ein Zeichen dafür, dass er Jerie nicht ernst nahm.

»Was willst du?«, fragte sie mit aufkeimender Wut. Wo war er so plötzlich hergekommen? Sie erinnerte sich an die Gruppe der fünf Soldaten, die sie in der Stadt angetroffen hatte, und an deren Möglichkeit, Entfernungen im Handumdrehen zu überwinden. Demnach war er ihr also die ganze Zeit gefolgt und wusste, was sie vorhatte. Na schön, sie würde es ihm nicht einfach machen.

»Was immer du auch vorhast, ich werde dich daran hindern«, entgegnete er gelassen. »Und ich will euer Geheimnis!«

Das ist es also, dachte sie. Ihre Finger krampften sich fester um den Griff der Pistole. Sie hielt die Hand hinter ihrem Rücken, glaubte aber nicht, ihn damit täuschen zu können, denn immerhin war er Soldat. Ein Schuss, du hast nur einen einzigen Schuss!

»Unser Geheimnis?«, fragte sie. »Es wäre nie zu einem Geheimnis geworden. Wir hätten die Schätze unserer Welt mit euch teilen können, wenn ihr uns im Gegenzug Kenntnisse eurer Technologie vermittelt hättet. Ein faires Handelsabkommen, aber nein, ihr dachtet nicht daran zu teilen. Ihr wolltet alles haben, nicht wahr?«

Der Archalaya spannte sich und verschränkte dann die Hände vor der Brust. Er musterte sie von oben bis unten und schien zu lauern wie eine Spinne, die darauf wartete, dass eine vorbeihuschende Fliege sich in ihrem Netz verfing.

»Es war nicht meine Entscheidung, Jerie«, sagte er ruhig. »Glaub mir, ich mag dich wirklich sehr. Hast du schon die Zeit mit uns vergessen?«

»Und, was war es für dich?«, keifte sie ihn nun an. »Ein Experiment, um herauszufinden, ob unsere Rassen sich paaren können? Ich muss dich enttäuschen, ich bin nicht schwanger geworden.«

Der Fremde machte einen Schritt auf Jerie zu. Sie zwang sich zur Ruhe, ermahnte sich, abzuwarten und keinen Fehler zu begehen. Sie hatte die Archalaya im Kampf gesehen; sie waren gut, verdammt gut. Zudem wusste sie nicht, ob er seinen Schutzschirm eingeschaltet hatte oder nicht.

»Nein, es liegt mir wirklich etwas an dir, Jerie.«

»So?«

Er nickte. Dann deutete er mit dem Kinn in Richtung der Instrumente, die hinter ihr lagen. »Was ist das?«

Jerie biss die Zähne aufeinander. Vielleicht sollte sie ihn unwissend lassen, aber vielleicht konnte sie ihn auch ablenken, während sie es ihm erklärte. »Das hier ist eine unabhängig arbeitende Computerzentrale. Von hier aus kann ich Kontakt zu unseren Kommunikationssatelliten im Orbit aufnehmen und sie veranlassen, ein Notsignal in alle Richtungen des Universums zu senden.«

Der Archalaya schüttelte verständnislos den Kopf. »Wozu?«

»Um Hilfe herbeizurufen«, sagte Jerie kühl.

»Hilfe?« Nun lachte der Mann fast. »Schätzchen, ihr habt nicht die Technologie, ein Hyperfunksignal zu senden. Das nächste bewohnte Sonnensystem ist zig Lichtjahre entfernt. Selbst wenn tatsächlich jemand das Signal auffangen sollte und sich dann auch noch überlegt, zu Hilfe zu eilen, würde es Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte dauern, bis er hier eintrifft.«

»Und wenn schon!«, knurrte sie. »Ich hoffe, es ist jemand, der euch gehörig in den Arsch tritt!«

Der Mann zog die Brauen hoch. »Glaubst du wirklich, wir wären nach Jahrhunderten noch hier?«

Oh ja, das werdet ihr. Denn ihr könnt das Geheimnis unserer Welt nicht so einfach entschlüsseln, selbst mit eurer ach so überlegenen Technik nicht. Unsere Wissenschaftler haben Jahrtausende gebraucht … Ihr werdet das Geheimnis lüften wollen. Es liegt in eurer Natur, hartnäckig zu sein. Ja, ihr werdet noch hier sein, wenn der Zauber beginnt.

Jerie teilte dem anderen ihre Gedanken nicht mit. Sie senkte einfach den Kopf. Als sie seine Schritte hörte, straffte sie sich und war bereit zu handeln. Blitzschnell zog sie die Pistole hinter dem Rücken hervor, legte an und zog den Abzug zurück. Die Kugel bohrte sich mit Wucht in die Stirn des Fremden. Sein Kopf wurde zurückgeworfen. Der Mann taumelte zwei Schritte nach hinten, fasste sich für einen Augenblick und starrte Jerie ungläubig an. Dann sank er tot in sich zusammen. Ein Beweis, dass er seinen Schutzschild nicht eingeschaltet hatte.

Sie ließ die nun wertlose Waffe fallen, wandte sich um und beeilte sich, ihr Werk zu vollenden, bevor weitere Archalaya hier auftauchten. Binnen kurzer Zeit schaffte sie es endlich, das Notsignal abzustrahlen. Der Sender war stark genug, die Atmosphäre zu durchdringen und Kontakt zu den Relaissatelliten im Orbit herzustellen. Sofern die Archalaya noch welche von ihnen übrig gelassen hatten, würde das Signal in der gesamten bekannten Galaxis gehört werden.

Jerie stieß den angehaltenen Atem aus und sank mit dem Rücken gegen die Schalttafel gelehnt zu Boden. Sie blieb dort sitzen, vergrub das Gesicht in die Hände und betete zu allem, woran sie glaubte, dass es tatsächlich irgendjemanden gab, der ihren Ruf empfing. Selbst wenn es so war, musste dieser Jemand in der Lage sein, ihn zu interpretieren. Er musste eine interstellare Raumfahrt entwickelt haben, was bei Jeries Volk nicht der Fall war. Und dieser Jemand musste mächtig genug sein, um die Archalaya aus dem Universum zu pusten.

So viele Faktoren spielten eine Rolle.

Zu viele.