Cover

Patricia Shaw

Im Land der tausend Sonnen

Roman

Aus dem Englischen von Elisabeth Hartmann

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Patricia Shaw

Patricia Shaw wurde 1929 in Melbourne geboren und lebt heute in Queensland an der Goldküste Australiens. Über viele Jahre leitete sie das Archiv für »Oral History« in Queensland und schrieb zwei Sachbücher über die Erschließung Australiens. Erst mit 52 Jahren entschied sie sich ganz für das freie Schriftstellerleben und hat seither 19 Romane veröffentlicht.

Über dieses Buch

1874: Pastor Beitz macht sich mit einigen Landsleuten nach Australien auf, um dort ein neues Leben anzufangen. Doch das erhoffte Paradies gleicht eher einem Dschungel. Als die Gemeinde nach anfänglichen Problemen aufblüht, wird sie plötzlich von einem Neuankömmling bedroht – und nur der eingeborene Seher Tibbaling durchschaut dessen Plan …

Impressum

Die englische Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel »The Dream Seakers« bei Headline Publishing Group, London.

 

eBook-Ausgabe 2012

Knaur eBook

© 2001 Patricia Shaw

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2009 Schneekluth Verlag GmbH, München

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Gettyimages/Peter Hendrie

ISBN 978-3-426-41509-2

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Für John und Wendy Daniher,
Margaret und Lorraine.
Im Gedenken an Julia

Erster Teil

1. Kapitel

Hamburg, November 1874

Mörder!«

Bedrohlich hallte es durch die Nacht. Ein Kirchenmann drückte sich zitternd vor Kälte in das Holzhäuschen des Nachtwächters und hörte das dumpfe Knallen von Stiefeln auf nassen Bohlen, als einige Männer vorüberliefen. Ängstlich riefen sie in den Nebel hinein, während sie sich der Menschenansammlung näherten, die in der dunklen Gasse wogte. Es schien, als fürchteten sie, eine Erdspalte könnte sich vor ihnen auftun, eine Erdspalte, in die sie blind hineintappen würden, wenn sie aufhörten zu rufen und sich vorzutasten, denn niemand machte sich die Mühe, ihnen zu antworten. Sollten sie doch kommen und sich selbst überzeugen. Hier unten in der grauen Düsternis waren keine lauten Stimmen zu hören, nur Flüstern, als sollte der Tote nicht aufgeweckt oder gestört werden. Die Männer, ihre Mützen tief in die gefurchten Stirnen gezogen, fanden sich zu ständig wechselnden Gruppen zusammen, scharrten mit den Füßen, spien aus, warteten, rauchten Pfeife und bliesen unter nervösen, misstrauisch flackernden Blicken warmen Atem auf kalte Hände.

Wieder und wieder wurden die gleichen Fragen gestellt, wenn Neuankömmlinge sich unter die Gruppen mischten und andere still weitergingen, weil es nichts mehr zu sehen gab.

»Eine Leiche! Sie haben eine Leiche gefunden! Ermordet! Hier unten in der Gasse. Im alten Kornspeicher.«

»Was für eine Leiche? Wie ist das passiert? Wer ist … wer war er?«

»Umgelegt, grausam erschlagen. Sie haben ihm die Kehle aufgeschlitzt.«

»Nein! Mein Kumpel hat ihn gesehen. Ihm wurde die Kehle nicht durchgeschnitten. Die Schläge über den Schädel haben gereicht. Sie haben ihm das ganze Gesicht eingeschlagen.«

»Der arme Kerl wusste wohl gar nicht, wie ihm geschah. Wohin willst du?«

»Ich will ihn auch sehen.«

»Da darf jetzt keiner hin. Der Inspektor sagt, wir müssen Abstand halten.«

»Wer war der Ermordete?«

»Ich weiß nicht. Er ist nicht von hier, ein Seemann vielleicht.«

»Nein. Ich hab gehört, er sei Schauspieler.«

»Wer sagt das? Ein Schauspieler? Woher hast du das denn? Ein Schauspieler! Und was kommt als Nächstes?«

»Stimmt aber. Ich hab es von den Wachmännern gehört.«

»Haben sie die Schurken gefasst?«

»Wohl nicht. In dieser Gegend hier gibt es ja mehr Strauchdiebe als ehrliche Leute.«

»Wer hat die Leiche gefunden?«

»Ein paar Huren auf der Suche nach einem lauschigen Plätzchen. Sie haben die Wache und den Inspektor geholt, und dann kam gleich ein Pfarrer.«

»So schnell?«

»Klar, solang es was zu verdienen gibt, sind sie immer schnell. Der Pfarrer hat den Toten gekannt und ihn identifiziert.«

»Das muss ein Schock für ihn gewesen sein.«

»Doch nicht für einen Pfarrer. Die sehen ständig irgendwelche Toten. Fast genauso oft wie Soldaten.«

»Und wenn sie in den Krieg ziehen würden, bekämen sie mehr als alle anderen zu sehen.«

»Ach, halt den Mund, Bert. Geh nach Hause.«

»Das ist mir einer, dieser Bert! Wieso treibt sich überhaupt ein Pfarrer um diese Zeit auf den Docks herum?«

»Er wollte auf die Clovis, die heute Nacht ausläuft. Er ist da unten im Wachhäuschen. Frag ihn doch selbst.«

Vom anderen Ende der Gasse her hörten sie das Klappern eines leichten Karrens, vermutlich der Karren des Leichenbestatters, und die Aufregung verflog.

Die letzte der breiten Gestalten tauchte im Nebel unter, als Inspektor Backhaus mit seinen Wachmännern aus der Gasse heraustrat, froh, es hinter sich zu haben. Er würde gegen neun zu Hause sein, rechtzeitig zum warmen Abendessen mit der Familie und bevor das Feuer im Herd ausging. Später würde kein Holz mehr da sein. Die Holzkärrner hatten sich geweigert zu liefern, solange er die Rechnung nicht bezahlt hatte.

Er schnaubte ärgerlich, woraufhin seine beiden Begleiter forscher ausschritten, eifrig bemüht, ihm zu gefallen, damit er nicht ihnen die Schuld gab, dass sich in seinem Bezirk schon wieder ein Verbrechen ereignet hatte. Aber wie hätten sie es verhindern können? Selbst der Inspektor, der vom Militär zur Abteilung für den Schutz der Bürger und Seefahrer in der Umgebung der Docks abgestellt worden war, hatte zugegeben, dass der Mord nicht hier geschehen sein konnte. Bei der Suche unter dem Schein der Laternen hatten sie kein Blut auf den faulenden Holzbohlen, sondern lediglich Schleifspuren entdeckt. Ratlos hatten sie in die engen, düsteren Straßen geblickt, mit ihren ärmlichen Unterkünften, die sich wie Kaninchenställe manchmal fünf Stockwerke hoch erhoben und Unterschlupf für Verbrecher, Schläger und Schmuggler boten – eine Heimstatt der Verzweifelten und Verkommenen, allesamt eine Gefahr für die ehrlichen Bürger und die Bewohner der Gasthäuser und Pensionen, die nervös darauf warteten, dass sie an Bord ihrer Schiffe gerufen wurden. Es schien, als sei dieser Teil der Menschheit hier in eine Sackgasse geraten, hier im Gewoge des Hafenviertels, das nur einigen wenigen Glücklichen ein Entkommen gestattete.

Backhaus fauchte sie an: »Jemand muss ihn hierher gebracht haben! Hättet ihr die Augen offen gehalten, wäre euch ein Verdächtiger aufgefallen. Oder glaubt ihr vielleicht, es sähe nicht verdächtig aus, wenn einer eine Leiche mit sich herumschleppt?«

Sie hüteten sich, darauf hinzuweisen, dass diese kopfsteingepflasterten Gassen und Unterführungen zu den Werften ein regelrechtes Labyrinth waren. Sie konnten nicht ständig überall gleichzeitig Streife gehen. Wachtmeister Fritz hatte den Inspektor schon vor einem Monat darauf aufmerksam gemacht und war auf der Stelle entlassen worden. Backhaus war ein harter Mann. Nicht einmal als der arme Bruno Fischer von Schlägern überfallen wurde, die ihm seine Laterne raubten, zeigte er Mitleid. So, wie der Inspektor sich damals aufführte, hätte man meinen können, Bruno selbst sei der Täter.

»Eine Laterne zu verlieren«, sagte der Inspektor, »ist dasselbe, als würde ein Soldat seine Waffe verlieren.«

Dieser Inspektor war zweifellos ein wenig verrückt. Und aufbrausend. Am besten stellte man sich gut mit ihm. In diesem Augenblick hätten sie um ein Haar hämisch gelacht, als er auf dem nassen, verzogenen Holz ausglitt, sich jedoch gerade noch vor einem Sturz retten konnte, indem er sich mit der Linken abfing und so das Gleichgewicht wiederfand. Seine rechte Hand hätte ihm auch nicht viel genützt. Sie hing nahezu unbrauchbar herab, als Folge von Säbelhieben, Verletzungen, wie man hörte, die tiefer gingen als nur ins Fleisch. Verletzungen, die ihn vom Militär hier in den Hafen geführt hatten – einen griesgrämigen, verbitterten Mann.

Sie sollten nicht wissen, dass ihr Vorgesetzter auf einem Feldzug befördert worden war, wenige Tage vor seiner Verwundung, und die Beförderung war in seinen Entlassungspapieren nicht aufgeführt. Trotz all seiner Proteste, trotz seiner Beteuerung, dass er in Wirklichkeit nicht mehr Offiziersanwärter, sondern Offizier sei und daher Anspruch auf eine Pension habe, stand er auf verlorenem Posten.

Backhaus selbst hasste seine Arbeit, wagte jedoch nicht, sie aufzugeben, solange sich ihm keine andere Beschäftigung bot. Er konnte seine Familie nicht ernähren von dem Hungerlohn, den er bekam, es war weit weniger, wie er bald herausfand, als die Summe, die der Hafenbeamte ihm genannt hatte. Im Grunde war alles, was er besaß, ein wohlklingender Titel für einen Posten, der dem eines Hauptwachtmeisters gleichkam, und ein Haufen Schulden. Er schlug zurück, indem er seine Männer anschnauzte und den Eindruck eiserner Disziplin erweckte – und indem er die Berichte fälschte. Kristian Backhaus war es völlig gleichgültig, wie viele Menschen in seinem Bezirk beraubt, ermordet oder schanghait wurden, solange seine Berichte zeigten, dass die Verbrechensrate unter seiner Führung zurückging – auf dem Papier tat sie genau das, und zwar in äußerst zufrieden stellendem Tempo, wodurch seine Vorgesetzten auf ihn aufmerksam werden und ihn vielleicht für verantwortungsvollere Posten vorschlagen würden.

Er blieb stehen und zündete sich eine Zigarre an. »Wo ist dieser Kerl?«

»Der Pfarrer? Er ist da drüben im Wachhäuschen. Er hat es eilig. Muss auf sein Schiff.«

»Er geht an Bord, wenn ich es sage, vorher nicht. Bringt ihn in mein Büro.«

»Büro«, murmelte er vor sich hin. »Eher eine Zelle als ein Büro.« Man hatte einen kalten, feuchten Raum im hinteren Teil des Zollhauses für ihn eingerichtet, groß genug für seinen Schreibtisch, ein paar Stühle und ein Regal, in dem die Bezirkskarten aufbewahrt wurden, die zum Teil noch aus der Zeit vor der großen Feuersbrunst stammten. Der muffige Geruch, der in diesem Raum herrschte, war so übermächtig, dass Backhaus gelegentlich versucht war, »versehentlich« selbst einen Brand zu legen.

Er eilte über die Straße und die lange steinerne Treppenflucht zu seinem Büro hinunter, um am Schreibtisch Platz zu nehmen, bevor der Kerl ihm vorgeführt wurde. Dieser Pfarrer. Dieser übereifrige Narr, der auf das Gekreische der Huren, die die Leiche gefunden hatten, in den Kornspeicher stürmen musste und sie auch noch identifizierte. Verdammtes Pech war das, denn nun musste er Ermittlungen anstellen. Wenn dieser Pfarrer sich herausgehalten hätte, wäre der Tote in der Leichenhalle vielleicht nicht mehr gewesen als eine Nummer, schnell vergessen. Hätte nichts mit seinem Bezirk zu tun haben müssen. Aber jetzt … jetzt war es schon etwas komplizierter. Diese Leiche, angeschleppt von Gott weiß woher, gehörte überhaupt nicht in seine Akten. Sie hätte übersehen werden können, hätte übersehen werden müssen …

Er war eifrig mit Feder und Tinte beschäftigt, als der Pfarrer sich schüchtern zur Tür hereindrückte, einen umfangreichen Koffer hinter sich herziehend.

»Mein Herr. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Ich bedaure den Tod dieses armen Mannes zutiefst, aber ich bin in Eile.« Er klammerte sich an den Koffer, als wäre er ein Rettungsring, als bräuchte er ihn, um sich daran festzuhalten.

Backhaus bedeutete den Wachmännern zu gehen und konzentrierte sich auf den Zeugen.

Er war groß, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, mit den für seinen Beruf typischen weichen weißen Händen und feinen Gesichtszügen – abgesehen von der scharfen Nase. Haar und Bart, die beide dringend eines Barbiers bedurften, waren rötlich braun. Man könnte meinen, er sähe gut aus, überlegte der Inspektor, würde sein Benehmen nicht eine Schwäche verraten. Denn der Bursche sprach mit einer hohlen, blechernen Stimme und hielt den Blick auf den Boden geheftet. Liegt wohl auch an seinem Beruf, dachte der Inspektor, dem der gesenkte Kopf und das zu demütiger Beugung bereite Knie auffielen.

Aber was hätte man anderes erwarten können?

Die Starken gingen zum Militär, die Schwachen unterwarfen sich der Kirche.

Der Pfarrer war jedoch sauber gekleidet, trug den üblichen schwarzen Hut, einen schwarzen Rock und gute Spangenschuhe, eine Nummer zu groß, wenn nicht mehr. Wahrscheinlich stammten sie aus zweiter Hand.

»Name?«, bellte Backhaus, und der Pfarrer fuhr zusammen.

»Vikar Friedrich Ritter.«

»Sie dürfen sich setzen. Beruf?«

»Mein Herr, wie Sie vielleicht bemerkt haben, bin ich Geistlicher. Bei den Lutheranern. Ich habe erst kürzlich die Weihen empfangen, nachdem ich meine Studien am St.-Johannis-Seminar hier in Hamburg abgeschlossen hatte.«

»Ja, ja. Der Name des Toten?« Inspektor Backhaus machte sich Notizen auf einem Blatt Papier, das zunächst einmal in einem offenen Berichtsbuch steckte. Es war noch zu früh, um die Angaben des Mannes unwiderruflich ins Buch einzutragen.

»Otto Haupt.«

»Beruf?«

»Ich glaube, er war Bühnenkünstler.«

»Welcher Art? Ein Hanswurst? Ein Jongleur? Oder was?«

»Schauspieler, glaube ich. Ich kannte ihn nicht sehr gut.«

Der Vikar warf verzweifelte Blicke um sich, als hoffte er auf Rettung, doch der Inspektor fuhr fort.

»Ich wundere mich, dass Sie ihn überhaupt kannten. Wie haben sich Ihre Wege gekreuzt?«

Ritter seufzte. »Ich habe in einer Pension in der Kanalstraße Wohnung genommen, ein ungemütliches Haus, aber etwas Besseres konnte ich mir nicht leisten. Ich wollte gern in Hafennähe wohnen, weil mein Schiff zum Ablegen bereit vor Anker lag, doch das Auslaufen wurde aus Gründen, die wohl der Kapitän am besten kennt, hier jedoch unbedeutend sind, immer wieder verschoben. Ich habe meine Mahlzeiten in einem Gasthaus weiter unten an der Kanalstraße eingenommen, und dort traf ich Herrn Haupt. Er schien etwas mehr Format zu haben als die übrigen Gestalten, die in dem Gasthaus wohnten, daher war ich froh über seine Gesellschaft, wenn auch nur aus Gründen der Sicherheit. Lieber Gott, ich denke nur an mich selbst, und der arme Herr Haupt …«

»Was wollten Sie sagen?«

»Wir führten ein gutes Gespräch beim Abendbrot, doch als es ans Zahlen ging, stellte ich fest, dass Herr Haupt kein Geld hatte.«

Der Inspektor seufzte.

»Ich musste also für uns beide bezahlen. Wie sich herausstellte, war Herr Haupt ins Unglück geraten. Er hoffte darauf, für die Überfahrt nach London auf einem Schiff arbeiten zu können, wo, wie er sagte, Bühnenkünstler gute Chancen haben.«

»Stammte er aus dieser Gegend?«

»Nein. Er war nicht von hier. Dessen bin ich mir sicher. Ich bin überaus nervös, mein Herr, wegen dieses schrecklichen Mords und der Notwendigkeit, rechtzeitig an Bord zu kommen. Mag sein, dass er gesagt hat, woher er kam, aber ich erinnere mich einfach nicht.«

»Wo hat er gewohnt?«

»Er hatte keine Unterkunft. Er bat mich um Geld, doch ich konnte ihm nichts geben. Am nächsten Tag sah ich ihn wieder, und da er mir Leid tat, lud ich ihn auf mein Zimmer ein, um Brot und Wurst und ein wärmendes Glas Wein mit ihm zu teilen. Es wirft ein trauriges Licht auf unsere Zeiten, dass Otto Haupt mir zum Dank dafür meinen Mantel stahl. Es war ein guter, fester Mantel, ausgezeichnetes Tuch, den ich als Abschiedsgeschenk bekommen hatte …«

»Und dessentwegen er wahrscheinlich umgebracht worden ist.« Der Inspektor hob die Schultern. »Also war Ihr Herr Haupt nichts weiter als ein Dieb. Wahrscheinlich war er nicht mal Schauspieler. Ein Schurke, der auf Ihre Naivität spekuliert hat. Sie sollten vorsichtiger sein. Seien Sie in Zukunft nicht so vertrauensselig.«

»Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich muss mich jetzt wirklich verabschieden. Mein Schiff geht nach Australien. Die Überfahrt kostet viel Geld. Ich muss an Bord gehen, oder ich werde niemals …«

»Was sagten Sie? Wohin geht Ihr Schiff?«

»Nach Australien, mein Herr. Die Clovis … das ist ein gutes Schiff, ein Dreimaster. Bald schon wird der Anker gelichtet.«

»Australien? Mein lieber Mann. Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Sie können es sich nicht leisten, dieses Schiff zu versäumen. Guter Gott, nein. Sie reisen ja auf die andere Seite der Weltkugel!«

Er sprang auf, um dem sanften Vikar auf den Weg zu helfen, und läutete die Messingglocke vor seiner Tür, woraufhin einer seiner Wachleute eintrat. »Hier! Bringen Sie den frommen Mann zu seinem Schiff. Sorgen Sie dafür, dass er sicher an Bord gelangt. Nehmen Sie den schweren Koffer. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie aufgehalten habe, Herr Vikar. Ich hoffe, Sie haben eine sichere und angenehme Reise. Und nun leben Sie wohl.«

Der stämmige Wachmann führte den Vikar hinaus in die Dunkelheit, und der Inspektor wartete geduldig im Schein der Laterne, um sicherzugehen, dass Ritter tatsächlich wohlbehalten auf sein Schiff kam – freilich ohne zu wissen, dass Zeugen für gewöhnlich ihre Aussage unterzeichnen mussten. Dann trat Backhaus zufrieden zurück ins Haus. Was ihn betraf, war in seinem Bezirk kein Verbrechen begangen worden, abgesehen davon, dass jemand eine Leiche im Kornspeicher abgelegt hatte. Für einen solchen Vorfall war kein Platz in seinen Berichten. Der Tote war ein gewöhnlicher Dieb ohne festen Wohnsitz, den ein Kerl auf dem Weg zum Ende der Welt identifiziert hatte. Nichts leichter, als beide schnellstens zu vergessen.

Er nahm seinen Wettermantel vom Haken und fragte sich, warum jemand es mit den Weltmeeren aufnahm, um zu einem fremden Kontinent wie Australien zu reisen. Egal. Das war nicht sein Problem. Hier war das Leben schon schwer genug, auch ohne der Zivilisation den Rücken zu kehren. Er zerriss die Notizen, die er gemacht hatte. Es war Zeit, nach Hause zu gehen.

2. Kapitel

Die Augen, die in den kleinen Spiegel blickten, waren graugrün, dunkel gerändert und ruhig. Es waren nicht die Augen eines schwachen Menschen, dafür waren sie zu kalt, zu selbstsicher. Sie verengten sich mit seinem Grinsen, als er mit den Bewegungen des Schiffes schwankte und dann ein paar Schritte durch die winzige Kabine torkelte, um den Spiegel an einem Nagel in der Wand aufzuhängen. Er musste sich herabbeugen, um sein Gesicht zu sehen, aber es würde schon gehen. Er sprach das Gesicht an, das ihm aus dem Glas entgegenblickte.

»Nun, Vikar Ritter, da wären wir also. Die Kabine ist ja nichts Tolles, ist kaum als Luke zu bezeichnen, aber wir haben sie wenigstens für uns allein. Wer hätte auch gedacht, dass du zweiter Klasse reist. Die Kirchen haben doch mehr Geld als der König. Da hätten sie ihren Apostel doch wenigstens etwas komfortabler auf die Reise schicken können. Andererseits ist Komfort wohl eher den Bischöfen vorbehalten, und du bist ja nur ein kleiner Fisch. Viel zu beeindruckt von den Heiligkeiten, um dich zu wehren. Ein Wunder, dass du nicht auch noch zu den Flagellanten gehörst. Oder bist du etwa einer? Wie auch immer, wir sind gut an Bord gekommen. Überhaupt kein Problem. Ein Kinderspiel. Und nun werden wir uns hier einrichten.«

Er warf den Koffer auf die schmale Pritsche, löste die Riemen, um ihn zu öffnen, und entnahm ihm einen Mantel, der obenauf lag.

»Mir war eiskalt, aber ich konnte ihn nicht anziehen.« Das Gesicht lachte. »Zurücklassen wollte ich ihn aber auch nicht. Ein wirklich guter Mantel. Ein Geschenk, wie du sagtest. Und das wurde dir von Otto Haupt, diesem Schurken, gestohlen. Ein schrecklicher Mensch, Herr vergib ihm! Aber mach dir nichts draus, Friedrich. Du hast es versucht. Du hast dein Brot mit ihm geteilt. Du hast mit ihm gebetet. Du hast dein Bestes getan. Allerdings hättest du ihm niemals den Rücken zukehren dürfen. Schlimmer Fehler. Du warst der Herausforderung einfach nicht gewachsen, obwohl du Jahre damit zugebracht hast, zu studieren und dich auf die Welt vorzubereiten.«

Er drehte sich um und blickte wieder in den Spiegel.

»Hörst du zu, Freddy? Es stört dich doch nicht, wenn ich dich Freddy nenne, oder? ›Vikar‹ erscheint mir jetzt ein wenig zu gestelzt. Weißt du, du hast überhaupt keine Erfahrung mit der Welt. Gott weiß, wie es dir am anderen Ende der Welt ergangen wäre. Wärst wahrscheinlich gleich in der ersten Woche von einem Tiger gefressen worden. Oder ein anderer Otto Haupt hätte dich ins Meer geworfen. Du bist einfach viel zu vertrauensselig. Du platzt vor Güte und Heiligkeit und glaubst alles, was man dir sagt. Und dann triffst du auf Otto. Wir nennen ihn einfach Otto, wenngleich das nicht sein richtiger Name, nicht mal sein Künstlername ist.«

Er durchstöberte den Koffer und warf einzelne Kleidungsstücke hinter sich.

»Doch einiges von dem, was er gesagt hat, stimmte. Er war Schauspieler, Bühnenkünstler, und zwar ein verdammt guter, wenngleich diese Trottel von Theaterdirektoren einen guten Schauspieler nicht von einem schlechten unterscheiden können. Es stimmt auch, dass er ins Unglück geraten war. Er steckte in der Klemme und war verzweifelt, weil er aus eurem abscheulichen Hamburger Zuchthaus geflohen war … bewaffneter Raubüberfall, kein großes Ding … doch das hat hier keine Bedeutung für uns. Er wollte nach England, aber du hast ihm so begeistert von der Neuen Welt erzählt, wohin du aufbrechen wolltest, wohin so viele von unseren Leuten auswandern, dass du ihn schließlich überzeugt hattest. Tatsächlich. Du hast sie geschildert wie den Garten Eden.«

Er warf ein Paar Halbschuhe, in denen Socken steckten, Krawatten, Hemden und Unterhosen von sich, hob ein paar Bücher auf und fand darunter einen großen Stoffbeutel.

»Ah! Was haben wir denn hier?« Während er den Beutel aufschnürte, setzte er seinen Monolog fort.

»So. Otto dachte, warum zum Teufel mache ich mich nicht vollends aus dem Staub? Verzeih die grobe Sprache. Darauf werden wir Acht geben müssen, wie? Doch der arme Otto hatte kein Geld fürs Essen, geschweige denn für eine Fahrkarte ans andere Ende der Welt, in diese glänzend schöne Welt, mit der du so geprahlt hast. Und je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Gewissheit, dass dort sein Schicksal wartete. Das verstehst du doch, nicht wahr, Friedrich? Du hast ihm quasi den Weg gewiesen. Du hast ihn in Versuchung geführt. Und direkt vor deiner Tür in dieser dunklen Gasse stand der Schubkarren des Fischverkäufers, den er über Nacht dort abgestellt hatte, das ideale Transportmittel für die eilige Fahrt zum Kornspeicher. Dort nämlich hat Otto für gewöhnlich geschlafen, weil er sich keine Wohnung leisten konnte.«

Der Beutel enthielt zwei billige lederne Brieftaschen. In der einen befanden sich nur Papiere, in der anderen Briefe und Dokumente, doch ganz unten im Beutel stieß er dann auf eine Geldbörse.

»Hallo! Dem Gewicht nach zu urteilen bin ich auf eine Goldader gestoßen. Ah ja …« Er zählte die Münzen auf die Strohmatratze.

»Wir haben hier sechzig Mark, Freddy, und du behauptest, arm zu sein. Konntest für Otto lediglich etwas Brot und Wurst erübrigen. Schämen sollst du dich! Doch: Wo zum Teufel … wollte sagen, wo auf Gottes schöner Welt ist dieses Land, von dem du erzählt hast? Irgendwo jenseits eines Ozeans. Aber welchen Ozean meintest du? Und wie lange dauert die Reise in dieses Traumland?«

Es klopfte an der Tür. Er öffnete und sah sich zwei Seemännern mit einer großen Holzkiste gegenüber.

»Gehört die Ihnen, Vikar Ritter?«

»Aber ja. Der Name steht doch drauf, klar und deutlich. Schieben Sie sie einfach rein.« Er lächelte breit, ein geübtes, gewinnendes Lächeln, das seine Augen blitzen ließ.

»Danke, meine Herren, herzlichen Dank. Übrigens, Australien. In welchem Hafen legen wir an?«

»In Maryborough.«

»Und wie lange dauert die Reise?«

Der ältere Seemann übernahm die Rolle des Wortführers. »Schwer zu sagen. Die Clovis ist ein schnelles Schiff. Wenn alles gut geht, dürfte sie es in drei Monaten schaffen, vielleicht eine Woche mehr oder weniger. Februar, schätze ich. Ja, das dürfte hinhauen.«

Er schloss die Tür hinter den Männern. »Hast du das gehört?«, zischte er. »Sind die wahnsinnig? Befinde ich mich auf einem Narrenschiff? Fahren monatelang auf dem Meer herum. Das kann doch nicht wahr sein! Und was ist in dieser Kiste? Wozu braucht ein Vikar eine Kiste voller Kleidung?« Doch sie enthielt nicht viel an Kleidung, abgesehen von Nachthemden und Mützen. Hauptsächlich waren Bücher in der Kiste, Bibeln, dicke Bände über spirituelle Führung, lutherische Gebet- und Gesangbücher und theologische Aufsätze, alle gut verpackt zwischen Haushaltsgegenständen: Bettleinen, Besteck, Teller, kleine Lampen, Kochtöpfe und sogar ein verzierter Nachttopf aus Porzellan. Grinsend stellte er das gute Stück auf den Boden.

»Du reist wie eine junge Braut, Freddy, aber einiges von diesem Kram wird immerhin unserer Bequemlichkeit dienen. Die Bettwäsche zum Beispiel. Ich habe seit einer Ewigkeit kein sauberes Laken mehr gesehen.« Die weitere Suche förderte ein paar wunderschön bestickte Altartücher, sorgfältig in geistliche Gewänder verpackt, zu Tage.

»Die muss ich irgendwann einmal anprobieren. Jetzt sollte ich diesen Kram aber besser sorgfältig wieder einpacken; auf die Amtstracht muss man stets gut Acht geben. Aber wirklich, Freddy! Sie hätten dir doch wenigstens ein bisschen Messwein mit auf den Weg geben können.«

Er schloss die Kiste und rückte sie an die Wand, wo sie ihm als Tisch dienen sollte, dann trat er dagegen.

»Himmel! Monate in dieser schaukelnden Kiste. Wir werden den Verstand verlieren, wenn wir so lange auf diesem Kahn festsitzen. Klipper sind doch angeblich schnelle Schiffe. Unser Pech, dass wir ausgerechnet das langsamste von allen erwischen mussten, voller verrückter Matrosen, die offenbar nicht wissen, was Geschwindigkeit ist.«

Er hörte den dumpfen Ton eines Nebelhorns und das durchdringende Läuten der Schiffsglocke und ließ sich stöhnend auf die Pritsche sinken. »Wir segeln immer noch flussabwärts, haben uns noch kaum von der Stelle gerührt. Monate! Vielleicht sollten wir im erstbesten Hafen von Bord gehen. Am besten gehe ich mal hinauf und erkundige mich, was los ist.«

Sorgfältig angekleidet und majestätisch in den Mantel gehüllt, kramte er den runden Velourshut hervor, der ihn als Diener Gottes auswies. Dann blieb er an der Tür stehen, in den Kulissen sozusagen, und bereitete sich auf seinen Auftritt vor. Er senkte den Kopf, faltete die Hände, knickte in den Knien ein und richtete die Zehen ein wenig einwärts. Die Stimme senkte er auf einen sanfteren Ton, befleißigte sich einer vornehmeren Aussprache und redete in einem weinerlichen Singsang, als stünde er auf der Kanzel.

»Guten Abend, gnädige Frau, gnädiger Herr. Wie geht es Ihnen? Ah, Gott segne Sie, mein Herr. Wirklich eine schöne Nacht. Und ein günstiger Wind, meinen Sie nicht auch?«

Er probte seinen Text, bis er ihn zu seiner Zufriedenheit beherrschte, dann stülpte er den schwarzen Hut auf den Kopf, zog ihn tief in die Stirn, um ernster und frommer zu wirken, und wagte sich hinaus, ein schüchterner, demütiger Vikar, der dringend des Rates erfahrener Reisender bedurfte.

 

Als er in seine Kabine zurückkam, war er bestürzt. »Wir legen erst wieder an, wenn wir die Kanarischen Inseln erreicht haben. Und weißt du, wo die liegen? Vor der Küste Afrikas! Afrika! Was für eine verrückte Expedition ist das überhaupt? Wir segeln auf dem Weg dorthin an einem Dutzend Häfen vorbei. An französischen Häfen, spanischen Häfen, wo ich mich von Bord schleichen und in der Dunkelheit untertauchen könnte. Aber es heißt, wir legen nicht an. Nicht einmal, um Proviant aufzunehmen. Auf diesem Schiff sind unglaublich viele Menschen, und ich kann nur hoffen, dass für alle genug zu essen da ist.

Ich bin rechtzeitig zum Mittagessen rausgekommen, das in einer Art lang gestrecktem Refektorium serviert wird. Jeder nimmt, was er kriegen kann, Kinder wuseln überall herum, und ihre Väter drängen und stoßen und greifen mit gierigen Händen nach jeder Platte, die aus der Küche gereicht wird, und die Frauen huschen geschäftig umher und versuchen, das System zu verstehen. Es war eine regelrechte Schlacht. Aber warte. Rate mal, wer am besten abgeschnitten hat? Ich! Höchstpersönlich. Siehst du … Gott schützt also doch die Schwachen. Denn ich habe mich tatsächlich auf die geforderte fromme Art zurückgehalten. Allerdings glaube ich eher, dass es mein Lutherrock war, der mir zum Vorteil gereichte.

Sie machten Platz für den Vikar. Und wie sich alle um mich bemühten! So viel Spaß hatte ich nicht mehr seit dem Tag, als mein alter Herr vom Pferd fiel, eine Böschung herunterrutschte und ertrank. Eine Zeit lang war es schön, Waise zu sein. Das dauerte jedoch nicht lange; bald hatten mich alle vergessen, und mit zehn Jahren lag ich auf der Straße und musste mich allein durchschlagen. Aber hör zu, Friedrich, ich bin ganz sicher, dass die guten Zeiten dieses Mal von Dauer sind. Viele Passagiere fürchten sich maßlos vor dieser langen Reise, und sie werden sich hüten, einen Geistlichen zu beleidigen, jemanden, der auf direktem Wege bei Gott ein gutes Wort für sie einlegen kann.«

Er lachte. »Ich habe die Situation ein bisschen forciert, als sie mich baten, das Tischgebet zu sprechen. Da habe ich sie an widrige Winde und aufgewühlte See, an Schiffbruch und Ertrinken erinnert … eine Dame fiel in Ohnmacht …, an alles, was sie erwarten mochte, sofern sie nicht auf den Herrn vertrauten. Es war komisch anzusehen. Ich habe dem Tumult ein Ende gemacht; nach meinem Gebet benahmen sich alle brav wie kleine Mäuse. Die Kellner, hier nennen sie sich Stewarts, konnten endlich ihrer Arbeit nachgehen. Sie waren sehr dankbar für mein Eingreifen. Und dann … ich verzehrte ein wenig Suppe, Schinken und Zunge, Sauerteigbrot und Bier. Abendbrot gibt es um neun, Kaffee und für jeden ein paar Brote. Ich werde da sein, es kostet schließlich nichts. Das Leben hier ist wohl doch gar nicht so übel. Ich glaube, bis dahin mache ich ein kleines Nickerchen.«

 

Am nächsten Morgen machte er sich gründlich mit dem Schiff vertraut. Das übervölkerte Zwischendeck erinnerte ihn an die vielen schmutzigen Elendsviertel, die er im Lauf der Jahre erduldet hatte, und er kehrte ihm sehr schnell den Rücken. Zu seinem Erstaunen entdeckte er Hühnerställe, Schafe und Kühe in engen Pferchen, Vorratskammern mit Gemüse und Dörrfleisch und Fässer voll mit Grundnahrungsmitteln.

»Wie auf der verdammten Arche«, brummte er säuerlich.

Dann begann er den Aufstieg, missachtete die Schilder, die den Durchgang verboten, gelangte in die erste Klasse, wanderte, das Gebetbuch in der Hand, über die windigen Decks und bewunderte unter gesenkten Lidern hervor all die schönen Menschen, die ihm begegneten, die Eleganz der Deckstühle und Tische unter einem Segeltuchdach. Die Bewunderung wandelte sich zu Neid, als er ein paar Stufen unter Deck ging, um den unglaublichen Luxus der Lounges und Salons zu bestaunen, den diese Menschen genossen. Indem er kühn aufs Geratewohl Türen öffnete und zur Entschuldigung vorgab, sich verirrt zu haben, konnte er Blicke in die Kabinen werfen, dann schlenderte er zu einem Musikzimmer, vorbei an einem glänzend polierten Klavier, und betrachtete, über alle Maßen erzürnt, das gut gefüllte Bücherregal an einer der Wände.

Auf einem Tisch fand er starr vor Schreck eine liegen gebliebene Speisekarte, die ihm das Menü des vergangenen Abends offenbarte: sechs Gänge, verschiedene Weine und Käsesorten, ein Menü, so großartig wie in einem renommierten Restaurant in der Stadt! Und diesen Menschen stand tagaus, tagein ein solcher Überfluss zur Verfügung! Er begab sich auf die Suche nach dem Speisesaal und fand wie erwartet die Tische glitzernd und funkelnd fürs Mittagessen eingedeckt.

Ein Offizier trat auf ihn zu. »Kann ich helfen?«

»Ja. Offenbar habe ich mich verirrt.«

»Ich verstehe. Darf ich Sie zu Ihrer Kabine geleiten? Ich glaube, Sie wohnen in der zweiten Klasse.«

»Genau. Aber all diese Gänge sind wie ein Labyrinth. Könnten Sie mir sagen, wo wir uns jetzt befinden? Das Schiff, meine ich.«

»Wir nähern uns der Elbmündung, und bald segeln wir schon über die Nordsee.«

»Und dann?«

»Dann fahren wir nach Süden, wärmeren Zonen entgegen.«

»Ah ja. Natürlich.«

Sie stiegen die Treppenfluchten zu den niedrigeren Klassen hinunter, wie der Vikar zornig bemerkte. »Welche Sprache spricht man in Australien?«, fragte er.

»Vorwiegend Englisch. Die Eingeborenen haben ihre eigenen Sprachen.«

»Kein Deutsch?«

»Nur sehr wenig.«

»Wie schade.«

»Sobald die Passagiere sich ein wenig eingelebt haben, bieten wir in jeder Klasse Englischunterricht an. Zweimal pro Woche. Das ist den Leuten eine große Hilfe.«

Er straffte sich, um zu erwidern: »Ich beherrsche das Englische bereits recht gut, danke.« Obwohl er genau wusste, wo er sich befand, schaute er sich in gespielter Ratlosigkeit um. »Wo sind wir bloß?«

Der Offizier öffnete eine Tür und wies mit einem Blick auf ein Schild über ihm. »Ihre Kabine befindet sich auf diesem Deck, mein Herr. Sie dürfen sich nur jenseits dieser Tür aufhalten, hier haben die Passagiere der zweiten Klasse nichts zu suchen.«

»Du liebe Güte, wahrhaftig.« Er tappte still von dannen, die Hand, die das Gebetbuch hielt, auf dem Geländer, die andere an die Brust gedrückt, als hielte er seinen Mantel geschlossen. »Kabine!«, murrte er, nicht zum ersten Mal. Er wusste inzwischen, dass es sich lediglich um ein abgeteiltes Plätzchen handelte, dass über ihm prachtvolle Kabinen lagen, die einem Prinzen genügt hätten.

Trotzdem ging er lächelnd seines Wegs. »Du wirst dich wundern, was ich hier habe, Freddy.«

Mit einer theatralischen Geste warf er seinen Mantel zurück, und eine in seine Weste geschobene Weinflasche kam zum Vorschein.

»Die hab ich aus einem Regal im Speisesaal geklaut, im Speisesaal der feinen Leute, Friedrich. Möchte wetten, du hast so etwas noch nie im Leben gesehen. Armer Kerl. Aber Otto kennt so was. Er hat in den besten Sälen diniert, wurde gefeiert, von Adligen, Damen und Herren gleichermaßen. Wenn du ein solches Leben einmal geschmeckt hast, dann ist es schwer, verdammt schwer, wieder in die Armut zurückzusinken, und deshalb musst du kämpfen, verstehst du? Das hat nichts zu tun mit Sünden und deinem Geschwafel über das Böse. Überhaupt nichts. Es waren schwere Zeiten, Theater wurden geschlossen, es gab kaum Arbeit, nicht mal für einen wirklich guten Schauspieler. Also musste Otto sein Glück auf andere Weise machen.«

Er kramte in dem Koffer und fand einen Korkenzieher. Kurz darauf saß er auf seiner Pritsche und trank aus der Flasche.

»Ein feines Gebräu, mein Lieber. Verdammt gut. Und das, obwohl ich die Flasche unbesehen genommen habe, sozusagen. Aber hör mal, wusstest du, dass in diesem merkwürdigen Land kein Deutsch gesprochen wird? Nur die Sprache der Eingeborenen und Englisch. Also …« Er wedelte wissend mit der Flasche. »Damit bin ich dir um eine Nasenlänge voraus. Ich spreche ziemlich gut Englisch. Bin mal einem englischen Shakespeare-Darsteller begegnet, und der hat es mir beigebracht. Wir haben auf privaten Soireen und Hausfesten vor adligem Publikum zusammen Szenen auf Englisch aufgeführt. Das war eine Zeit lang sehr gefragt, hat aber nicht viel eingebracht, deshalb hat er sich wieder aus dem Staub gemacht, nach England, vermute ich.

Du glaubst mir nicht? Dann hör dir das an: … Doch glaubt mir, werte Herren, ich werde mich als ehrlicher erweisen als diese, die mehr Geschick zum Fremdsein haben. Irgendwie passend, findest du nicht auch, Freddy? Wirklich komisch. Wenngleich ich nicht glaube, dass du großen Geschmack an Komödien findest. Nicht mal an den zotigen. Ich dagegen mag solche Frechheiten, die Rollen machen Spaß, und das Publikum ist begeistert … je schmutziger, desto besser. Doch in solchen Rollen sind die Clowns heimisch, sie sind nichts für den ernsthaften artiste, es sei denn, er hat, wie der arme Otto … Ach, lassen wir das jetzt. Das war einmal …

Heute, Freddy, my good chap … achte nicht drauf, ich übe mein Englisch … haben wir zu tun. Ich habe mir deine Bücher mal näher angesehen. Bestandsaufnahme, könnte man sagen.

Zunächst einmal stelle ich mit Freude fest, dass du im Besitz englischer Grammatikbücher und eines Wörterbuchs warst. Also wusstest du, dass wir Englischkenntnisse benötigen würden? Guter Mann, die Bücher werden mir sehr von Nutzen sein. An diesem Unterricht nehme ich nicht teil. Wir veranstalten hier in der Kabine unseren eigenen Unterricht. Täglich.

Dann … dein Handwerkszeug. Alles vorhanden. Vermutlich musstest du all diese Bücher studieren, angefangen mit der Bibel? Tut mir Leid, aber wir müssen von vorn anfangen. Ich will wissen, was darin geschrieben steht. Ich muss es sogar wissen, nicht wahr? Was nicht heißt, dass mich deine religiösen Theorien einen Scheißdreck interessieren, pardon, aber es liegt auf der Hand, dass ich vorbeten und über die lutherische … ich weiß … nonkonformistische Theologie sprechen muss, nein: predigen sogar.

Nun, Friedrich, deinen Katechismus kennst du bestimmt, aber von der Kanzel herab schlage ich dich um Längen.« Er breitete die Arme aus. »Die ganze Welt ist eine Bühne, und die Männer und Frauen sind lediglich Schauspieler … Ich brauche nur die Texte, und die finde ich in deinen heiligen Büchern.

Kommen wir nun zu all dem Kram, den du mit dir herumkarrst. Porträts von dir mit deinen Leuten … Andenken, wie nett. Doch die brauchst du nicht mehr.«

Er zerriss die besagten Bilder und warf die Schnipsel in den Abfalleimer.

»Empfehlungsschreiben, ja, die werden wir brauchen. Briefe von der Familie, nein.«

Als er die Papiere durchsah, stieß er auf eine Anweisung des Dekans vom Lutherischen Seminar hinsichtlich des Auftrages, den Vikar Ritter zu erfüllen hatte.

Er sollte auf dem Klipper Clovis den Hafen Maryborough im Staate Queensland, Australien, ansteuern und dort mit dem Küstendampfer weiterfahren zum Hafen von Bundaberg, etwa zwei Tagesreisen weiter nördlich gelegen. Dort sollte er sich bei Pastor Hans Beitz melden und seiner lutherischen Gemeinde als Hilfspfarrer dienen. Die sechzig in seinem Besitz befindlichen Mark sollte er Pastor Beitz gleich bei seiner Ankunft aushändigen. Das Geld stammte aus Spenden freundlicher Hamburger Pfarrkinder.

»Oho, Friedrich. Das tut mir aber Leid.«

In einem weniger förmlichen Brief wies der Dekan den Hilfspfarrer an, Pastor Beitz in jeder erdenklichen Weise zur Seite zu stehen, da dieser schon hochbetagt war und seine Freunde sich in Anbetracht des australischen Klimas um seine Gesundheit sorgten.

»Hochbetagt? Mein Vorgesetzter? Das sieht nicht schlecht für uns aus, Friedrich, das heißt, wenn wir es lange genug in unserer Gemeinde aushalten. Falls wir überhaupt dort ankommen. Mal sehen, wie wir uns fühlen, wenn wir die Kanarischen Inseln erreicht haben. Vielleicht nehmen wir dann schon Abschied von diesem Schaukelpferd und gehen an Land.«

 

Bevor sie von Bord gingen, befahl ein Offizier, die, »die auf dieser Insel an Land gehen wollen«, in den Salon, der gleichzeitig als Speiseraum diente.

Die meisten der Passagiere zweiter Klasse folgten dem Aufruf, begierig darauf, für eine Weile dem Schiff zu entkommen und wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Alle waren bester Stimmung und applaudierten jedem noch so kleinen Ratschlag von Seiten des Offiziers, selbst seiner Warnung vor Taschendieben, als hätte er dafür eine Belohnung verdient.

Der Vikar stand weit hinten und zeigte sich wenig beeindruckt von dem Hinweis, dass die Bewohner dieser Insel Spanisch sprachen, eine Sprache, von der er kein Wort verstand.

»Und ein bisschen Portugiesisch«, setzte der Offizier hinzu und erntete wiederum begeisterten Beifall.

Doch er war froh zu hören, dass er hier deutsches Geld in englische Währung umtauschen konnte, sogar zu einem guten Kurs. Er klopfte auf seine Westentasche, um sich zu vergewissern, dass das Geld des Dekans noch da war, und beschloss, auf der Insel zuallererst eine Bank aufzusuchen. Jeder, der den Salon verließ, musste in einem großen Logbuch mit seinem Namen oder auch mit einem Kreuz, sofern er des Schreibens unkundig war, bestätigen, dass er an Land ging. Der Vikar beäugte das Buch abschätzig. »Was soll das?«

»Befehl des Kapitäns, mein Herr. Bei der Rückkehr muss jeder Passagier noch einmal neben seiner ersten Unterschrift gegenzeichnen.«

»Wozu um alles in der Welt?«

»Der blinden Passagiere wegen. Auf diesen Inseln suchen flüchtige Sträflinge und Sklaven Unterschlupf und warten auf eine Möglichkeit, sich abzusetzen.«

»Mich wird man doch gewiss nicht mit einem flüchtigen Sträfling verwechseln, geschweige denn mit einem Sklaven. Ich brauche das nicht zu unterschreiben.«

»Es ist gleichzeitig unsere Anwesenheitsliste. So zählen wir, wie viele Personen im Beiboot an Land gegangen und wie viele zurückgekommen sind. Wir wollen ja niemanden an Land vergessen.«

Der Vikar dachte kurz nach. Wenn er sich also entschied, seine Reise hier ohne Vorankündigung abzubrechen, würden sie ihn suchen, die verdammten Idioten. Die einzige Möglichkeit, das Schiff zu verlassen, wenn er sich denn dazu entschließen sollte, bestand offenbar darin, dem Kapitän Bescheid zu geben. Und damit würde er die Aufmerksamkeit auf sich lenken, Neugier wecken … Er hielt die Warteschlange auf.

Ein ranghöherer Offizier trat vor. »Seien Sie so freundlich und unterschreiben Sie, mein Herr.«

Er griff nach der Feder. Friedrichs Handschrift hatte er bisher nicht gesehen. Jedenfalls nicht seine Unterschrift. Nur hier und da ein paar Notizen. Alle anderen Papiere im Koffer waren an ihn gerichtet oder für ihn bestimmt, aber nicht von ihm geschrieben.

Plötzlich hob er den Blick und lächelte, überrumpelte sie mit einem glückseligen Lächeln und unterschrieb dann mit großer Geste. Vikar Friedrich Ritter.

Beinahe hätte er gelacht. Wozu die Sorgen? Die Gegenzeichnung würde ja identisch sein. Was für ein dummes Würstchen war er doch, sich deswegen Gedanken zu machen.

Der Hafen war heiß und staubig und interessierte den Vikar nicht im Geringsten. Er schob die dunklen Gestalten, die Körbe voller Schmuck und Stoffballen verkaufen wollten, zur Seite, wich Passagieren aus, die ihn zum Spaziergang einluden, und eilte an einer kleinen Sandsteinkirche mit einem hübschen Turm vorüber. Er hielt erst wieder inne, als er die großen englischen Banknoten in den Händen hielt, voll hämischer Freude, dass sein Notgroschen auf einundachtzig Pfund angewachsen war. Kein schlechter Tausch.

Dann tauchte er in die dunkleren Nebenstraßen ein, bis er fand, was er suchte: einen einsamen kleinen Weinkeller, zu weit entfernt vom Hafen, um Seeleute zu seinen Kunden zu zählen, und dort ließ er sich in einem durchgesessenen, bequemen Rohrsessel nieder.

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit – seit Jahren, vermutete er – fühlte er sich behaglich, völlig entspannt. Keinerlei Grund zur Sorge. Als der ältliche Kellner zu ihm trat, legte er eine Pfundnote auf den wackligen Tisch und bestellte eine Mahlzeit und den besten Wein des Hauses und beauftragte den Mann, ihm ein paar gute Zigarren zu besorgen.

»Ausgezeichneter Service«, bemerkte er zu sich selbst, lehnte sich zurück, legte die Füße auf einen Stuhl, warf den hässlichen runden Hut und den weißen Kragen vorübergehend von sich, trank schweren roten Wein und rauchte eine herrliche Zigarre, während der nun zum Koch gewordene Kellner hinter dem hohen Tresen mit Töpfen und Geschirr klapperte.

Er erinnerte sich an eine weitere Einzelheit, die der Dekan seinem frisch gebackenen Missionar geschrieben hatte. Das Geld sollte als Grundlage für den Bau einer Schule verwendet werden, einer lutherischen Schule für deutsche Einwanderer in dieser Stadt namens Bundaberg. Er hatte darauf bestanden, weil diese Schule ein Eckpfeiler für das weltliche und religiöse Wohlbefinden von Familien fern der Heimat sein würde.

»Da haben Sie wahrscheinlich Recht, Herr Dekan, gute Idee. Aber finden Sie nicht auch, dass die Leute lieber sparen und sich ihre Schule selbst finanzieren sollten? Das wäre entschieden besser für sie. Und Sie haben Ihren Friedrich viel zu lange eingesperrt. Ich meine, jetzt hat er mal ein bisschen Spaß verdient. Dieses Geld hier werden Sie gar nicht vermissen.«

Nach der faden Kost auf dem Schiff war diese Mahlzeit herrlich. Eine heiße, kräftige Suppe, dick von Tomatenstücken und Schweinefleisch, ein knuspriges Hühnchen und Bohnen in einer würzigen Soße, frisches Brot, um den Saft aufzutunken, und eine zweite Flasche Wein.

»Und jetzt besorgen Sie mir eine Frau, ja?«

Der Kellner zuckte mit den Achseln und hämmerte gegen die Wand.

Der Vikar winkte ab, als eine über alle Maßen dicke Frau mit einem erwartungsvollen Grinsen zur Hintertür hereinwatschelte.

»Ich will eine Frau, keine Kuh!«

Sie funkelte ihn böse an, fauchte ein paar Worte, auf Spanisch, vermutete er, warf ihr großes, wackelndes Hinterteil herum und ging.

Der theatralische Abgang amüsierte ihn, und er fragte sich, ob man ihm nichts Besseres zu bieten hatte.

Doch, das hatte man. »Gott!«, stieß er leise hervor und sog heftig den Atem ein, als unsichtbare Hände, offenbar die erste Bewerberin, ein junges Mädchen vorwärtsstießen. Sie musste etwa sechzehn Jahre alt sein und war eine Schönheit. Ohne Frage. Ihr langes Haar reichte fast bis zur Taille, die festen Brüste spannten die Baumwollbluse. Ihr Rock war nicht mehr als ein buntes Tuch, ein kleiner Fetzen Stoff über schmalen, geschmeidigen Hüften.

»Ah!«, sagte er, als sie wartend stehen blieb. Und noch einmal: »Ah!« Voller Ehrfurcht. Ihr Gesicht … hohe Wangenknochen, große braune Augen, und dann dieser Mund. Er leckte sich über die Lippen, starrte sie an, starrte auf ihren vollen, üppigen Mund, auf die samtigen Lippen. Aber sie war schwarz. Schwarzhäutig. Eine Negerin. So nahe war er einem schwarzen Menschen noch nie gewesen … nie hatte er auch nur daran gedacht, eine schwarze Frau zu berühren. Wusste nicht, wie es ihm dabei ergehen würde … ob er in der Lage sein würde, es mit ihr zu tun.

Sie rückte näher an ihn heran. Er hätte nur die Hand auszustrecken brauchen, um ihr den Rockfetzen abzureißen, nur um sich zu vergewissern, wie sie darunter aussah. Als ahnte sie seine Versuchung, wiegte sie sich leicht in den Hüften, nestelte lässig an dem Knoten, der den Rock hielt, und schob einen Fuß vor, um mehr von ihrem glatten, schwarzen Bein zu zeigen.

Der Entschluss war gefasst, die Angst überwunden, und er stand auf, bereit, ihr zu folgen, doch der Kellner griff ein.

»Zuerst das Geld.«

Die Rechnung wurde aufgestellt. Das Essen, der Wein, die Zigarren und das Mädchen sollten ein Pfund kosten, genau die Summe, die er auf den Tisch gelegt hatte. Das mochte ein merkwürdiger Zufall sein, gab aber keinen Hinweis darauf, wie viel das Fräulein kosten sollte. Das war ihm inzwischen allerdings herzlich gleichgültig. Sie hätten ihm zehn Pfund abverlangen können, er hätte gezahlt, so sehr brannte er darauf, dem Mädchen die Treppe hinab zu folgen.

Sie hatte ihr Bett im Keller. Dort war es kühl und trocken, und lediglich durch ein vergittertes Fenster hoch oben fiel ein wenig Licht. Er schloss eigenhändig die Tür und schob den Riegel vor. Gewöhnlich war er nicht so schamhaft, ein kräftiger, gesunder Bursche in der Blüte seiner Jahre, doch das hier war etwas anderes – eher ein Experiment, redete er sich ein. Und falls es nicht gelang, blieb es ein Geheimnis zwischen ihm und dieser Hure in einem schmutzigen Winkel der Erde, den er nie wiedersehen würde.

 

Er lag auf dem Bett, erschöpft, euphorisch, während sie mit einem kühlen Lappen den Schweiß von seinem Körper wischte.

»Nie im Leben …«, sagte er immer wieder zu sich selbst. Nie im Leben war er so gut gewesen, und nie im Leben war ihm ein Körper, eine Frau wie sie begegnet; die Hure war phantastisch.

Er packte ihren Arm. »Noch einmal. Komm her, ich will mehr. Wir wollen mehr.«

Sie kicherte und ließ Wasser auf ihn tropfen. »Kostet mehr Pfund.«