Johannes Fischler

NEW CAGE

Esoterik 2.0

Wie sie die Köpfe leert
und die Kassen füllt

Impressum

ISBN 9783990402122

© 2013 by Molden Verlag

in der Verlagsgruppe Styria

GmbH & Co KG

Wien · Graz · Klagenfurt

Alle Rechte vorbehalten

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LEKTORAT: Elisabeth Wagner

COVER UND BUCHGESTALTUNG:

Maria Schuster

COVERBILD: Fotolia/viperagp

1. DIGITALE AUFLAGE: Zeilenwert GmbH 2013

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort Prof. Heinz Oberhummer

WILLKOMMEN IM NEW CAGE

Die Welt in der Welt

Grund und Grundsätzliches

Die Epidemie

Vodoo lebt weiter – vom Kult zur Kultur

Keiner ist Esoteriker, aber der Markt ist da: die Zahlen der Zahlenden

Money for nothing – wie man sein Geld in nichts verwandelt

Der Fall „Manuel“: Aus magisch wird tragisch

Stamm-Kunden, Prosumer-Movements und Klientenreligionen

MULTI DIMENSION MARKETING

Abheben im Business der Esoterik 2.0

ZUM PRINZIP : Nimm etwas weniger, aber dafür von vielen!

SCHRITT 1: Die Startbasis

Der esoterische Weltenbau und seine Requisiten

SCHRITT 2: Der Astronaut

Das esoterische Heldendrehbuch, Glamour und seine Tücken

SCHRITT 3: Die Tankfüllung

Spirituelle Energieträger und fesselndes Marketing

SCHRITT 4: Die Zündung

Neurochemische Explosionen und die Genese feinstofflicher Sucht

SCHRITT 5: Das Raumschiff hebt ab

Meister, ihre Ausbildung und ihre Mission: der spirituelle Stairway to Heaven

SCHRITT 6: Hauptriebwerk und Booster

Der esoterische Verdrängungsmotor steigert Nachfrage und Umsatz

SCHRITT 7: Die Schaltzentrale

Die Drahtzieher bleiben im Hintergrund und verdienen an allem

SCHRITT 8: Das Eintreten in die nächste Dimension

Die Vertriebsstellen vervielfältigen sich von selbst

SCHRITT 9: Leben in der Raumkapsel

Gefangen im New cAge

SCHRITT 10: Völlig losgelöst – per Freiflug in die Unendlichkeit

Das Sternenschiff fliegt mit Autopilot

Das Letzte, was wir von Manuel hörten

Anhang

Anmerkungen

Quellen

Nützliche Adressen

Literaturtipps

Dank

Da die sechste Lichtkörperebene für die meisten

Menschen sehr unangenehm ist,

verlassen hier viele Menschen den Planeten (...)

Wenn es uns gelingt, jemanden lebendig durch
die fünfte und sechste Ebene zu bringen,

ist der Rest einfach. Wer an diesem Punkt den Planeten nicht verläßt,

wird höchstwahrscheinlich den ganzen Prozeß durchmachen.

Erzengel Ariel [1]

Vorwort

Zu Beginn des ersten Kapitels dieses Buchs steht als Zitat zu lesen, dass der aus dem Griechischen stammende Begriff „esoterisch“ so viel wie „nur für Eingeweihte einsichtig“ bedeutet. Genau darin besteht das Problem des esoterischen Glaubens, dass er in der realen Welt nicht transparent gemacht und wissenschaftlich nicht nachvollzogen werden kann. Denn wenn man esoterische Glaubensinhalte mit wissenschaftlichen Methoden überprüft, bleibt nichts mehr übrig. Und es gehört schon ein großes Maß an Arroganz, Überheblichkeit und Einbildung dazu, wenn Esoteriker sogar die Naturgesetze ignorieren und außer Kraft setzen.

Was ist denn der Unterschied zwischen Wissenschaft und Glauben? Wissenschaft ist die Methode, wie man Wissen schafft. Viele sind der Überzeugung, dass Genies den entscheidenden Fortschritt in der Wissenschaft bringen. Weitaus wichtiger ist jedoch die wissenschaftliche Methode, mit welcher alle Entdeckungen und Erkenntnisse laufend überprüft, gecheckt, kritisiert, modifiziert und verbessert werden. Alle Ergebnisse und Erkenntnisse der Wissenschaft sind daher vorläufig und hypothetisch. Kurz gesagt, die Wissenschaften unterziehen sich freiwillig und bewusst stets einem Selbstreinigungsprozess, um schlechte und/oder Pseudowissenschaften auszumerzen. Das unterscheidet Wissen prinzipiell vom esoterischen Glauben, der fast immer unveränderlich, fundamentalistisch, dogmatisch und starr ist und sich kaum weiterentwickelt.

Die Wissenschaft kann unser Universum vom Allerkleinsten bis zum Allergrößten beschreiben, von Elementarteilchen und Atomen bis zu den Sternen und Galaxien. Die Technik als Kind der Naturwissenschaft hat Fernsehen, Handys, Flugzeuge, die U-Bahn und viele weitere großartige Errungenschaften hervorgebracht. Die Esoterik hingegen schaffte es noch nicht einmal, eine einzige Glühbirne zum Leuchten zu bringen. Vor 150 Jahren – das ist noch nicht so lange her – lag die durchschnittliche Lebenserwartung noch bei etwa 35 Jahren. Für einen heute geborenen Menschen ist diese Lebenserwartung durch den wissenschaftlichen Fortschritt auf fast 100 Jahre gestiegen. Die Zukunft der Menschen liegt daher im Wissen und nicht etwa im esoterischen Glauben.

Trotzdem ist das Wachstum esoterischer Anwendungen und Produkte aller Art ungebrochen und beängstigend. Die Esoterik als Massenphänomen wird von breiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr als solche wahrgenommen, da wir als Mitglieder einer Lifestyle- und Wellnesskultur gewissermaßen selbst Teil des Spieles sind. Fast jeder kennt heute jemanden in seinem Verwandten- oder Bekanntenkreis, der esoterischen Aussagen tatsächlich glaubt oder zumindest diesen nicht kritisch gegenübersteht. Esoterischen Glauben gibt es zwar als Gespinst in unserem Gehirn, dessen Inhalte sind aber in der realen Welt wissenschaftlich nicht nachweisbar. Ich frage mich immer wieder, warum man durchaus vernünftige und verständige Menschen kaum davon überzeugen kann, dass Esoterik Unfug ist. Man kann das wohl so erklären: Wenn jemand viel in einen Glauben investiert und sich mit diesem intensiv beschäftigt hat, ist er kaum bereit, diesen wieder aufzugeben. Denn dadurch entsteht eine große Lücke im Gehirn. Und das will man nur ungern zulassen. Menschen, die an esoterische Inhalte glauben, sind daher immun gegen jegliche logische Argumentation.

Esoterik kann aber auch gefährlich sein. Man kapselt sich nämlich von der realen Umwelt ab und begibt sich in eine Welt, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Klarerweise kommt man dann auch mit der wirklichen Welt schlecht oder gar nicht zurecht, wenn man an Dinge glaubt, die nur im Kopf, aber nicht in der Realität existieren. Schließlich sind esoterische Publikationen ungleich zahlreicher als diejenigen, welche sich kritisch damit auseinandersetzen.

Man braucht derzeit jeden verfügbaren kritisch denkenden Menschen, der dem eskalierenden Wahnsinn die Stirn bietet. Dazu gehört auch der Autor dieses Buches, der psychologisches, philosophisches, neurochemisches und Marketingwissen gepaart mit Zynismus und Schlagfertigkeit zusammenträgt. Die Analysen sind sehr tiefgehend, aber immer so gestaltet, dass die Leserin und der Leser folgen können.

Besonders gefällt mir, dass der Autor dieses Buches Psychologe ist. Chemiker oder Physiker können zwar erklären, warum esoterische Methoden den Naturgesetzen widersprechen, nicht jedoch, warum es Esoterik überhaupt gibt und warum Menschen dafür so empfänglich sind. Deshalb ist auch die psychologische Perspektive vonnöten, um die Innenansicht esoterischer Weltentwürfe genauer unter die Lupe zu nehmen.

Der Text beinhaltet viele Originalzitate esoterischer Protagonisten. Dafür hat sich der Autor sogar inkognito bei einigen Engels-Conventions, Matrix-Seminaren und ähnlichen Veranstaltungen „reingeschummelt“. Er bringt also originales esoterisches Insiderwissen nach außen. Insbesondere auch die „bräunliche“ Seite deutschösterreichischer Esoterik kommt in seinem Buch zur Sprache. Die Parallelen zu „rassischen Idealvorstellungen“ sind leider zu offensichtlich. Und stets vergleicht der Autor das Esoterische mit der sogenannten „normalen Welt“. Denn Lifestyle und New Age sind sich oft ähnlicher, als man wahrhaben möchte.

Glücklicherweise gibt es auch noch viele Menschen, die gegenüber esoterischem Unfug kritisch und skeptisch eingestellt sind. Im vorliegenden Buch werden fragwürdige, ja haarsträubende und absurde Beispiele der Esoterik diskutiert und analysiert. Man hat bei den besprochenen esoterischen Methoden oftmals das Gefühl, dass die Aufklärung spurlos an uns vorübergegangen ist und wir uns wieder im tiefsten Mittelalter befinden. Der Autor versucht mit diesem Buch, uns das sich in der Gesellschaft ausbreitende Krebsgeschwür der Esoterik mit konkreten Beispielen aus der Praxis vor Augen zu führen. Er leistet damit auch der Wissenschaft insgesamt einen wichtigen Dienst. Schon allein aus diesem Grund wünsche ich dem Buch jeden nur denkbaren Erfolg!

Univ.-Prof. Dr. Heinz Oberhummer

Emeritierter Universitätsprofessor für Theoretische Physik an der Technischen Universität Wien & Mitglied der „Science Busters

Die Welt in der Welt

esoterisch, von griech. „esōterikós“:
nur für Eingeweihte einsichtig, innerlich

Und immer schon lockt das Geheimnis

Die Esoterik ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Seit jeher verweist sie auf das verborgene Land der Innerlichkeit, das Numinose. Sei es durch das Versprechen von Macht, sei es als Spiegelbild unserer Sehnsucht nach der Überwindung des rein Äußeren, des Irdischen. Dabei liefern esoterische Welten Bezugssysteme: Wirklichkeiten, welche das Faktische hinter sich lassen sollen. Torwege aus dieser Welt in eine andere, tiefere Dimension, mit neuen Gesetzmäßigkeiten, neuen Protagonisten, neuen Göttern und natürlich auch neuen Selbstbildern derer, die in diese Welten eintauchen. Eine Geschichte der Esoterik gibt es nicht. Lassen Sie uns lieber von einer Historie des Esoterischen sprechen. Esoterisches oder das, was wir heute darunter verstehen, ist und war in der Menschheitsgeschichte stets allgegenwärtig. Mal eher am Tageslicht, meist aber im Verborgenen, im Okkulten. Esoterik, Religion und Wissenschaft koexistierten seit jeher in gegenseitigem Wechselspiel.

Doch egal in welcher Ausformung, der Reiz des Metaphysischen bestand immer schon im Nicht-Offensichtlichen, das es noch zu entdecken galt. Der Zugang zu obskurem Wissen war fortwährend ein gut gehütetes Geheimnis, in welches nur wenige Ausgewählte Einlass erhielten. Esoteriker bildeten so seit jeher eine heimliche Elite. Sie waren Geheimnisträger und verstanden sich als Hüter eines „heiligen Grals“, als Torwächter zu einer obskuren Innerlichkeit. Glücklich schätzen konnte sich demnach jener, welchem der Zutritt in die Halle des Bergkönigs1 gewährt wurde.

Wie wir schon am Namen des vermeintlichen esoterischen Urvaters, Hermes Trismegistos, erkennen können, zeichnete sich innerweltliches Wissen also immer schon durch seine Exklusivität aus. Es war eben eine hermetische, nach außen abgeriegelte Welt. Eine Sphäre, von der die breite Masse ausgeschlossen war, ja regelrecht sein musste. Und so inszenierte man noch bis ins späte 19. Jahrhundert magische Rituale stets in kleinen Zirkeln Gleichgesinnter. Übersinnliche Séancen und die Anrufung bereits Verstorbener waren vornehmlich die Angelegenheit weniger Reicher, deren Erlebnishunger über das Diesseitige hinausgriff. Obschon hier der Okkultismus zu einer Art „Chic“ des betuchten Bürgertums und des Adels avancierte, markierte die magische Praxis immer noch ein diskretes Insignium einer gewissen Schichtzugehörigkeit. Man konnte es sich leisten, sich gemeinsam zur Geisterbeschwörung auf seinen Landsitz zurückzuziehen. Manche erwiesen sich dieser höheren Ebenen würdig, andere wiederum nicht. So jedenfalls präsentierte sich die „Old School“ des Spiritismus, oder nennen wir sie lieber die Esoterik des alten Paradigmas.

Und was geschah dann? Industrialisierung und Flucht in Wirklichkeiten

Mit dem Siegeszug der Industrialisierung und dem damit verbundenen Wertewandel erfuhr das Esoterische vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert einen nie dagewesenen Aufschwung. Der seinen bisherigen Bezugssystemen entrissene Mensch sah sich angesichts des zunehmenden Diktats von Technik und Zweckmäßigkeit nun endgültig einem viel zu aufgeklärten, alles verschlingenden Kosmos gegenüber. Drehte sich die Welt seit Beginn der Aufklärung mehr und mehr wie ein wundervolles großes Uhrwerk, so war das Getriebe des Daseins Ende des 19. Jahrhunderts zu einer alles zermalmenden Tretmühle geworden. Der Mensch, die ehemalige Krone der Schöpfung, fand sich plötzlich als Sklave seiner eigenen Schaffenskraft wieder. Stechuhr und Rationalitätsdoktrin bestimmten seine Existenz. Der, der sich nach dem Ebenbild Gottes geformt glaubte, war unversehens nur mehr ein kleines Rädchen, verloren im großen Apparat des Kapitalismus. Eben nur mehr das, was Charlie Chaplin in seinem Film „Modern Times“ so sinnbildlich zum Ausdruck bringt: ein Niemand, verloren im übermächtigen System, ein bloßer Spielball des Fortschritts.

Wen wundert’s, wenn Funktionalismus und technokratische Rationalität für viele schon damals zum Feindbild par excellence wurden? Man konnte mit der Modernisierung kaum noch Schritt halten. Und so erwuchs die Sehnsucht nach einer neuen Menschlichkeit, einer neuen Menschheit. Eine Besinnung auf das Wesentliche, eine neue Innigkeit wurde gepriesen. Die zu dieser Zeit kursierenden Ahnenlehren und Kosmologien zeugen von dem Verlangen, dem Menschen ein Gefühl von Wert und vor allem Mächtigkeit wiederzugeben. Vieles wurde unternommen, was einer „Wiederverzauberung“ der Welt dienlich sein sollte.

Das erste Drittel des 20. Jahrhunderts könnte man demnach als großes Projekt gemeinschaftlicher Wirklichkeitsflucht bezeichnen. Und hier meinen wir vor allem die Flucht in Wirklichkeiten. Okkulte Strömungen und magische Weltsichten schossen wie die Pfifferlinge aus dem Boden. Und so markierte dieser Abschnitt einen ersten Kulminationspunkt einer durch viele Bevölkerungsschichten dringenden, esoterischen Breitenströmung. Was Helena Blavatsky, die Grande Dame des Okkultismus, noch im Jahre 1875 als „die Geheimlehre“ [2] (The Secret Doctrine) etikettierte, verdiente ein halbes Jahrhundert später kaum mehr den Namen. Das ehemals noch Verborgene, die einstigen Geheimnisse avancierten zu einer Art esoterischen Mode. Und diese präsentierte sich beinahe schon im Gewand einer Massenbewegung.

Und wie, glauben Sie, ist diese Geschichte weitergegangen?

Unser Leben ist zweifelsohne noch schneller geworden. Im Informationszeitalter mutiert unsere Lebensumwelt mehr und mehr zu einem total vernetzten Dorf. Und das in einem Tempo, in dem sogar Zukunftsforscher zur „Verzögerung der Zeit“ [3] aufrufen. Nur mit Burn-out bleibt man in. Wie heißt es doch so schön? Speed kills. Hunger, Tod, Ausbeutung und Verderben brechen tagtäglich, nein viertelstündlich in Newsflash-Gewittern über uns herein. Diese werden wie Donnerkeile vom medialen Gott in unsere Privatsphäre geschleudert. Von Terrorismus bis Klimagau, die Sendboten des Chaos sind im Echtzeit-Zeitalter omnipräsent. Wir sind umzingelt von lauter Informationen und diese Informationskultur formt unser Befinden. Sie stellt uns allerorts nach und permanent werden wir mit unserem scheinbaren Unvermögen konfrontiert. „Global“ ist da noch nicht genug. Wir schaffen es ja nicht einmal, das Universum sauber zu halten. Noch produzieren wir ja nur Weltraumschrott, doch bald gehören wir wohl selber zum alten Eisen. Als wäre der Homo sapiens bloß ein tragischer Irrläufer der Evolution, ein verwunschenes Enfant terrible, unfähig, den Planeten nicht doch noch zu ruinieren, oder wenigstens begabt genug, sich selbst auszurotten. In einer derartigen Leitkultur des Infotainment – Matthias Horx prägte sehr treffend den Ausdruck „Krisotainment“ [4] – verlieren wir endgültig jedes Gespür für eine Wirksamkeit unserer selbst. Das Fühlen verflacht sich heute zum sogenannten „Feeling“. „Feeling“ ist eine Ware und wird uns erfolgreich verkauft. Ihr Erwerb macht uns scheinbar frei und lässt uns die quälende Ahnung von Bedeutungslosigkeit für kurze Augenblicke vergessen. Der eigene Gemütszustand wird so zum Konsumgut, der Zeitvertreib zur Profession. Doch wir können machen, was wir wollen: Hinter allem lauert stets diese gähnende Leere.

Neue Wirklichkeiten machen den Niemand zum Jemand

Umso mehr ertönt in diesem Umfeld der Ruf nach Sinnhaftigkeit und Geltung. So wie damals sehnt man sich danach, irgendwo doch noch so etwas wie Selbstwirksamkeit entfalten zu dürfen. Denn sich als handelndes Agens wahrzunehmen liefert erst die Grundbedingung dafür, sich als ein Jemand zu empfinden. Wie Thomas Metzinger [5] und zahlreiche Denker vor ihm betonen, hängt die Wahrnehmung von Agentivität eng mit unserem Bewusstsein für Subjektivität zusammen. Bleibt die Erfahrung eigener Einflussnahme jedoch aus, verblassen wir unversehens zu dem, was ein alter Beatles-Song so treffend ins Bild rückt: ein „nowhere man, sitting in his nowhere land“. Und wer will das schon sein? Der Mensch der Postmoderne verlangt nach neuen Songtexten, neuen Sphären des Aktiv-Werdens, schlicht nach neuen Wirklichkeiten.

Maßgeschneiderte Seins-Dimensionen gibt’s mittlerweile zuhauf. Dabei faszinieren virtuelle Gefilde à la „Word of Warcraft“ (Wo W) heute nicht nur Kinder und Jugendliche. Auch die sozialen Netzwerke des Internet fungieren mehr und mehr als Spielräume einer nicht unbedingt realen, aber dennoch wirksamen Identitätserfahrung.

Die sogenannten „Second Lives“ lediglich als unechte Spielereien abzutun würde ihrer Bedeutung nicht gerecht. Ob wir uns auf die moderne Hirnforschung beziehen oder uns unsere eigenen Beobachtungen ins Gedächtnis rufen: Man wirkt und handelt doch ganz und gar erfahrbar in diesen Cyber-Räumen. Hier erlebt sich der Protagonist geradezu „in Action“. Spielen befreit eben ungemein und rettet den Involvierten aus seiner alltäglichen Ohnmacht. Oder haben Sie sich noch nie in einem Spiel regelrecht verloren? Nicht umsonst spricht man vom Homo ludens. Dieser empfindet die damit einhergehende Selbstvergessenheit als lustvoll und gerade das macht künstliche Identitätsangebote ja auch so beliebt. Dabei lässt sich eines wohl unbestreitbar festhalten: Wirklichkeiten in der Welt bestimmen doch immer unausweichlicher unser Dasein.

Wenn wir nun auch das Reich der Esoterik als „Welt in der Welt“ – als Wirklichkeit innerhalb des greifbar Realen – verstehen, so erscheint sie doch vom selben Wunsch beseelt. Gemeint ist das Verlangen nach neuen innerlichen Dimensionen, nach virtuellen Wirksphären mitten in der Welt.

Esoterik 2.0

Doch die Analogie zu den Social Networks zieht noch weitere Kreise. Denn so wie die Vernetztheit des digitalen Hyperraumes wird auch der Wirkkosmos von Zauber und Magie nun an uns herangetragen, und das oft ohne aktive Anforderung seitens des Zielpublikums. Man muss hier nicht mehr den versteckten Eingang finden. Fernab der ehemaligen Exklusivität – das Tor ins Innerweltliche eröffnet sich uns spielerisch.

An dieser Stelle ist es an der Zeit, den Begriff „Esoterik 2.0“ aufs Tapet zu bringen. Bereitwillig und unverhüllt kolportieren die Vermittler einer eigenwilligen Spiritualität esoterisches Geistesgut und jenseitige Botschaften einer stetig wachsenden Fangemeinde, und das über zahlreiche Kanäle. Denn Multimedialität ist im Zeitalter des Lichtes kein Fremdwort, viel eher fußt in ihr ein bestimmendes Wesensmerkmal dieser Sphären. Ganze Massen empfangen transzendente Botschaften beim wöchentlichen Live-Channeling: von zu Hause aus, ganz für sich, oder in der Community. Ähnlich den Videoplattformen im Internet produzieren auch hier viele spirituelle Konsumenten ihren eigenen Kanal und gehen ihrerseits entschlossen auf Sendung. Die Esoterik 2.0 erhebt dabei ihre Käufer selbst zu geistigen Medien, welche die neuen Wirklichkeiten bereitwillig auch den Übrigen, den Normalsterblichen, offenbaren. An ihnen beweisen sie ihre neu gefundene Berufung. Der spirituelle Aufsteiger unserer Tage hält nicht geheim, nein, er missioniert. Und ganz nebenbei – je mehr „Freunde“ er in seinem Account verbuchen kann, desto durchschlagender sein Prestige, desto höher die eigene Schwingung, umso besser sein Ranking im esoterischen Highscore. Mit jedem generierten „Like“ wird der Aufstieg in die spirituelle Hall of Fame gewissermaßen wirklicher.

Das Obskure erfährt Veräußerung

Die unzähligen Licht-und-Liebe-Plattformen im Internet unterstreichen diesen Trend. Das Versteckspiel vergangener Tage scheint endgültig vorbei. Der moderne New Ager entwickelt Sendungsbewusstsein. Hätte sich früher kaum jemand zu spiritueller „Lichtkosmetik“ oder „Aura Lifting“ bekannt, gehört dies heute zum selbstverständlichen Angebot jedes besseren Wellnesstempels. Auch intimste Bereiche bleiben dabei nicht verschont: „Waxing by Angels“ [6] gefällig?

Unterhielt man sich in der Esoterik 1.0 noch hinter vorgehaltener Hand über Astrologie und Reinkarnation, so stellen die neuen „Botschafter der Liebe“ ihre Überzeugungen mittlerweile ganz offen ins World Wide Web. So auch eine Volksschullehrerin, die das Klassenzimmer mitsamt ihren Schülern regelmäßig mit Erzengel-Sprays reinigt. Für jeden ersichtlich und via Videobotschaft macht sie, wie viele andere auch, keinen Hehl daraus. Warum auch nicht? Die Kinder haben offensichtlich „mehr Spaß am Lernen“ [7]. Dabei wirkt dieses In-die-Öffentlichkeit-Gehen noch nicht einmal besonders mutig. Vielmehr beeindruckt hier dieser Beigeschmack von Normalität. Das vormals Okkulte wird heute entschlossen veräußert. Wir erleben eine noch nie dagewesene Vermarktung des Geheimwissens, eine Esoterik 2.0.

Gruppendruck mit Kuschelfaktor

Millionenseller wie „The Secret“ [8] illustrieren eine weitere Paradoxie. Geheimniskrämerei etabliert sich als kommunales Must-Have. Zur Verdeutlichung lohnt hier ein weiterer Abstecher in den Cyber der sozialen Netzwerke. Übereinstimmend mit dem gesellschaftlichen Zwang, sich einer Facebook-Community anzuschließen, versprühen auch esoterische Wirklichkeiten diesen Hauch von Verbindlichkeit. Denn wer nicht von alleine aufspringt, wird von seinem Umfeld regelrecht bekehrt. Wer aber dennoch nicht mitgeht, der bleibt zurück, der ist noch nicht so weit. Dem kann nicht geholfen werden – noch nicht.

Was sich im Web bereits als Standard etabliert hat, entwickelt sich im Netz der Esoterik 2.0 mit einigen Parallelen: Auch hier steht unser Account schon bereit. Auch hier sind die schönen neuen Selbstbilder bereits hochgeladen. Auch hier erwartet uns eine neue schillernde Identität und mit ihr im Schlepptau viele neue „Freunde“. Auch hier bleibt man online, also immer brav an der Leine. Gruppendruck mit Kuschelfaktor – so formieren sie die Bewegungen der Neuen Zeit. Ob nun im Digitalen oder im Spirituellen: Als Türöffner zum Umworbenen dient da wie dort die Schmeichelei.

Spieglein, Spieglein

Diese entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als die hinter allem stehende treibende Kraft. In einer Gesellschaft, in der Schlagwörter wie „Liebe dich selbst“ beinahe schon wie ein Befehl ertönen, finden esoterische Himmelschlösser ein tragfähiges Fundament. Als Bausubstanz hierfür dient die gegenseitige Selbst-Bespiegelung. Wie in den Foren des Internet vernetzt man sich dabei gegenseitig. Hyper-Verlinken, das nicht nur fühlbar verbindet, sondern auch spirituell aufwertet. Geblendet von unendlichen Reflexionen eigener Selbstverschönerung wird die Scheinwirklichkeit zum Königspalast. Ein Spiegellabyrinth, aus dem man kaum mehr herausfindet. Hermetisch? Ja, nur diesmal nach außen.

Und genau dieses Außen gerät dabei mehr und mehr in Vergessenheit. Die Rede ist von jener sogenannten „Dualität“, sprich der realen Welt, der Welt mit Freud und Leid, der Welt mit den großen Herausforderungen der Menschheit, mit chinesischen Mauern und alljährlichen Ölteppichen. Inmitten unendlicher Reflexionen seiner selbst verliert sich das Ich in Wirklichkeiten, die uns scheinbar noch heiler und noch ganzer machen, aber mit Realität nichts gemein haben.

Wirklichkeit ist das, was wirkt – Verillusionierung

Derart losgelöst vom Irdischen dient die Esoterik 2.0 als groß angelegtes Gemeinschaftsprojekt phantastischer Wirklichkeitsentwürfe. Und wer möchte behaupten, dass die hier beschrittenen Dimensionen nicht erfahrbar, nicht spürbar wären? Kurt Lewin formuliert es treffend: „Wirklichkeit ist, was wirkt.“ [9] Sie kennen doch den Blick in die Unendlichkeit: die Aussicht ins Ewige inmitten der täglichen Rasur oder von mir aus beim alles glatt machenden Peeling? Nur zwei Spiegel genügen und wir leben im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Optische und seelische Rückkoppelungen schenken das Gefühl kosmischer Ausdehnung. Dem Betrachter seiner eigenen unendlichen Wiederholungen verleihen sie ein Antlitz endlosen Weitblickes und erhabener Weisheit.

Esoterische Communitys dienen sozusagen als Spiegelwelten wechselseitiger Verillusionierung. Man erfüllt sich gegenseitig mit Bedeutung und bestärkt einander beim gemeinsamen Gang aus der Realität in diese neue glanzvolle Wirklichkeit. Und, ob nun für die breite Masse oder nicht: Elitarismus schafft eben Charisma. Kennen Sie derartige Gesichter, die erleuchteten Antlitze selbstbestimmter Liebesbotschafter der Neuen Zeit? Diese Antlitze voll Güte und Fürsorge, diese Sinnbilder von Sanftheit. Ihre Mimik kann bezaubern, sie wirken wirklich. Und das nicht nur auf sich selbst, sondern vor allem auch auf jene, die noch ihre Heimat in der „alten Welt“ glauben. Charisma ist nun mal ansteckend, für seinen Träger geradezu klebend.

Hereinspaziert!

Esoterische Welten sind Wirklichkeiten in der Welt. Was beim ersten Hinschauen so anschmiegsam und auf sanften Pfoten daherkommt, erweist sich bei genauerem Hinsehen als Zerrbild unserer tiefsten Eitelkeiten. Gleich dem Narcissos der griechischen Mythologie verliert man sich auch hier in einem Spiegelkabinett der Selbstliebe. „Narzissmus“ ist eng verwandt mit dem Wörtchen „Narcosis“, also mit Betäubung. Und das, was die amerikanischen Psychologen Jean Twenge und Keith Campbell so treffend als „Narzissmus-Epidemie“ [10] charakterisieren, ereilt uns als Esoterik der Neuen Zeit in seinen schillerndsten Farben. Man muss nur genau hinschauen.

Demzufolge kann das Wohlgefühl, welches eine Welt „unermesslicher Liebe“ versprüht, ganz leicht zu kaltem Schauer am Rücken ausarten – narkotisierendes Opium fürs Volk, Gänsehaut nicht ausgeschlossen. Der Schritt in die unendliche Freiheit des „Neuen Zeitalters“ gleicht so bei Tageslicht eher einem befreienden Sich-Einschließen aus Angst vor allem Realen. Wir lieben nun einmal die geschützten Werkstätten der Selbstumkreisung. Leicht übersehen wir, wie sehr wir uns von der großen weiten Welt wegsperren. Die ganz Tapferen unter uns – selbst ernannte „Lichtpioniere“ des nahenden Himmelreiches – werfen entschlossen den Schlüssel weg. Sie üben sich im Vergessen. Sie finden Erlösung in selbstlosem Sich-selbst-Vergessen.

Nein, goldene Käfige sind nicht mehr das Privileg irdischer Königshäuser. Schließlich erleben wir eine noch nie dagewesene Demokratisierung der Lebensstile. Goldene Gardinen gibt’s heute für jeden. Wir erleben ein Zeitalter des „Cage on demand“: jedem sein Aufgefangensein, jedem seine Wirklichkeit. Je größer der Käfige Glanz, desto eher wird man zur Prinzessin. Aber Achtung, es ist nicht alles Gold, was glänzt, und goldene Legebatterien verhelfen noch lange nicht zu goldenen Eiern. Die Kristallkugel wird zur Heimat, die Wirklichkeitsblase zum Kerker. Doch Zwinger aus Glas sind für ihre Insassen leider unsichtbar. Die wahren Gefängnisse sieht man nicht, die sind im Kopf. Hereinspaziert in das goldene Zeitalter esoterischer Selbstgefälligkeit.

New Age war gestern! Willkommen im New Cage!

Grund und Grundsätzliches

Deshalb dieses Buch

So wie vielleicht auch Sie kenne ich jemanden, der in eine lichtvolle Parallelwelt abdriftete. Taub für alle Zurufe von außen, unerreichbar für Verwandte und Freunde. Man konnte nur zusehen, wie das Bizarre unaufhaltsam seinen Lauf nahm. Jedes Tun, jede gut gemeinte Intervention besorgter Angehöriger machte alles nur noch schlimmer. Und so war es mein eigenes Unvermögen, zu helfen, das einen ungeahnten Wissensdurst in mir nährte. Ich wollte verstehen, welche Dynamiken dahinterstehen, wollte wissen, welche Sogkräfte hier wirken und welche Leute mit Derartigem ihr Geld verdienen.

Und dann passiert es: Sie beschäftigen sich mit einer Sache intensiv und irgendwann kippen Sie rein. Irgendwann sitzen Sie selbst bei einem Engelsfestival, mit Rekorder, Mikrofon und Kamera. Sie entwickeln ein unbändiges Mitteilungsbedürfnis, denn was Sie dort erleben, schreit förmlich zum Himmel. Und ehe sie sich versehen, sitzen sie zu Hause. Zwei Bildschirme und einen Esstisch voller Flyer, Kataloge, Amulette und Sprays – Engelssprays wohlgemerkt. An Ihnen nagt ein beklemmendes Gefühl, denn Sie wissen nun schlichtweg zu viel. Sie haben schon alles probiert, Urlaub machen, Bier trinken, meditieren oder sonstige Formen des Loslassens. Aber dieser klobige Elefant steht mitten in Ihrer Wohnung und geht von alleine nicht mehr weg. Außerdem versperrt er Ihnen die Sicht auf die wundervollen Tiroler Berge da draußen.

Es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Sie greifen zur Machete, beginnen das Ungetüm zu filetieren. Hieb um Hieb und Stück für Stück. Das Ergebnis dieses Prozesses bekommen Sie nun serviert, in Buchform, häppchenweise Seite für Seite. Mein Beweggrund war also purer Leidensdruck. Psychohygiene auf eine ganz eigene Art. Triebfeder Geld? Mal ganz unter uns: Gitarre spielen in der Fußgängerzone ist nicht nur lustiger, sondern auch ungleich lukrativer!

Esoterik, die ich meine

Sie umschreibt nicht unbedingt die Welt der Wünschelruten, Wasserbelebung oder Mondphasenkultivierung. Schließlich wird hier immer noch, mal mehr, mal weniger, so etwas wie Verstand angesprochen. Natürlich erweisen sich die dahinter verborgenen Weltsichten und Argumentationen bei näherer Betrachtung oft mehr als scheinlogisch und kurios, dennoch denken die Praktizierenden hier nach wie vor irgendwie mit. Der Vorwurf des Unwissens steht natürlich noch im Raum, doch dieser relativiert sich in Anbetracht einer hyperkomplexen Welt. Wer kann und will schon immer alles wissen?

Nein, die Esoterik, die ich meine, besticht durch eine ganz andere Wirkmacht. Die Rede ist vom magischen Sog abstrusester Entwürfe. Verbunden mit einer fahrplanmäßig inszenierten Dramaturgie ziehen diese ihre Opfer in einen verhängnisvollen Bann und lassen sie nicht mehr los. Das Resultat prägt die eigentümliche Ästhetik esoterischer „Fachzeitschriften“. Sie zeugt vom vollständigen Aufgehen in fiktiven Wirklichkeiten oder schlicht von Absorption. Bilder und Figuren, wie wir sie eher aus Stephen-King-Verfilmungen kennen. Auf die gleiche Weise rufen auch die Verkaufsstände diverser „Bewusstseinsmessen“ tiefste Mulmigkeit hervor. Und wenn man sich nur ein klein wenig mit der deutschen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat, wird’s bei den da wie dort plakatierten Symboliken nicht besser. Bedenklichste Ideologien, neu und kuschelig verpackt. Nettigkeit, wie sie herzloser nicht sein könnte. Ich spreche von „Hardcore-Esoterik“ – um diese geht es hier.

Was ist Spiritualität?

Keine Angst. Sie können, sofern das ihrem Naturell entspricht, weiterhin meditieren, hyperventilieren oder meinetwegen dem Schwitzhüttenzauber frönen. Spirituelle Praxis an sich ist nicht das Problem. Aber vorab gleich eine Bitte: Bemerken Sie, dass Ihre bewusste Entscheidung, dies oder jenes zu tun, (hoffentlich) Ihrer Ratio entspringt. Bedenken Sie dabei auch, dass die Freiheit, es überhaupt tun zu können, einer rationalen, toleranten Umgebung bedarf. Noch vor einigen Jahrhunderten hätte man uns für unser kultisches Treiben ganz einfach verbrannt.

Gewiss, Allverbundenheit ist etwas Wunderbares. Doch wird sie uns von nichts und niemandem geschenkt – wir öffnen uns ihr. Je nachdem wie wir die Dinge benennen, treiben sie uns entweder in die Enge oder eröffnen uns Möglichkeiten zu mehr Freiheit. Der gravierende Unterschied besteht nämlich in der Interpretation sogenannter „spiritueller Erfahrungen“: Sie entscheidet darüber, welches Weltbild wir uns schlussendlich einkaufen. Ist es ein magisches mit unzähligen Energien da draußen, die uns entweder wohltun oder piesacken, oder ist es ein rationales, das es uns erlaubt, unerschrocken und einigermaßen nüchtern auf die Welt und Mitmenschen zuzugehen?

Für mich persönlich birgt Beethovens „Neunte“ eine transformierende Kraft. „Seid umschlungen Millionen“, Liebe zur Menschheit und zum Dasein an sich. Wer spirituelle Empfindungen aber flatterhaften Feen und Elfen zuschreibt, erntet bestenfalls den Weitblick eines Fünfjährigen.

Noch mehr zur Ratio

Ratio bedeutet für mich mehr als bloß verkopftes Gedankenkreisen. Unter einer rationalen Perspektive verstehe ich eine Weltsicht, die nicht nur größeren Handlungs-, sondern vor allem auch Empathiespielraum bereitstellt. Wesentlich umfassender als beispielsweise innerhalb einer mythologischen Seinswirklichkeit, wo immer nur mein eigener Gott den Wahren und Einzigen markiert. Hieraus resultiert ein Mehr an interkulturellem Verständnis, mehr Sinn für Natur und Umwelt und weitreichendere Anerkennung anderer Bewohner dieses Planeten als Mitmenschen – also weniger ideologischer Separatismus als umfassenderes Verständnis füreinander.

Die Ratio geht also über das bloße Messen von Gehirnströmen hinaus. Sie birgt in sich ein eigenes Weltempfinden, das meines Erachtens wert ist, erschlossen zu werden. Gedanken fassen vormals noch Diffuses in Worte. Worte machen Erfühltes reflektier- und nicht zu vergessen kommunizierbar, schaffen also Kultur. Zur Wirkung kommt hier das dialogische Prinzip. Der rationale Weltenraum schafft dabei eine Art Kommunikationsrahmen, innerhalb dessen auch anderen Weltsichten Respekt zuteil wird. Ein so geteiltes Miteinander bringt einen Zuwachs an gegenseitigem Weltverständnis.

Und, wenn Sie so wollen, auch Mystik bietet das rationale In-der-Welt-Sein. Nur gilt es, diese auch freizulegen. Sich der eigenen Erkenntnisfähigkeit zu öffnen mag zwar etwas Radikales an sich haben, doch findet sich hierin eine ganz eigene Art der Inspiration. Unsere Kulturleistungen diesbezüglich sind enorm, man muss nur den Mut und vor allem die Muße haben, sich darauf einzulassen. Also keine Panik! Rationale Menschen leben nicht zwangsläufig auf einem ausgetrockneten, kahlen Wüstenplaneten. Auch Verfechter der Rationalität verlieben sich. Was Ratio aber schlussendlich ausmacht, kann und will ich Ihnen nicht definitiv beantworten, ich finde es selber jeden Tag aufs Neue heraus. Manchmal ist es ungewohnt und befremdlich, meistens aber befreiend.

Über Rausch und Trance

Um es hier gleich vorwegzunehmen: Trancezustände und außeralltägliche Bewusstseinserfahrungen erachte ich als wichtig. In vernünftigen Dosen eingesetzt ermöglichen sie eine Relativierung starrer Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster und eröffnen einen Zugang zu einem Lebensgefühl, fernab von „mein Haus, mein Auto und meine Bank“.

Mein persönlicher Zugang zu Dimensionen des Nicht-Verstandesmäßigen hingegen bedient sich eher der Ressourcen unseres Kulturkreises. Von Schuberts „Unvollendeter“, Karajan, über berauschende Bergwanderungen bis hin zu Jimi Hendrix: Jeder hat hoffentlich seinen eigenen Zugang! Doch kann ich auch nachvollziehen, dass mitunter auch andere Kulturkreise einen Weg zu neuen Sichtweisen eröffnen. Ja, oft entsteht hieraus auch ein fruchtbarer interkultureller Dialog und das können wir sicher brauchen.

Vom Gefängnis des Ich in die Tyrannei des Selbst

Doch abseits einer Überhöhung unserer Breitengrade sprechen wir hier auch vom selben Kulturkreis, der das Ekstatische seit mehreren Jahrzehnten immer massiver in seine Schranken weist. Soziologen orten eine „Überprivatisierung“ unserer Gesellschaft. Gemeint ist eine Leitkultur, in der jeder nur mehr er selbst sein soll, ja viel eher, regelrecht er selbst sein muss. Damit verbunden ist ein unhinterfragter Authentizitätskult, mit welchem wir jedem Freiraum entsagen, auch einmal jemand anderer sein zu dürfen. Starr und eingeengt im unverfälschten „wahren Selbst“ wird jedes Ausbrechen zum gesellschaftlichen No-Go.

Dabei avanciert die Verwirklichung des sogenannten „Selbst“ zur alles dominierenden Religion. Ob am Jakobsweg, beim Spirit Dance oder beim Tantra-Sex: Urlaub, Tanz oder Liebesspiel – alles nur mehr im Namen und auf Rechnung des Selbst. Der Philosoph Robert Pfaller betont in diesem Zusammenhang auch die Übervertrautheit, welche wir von unseren Beziehungen abverlangen. Andere nennen sie die „Tyrannei der Intimität“ [11]. Im Zuge dessen führt dieser Zwang, immer wahr und unverfälscht zu sein, schnell auch in eine wechselseitige Zementierung. Denn wir nehmen einander so jedweden persönlichen Entfaltungs- oder besser Spielraum.

Nehmen wir hier nun einen weiteren unhinterfragten Wert, nämlich „Gesundheit“ hinzu, dann erhalten wir eine mitunter fatale Mischung. Persönliches Wohlbefinden als höchstes Gut, verbunden mit der Verpflichtung zu permanenter Authentizität, machen uns hypersensibel und intolerant zugleich. Sie wirken mit an der Etablierung einer neumodischen Verbotskultur, welche Großstädte in George-Orwell-Utopien verwandelt. Rauchen, Trinken, Dicksein oder meinetwegen Nacktbaden – eine Welt, in der alles dem Rotstift zum Opfer fällt, macht uns vielleicht „sicherer“ oder „gesünder“, das Dasein jedoch erfährt eine beklemmende Einengung. Kein Wunder also, wenn Leute hier ausbrechen und in phantastische Wirkwelten auswandern. Doch egal wohin: Das allem zugrunde liegende Religiöse schleppen sie unbewusst mit. Das Resultat prägt das ganz und gar selbstbewusste Auftreten spirituell-esoterischer Selbstdarsteller: hyperauthentisch, aber nicht echt.

„Man muss sich an seiner Religion abarbeiten“ …

… betont der Medienphilosoph Norbert Bolz [12]. Und damit meint er nicht die persönlich zurechtgezimmerte, sondern jene unseres Kulturkreises. Denn ansonsten klebt uns diese immerzu an den Fersen, Schritt für Schritt. Ob nun im Selbstverwirklichungsmilieu oder in esoterischen Dunstkreisen, wo man hinschaut dieselben Schemata: Schuldgefühle, Unwertsein, Ablasshandel, Beicht- und Bekenntniskult, Leistungsethos, Dienen sowie Erlösungssehnsucht: Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Wer sich seine kulturgeschichtlichen Wurzeln nicht vergegenwärtigt, wird ewig in diesem Hamsterrad rotieren. Denn diese Prinzipien prägen gewissermaßen unser Ich-Empfinden. Ob wir das loswerden können, wage ich nicht zu beantworten. Doch simples Wissen kann hier helfen.

Gewiss, Meditation dient als gangbarer Weg zu mehr „subjektbezogener“2 Gegenwärtigkeit, doch den Geschichtsunterricht ersetzt sie uns nicht. Ganz im Gegenteil: Falsch verstanden und eingesetzt bedient sie viel eher die Auswüchse einer in sich selbst verliebten Gesellschaft und der darin kultivierten Glückseligkeitsdoktrin. Meditation ohne Wissen ist wie das Reisen ohne Landkarte, man verirrt sich leicht. Und egal ob nun Trance oder die Praxis kontemplativer Versenkung – Medikamente können gesund machen, doch wenn man sie auch als Gesunder noch nimmt, dann ist das Doping. Doping macht schnell auch süchtig.

Unabhängig also davon, welche Form der Innenschau wir betreiben, es lohnt sich, darüber zu reflektieren, wann man auf dem Holz- oder besser Kreuzweg ist. Denn je mehr man sich mit seinen eigenen vier Wänden beschäftigt, desto mehr abgestoßene Ecken, Kanten und Macken treten hervor: Polieren, Putzen, Staubsaugen, Selbstoptimierung ohne Ende sind die Folge. Eingebettet in einen Wettlauf spiritueller Workaholics werden wir so vielleicht immer noch heiler, noch ganzer, noch leidfreier, aber wozu? Wird’s nicht ab einem gewissen Grad irgendwie unnatürlich? Gibt es nicht noch etwas Wichtigeres als das eigene Innenleben, etwas Erstrebenswerteres als formvollendete Ganzheit?

Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück

Eben derlei „Werte“ gilt es zu hinterfragen. Ansonsten landen wir abermals bei Franz Schubert: „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück.“ Uns plagt die Sucht nach dem Sehnen, die im Stück „Der Wanderer“ ihren Widerhall findet. Ewig getrieben von einer unbändigen Gewissheit, wonach überall die Wiesen grüner sind, nur nicht im eigenen Garten. Sei es nun beim Schamanen im peruanischen Urwald oder in einem Tempel im Himalaya. Wir machen uns bereitwillig zum Spielball unserer eigenen Projektionen.

Es ist absolut in Ordnung, Weisheitslehren aus Fernost zu importieren, doch müssen wir deshalb auch deren spirituell-aristokratische Hierarchien mitbejubeln? Es ist okay, sich dann und wann dem Irrationalen hinzugeben, doch müssen wir deshalb gleich höhere Wahrheiten mit ins Boot holen? Karma-Religionen und irrationale Erklärungsmodelle eröffnen einen Kosmos, in dem jeder alles behaupten kann und darf. Wenn wir dahin zurücksteuern, liegt jede Beweislast fortan beim hilflosen Kritiker. Dann können wir gleich wieder Hexen verbrennen. Der sehnsüchtig Suchende läuft hier Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Und ehe man sich’s versieht, verwirft man alles, was Denker, Künstler und Schreibende aller Art über Jahrhunderte an Freiheit für uns erkämpft haben.

Doch Freiheit scheint heutzutage nicht mehr viel wert. Für manche wirkt sie geradezu wie ein Feindbild. Apolitisch, antiintellektuell und antimodern. Wenn es um die bereitwillige Aufgabe aufklärerischer Werte geht, liefert die Esoterik 2.0 ein umsatzträchtiges Exempel. Von Frauenrechten keine Spur, inszeniert frau sich als Engel oder „Weisse Priesterin“ [13] – narzisstische Aufwertung mit dem Etikett einer neu gefundenen Reinheit. Doch tatsächlich geht es hier um eine groteske Form von „Ent-freiung“, welche das Gefühl von Freiheit verkauft – ein Rückschritt ins dunkle Spätmittelalter und nichts anderes.

Es bleibt, was es ist, ein New Cage.

Die Epidemie

Voodoo lebt weiter – vom Kult zur Kultur

Laut führenden Trendforschern glauben 40 Prozent der Deutschen ihr Leben von magischen Kräften durchwirkt [14]. So wie das „Entgiften“ des eigenen Körpers zum selbstverständlichen Ritus einer neuen Gesundheitskultur geworden ist, säubert beziehungsweise „entstört“ man dieser Tage selbstredend seinen Wohn- und Arbeitsbereich. Nicht nur sauber, sondern energetisch rein soll nun alles sein. Lokalisierte man ehemals noch irgendwelche Geister oder verlorene Seelen als Quelle seines Unbehagens, geht man nun daran, sein Dasein wieder an das „astrale Magnetgitter“ anzubinden. Das alles im Namen der Ganzheitlichkeit, das Universum als lebender Organismus. Re-Connection an die kosmische Ordnung und laufende Rekalibrierung sind die magischen Einflussnahmen der Esoterik 2.0.

So wie alle anderen Bereiche unseres Lebens unterliegt auch das Magische bestimmten Moden. Die neuen Labels sprechen nicht nur die Sprache ihrer Zeit, vor allem bedienen sie die Sehnsüchte eines weitaus größeren Publikums als je zuvor.

Realpolitik einmal anders

„Warum geraten Parlamentarier in Rage?“, fragte die österreichische Kronen Zeitung im Jänner 2012. Die Antwort scheint einfach: „Erdstrahlen und Wasseradern“. Und diese wurden bald ausfindig gemacht: von einem Mitglied des Parlaments – seines Zeichens „Energethiker“ – und seinem Team. Mittels Wünschelrute, Weihrauch und Truthahnfeder erfolgte ein eigenwilliger „Energie-Check“ im großen Plenarsaal des Hohen Hauses, in Anzug und Krawatte versteht sich. Das Ergebnis: Kanzler und Vizekanzler säßen auf energetisch „guten“ Plätzen, am Rednerpult hingegen wirke „das härteste Störfeld des ganzen Saales“. Diese Belastung könne „aufwühlen und aggressiv machen“!

Folgt man dem Ergebnis dieser Untersuchung, bedürfen gesellschaftliche Spannungen weniger politischer Lösungen als viel eher energetischer Säuberungen. Quelle: [15]

Es sind schon lange nicht mehr die Spinner

Die Marketingfachleute haben den allgemeinen Trend längst aufgegriffen. Man spricht vom Entstehen einer „neuen Bewusstseinsindustrie“, und das in einer „Gesellschaft der Sinnsuchenden“ [16]. Die sogenannten „Sinntouristen“ werden in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren an die „40 Prozent aller Urlauber“ ausmachen, konstatiert Eike Wenzel vom Zukunftsinstitut Kelkheim. Dazu passen Berechnungen der Dresdner Bank, wonach die deutschen Bundesbürger bereits jetzt pro Jahr „an die neun Milliarden Euro in Lebenshilfe, Orientierung, Selbstverwirklichung und Sinnsuche“ investieren. Von einem Industriezweig zu sprechen scheint da wohl kaum übertrieben. In diesem Umfeld gereicht so etwas wie „yogisches Fliegen“ nicht mehr zur Besonderheit. Ganz im Gegenteil: Ehemals „Esoterisches“ wird zusehends zu einer Art Volkssport. Wer hier nicht mitmacht, stellt sich geradewegs ins Aus.

Schon Georg Lukács (1916) ortete ein Zeitalter „transzendentaler Obdachlosigkeit“ [17]. Und von einem Rückgang des religiösen Hungers will wohl niemand ernsthaft reden. Umso vielversprechender demnach die Frage, welche Form die spirituellen Einhausungen dieser Tage angenommen haben. Eines kurz vorweg: Esoterisches Gedankengut ist uns keineswegs fremd. Es ist vielmehr zum selbstverständlichen Geistesgut unserer Gesellschaft geworden.

Von rosaroten Panthern

Wer hat an der Uhr gedreht? Theologen wie Paul M. Zulehner bemerken vor allem seit den Neunzigerjahren einen „Megatrend zur Respiritualisierung“ [18] unserer Lebensweise und damit einhergehend eine kontinuierliche Verfärbung unserer sozialen Wahrnehmung. Ehemals Exotisches wird nicht mehr als solches identifiziert. Und wenn uns das Rosa der Esoterik nicht mehr ins Auge sticht, mag das auch folgende Gründe haben:

Was, wenn sich herausstellt, dass wir überhaupt keine Paulchen finden können? Und das vor allem deshalb, weil wir selbst bereits zu rosaroten Panthern mutiert sind? Vielleicht sehen wir nur deshalb keine esoterische (Massen-)Bewegung, weil wir schon selbst in Bewegung sind. Vielleicht sind es vielmehr wir selbst, die wir suchen oder doch eher untersuchen sollten.

Vermutlich ist es, wie so oft, eine Mischung, die der Wahrheit am nächsten kommt. Hartmut Zinser, Professor für Religionswissenschaft an der FU Berlin, thematisiert diese Schwierigkeiten in unserer Wahrnehmung. Die Esoterik dringt zunehmend in den ganz normalen Alltag ein“, erklärt der Religionswissenschaftler. Ursprünglichkeitssehnsucht, Apparateglaube, Technikfaszination und die Begeisterung für Magisches werden bedient. Esoterische Angebote wirken für Zinser wie „schwankende Gestalten“ zwischen Wissenschaft und Religion. Spiritistische Produkte und energetische Dienstleistungen etablieren sich zusehends zu fixen Bestandteilen der täglichen Konsumation. Der Szenekenner fasst zusammen: „Viele nehmen sie schon gar nicht mehr als esoterisch wahr. Und das macht es so problematisch.“ [19]