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All jenen Ägyptern unterschiedlichster politischer Couleur, die sich trotz aller Widrigkeiten gewaltlos und uneigennützig für ein wirklich neues Ägypten engagieren. Den Frauen und Männern, die in diesem Buch vorkommen, aber vor allem auch all jenen, die wir nicht kennen. Den Menschen im ganzen Land, die weiterhin an der Umsetzung einer der Hauptforderungen der Revolution des Jahres 2011 arbeiten: »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit«.

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Statt eines Vorworts

Um Mitternacht herrscht Totenstille, zumindest für Kairoer Verhältnisse, eine Stadt, die niemals schläft, in der viele Geschäfte die ganze Nacht geöffnet sind und auf deren vollen Straßen selbst in den frühen Morgenstunden ununterbrochen Hupkonzerte erklingen. Zumindest ist im Herbst 2013, wenn man nach der Ausgangssperre mit Sondergenehmigung vom Flughafen in das Zentrum der Metropole am Nil fährt, klar, wer die wirklichen Machthaber Ägyptens sind.

Auch dem ortskundigsten und geschicktesten Taxifahrer ist es unmöglich, die Dutzenden von Straßensperren der Militärs zu umgehen: überall Stacheldraht, dahinter sandfarbene Panzer und Soldaten in ebenso sandfarbenen Kampfuniformen. Die Straßenlaternen über den Kontrollpunkten sind ausgeschaltet, damit die jungen Soldaten, die die wenigen Fahrer kontrollieren, die sich nach Mitternacht noch auf die Straße wagen, nicht zu Zielscheiben extremistischer Islamisten werden. Trotz freundlichen Tons der Militärs, die die Ausweispapiere prüfen und die Fahrzeuge durchsuchen, herrscht eine gespenstische Atmosphäre.

Tagsüber ist dieser Spuk vorbei – die Armee hat sich in ihre Kasernen oder die staatlichen Gebäude zurückgezogen. Dafür wird der Schriftzug »Ägyptens Kampf gegen den Terror« im Staatsfernsehen und in den weltlich gesinnten Privatsendern ununterbrochen eingeblendet – die Sender der Muslimbruderschaft wurden verboten. Gemeint ist damit der Kampf gegen die zumeist nicht gewalttätigen Muslimbrüder, aber natürlich auch gegen wesentlich extremistischere Islamisten. Etwa gegen eine dschihadistische Gruppierung, die sich zu dem Anschlag mit drei Fahrzeugbomben auf den Innenminister Mohammed Ibrahim am 5. September 2013 bekannte.

Die Ereignisse in Ägypten überschlagen sich seit Beginn meiner Recherchen und Reisen für dieses Buch. Am 30. Juni 2013 wurde der erste gewählte Präsident Ägyptens, der Muslimbruder Mohammed Mursi, von einer Interessenkoalition, die vermutlich die große Mehrheit der Ägypter repräsentiert, gestürzt.

Sie bestand aus jungen Aktivisten, Politikern aller Parteien, darunter auch Anhänger des alten Mubarakregimes, und vor allem natürlich den Militärs. Der selbst immer diktatorischer gewordene ehemalige Staatschef wird weiterhin an einem geheimen Ort festgehalten. Fast die gesamte Führung der Muslimbrüder sitzt hinter Gittern. Der größte Protest der Ägypter, die sich für die Rückkehr des »legitimen Präsidenten« starkmachten, ein Sit-in vor der Rabaa al-Adawiya-Moschee im Kairoer Vorort Nasr City, wurde gewaltsam aufgelöst. Die schreckliche Bilanz: 600 bis 1000 Tote, darunter zahlreiche Sicherheitskräfte, aber vor allem Demonstranten – offizielle Zahlen gibt es nicht –, in jedem Fall ein trauriger Rekord. So viele Menschenleben hat in Ägypten noch nie ein Protest gefordert.

Wenn dieses Buch erscheint, ist das Land am Nil vielleicht auf dem Weg zu einem zweiten schwierigen, demokratischen Neuanfang. Dies zumindest haben das Militär und die neue Übergangsregierung versprochen. Vielleicht wird Ägypten auch wieder zu einer Militärdiktatur, oder es befindet sich womöglich mitten in einem Bürgerkrieg. Im gesamten Land herrscht im Moment eine »as-Sisi-Mania«. Poster des regierenden Generalstabschefs und Verteidigungsministers Abd al-Fattah as-Sisi mit Aufschriften wie »Sisi, unser Retter« sind in Kairo überall zu sehen. Würde der General heute für das Präsidentenamt kandidieren, ihm wäre wohl ein überwältigender Sieg sicher. Doch er hat nicht nur Anhänger. Nicht selten wurden über die Poster des Generals Graffiti mit den Texten wie »Sisi, du Mörder« gesprüht. Leider bleibt es nicht bei dieser Propagandaschlacht: Fast täglich sterben Menschen bei Konflikten zwischen Muslimbrüdern und ihren zahlreichen Gegnern.

Trotz des andauernden Machtkampfes und der rasanten Entwicklungen ändern sich die grundlegenden Probleme, Bedürfnisse und Wünsche der Menschen in Ägypten jedoch kaum. »Wir sind ein Volk, das sich nicht kennt«, sagte mir der junge ägyptische Filmemacher Amr Salama. »Das ist mir seit Beginn der Umbrüche klar.« Unter der »Bleiglocke der Diktatur«, wie er die über 30 Jahre währende Herrschaft Mubaraks bezeichnet, wurden fast alle gesellschaftlichen, sozialen, politischen, religiösen und ethnischen Gruppen unterdrückt. Seit dessen Sturz treten alte Spannungen, Spaltungen, Frustrationen und Hoffnungen zu Tage und entladen sich zu oft gewaltsam. Wenn die Ägypter sich selbst nicht kennen, wie Amr sagt, dann kennen wir, die wir von Europa aus auf das Land am Nil schauen, sie umso weniger. Ziel dieses Buches ist es, den Lesern jene Menschen aus Ägypten, die hinter dem Wandel stehen, etwas näherzubringen: Frauen und Männer, Arme und Reiche, Städter und Menschen auf dem Land. Junge Revolutionäre und Fußballfans, Muslimbrüder, Salafisten und die alte Elite, Christen, Nubier und Beduinen – eine Momentaufnahme des Jahres 2013. Und doch mehr als das: Die Menschen und ihre individuellen Geschichten kennenzulernen hilft, besser zu verstehen, was die Ursachen und treibenden Kräfte hinter den dramatischen Entwicklungen sind, deren Folgen wir ebenso wenig voraussehen können wie jene, die an ihnen direkt beteiligt sind. Umso wichtiger ist es zu begreifen, was die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen bewegt – auch jene, die sich ihrer Kraft gerade erst bewusst werden. Was in diesem so stolzen und zugleich so zerrissenen Land vor sich geht, kann nur verstanden werden, wenn man den Menschen dort zuhört und sie dadurch besser kennenlernt.

Natürlich hoffe ich dies nicht, aber vielleicht waren die ersten sechs oder sieben Monate dieses Jahres, meine Hauptreisezeit in Ägypten, ein einmaliges Zeitfenster, um im ganzen Land unterwegs sein zu können. Ägypter aller Bevölkerungsschichten sprachen, oft zum ersten Mal, sehr offen. Seitdem leben einige von meinen Gesprächspartnern, vor allem die Muslimbrüder, in Furcht und Schrecken. Sie baten mich während meiner letzten Reise im September 2013, ihre Namen zu ändern. Andere Gesprächspartner sind verhaftet und von Militärgerichten verurteilt worden, wie mein guter Bekannter, der beduinische Journalist und Aktivist Ahmed Abou Draa. Zahlreiche Journalisten und Wissenschaftler werden von der Regierung, aber auch von der Bevölkerung an ihrer Arbeit gehindert. Mehrere ägyptische und ausländische Pressevertreter wurden bei den Auseinandersetzungen getötet. Ganze Landesteile, wie der Nord-Sinai, sind zu militärischen Sperrgebieten erklärt geworden. Hier jagt die ägyptische Armee mit Kampfhubschraubern Dschihadisten. Auch in anderen Landesteilen ist das Reisen zurzeit gefährlich. Besonders in einigen Orten Oberägyptens, in denen zahlreiche Kopten leben, kam es zu massiven Übergriffen durch gewalttätige Islamisten, die sich für die Unterstützung der Christen bei der Entmachtung von Präsident Mursi rächen wollten. Im ganzen Land wurden über 40 Kirchen niedergebrannt.

Frankreich, im Oktober 2013

Asiem El Difraoui

Ein neues Ägypten?

Reise durch ein Land im Aufruhr

Held, Opfer und Täter

Mohamed, der Polizist

Mohamed, ein gepflegter junger Mann mit adrettem kleinem Oberlippenbart und eng anliegendem modischem Baumwollhemd, ist ein Held. Zumindest wird er von den ägyptischen Medien, ob Zeitungen oder Fernsehen, als ein solcher gefeiert. Dies ist eher selten für einen Polizisten, denn die Ordnungshüter sind bei Ägyptern oftmals wegen ihrer brutalen Methoden verhasst. Daran haben auch die neuen Schriftzüge Die Polizei im Dienste des Volkes auf den blauen Polizeiwagen nichts geändert. Gleichzeitig beschwerte sich das gesamte Volk darüber, dass kaum noch Polizisten in der Öffentlichkeit zu sehen seien. Dies kann man von Mohamed, der gerade dreißig Jahre alt wurde, nicht behaupten. Er ist auch außerhalb seiner Dienstzeiten, wenn er seine gepflegte weiße Uniform abgelegt hat, auf den Straßen des 20-Millionen-Molochs Kairo unterwegs. Abends fährt Mohamed das Familientaxi. 1200 Ägyptische Pfund, rund 110 Euro Sold, reichen kaum aus, um seine Doppelfamilie zu ernähren; Mohamed hat zwei Frauen und drei Kinder. Sie sind drei, acht und zwölf Jahre alt; zwei Jungen und ein Mädchen. Von seiner ersten Frau hätte er sich scheiden lassen können, doch eine vom Gesetz tolerierte Vielehe schien der einfachere und weniger aufwendige Weg zu sein. Seine erste Frau wohnt jetzt bei seinen Eltern, mit seiner zweiten teilt er sich eine kleine Drei-Zimmer-Wohnung. »Das gab natürlich anfänglich Ärger, aber jetzt haben alle eingesehen, dass es das Beste ist.«

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Ein Polizist in Sommeruniform im Herzen Kairos

Seine Heldentat im Frühjahr 2013: Mohamed wartet abends mit seinem Taxi im Kairoer Bezirk Dokki in einer mehrere hundert Meter langen Schlange vor einer Tankstelle auf das bisher günstigste, nach wie vor vom Staat trotz Devisenmangels subventionierte 80-Oktan-Benzin – auch einfach Achtzig genannt. Er will sein Taxi noch mal volltanken, bevor er seine Arbeit als Polizist an einem »Checkpoint«, an der Straße zum Schloss des Nils, einer der Hauptverkehrsadern Kairos, beginnt. Nach einer Stunde des Wartens will er aufgeben und fährt aus der langen Schlange heraus, als er plötzlich Schüsse hört. Mehrere Männer mit kurzen Schrotflinten rennen aus der Tankstelle, schießen in die Luft und versuchen zu flüchten. Insgesamt sind es sechs Männer auf drei Motorrädern. Ohne zu zögern, nimmt Mohamed die Verfolgung auf – und wird beschossen. Seine eigene Dienstwaffe ist Zierde – die mehrere Jahrzehnte alte Pistole sowjetischer Herstellung funktioniert schlicht nicht. »So ist es eben bei unserer Polizei«, kommentiert der junge Mann lakonisch. Aber Mohamed hat eine andere Waffe: sein Auto. Der zukünftige Held gibt Vollgas, als sich eines der Motorräder quer stellt, damit der Beifahrer auf ihn schießen kann. Für Mohamed steht fest: Das, was jetzt folgt, werden die Räuber nicht überleben. Er gibt Gas, hört seinen Motor aufheulen, dreht seinen Kopf zur Seite; er möchte das nicht mit ansehen. Dann rammt er das Motorrad mit voller Wucht, knallt auf den hohen Bordstein, überschlägt sich und begräbt die Verbrecher unter sich. Die Fahrer des zweiten Motorrads versuchen unterdessen, sich des Autos einer Gruppe junger Männer und Frauen, die gerade ein Restaurant verlassen, zu bemächtigen, werden jedoch von Passanten trotz Schusswaffengebrauchs außer Gefecht gesetzt. Die beiden Männer auf dem dritten Motorrad entkommen. Als Polizist Mohamed das erste Motorrad rammt, fliegen die Beutesäcke in die Luft. Es regnet Geldscheine, und die umstehenden Passanten reißen sich darum. Der Tankstellenbesitzer bekommt nur einen Bruchteil seines Geldes zurück.

Mohameds Belohnung ist ein Händedruck vom ägyptischen Vize-Innenminister. Ein Ermittlungsverfahren wegen seiner mehr als ungewöhnlichen Polizeimethoden wird nicht eingeleitet. Hauptsache, ein paar Verbrecher sind unschädlich gemacht worden. Der Totalschaden seines Fahrzeugs wird dem Helden nicht erstattet. Das Ministerium, das laut Mohamed selbst gute Werkstätten für die Dienstfahrzeuge des Ministers, der Staatssekretäre und der Polizei besitzt, will sein Fahrzeug dort auch nicht reparieren lassen. Der Tankstellenbesitzer hatte ihm zwar Hilfe versprochen, doch als ihm die Größe des Schadens bewusst wird, muss sich Mohamed mit der höflichen Entschuldigung »Ich habe auch kein Geld« zufriedengeben. Kfz-Versicherungen existieren in Ägypten kaum. Mohamed fragt sich, ob er jemals wieder so handeln würde. Wäre es nicht besser, mit dem eigenen funktionierenden Taxi die Familie zu ernähren, als ein brotloser Held zu sein? Außerdem hätte ihn die Verfolgung ja sein Leben kosten können. »Die Leute sagen: Du bist ein Held. Mir ist das egal, ich sag nur: Gott sei Dank, ich hab das überlebt. Das Problem ist, dass die Familie einer der Verbrecher nur drei Straßen entfernt von mir lebt. Vielleicht wollen die irgendwann Rache.«

Der Unteroffizier – in Ägypten haben alle Polizisten, obwohl sie dem Innenministerium unterstehen, militärische Ränge, vom Soldaten bis zum General – erzählt seine Geschichte recht entspannt und ohne Groll in einem Café am Nil auf der Reicheninsel Zamalek im Herzen Kairos. Mohamed freut sich, in diesem Café sitzen zu dürfen, denn das ist erst seit der Revolution 2011 möglich. Vorher durften Polizisten in ihrem Arbeitsgebiet selbst in Zivil nicht ausgehen. So wollten die leitenden Beamten des Innenministeriums zumindest ein wenig die Korruption eindämmen. Denn nicht zu Unrecht wurde angenommen, dass Polizisten in ihrem Revier weder für einen Kaffee noch für eine Mahlzeit zahlen und größere Schmiergelder für Gefälligkeiten, wie etwa die Gängelei von Konkurrenten ihres jeweiligen Stammcafés, aushandeln würden.

Hätte Mohamed vor den Umbrüchen inmitten der schicken Jugend von Kairo auch nur eine Limonade getrunken, wäre von seinen Chefs sofort eine Disziplinarstrafe gegen ihn verhängt worden, und dies ohne die Möglichkeit irgendeines Einspruchs. Beschwerden gegen die Willkür der Offiziere waren damals unmöglich, man durfte sich nur an seinen direkten Vorgesetzten wenden. Wurde dieser übergangen, dann wurde man, egal ob eine begründete Beschwerde vorlag oder nicht, selber bestraft. Generell sei der Druck der eigenen Hierarchie auf die Polizisten gigantisch gewesen. »Wenn vor der Revolution ein vorgesetzter Offizier sagte, wir brauchen Vogelmilch, dann wurde die geholt.« Vogelmilch ist in Ägypten ein beliebtes Wort für etwas völlig Unmögliches. »Die haben einfach gefordert: Bringt mir Drogen oder Stichwaffen und irgendeinen der üblichen Verdächtigen. Dann haben wir wenigstens ein paar Verhaftungen vorzuweisen. Ich habe da nicht mitgemacht, viele andere schon«, behauptet er. Am meisten litten die einfachen »Soldaten«. Junge Wehrpflichtige, die ihren Militärdienst bei der Polizei für einen Sold von unter 30 Euro im Monat leisten. »Die durften nicht einmal ohne die Erlaubnis ihrer Offiziere pinkeln gehen.« Zumeist stammen sie, wie Mohamed, aus Bauernfamilien aus Oberägypten, können jedoch im Gegensatz zu ihm kaum lesen und schreiben.

Mohamed zieht hektisch an seiner Zigarette, es ist die zehnte in knapp vierzig Minuten, und fährt fort. Die Polizei sei vom Mubarakregime missbraucht worden, während die Armee damals aus der innenpolitischen Drecksarbeit herausgehalten wurde und deshalb beliebter gewesen sei. In dessen letzten Jahren seien sämtliche politischen Konflikte, egal ob die Unzufriedenheit der Arbeiter, Studentenproteste oder Demonstrationen gegen die US-Intervention im Irak, nicht mehr politisch gelöst, sondern nur mit Hilfe der Polizei unterdrückt worden. Dies sei zwar jetzt ein wenig besser geworden, trotzdem könne er der sogenannten Revolution von 2011 kaum etwas abgewinnen, denn das Land würde seitdem im Chaos versinken. Die einfachen Polizisten seien weiterhin die Opfer des Systems, ungebildete Bauernsöhne, die versuchten, ihre Befehle auszuführen. Überhaupt hätten sie sich während der damaligen Proteste, bei denen 846 Demonstranten starben, selbst gegen eine hysterische Menge verteidigen müssen. »Die Zentralen Sicherheitsgruppen, die Amn al-Markazy, Sondereinheiten der Polizei, haben sich selbst verteidigt, und manche Polizisten haben im Einsatz schlicht überreagiert. Das sind eben ganz einfache Wehrpflichtige. Wenn einer ihrer Kameraden von Demonstranten schwer verletzt wird, dann rasten die aus.« Mohamed selbst kam während der Massenproteste nicht zum Einsatz. Er hatte lediglich in seiner Polizeiwache ausgeharrt. Als klarwurde, dass die Wache irgendwann vom aufgebrachten Volk gestürmt werden würde, sei er einfach nach Hause gegangen. Die Wache wurde schließlich niedergebrannt.

Der Unteroffizier trinkt von seinem frisch gepressten Limettensaft und holt aus: Er möge seinen Beruf; im Gegensatz zu vielen Polizisten, die ihre Arbeit nur verrichten würden, um kleine Bestechungsgelder, wie etwa bei Strafzetteln, oder die ganz großen, beispielsweise zur Vereitlung von Gefängnisstrafen, zu erhalten, mache er seinen Job aus Überzeugung. Er möge sogar die Verbrecher in gewisser Weise. Viele von ihnen kenne er, da er wie sie in einem Slum aufgewachsen sei. Nur hätte er sich für den richtigen Weg entschieden. Er ermittle gerne, vor allem bei schweren Straftaten, die auch häufig zu seinem Aufgabengebiet gehören. Meine Frage nach Schlägen und Folter auf Polizeiwachen schockiert ihn nicht. Natürlich würde man »mit Strom arbeiten«. Gemeint ist die Folter mit Stromschlägen, häufig an den Genitalien. Wie sonst solle man denn ermitteln, fragt er unverhohlen: »Wie macht man das denn in Europa?« Die Antwort, dass dies natürlich streng verboten sei und Polizisten sich bei der Anwendung von Folter strafbar machen würden, lässt den jungen Mann staunen. »Wir schlagen ja nicht irgendjemanden. Dir könnte das hier ja gar nicht passieren, denn vorher holen wir Aussagen ein. Von Menschen, denen wir vertrauen, Zeugen eines Verbrechens, ehrenwerten Menschen oder von guten Informanten. Wir wissen schon, wer ein Schwerverbrecher ist. In einem Fall wollten die Komplizen eines Chauffeurs, der seinem Dienstherrn über eine Million Euro gestohlen hatte, ganz schnell nach Oberägypten flüchten und dort untertauchen. Es musste also ganz schnell gehen. Wir haben sie alle geschnappt, weil wir einen von ihnen zum Reden gebracht haben. Da darf man nicht zimperlich sein.«

Mohamed betont, dass er selbst eine ganz harmlose, humane Methode zur »Geständnisförderung« anwendet. Er trinkt wieder einen Schluck Limettensaft. »Ich binde den Tätern hinter dem Rücken die Hände und einen Fuß zusammen. Das halten die höchstens zwei, drei Stunden aus, dann reden sie.« Elektroschocks seien außerdem inzwischen zumindest offiziell verboten. Natürlich gebe es auch einige sadistische Polizisten oder solche, die es schlicht übertrieben. Etwa die, die den jungen Blogger Khaled Said im Jahre 2010 vor einem Internetcafé in Alexandria zusammengeschlagen hatten. Der Fall löste landesweit Entsetzen aus und war einer der Gründe für die Proteste, die schließlich zum Umsturz am Nil führten. Mohamed ist im Gegensatz zum Großteil der ägyptischen Jugend davon überzeugt, dass Khaled Said nicht an den brutalen Schlägen starb, die sein gesamtes Gesicht entstellten, sondern weil er vor dem extrem brutalen Zugriff der Polizei versucht habe, ein Päckchen Haschisch zu schlucken. Dies hätten schließlich die Gerichtsmediziner bestätigt. Zudem seien die beiden gewalttätigen Polizisten ja nur zu sieben Jahren Haft und nicht zum Tode verurteilt worden. All dies würde für die Haschisch-These sprechen.

Fuad Allam, General im Ruhestand, empfängt mich im eleganten englischen Zweireiher in seiner mit feinen Perserteppichen ausgelegten Wohnung im zweiten Stock einer Villa im wohlhabenden Kairoer Stadtbezirk Mohandeseen. Eine indonesische Hausangestellte serviert Tee und ein riesiges Stück Schokoladentorte. Allam fordert den Neuanfang. Die ganze ägyptische Polizei müsse reformiert werden, sagt er ohne besondere Gefühlsregung. »Kein Wunder, dass die Polizisten nicht beliebt sind und es zu Folter und Übergriffen kommt, das sind ignorante Halbanalphabeten.« Die Polizeiakademie in Kairo müsse die Zahl ihrer Rekruten von geschätzten 2000 auf über 4000 verdoppeln. Auch sollten nur noch Aspiranten mit mittleren Hochschulabschlüssen oder zumindest mit gutem Abitur angenommen werden. Zudem sei technischer Fortschritt dringend vonnöten. Nur so könne moderne Polizeiarbeit, bei der auf Folter verzichtet werden kann, geleistet werden. Bis heute gebe es auch kein Computersystem zum Abgleich von Fingerabdrücken; Beamte würden diese immer noch mit der Lupe vergleichen. Fuad Allam weiß, wovon er spricht. Jahrelang war er Chef der gefürchteten ägyptischen Staatssicherheit. Er verhörte nach der Ermordung des Staatspräsidenten Anwar as-Sadat im Jahre 1981 gewalttätige Islamisten, darunter den Chirurgen und heutigen al-Qaida-Chef Aiman az-Zawahiri. »Diese Unterhaltungen verliefen, wie unter kultivierten Menschen üblich, sehr gepflegt.« Ob die Verhöre immer nur zivilisiert erfolgten, sei dahingestellt. Sicher ist dagegen, dass die massive Folter in den Kerkern Ägyptens zahlreiche ägyptische Islamisten zu Dschihadisten radikalisierte. Einige wurden sogar zu al-Qaida-Mitgliedern, wie Aiman az-Zawahiri, der derzeitige Anführer der Organisation. General Fuad, welche Rolle er bei der Verfolgung extremistischer Islamisten auch spielte, ist heute ein wenn auch bourgeoiser radikaler Reformer. Nicht nur die Polizei, sondern der gesamte Sicherheitsapparat müsse restlos erneuert werden, fordert er wiederholt.

Unteroffizier Mohamed kann sich der Meinung des Generals im Ruhestand nur bedingt anschließen. Es gebe wegen des desolaten Schulsystems gar nicht ausreichend Rekruten, die irgendeine Form von Ausbildung hätten. Selbst die einfachen Polizisten sollten natürlich lesen und schreiben können. »Sonst notieren die an einer Kreuzung die Nummern nicht richtig und geben den Falschen Strafzettel.« Das Kernproblem sei aber, dass man bei der Polizei nur halb so viel verdiene, wie die beim Volk wesentlich beliebteren Militärangehörigen. Außerdem hätte auch der Muslimbruder Mursi die Situation der Polizei in keiner Weise verbessert. Deshalb sei auch mehr als die Hälfte der Polizisten nicht zum Dienst zurückgekehrt. Die andere Hälfte, die arbeite, sei völlig demotiviert, da die Staatsanwälte und Richter aus der Mubarak-Ära auf Konfrontationskurs mit dem Mursi-Regime gewesen seien und, um dieses zu schwächen, Verbrecher oftmals schnell wieder freigelassen hätten.

Für Mohamed ist die Polizei die wichtigste Institution jedes Landes. Ohne Sicherheit höre der Staat auf zu existieren – Ägypten versinke im Chaos. »Die reichen Leute bringen ihr Geld außer Landes, und die arme Bevölkerung kann sich bald nichts mehr zum Essen kaufen.« In der Tat misstrauten die Muslimbrüder der Polizei, und das nicht grundlos, denn die ägyptischen Sicherheitsbehörden inklusive der Polizei haben jene jahrzehntelang bespitzelt, unter Druck gesetzt und inhaftiert. So auch den ersten in freien Wahlen gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Bei der Anwerbung von Rekruten der Polizei wurde nicht nur sorgfältig geprüft, ob der Kandidat selbst Verbindungen zur Bruderschaft hatte, sondern auch die »Verlässlichkeit« der gesamten, oftmals sehr großen Familie »untersucht«. Mohamed selbst hatte für den ägyptischen Präsidenten und die Muslimbrüder nie viel Sympathie, denn die hätten genau wie das Mubarakregime nur an ihre eigenen Interessen und eine wirtschaftliche Bereicherung gedacht. Schließlich hätte es unter Mubarak wenigstens wirtschaftlichen Fortschritt und eine stabile Sicherheitslage gegeben. Die Regierung Mursi sei ein Haufen untätiger Dilettanten gewesen, die wie alle anderen Herrscher vor ihnen Ägypten als ihr Esba, ihr persönliches Landgut, betrachtet hätten. Gleichwohl glaubt er, es hätte zunächst keine Alternative gegeben. Der Präsident hätte ja nicht einfach zurücktreten und das Land verlassen können, meint er. »Wie sollte das gehen? Dann hätten wir totales Chaos gehabt.« Bereits bei unserem ersten Gespräch im Juni 2013 glaubte er, die Muslimbrüder, deren Kinder manchmal jahrelang ihre Eltern nicht gesehen haben, weil diese im Gefängnis saßen, würden natürlich nicht widerstandslos aufgeben. Nach dem Sturz Mursis im September und der brutalen Auflösung der Proteste seiner Anhänger meint er, es hätte keine Alternative gegeben, die Brüder hätten sonst das Land zerstört. »Wenn sie selbst nicht mit Waffengewalt gekämpft hätten, dann hätte es auch nicht so viele Tote gegeben«, behauptet er.

Dass die Umbrüche viel Zeit brauchen, versteht auch der junge ägyptische Unteroffizier. »Doch Zeit ist relativ. In Europa mögen zehn oder 20 Jahre erträglich sein; in Ägypten sind sie die Hölle.« Seit dem Sturz Mubaraks wünschte sich Unteroffizier Mohamed naiv einen »Retter«. Einen gerechten, aufgeklärten, aber vor allem einen starken neuen Diktator; einen Mann, der das Land und seine Probleme im Griff hat. Nicht irgendeinen, sondern jemanden, der dazu noch volksnah ist, insbesondere im Kontakt zu den einfachen und armen Menschen, denen er sich zugehörig fühlt. Etwa den ehemaligen Geheimdienstchef Omar Suleiman, aber auch der Verteidigungsminister und Generalstabschef as-Sisi könne das Land vor Verbrechen, Drogenverkauf und Prostitution retten. »Heute hat keiner mehr Angst, geschweige denn Respekt vor der Polizei. Jeder ist bewaffnet, die Leute begehen Lynchjustiz und Ehrenmorde. Ein Vater lässt seine Tochter erstechen, weil sie mit einem Mann spazieren ging. Dann setzt er sich auf einen Plastikstuhl neben die Leiche und trinkt stolz seinen Tee.« Mohamed betont, er sei kein Vertreter einer laxen Moral. »Ich bin Vater von drei Kindern, und im Fernsehen gibt es nur noch Sex zu sehen, auch das muss sich ändern.«

Wer ist Mohamed, der so gelassen aus seinem Leben berichtet? Held, Opfer oder Täter? Ägyptens Medien mögen ihn für seine mutigen Aktionen gefeiert haben, doch Mohamed ist vermutlich selbst ein Opfer, das Opfer eines Systems, welches ihn unterdrückt, aber auch zum Unterdrücker macht. Er selbst versteht sich als aufrichtigen und ehrlichen Bürger, der den Kontakt zum einfachen Volk und zu seiner Herkunft nicht verloren hat. Dies möchte er unter Beweis stellen und uns zeigen, wie Kairo von ganz unten aussieht.

Mohamed hat nicht nur bei seinen polizeilichen Verfolgungsjagden einen riskanten Fahrstil. Sobald sich im Verkehrschaos der Metropole nur ein paar Dutzend Meter freie Strecke auftun, gibt er mit seinem gemieteten Taxi Vollgas. Dann wird wieder energisch abgebremst. Ägypten beklagt im Übrigen die meisten Verkehrstoten der Welt. Nur vierzehn Minuten von der Nilinsel Zamalek und sechs Minuten von den altehrwürdigen, aber überfüllten Gebäuden der Kairo-Universität entfernt – hier hat Mohamed früher als einfacher Soldat in der gleißenden Sonne den Verkehr einer Kreuzung geregelt – tut sich eine andere Welt auf. Die Straßen sind staubig und nicht geteert, übelriechende Müllberge säumen ihren Rand. Durch diese fressen sich Ziegen, die zwischen Plastikflaschen, Tüten und allem anderen Unrat versuchen, Essensreste zu ergattern. Tuk-Tuks, aus Indien und China importierte dreirädrige Motorrikschas, sind hier häufiger zu sehen als Autos. Im Zentrum von Kairo und in den Reichenvierteln sind die gefährlichen Fahrzeuge verboten. Der Lärm und der Gestank sind unerträglich. Hierhin verirrt sich kein Tourist.